Poststrukturalismen in der Geographie

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Poststrukturalismen in der
Geographie
Norbert Gelbmann und Gerfried Mandl
SFB F012 Forschungsmitteilungen
Ausgabe 27/ Mai 2002
Projektteil 3: Geographie
2. unveränderte Auflage
FORSCHUNGSMITTEILUNGEN DES SPEZIALFORSCHUNGSBEREICHES F012
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Index
Seite
Abstract/Einleitung
2
I. Die philosophischen Grundlagen - Strukturalismus und Poststrukturalismus
3
1. Der Strukturalismus
2. Der Poststrukturalismus
2.1. Die Dekonstruktion
2.2. Die Diskurstheorie
2.3. Inhomogenitäten innerhalb der poststrukturalistischen Philosophie
3
6
7
9
10
II. „Siren calls of postmodernism“ - Die Geographie und die poststrukturalistische
Philosophie
Exkurs: Moderne - Postmoderne
1. Poststrukturalistische Philosophie und deren Rezeption durch
englisch- und deutschsprachige Geographen - eine quantitative Analyse
2. Gliederung der untersuchten Texte1
2.1. Metatheoretische Diskurse
2.2. Reflektieren der theoretischen Grundlagen
2.3. Von der theoretischen Reflexion zur sozialgeographischen Praxis
Exkurs: philosophische Konstruktivismen
38
2.4. Von der theoretischen Reflexion zur vermeintlichen
sozialgeographischen Praxis
13
14
21
23
23
25
34
40
III. Résumée
1. Poststrukturalistische Geographie als Paradigma
1.1. Überblick der thematischen Fokussierungswerte
1.2. Überschneidungsbereiche zu anderen humangeographischen Paradigmen
43
44
45
46
IV. Schlussplädoyer
48
Appendix:
Naturwissenschaftliche Kritik an den Postmodernen: Alan Sokal und Jean Bricmont
50
Übersicht der Tabellen und Abbildungen
54
Literaturverzeichnis
55
1
Auf Seite 14 befindet sich eine erste Übersicht der angewandten Untersuchungsmethode.
Einleitung
Mit der vorliegenden Arbeit wollen wir die Inventarisierung von Paradigmen bzw. ParadigmenFamilien in der Humangeographie erweitern, die im Rahmen des Salzburger SFB 012 (Theorien& Paradigmenpluralismus) erstellt worden war (vgl. G. ARNREITER und P. WEICHHART
1998 und P. WEICHHART 2000). Im Zentrum steht die Auseinandersetzung von Geographen
mit der poststrukturalistischen Philosophie. Die Rezeption dieser philosophischen Ansätze hat so die Hypothese - zur Herausbildung einer intellektuellen Strömung innerhalb der Geographie
geführt, die sich mit dem theoretischen Instrumentarium der wissenschaftsphilosophischen bzw.
-geschichtlichen Paradigmenforschung wahrscheinlich am besten erfassen lässt. Als
wissenschaftstheoretische Grundlage dient dabei der Post-Kuhnsche Paradigmen-Begriff, der
eine adäquate Beschreibung der multiparadigmatischen Struktur sozialwissenschaftlicher
Disziplinen (vgl. G. SCHURZ 1998) ermöglicht.
In einem ersten Abschnitt wird versucht, abzuklären, was gemeinhin unter Poststrukturalismus
verstanden wird; das kommt einer Aufarbeitung der philosophischen Grundlagen, deren
Würdigung und Kritik gleich. In einem zweiten Teil wird das Verhältnis von
poststrukturalistischer Philosophie und Geographie konkreter untersucht: Wie gestaltet dieses
sich generell, welche Tendenzen sind feststellbar? Solche Fragestellungen führen zu dem
Kernstück der Arbeit hin: Eine Analyse von deutsch- und englischsprachigen geographischpoststrukturalistischen Aufsätzen und Monographien. A.) lassen sich gewisse Zitiergewohnheiten
und bestimmte Muster bei den Referenzautoren anschaulich durch einen quantitativen und
synoptischen Vergleich darstellen; b.) werden die untersuchten Arbeiten – eine repräsentative
Stichprobe poststrukturalistisch-geographischer Texte – nach bestimmten Kriterien aufgeteilt im
Detail besprochen. Die Kategorisierung orientiert sich dabei an dem Beurteilungskriterium, wie
gut ein Ansatz die von ihm aufgeworfenen Fragen erklärt. Erst durch eine derart umfangreiche
Analyse ist es möglich, über die Rezeption von poststrukturalistischer Philosophie in der
Geographie vor dem Hintergrund des Post-Kuhnschen Paradigmen-Begriffs detaillierte Aussagen
zu treffen.
Vor nicht allzu langer Zeit hatten noch zwei US-Amerikanische Geographen bedauert, dass a.)
eine allgemeine Diskussion poststrukturalistischer Ideen (innerhalb der Geographie) noch
ausstehe, und b.) durch dieses Manko vor allem intradisziplinäre Vorurteile genährt würden (D.
P. DIXON und J. P. JONES 1996, S. 767). Die vorliegende Arbeit darf daher auch als Versuch
verstanden werden, überhaupt einmal ganz allgemein über den (geographischen)
Poststrukturalismus zu informieren, um damit zu einer solchen potentiellen Diskussion
beizutragen. In Hinblick auf die bisher einzige, ausschließlich dem geographischen
Poststrukturalismus gewidmete Monographie von M. Doel (1999), stellt unsere Arbeit den
Versuch dar, die spezifischen Inhalte dem Leser in einer leichter zugänglichen Form zu
vermitteln. Wir hoffen (jenseits der poststrukturalistischen Sprachkritik), dass uns dies tatsächlich
auch gelungen ist.
Abstract
The authors try to outline poststructuralistic philosophy and they illustrate how these ideas
have been adopted in social geography. Their analysis relies on the frame of a post-Kuhnian
perspective on paradigms, elaborated within the Salzburg SFB. The authors argue that the
adoption of poststructuralistic thoughts has indeed resulted in giving rise to a (new) paradigm
in human geography.
I. Die philosophischen Grundlagen - Strukturalismus und Poststrukturalismus
Was ist Poststrukturalismus?
Die Frage lässt sich auf den ersten Blick relativ einfach und lakonisch beantworten:
‘Poststrukturalismus’ ist eine im Nachhinein geschaffene ‘Etikette’, um eine Reihe von fast
ausschließlich französischsprachigen Philosophen (bzw. deren Philosophie) zu bezeichnen. D.h.:
Poststrukturalistische Philosophie hat man schon, lange bevor sich die Sammelbezeichnung
‘Poststrukturalismus’ eingebürgert hat, bzw. als solche überhaupt erfunden worden war,
betrieben. Da der Begriff ‘Poststrukturalismus’ eine im Nachhinein kreierte Kategorie ist, die für
eine ganz bestimmte Funktion geschaffen wurde, gilt für sie all dasjenige, was M. Weber für
‘idealtypische’ Begriffe allgemein erarbeitet hat.2 Ein paar wenige ausgewählte Aspekte werden
aus der Wissenschaftsgeschichte, aus den komplexen tatsächlichen historischen
Geschehensabläufen für eine solche ‘Etikette’ herausgefiltert. Man kann sich nur konventionell
darauf einigen, was mit dem Begriff ‘Poststrukturalismus’ eigentlich gemeint sein soll.
Auf die eingangs gestellte Frage ist das bisher Gesagte natürlich eine nur ungenügende Antwort.
Was der Erwartungshaltung des Fragenden wahrscheinlich eher entsprechen dürfte, wäre eine
Darstellung des konventionellen ‘Begriffinhalts’. Welche Philosophen, philosophischen
Gedanken und Theorien, die aus welchem Kontext herrühren, können konventionell der
Kategorie ‘Poststrukturalismus’ mit welchen Argumenten zugeordnet werden?
1. Der Strukturalismus
Einer der tiefgreifendsten Perspektivenwechsel in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte lässt sich
rückblickend um die Mitte des 20. Jh. feststellen: die Erklärung anderer Kulturphänomene
anhand eines Modells, das beschreibt, wie Sprache funktioniert bzw. besser: wie Sinn innerhalb
der Sprache konstituiert wird. Diese Entwicklung geht im Prinzip auf die eine einfache Frage
zurück: Wie funktioniert denn Sprache, wie Kommunikation? Man entdeckte bereits im 19. Jh.
das Zeichen, bzw. besser: idealtypische Zeichenrelationen und ebensolche Prozesse, durch die
Zeichen zustande kommen; als Urheber der modernen Linguistik wird im Allgemeinen
Ferdinand de Saussure angesehen (F. DOSSE 1999a, S. 77). Seine „Grundlagen der allgemeinen
Sprachwissenschaft“ („Cours de la linguistique générale“), zum überwiegenden Teil eine
Zusammenstellung von Vorlesungsmanuskripten seiner Studenten, war 1915 erschienen. Sie
geben u. a. auf eines der brennendsten (da vielleicht auch ältesten) Probleme der Linguistik eine
Antwort, die dann wiederum für die weitere Entwicklung der Wissenschaften im 20. Jh. von
zentraler Bedeutung gewesen ist: „Unser Kratylos hier behauptet, Sokrates, es gebe für jedes
Ding eine richtige, aus der Natur dieses Dinges selbst hervorgegangene Bezeichnung, und nicht
das sei als (wahrer) Name anzuerkennen, was einige nach Übereinkunft als Bezeichnung für das
Ding anwenden, indem sie (willkürlich) einen Brocken ihres eigenen Lautvorrates als Ausdruck
für die Sache wählen, sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, die für jedermann,
für Hellenen wie Barbaren, die gleiche sei. Ich frage ihn nun, ob ihm in Wahrheit der Name
Kratylos zukomme oder nicht und er bejaht es. ........ „Und kommt nicht auch allen übrigen
Menschen, einem jeden der Name zu, den wir ihm belegen?“ Darauf er: „Dir gewiß nicht der
Name Hermogenes, und legten ihn dir auch alle Menschen bei.“ Und wie ich nun weiter frage
und mich eifrig bemühe zu erfahren, was er eigentlich meine, gibt er mir nicht nur keine klare
M. WEBER, Die ‘Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: J. WINCKELMANN
Hrsg., 1988, Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Auflage, Paul Siebeck, Tübingen, S. 146214; ‘idealtypisch’ in dem Sinn, dass ein solcher Sammelbegriff eine Konstruktion und den Charakter einer Utopie an
sich hat, die „durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist.“ (ebd. S. 190).
2
Antwort, sondern hänselt mich auch noch mit seinem Versteckspiel“ (PLATON, Kratylos 383384). Wir befinden uns hier mitten im Platon-Dialog ‘Kratylos’. Hermogenes vertritt die Ansicht,
das in dem Verhältnis von Natur zu Kultur, den Dingen die Namen willkürlich zu gewiesen
werden, Kratylos behauptet hingegen, die Namen seien den Dingen eingeschrieben, es handle
sich dabei um eine naturgegebene Beziehung. Saussure wird Hermogenes mit einer
anzunehmenden Arbitrarität des Zeichens recht geben (F. DOSSE 1999a, S. 77). Es kann daher
die Sprache nur als ein System von Werten beschreiben werden, das abgekoppelt von den
Inhalten und dem Erlebtem funktioniert, nämlich als ein System, das durch reine Unterschiede
konstituiert wird. „Saussure bietet eine Interpretation der Sprache, die diese entschieden der
Abstraktion zuschlägt, um sie so dem Empirismus und psychologisierenden Betrachtungsweisen
zu entwinden. Somit begründet Saussure eine Neue, gegenüber den anderen
Humanwissenschaften eigenständige Disziplin: die Linguistik. Sobald diese ihre eigenen Regeln
etabliert hat, wird sie infolge ihrer Strenge und hochgradigen Formalisierung alle anderen
Disziplinen mitreißen und sie zur Übernahme ihres Programms und ihrer Methoden bewegen.“
(F. DOSSE 1999a, S. 78)
Saussures sprachwissenschaftlichen Untersuchungen verdichten sich in drei Begriffen: ‘langage’,
‘langue’ und ‘parole’, alle bezeichnen irgendwie den alltagssprachlichen Begriff ‘Sprache’, aber
jeweils unter einem anderen Aspekt: ‘langage’, ein Neologismus Saussures, bedeutet in etwa die
‘menschliche Fähigkeit zu sprechen’; ‘langue’ ist das System der Zeichen, d.h. das, was Sprache
normativ geregelt ablaufen lässt und ‘parole’ schließlich „die Sprachverwendung als Akt der
individuellen Ausübung der eigenen Sprachkompetenz gemäß den Regeln des allgemeinen
Sprachsystems.“ (S. MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. 2)
Um die allgemeine Zeichentheorie und vor allem den Strukturalismus zu verstehen, sind die
Untersuchungen Saussures über die ‘langue’ am wichtigsten; sie, die ‘langue’, ist, wie gesagt, das
kodierte Regelsystem der sprachlichen Zeichen, „das im Gehirn eines jeden Einzelnen
niedergelegte soziale Produkt.“ (F. SAUSSURE zit. n. S. MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. 2)
Das führt zuerst einmal zu der Frage, was denn überhaupt ein Zeichen sei: Ein Zeichen ist nach
Saussure nun immer die Relation zwischen einem ‘signifié’ und einem ‘signifiant’ (also etwa:
einem Bezeichnetem und einem Bezeichnendem). Das signifiant ist in der Sprache z.B. eine
bestimmte Lautfolge, etwa ‘Bach’. Das signifié ist immer der konkrete Inhalt, der bezeichnet
wird; bei ‘Bach’, um bei dem vorherigen Beispiel zu bleiben, ist das über eine längere Strecke
hinweg fließendes Wasser. Lese ich nun aber die Lautkombination ‘Bach’ in einem Buch über
barocke Musik, dann ist es wenig wahrscheinlich, dass ‘Bach’ dort ein fließendes Gerinne
bezeichnet, da der Satz ‘Bach machte sich dann an die Komposition der Matthäus-Passion“ in
dieser Form keinen Sinn machen würde. Dieselbe Lautkombination bezeichnet hier vielmehr eine
bestimmte, historisch wohlbekannte Persönlichkeit. Aus ähnlichen Überlegungen (etwa der
Möglichkeit, dass dieselben Dinge in unterschiedlichen Sprachen durch unterschiedliche
Lautkombinationen bezeichnet werden und es uns dennoch möglich ist verschiedene Sprachen
zu erlernen und benützen) hat Saussure geschlossen, dass im Zeichen signifié und signifiant zwar
eng verbunden sind, aber nicht a priori, denn es besteht keine innere Beziehung zwischen beiden;
keinen außersprachlichen Grund, der diese Verbindung bestimmt (=Arbitrarität des Zeichens).
Sprachlicher Sinn wird vielmehr konventionell konstituiert, in sprachlichen Prozessen festgelegt
was Saussuress Aussage „das Zeichen ist seiner Natur nach sozial“ unterstreicht (S. MÜNKER,
A. ROESLER 2000, S. 3f.).
Die Behauptung der Arbitrarität der Zeichen-Bestandteile hat noch eine weitere Konsequenz: Da
es keinen außersprachlichen Grund für das Verhältnis signifié und signifiant gibt, muss die dabei
stattfindende Konstitution von Bedeutung (etwas Bestimmtes bezeichnet etwas Bestimmtes)
sprachintern erklärt werden. „Nicht die Referenz der Zeichen, also ihr Bezug auf etwas
Außersprachliches, zählt, sondern ihre Relation, genauer: die Differenz der Zeichen zueinander.
Entscheidend ist der Wert, wie Saussure sagt, der durch diese Differenz festgelegt wird. Sie ist auf
den beiden Ebenen des Zeichens, des Signifikanten wie des Signifikats, wirksam. Die Art und
Weise, wie wir das Wort ‘Brot’ verwenden, ist sowohl bestimmt durch die Art und Weise, wie
sich der Signifikant ‘Brot’ von Signifikanten wie ‘Boot’ oder ‘Schrot’ unterscheidet, als auch durch
die Abgrenzung des Signifikats ‘Brot’ von anderen Signifikaten wie ‘Brötchen’, ‘Kuchen’, oder
‘Croissants’. Der sprachliche Sinn ist daher Ergebnis der Differenzierungen in einem System.“ (S.
MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. 4) Die conclusio daraus - und wir nähern uns damit dem
Struktur-Begriff - ist, dass bei der Sprache, dem System Sprache, die Differenzen zwischen den
Einzelgliedern für die Konstitution des Sinns das Wichtigste sind, nicht die Einzelglieder selbst.
Die Sprache ist ein Netz von Signifikanten und der Sinn eines Signifikanten ergibt sich nicht aus
der Beziehung zum Signifikat, sondern primär aus dem Verhältnis zu den anderen Gliedern des
‘Netzes’ (eine visuelle Metapher, die zwar sicher im Detail nicht zutreffend ist, aber sehr hilfreich
ist, die ganze Sache etwas ‘anschaulicher’ zu gestalten). Eine Position bestimmt sich nur durch
das Verhältnis zu allen anderen Positionen und hat keinen Sinn für sich. Das meint Saussure (zit.
in S. MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. 4) mit der resümierenden Feststellung, dass es in der
Sprache „nur Differenzen ohne positive Einzelglieder“ gibt.
Stimmt man Saussure in diesen wichtigen Punkten zu, befindet man sich bereits auf dem besten
Weg, den Strukturalismus verstanden zu haben. Denn aus Saussures Konzeption der Sprache
lassen sich im Prinzip bereits die wichtigsten Aussagen und Aspekte der späteren
strukturalistischen Forschung ablesen. Es soll gleich vorweg genommen werden, dass dieses
‘Sprach-Modell à la Saussure’ von den Strukturalisten als idealtypisches Erklärungsmodell für alle
je von ihnen ins Visier genommenen Untersuchungszusammenhänge angesehen wurde. Man hat
den Strukturalismus (und seine Nachfolge-Richtungen) daher auch als den Versuch bezeichnet,
„alles unter linguistischen Gesichtspunkten noch einmal neu zu überdenken.“3 Da das für die
verschiedensten Wissensgebiete, ausgehend von der Ethnologie (Lévi-Strauss) über die
Psychologie (Lacan) bis hin zu historischen (Foucault) und sozialpolitischen (Althusser)
Untersuchungen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes der Fall war, ließe sich in Abwandlung
(da bereits zeitgenössisch verwendet für die Wirkung früherer rein linguistischer Autoren) eines
markanten Schlagwortes vom ‘linguistic turn’4 in den Human- und Sozialwissenschaften
sprechen. Die hinter diesem ‘Kürzel’ stehende Idee hat man auch als die „philosophische
Hauptidee des 20. Jh., alles auf die Sprache zurückzuführen“, bezeichnet (S. MÜNKER, A.
ROESLER 2000, S. 19).
Generell ist festzustellen, dass bereits die Annahmen Saussures folgende Aussagen (in gewisser
Weise sind es auch Prämissen) implizieren: a.) dass die Strukturen (der ‘langue’) raum- und
zeittranszendent, d.h. als objektive unveränderliche Sachverhalte erscheinen; b.) dass der Sinn
sich nur systemintern aus den Relationen der einzelnen Strukturelemente zu einander ergibt; d.h.
dass man einerseits konkret festgelegt hat, was man als ‘Sinn’ überhaupt verstanden wissen
möchte: nämlich „als Effekt der Differenzierung von Einheiten, die an sich ohne Bedeutung
sind;“ andererseits damit aber auch c.), da der Sprachbenützer (Mensch) notwendigerweise
sprachextern ist, derjenige, der seit jeher als Sinnkonstituent gegolten hat, aus dem Spiel von
Sinn-Konstituierung herausfällt. Dem Subjekt kommt - streng strukturalistisch genommen - bei
der Sinnstiftung keine Bedeutung mehr zu (S. MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. 5f. und 20).
Derjenige, der dem Strukturalismus in gewisser Weise inauguriert und salonfähig gemacht bzw.
gar erfunden hat und mit dessen Namen man auch heute noch am ehesten den Begriff
Strukturalismus verbindet, war der Ethnologe Lévi-Strauss. Analog zum linguistischen
Paradigma, in New York hatte er in Vorlesungen des Linguisten R. Jakobson gesessen,
untersuchte er Verwandtschaftssysteme (und ihren Sinn) wie eine Sprache, als
3
4
F. JAMESON, 1972, The Prison House of Language, VII; zit. in S. MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. 7.
Der Begriff stammt von R. RORTY, 1967, The Linguistic Turn. Recent Essays in Philosophical Method.
Strukturzusammenhänge. Er versuchte Grundeinheiten der Verwandtschaftsbeziehungen
herauszuarbeiten und bezeichnete diese mit dem Neologismus ‘Parenthem’ - analog zu
‘Morphem’ in der Linguistik. Das allgemeinste Postulat, das sich aus seinen Forschungen ableiten
lässt, ist, dass sich gesellschaftliche Prozesse und auch die mentalen Fähigkeiten der Menschen
auf solche Strukturen zurück führen lassen, und man diese immer unbewussten Prädispositionen
auch freilegen könne.; etwa in dem man Mythen untersucht und die Struktur aus der Beziehung
einzelner ‘Mytheme’ zueinander zu rekonstruieren versucht.5 Wie gesagt, hatte Lévi-Strauss um
die Mitte der 50er Jahre mit seinen Forschungen theoretisch einen großen Erfolg und bald darauf
praktisch eine Reihe von Nachahmern auf den unterschiedlichsten Gebieten, vor allem den so
genannten Kulturwissenschaften (Von der Psychologie, über die Soziologie bis hin zur
Ökonomie). In den 60er Jahren war es ‘schick’, Strukturalist zu sein, nachdem der
Strukturalismus dann aber immer populärwissenschaftlicher geworden war (der Trainer der
französischen Fußballmannschaft konnte etwa behaupten, dass er im nächsten Spiel seine
Mannschaft ‘strukturalistisch’ aufstellen werde6) und man auf der Grundlage strukturalistischer
Prämissen gelernt hatte, diese selbst wiederum zu kritisieren, fanden sich immer mehr Leute,
welche sich nunmehr als Überwinder des Strukturalismus verstanden wissen wollten; damit hatte
unter anderem die poststrukturalistische Philosophie begonnen.
2. Der Poststrukturalismus
Was an einer Stelle weiter vorne in dieser Arbeit behauptet wurde, nämlich dass Epochen-, Stilund andere Kollektivbegriffe in der Wissenschaftsgeschichte mehr oder weniger Etiketten und
d.h. konstruierte Hilfsbegriffe zur Kategorisierung sind, wird uns hier bereits zum Problem; die
Realität droht uns sozusagen einzuholen: Die einfache Frage danach nämlich, was denn der
Poststrukturalismus eigentlich sei, ist alles andere als einfach zu beantworten und zwar deswegen
nicht einfach zu beantworten, da der Begriffsinhalt parallel zur Erfindung des Begriffes nie
ausdrücklich und allgemein akzeptiert und damit auch nie explizit festgelegt worden ist, wer und
was mit diesem Neologismus in Zukunft bezeichnet werden müsse. „Über den
Poststrukturalismus schreiben heißt, ihn zu erfinden“ - steht lakonisch in einem jüngeren
Handbuch über denselben zu lesen (S. MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. IX). Das vor allem
deswegen, da es a.) „keinen Text oder vergleichbares Material, welches man als das Programm
oder Manifest des Poststrukturalismus bezeichnen könnte“ gibt; und b.) keiner der Autoren, die
man heute den Poststrukturalisten zurechnet, sich wahrscheinlich selbst je als Poststrukturalist
bezeichnet hat bzw. als Poststrukturalist bezeichnen würde (S. MÜNKER, A. ROESLER 2000,
S. VIIIf.). Eine in der Tat vertrackte Situation, zu unserem Glück aber nur auf den ersten Blick.
Im allgemeinen besteht nämlich doch ein relativ breiter Konsens, dass unter Poststrukturalisten
all diejenigen Autoren zu verstehen sind, die sich, eindeutig vom Strukturalismus herkommend,
mehr oder weniger bewusst von diesem abgegrenzt haben; das sind also Autoren, die Ansichten
vertreten, die zwar strukturalistische Aussagen voraussetzen, über diese aber hinausgegangen sind
und, wie wir gleich sehen werden, diesen in ganz wesentlichen Punkten widersprochen haben.
Der Strukturalismus ist von einigen Prämissen ausgegangen, wegen denen er als
‘wissenschaftlicher’ als andere human- und sozialwissenschaftliche Disziplinen gelten wollte: Er
hat sich a.) selbst festgelegt, wie er ‘Sinn’ verstanden wissen wollte, nämlich „als Effekt der
Differenzierung von Einheiten, die an sich ohne Bedeutung sind;“ er hat b.) das Subjekt aus der
Rolle des ‘Sinnstifters’ verdrängt; bei ihm wird das Subjekt nur zu einem ‘Effekt der Strukturen;’
Ganz klare Aussagen zu den Strukturvorstellungen Lévi-Strauss’, etwa über den „positiven“ Charakter von
(mentalen Strukturen), oder etwa über die Linguistik als exakteste und deswegen als potentielle Vorreiter-Disziplin
aller Kulturwissenschaften, finden sich etwa in C. LÉVI-STRAUSS, 1958, Anthropologie Structurale, Plon, Paris,
z.B. 37ff; allg. dazu auch S. MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. 7ff.
6 Siehe dazu Einleitung von F. DOSSE 1999a.
5
und er hat c.) die Struktur als eine objektive Gegebenheit hypostasiert; indem man nach
‘invarianten Strukturen des menschlichen Geistes’ suchte, kam es zur „metaphysischen Erhöhung
der linguistischen Ausgangsthesen. Anlässlich der zentralen Betonung der Struktur kann man
sogar von einem ‘Kantianismus ohne transzendentales Subjekt’ sprechen, wie das Paul Ricoeur in
bezug auf das Werk von Lévi-Strauss getan hat, der ihm darin zustimmte.“ (S. MÜNKER, A.
ROESLER 2000, S. 20)
Es gibt eine Reihe von Merkmalen, die für Poststrukturalisten generell als typisch erachtet
werden können: a.) die Ablehnung von philosophischen Theorien mit Absolutheits-Anspruch;
und darüber hinaus ein dezidierter philosophischer Relativismus. Es ist auf den ersten Blick
vielleicht schwer von einem philosophischem Paradigma zu sprechen, wenn sich die zu
betrachtende Richtung auf die Propagierung des Bruchs mit der Einheit, die Verkündung der
inkommensurablen Vielheit verlegt hat. Aber da gerade dieses Ablehnen einer Allgemeinheit
Programm ist, kann man bereits darin eine der grundlegendsten und umfangreichsten
Gemeinsamkeiten der Poststrukturalisten erkennen; deswegen werden b.) auch systematische
Entwürfe theoretischer Programme (Schlagwort: ‘große Erzählungen’) abgelehnt; eine
geschichtsphilosophische Ausdeutung der Weltgeschichte wäre so etwas, aber auch bereits ein
System zur Rechtfertigung von Wahrheitsansprüchen (etc.). Die Wertschätzung Nietzsches
(„Kein Philosoph, dessen Reflexionen im Denken der Poststrukturalisten tiefere Spuren
hinterlassen hätte als Nietzsche.“) hängt eng mit solchen Gedanken zusammen. Ein zentraler
Bestandteil der poststrukturalistischen Einstellung ist nämlich - und das setzt klarerweise den
Strukturalismus voraus -, c.) die ‘Kritik des Logozentrismus’, und ein mindestens ebenso
bedeutender Aspekt d.) die ‘radikale Dezentrierung des modernen Subjektbegriffs’; mit den
beiden Schlagwörtern wird man, wenn man philosophisch poststrukturalistisch noch
‘unbescholten’ ist, zunächst nicht viel anfangen können; sie sollen gleich näher erklärt werden.
Als letztes Charakteristikum poststrukturalistischer Philosophie sei (e.) noch angeführt, dass
einige der bereits referierten Annahmen sie dazu veranlassen, ihre Texte in einem
„unverkennbarem intellektuellen“ bzw. literarischen Stil zu verfassen, der, so viel sei
vorweggenommen, der wissenschaftlichen Klarheit insofern nicht gerade zuträglich ist, da er sie
bewusst verwirft (S. MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. IXff.).
2.1. Die Dekonstruktion 7
Allein über die strukturalistische Herkunft, und dann auch der Weiterverwendung von der
Sprache als ‘Sinn-Paradigma’, vor allem dann im Zusammenhang mit der Dekonstruktion
Derridas, ist klar, warum linquistische Fragestellungen bzw. generell eine linquistische
Terminologie kennzeichnend für die poststrukturalistische Philosophie ist (Schlagworte:
Repräsentation, Signifika(n)t, Symbol etc. .......). Wichtig ist festzuhalten, dass die
Poststrukturalisten dabei das strukturalistische Axiom der Sinnstiftung übernehmen, um es
gewissermaßen gleichzeitig zu verwerfen. Sie verwerfen es deswegen - und spätestens das ist eine
nur mehr sehr stark vereinfachte Darstellung der realen Argumentation -, da es, wenn wir nur
durch Zeichen ein Bezeichnetes wahrnehmen können, automatisch zu einem unendlichen
Regress kommen muss. Einem Regress von einem Zeichen zu einem anderen Zeichen, ohne dass
man je auf das ‘Bezeichnete’ käme. Ein Zeichen besteht ja bekanntlich aus einem Signifikantem
(Bezeichnendem) und einem Signifikat (dem Bezeichnetem).
Signifikant
Signifikat
7
Zur philosophiegeschichtlichen Stellung der ‘Dekonstruktion’ allgemein s. F. DOSSE 1999b,
35ff.
Abb. 1 Grundmuster eines Zeichens
Ein sprachliches Zeichen (=eine phonetische Folge) - wie etwa das Zeichen ‘Boot’ - bezeichnet
immer einen bestimmten Begriffsinhalt dahinter. Um nun aber diesem Signifikat näher zu
kommen, verwendet man Erklärungen; aber auch Erklärungen bestehen aus sprachlichen
Zeichen, die selbst nun wiederum auf andere Begriffsinhalte verweisen (Wenn ich ‘Boot’ mit
‘schwimmender Gegenstand aus Holz’ zu erklären versuche, dann verweist bereits jedes dieser
Worte der Erklärung wieder auf andere Signifikate). D.h. es kommt eben zu einem unendlichen
Regress, der sich in visueller Form vereinfacht folgendermaßen darstellen lässt:8
Signifikant
Signifikant
Signifikant
Signifikat
Signifikat
Signifikat
Abb. 2: Der unendliche Regress der Zeichen
Jeder neue Signifikant, der zur Erklärung eingeführt wird, verweist wieder auf ein anderes
Signifikat. Grob gesprochen ist es das, was man unter ‘(weg-)gleitendem Sinn’ versteht. Das
„Spiel der Differenzen, in dem in einer endlosen Kette von Signifikanten ein Zeichen auf ein
anderes verweist.“ (S. MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. 32)
Diese sog. ‘unbegrenzte Semiose’ ist den Linquisten seit langer Zeit bekannt; eine der zentralen
Figuren der modernen Linquistik - Ch. Sanders Peirce - hatte sich bereits mit ihr beschäftigt und
wird heute allgemein auch anerkannt. Man kann alleine deswegen schon nicht pauschal urteilen,
dass Derrida mit seinem ‘Gleiten des Sinns’ auf dem Gebiet der Theorie Unrecht hätte
(wohingegen man sagen könnte, dass Derrida im Prinzip nur Peirce wiederholt und keine
großartige eigene/neue Entdeckung vorführt). Die ‘unbegrenzte Semiose’ ist nicht von der Hand
zu weisen und gilt auf der Ebene unserer rezenten semiotischen Theorien unwidersprochen.
Während Derrida aber bei der ausschließlichen Betrachtung dieses Aspektes unserer Sprache(n)
stehen bleibt, gehen die meisten Sprachwissenschaftler darüber hinaus und nehmen an, dass
unsere Sprache gerade deswegen funktioniert, da es für jedes Zeichen jeweils privilegierte
Interpretationen gibt;9 das, was Zeichen bedeuten, wird in komplexen sozio-kulturellen Prozessen
konventionell festgelegt.10 Und dass der Sinn der Sprache bei uns als Gesellschaft der Individuen
Übernommen aus U. ECO 1990.
Was auch Derrida - zumindest indirekt - zugeben muss; zitiert er Peirce, dann setzt er voraus, dass er in diesem
Moment Peirce mit dem zitiert, was dieser auch aussagen wollte; mit anderen Worten: Derrida setzt voraus, dass es
eine ‘privilegierte Interpretation’ der Aussagen von Peirce gibt, und dass er diese auch erfasst hat und wiedergeben
kann (U. ECO 1990, 331f.).
10 «.......... così la comunità, per quanto possa usare un testo come terreno di gioco per la messa in atto della semiosi
illimitata, in varie situazioni deve convenire che occorre interrompere per un poco il ‘play of musement’, e può farlo
8
9
liegt, ist wahrscheinlich wohl auch ein Gedanke, mit dem man sich - zumal aus
sozialwissenschaftlicher Perspektive - recht gut anfreunden kann.
2.2. Die Diskurstheorie
„Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren
Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich
zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in
denen er sich wiederfinden wird. Am entgegengesetzten Ende des Denkens erklären
wissenschaftliche Theorien oder die Erklärungen der Philosophen, warum es im allgemeinen eine
Ordnung gibt, welchen allgemeinen Gesetzen sie gehorcht.... Was wir an den Tag bringen wollen,
ist das epistemologische Feld, die episteme, in der die Erkenntnisse außerhalb jedes auf ihren
rationalen Werten oder ihre objektiven Formen bezogenen Kriteriums betrachtet, ihre Positivität
eingraben und so eine Geschichte manifestieren, die nicht die ihrer wachsenden Perfektion,
sondern ihrer Bedingungen ist, durch die sie möglich werden.“11 Für M. Foucault gibt es keine
kontinuierliche Wissenschaftsgeschichte mit Gedanken, die sich immer weiter entwickeln und
weiter entwickeln lassen, sondern es gibt eine Wissenschaftsgeschichte, die in einzelne Abschnitte
zerfällt. Jeder dieser Abschnitte hat seine eigene ‘episteme’, also eine Art überindividuelles,
zentrales Prinzip nach dem Wissen zu dieser Zeit organisiert wird. Die ‘episteme’ bzw. ‘diskursive
Praxis’ sei dabei als „eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und der Zeit
determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegeben soziale,
ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der
Aussagefunktion definiert haben“, zu verstehen (M. FOUCAULT 1981, 171). Diese ‘epistemai’
legen aber nicht nur die Regeln der Wissensproduktion und wie überhaupt kommuniziert und
miteinander gesprochen werden kann fest, sondern v.a. auch über was gesprochen werden kann.
Hier lässt sich bereits eine Brücke zu Foucaults frühen Untersuchungen über den historischen
Prozess der Formulierung und Institutionalisierung des ‘Wahnsinns’ in der westlichen Welt
schlagen: „Die Einheit der Diskurse über den Wahnsinn wäre nicht auf die Existenz des
Gegenstandes ‘Wahnsinns’ oder die Konstitution eines einzigen Horizontes von Objektivität
gegründet; es wäre das Spiel der Regeln, die während einer gegebenen Periode das Erscheinen
von Objekten möglich machen“ (M. FOUCAULT 1981, 50).
Die Methode, bzw. besser gesagt, das ‘Unternehmen’, das die Suche nach den ‘epistemai’ und
deren Kontext propagiert, nennt Foucault „Archäologie.“ „Im Gegensatz zur analytischen
Philosophie glaubt die Archäologie nicht an die Signifikanz der Sprechakte und ihre Referenz auf
ein Subjekt. Doch im Unterschied zum Linguisten, der die Wiederholbarkeit systematisch
fundierter Sprachbauten voraussetzt, fasst Foucault die Aussagen in ihrer Positivität und ihrer
Labilität gegenüber der Zeit auf. Der Archäologe muss den Gültigkeitsgrad eines beweglichen
Corpus ermessen, das sich alle Augenblicke gemäß seiner Position im diskursiven Raum und dem
genauen Zeitpunkt seiner Äußerung verschiebt und wendet. Aus diesen Verschiebungen und
Verknüpfungen zwischen verschiedenen Sphären des Diskurses ergibt sich eine
Problematisierung und Hinterfragung der Unterteilung in Wissenschaften, Disziplinen,
konstituierte und ihr eigenes Corpus und spezifisches Regelsystem umschließende Wissensfelder.
Der Archäologe ermöglicht vielmehr den Aufweis der Vorherrschaft eines bestimmten
diskursiven Modus quer durch alle Wissensfelder einer gegebenen Epoche“ (F. DOSSE 1999b,
298f.).
solo grazie a un giudizio consensuale (sebbene transitorio). In realtà, i simboli crescono, ma non rimangono mai
vuoti,» - U. ECO 1990, 337.
11 M. FOUCAULT, 1999, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 15. Auflage,
Suhrkamp, Frankfurt a. M., 22f. 24f.
Was darf man nun aber – vor allem aus sozialwissenschaftlicher Perspektive – konkret unter
dieser Episteme verstehen? Bei näherem Hinsehen ist der (philosophische) ‘Charakter’ dieser
neuen philosophischen Universalie alles andere als deutlich bzw. klar erkennbar. Ohne eine
zureichende (etwa wissenssoziologische) Begründung läuft sie nämlich Gefahr sich als – sehr
strikt formuliert – eine ‘neuaufgewärmte Idee’ des romantischen Zeitgeistes zu entpuppen.
Bourdieu12 etwa hat Foucault kritisiert, da er nicht erklärt, wie ‘episteme’ zustandekommt, bzw. was
sie überhaupt ist. Statt hier soziologisch zu denken, arbeite Foucault mit einem sehr abstrakten
und ‘zu philosophischem’ Begriff. Um mich verständlich zu machen - und auch wenn Bourdieu
das so dezidiert nicht sagt -, Foucaults ‘episteme’ scheint tatsächlich (letztlich auch durch die
unzureichende Begründung) dem irgendwie verwandt, das idealtypisch der Hegelianische
Zeitgeist repräsentierte: Ein zentrales Prinzip, das zu einem bestimmten Zeitraum in einem
bestimmten Wirkungsbereich für eine ähnliche Ausprägung der Dinge sorgt. Dieser Vorwurf
erscheint auch insofern nicht verfehlt, als dass Foucault eindeutig Affinitäten zu einer ganzen
Reihe ‘antirationalistischer Philosophen’ hat, an deren erster Stelle Nietzsche steht.
Mit solchen Autoren hat er über das inhaltliche hinausgehend - wie viele andere
poststrukturalistische Autoren übrigens auch - noch den schwierigen literarischen Stil gemein.
Vielleicht erklären sich manche umfangreichen sprachlichen Unklarheiten aus Schwierigkeiten,
die Foucault mit seinem eigenen Vorhaben gehabt hatte: Einmal nämlich hat er seine
‘Archäologie’ als Untersuchung der ‘epistemai’ bzw. der ‘diskursiven Praktiken’ selbst als ein
„Unternehmen ...., das ich auf ziemlich blinde Weise entwickelt habe“, bezeichnet (M.
FOUCAULT 1981, 165).
2.3. Inhomogenitäten innerhalb der Poststrukturalistischen Philosophie
Letztlich - und das darf auch bei dieser sehr kursorischen Betrachtung poststrukturalistischer
Philosophie nicht abgehen - fehlt noch der Hinweis darauf, dass eben diese Philosophie alles
andere als homogen ist oder sich durch das Einvernehmen ihrer Vertreter auszeichnet. Derrida
war der Schüler Foucaults, hat sich aber bald nach dem Studium und vor seinen eigentlich
‘großen’ Arbeiten von diesem noch distanziert. Das Ganze ist gleichsam ‘nachzulesen’, denn
Derrida hat die Differenzen zwischen ihm und seinem Lehrer in einen Vortrag verpackt und
konkret als Angriff auf Foucaults - damals so eben erschienenes Buch - ‘Folie et Déraison.
Histoire de la folie à l’âge classique’ gestaltet.13 Foucault war bei dieser Art von ‘symbolischem
Mord’ übrigens - nichts ahnend - anwesend (F. DOSSE 1999b, 38f.).
Einer der Hauptvorwürfe des Vortrags war, dass Foucault die Subjekt-Idee beibehalten habe,
Derrida aber schon damals von der Dezentrierung des Subjekts überzeugt war. In dieser Hinsicht
ist Foucault diesem später auch nachgekommen, da er in seinen darauffolgenden Arbeiten
tatsächlich auch er die Idee vom Subjekt systematisch zu leugnen beginnt; parallel dazu versucht
er eine Art von ‘Antihumanismus’ durchzusetzen, ein ‘Verschwinden des Subjekts’: die Idee des
Menschen, sei eine Idee des 19. Jh. und entspreche den Vorstellungen, die man sich von Gott in
den Jahrhunderten davor gemacht habe. Sie habe den Menschen seither ‘üble Dienste’ geleistet
(indem sie etwa den Stalinismus oder die Hegemonie der christlich-sozialen Parteien in den 50er
Jahre gerechtfertigt habe). Es sei daher notwendig, „dass man sich in bezug auf die Menschheit
mit einer Position abfindet, die der Position entspricht, welche man gegen Ende des 18. Jh. in
bezug auf die anderen Lebewesen [gehabt hat, dass diese nämlich] nicht für jemanden - weder für
P. BOURDIEU, 1998, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 58f.
Der Vortrag liegt in deutscher Übersetzung vor als Cogito und Geschichte des Wahnsinns, in: J. DERRIDA, 1997,
Die Schrift und die Differenz, 7. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 53ff.
12
13
sich selbst, noch für den Menschen, noch für Gott - funktionieren, sondern dass sie einfach
existieren......“14
Die hier geführte Debatte um Inhomogenitäten ließe sich an dieser Stelle jetzt noch um einen
Aspekt erweitern: nämlich die Inhomogenität der Ansichten bei einzelnen Philosophen selbst.
Und wiederum können wir hier auf die wichtigsten bzw. prominentesten Vertreter dieser
Richtung, nämlich M. Foucault und J. Derrida, passenderweise auch gleich in Zusammenhang mit
deren Subjekt-Ideen, zurückkommen. Hatten die Philosophien beider zumindest hinsichtlich der
Ablehnung der Subjekt- und Humanismus-Idee übereingestimmt, so haben beide auch - und
zwar unabhängig voneinander - mit zunehmendem Alter diese Einstellung relativiert. Foucault
war in der Zeit um die Revolution im Iran und hatte dort das neue Regime bejubelt, sich selbst
aber bald die Brutalität der ‘Befreier’ eingestehen müssen. Dieses und andere Ereignisse dürften
ihn zu dem «tätigen Humanismus» veranlasst haben, der auf personeller Ebene ein
Zusammenrücken mit J. P. Sartre zur Folge hatte. Foucault saß bei mehreren ‘humanitären
Veranstaltungen’ mit dem von ihm zuvor philosophisch konsequent geschmähten
Existenzialisten auf demselben Podium. Er hielt sich aber zu dieser Zeit etwa auch in einem ZenKloster auf, wo er sich spirituellen Meditationen widmete. Die «radikale Kehrtwendung»
Foucaults in Richtung einer Subjekt-zentrierteren Philosophie, die er bis Anfang der 80er Jahre
vollzogen hatte, drückt sich letztendlich auch in den Themenstellungen seiner Seminare aus, die
sich ab dem Studienjahr 1980/81 immer irgendwie auf eine Subjekt-Thematik bezogen. 15
Der Anstoß bei Derrida, welcher bei diesem zu einer neuen Subjekt-Zentrierung geführt hatte, ist
noch viel einprägsamer (da kurioser): „Er gestand in seinem Seminar, dass er in großer
Verlegenheit sei, denn nachdem er sein Leben als Philosoph damit verbracht hatte, den
Humanismus zu dekonstruieren und zu behaupten, dass die Idee des Autors, der Verantwortung
nicht existiere, fand er sich plötzlich auf einem tschechoslowakischem Polizeirevier wieder und
musste einräumen, dass er genötigt war, dies als schwerwiegenden Eingriff in die Menschenrechte
zu betrachten“ [ein Augenzeuge (=Seminarteilnehmer) zit. n. F. DOSSE 1999b, 331f].
Um nun wieder von den Widersprüchlichkeiten auf die Gemeinsamkeiten der Poststrukturalisten
zu kommen: Man hat in der ‘Betonung des Unkontrollierbaren in der Sprache’ den
‘Minimalkonsens’ der poststrukturalistischen Philosophen gesehen (S. MÜNKER, A. ROESLER
2000, S. 31). Generell sind es aber drei Kriterien, die bei der Zuordnung eines Philosophen in das
poststrukturalistische philosophische Paradigma herangezogen werden: „Die kritische
Abgrenzung vom Strukturalismus, die thematische Durchführung des Plädoyers für die Differenz
und der jeweilige Versuch, dieses Plädoyer auch stilistisch zu reflektieren.“ (S. MÜNKER, A.
ROESLER 2000, S. 171)
Foucault in einem Gespräch mit P. Caruso; abgedruckt in: W. SEITTER, 1987, M. Foucault. Von der Subversivität
des Wissens, Fischer, Frankfurt a. M., 21ff.
Dieses Verschwinden bzw. diese Dezentrierung des Subjekts spielt übrigens auch in der PoststrukturalismusRezeption von A. Giddens eine zentrale Rolle: „Bei der Formulierung meiner Darstellung der Theorie der
Strukturierung habe ich nicht gezögert, mich auf Gedankenfiguren aus sehr unterschiedlichen Quellen zu beziehen.
Einige mögen das für einen nicht akzeptablen Eklektizismus halten, doch ich selbst habe die Stärke dieses
Einwandes nie sehen können ........ So erkenne ich zum Beispiel die Forderung nach einer Dezentrierung des Subjekts
an und halten diesen Ausgangspunkt für eine Grundlage der Theorie der Strukturierung. Allerdings akzeptiere ich
nicht, dass dies die Auflösung von Subjektivität in ein leeres Universum von Zeichen bedeutet.“ - A. GIDDENS,
1997, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Campus, Frankfurt a. M.,
New York, 35. Ein gewisser Eklektizismus bzw. ein Umformulieren von poststrukturalistischen Gedanken in
heuristische Leitsätze, die mit dem ursprünglichen Projekt der Philosophen dann aber nur mehr wenig gemein
haben, ist – wie weiter unten ausgeführt werden soll – auch typisch für weite Bereiche der sozialwissenschaftlichen
Poststrukturalismus-Rezeption.
15 F. DOSSE 1999b, 345. 411f. 418; dass der späte Foucault ein recht differenziertes Verhältnis zu seinen frühen
Arbeiten hatte (was auch «strikte Ablehnung» inkludierte), behauptet auch W. SEITTER (s. vorhergehende Anm.)
134f.
14
Abschließend ist zu sagen, dass heute natürlich nicht jedwede Philosophie poststrukturalistisch
geworden ist. Die Front der Kritik ist breit und hat gute contra-Argumente bereit (angefangen von
naturwissenschaftlichen - vgl. Appendix -, über soziologische bis hin zu inner-philosophischen),
um viel von dem ‘In-Frage-Stellen’ der Poststrukturalisten selbst wiederum in Frage zu stellen.
Um nur anzudeuten, wie tief hier die Gräben eigentlich verlaufen, folgendes Zitat (G. BÖHME
1998, S. 379): „Alle drei Momente - Historisierung, Wiederkehr des Subjektes und
Reflexivwerden - haben den Strukturalismus in der Philosophie [= das, was in dieser Arbeit
bisher generell als ‘Poststrukturalismus’ bezeichnet worden ist] geradezu zum Gegenteil dessen
werden lassen, was er auf der Ebene der Wissenschaft [= herkömmliche Bezeichnung
‘Strukturalismus’] war. Bei Foucault schon, dann aber deutlicher bei Derrida, Roland Barthes,
Deleuze und Baudrillard wird Philosophie zum höheren Spiel, zur Literatur, zum
unverwechselbaren Ausdruck einer Person. Sie ist nicht mehr eine erlernbare Kompetenz, sie ist
nicht mehr ein kollektives Unternehmen, zu dem im Prinzip jedermann einen Beitrag leisten
kann, sie ist nicht mehr methodisch nachvollziehbar: sie ist nicht mehr Wissenschaft.“16
Auf B. Latour, welcher konventionell nicht als poststrukturalistischer, sondern als postmoderner Philosoph
betrachtet, aber dennoch häufig von geographischen Autoren zusammen mit Poststrukturalisten rezipiert wird, auf
ihn und seine Wissenssoziologie ist in dieser Einleitung über die philosophischen Grundlagen noch nicht
eingegangen worden. Eine grundlegende Darstellung seiner Ideen findet sich (sozusagen) vor Ort, d.h. dort, wo die
Arbeiten seiner geographischen Rezipienten besprochen werden (v.a. W. ZIERHOFER 1999, 2000).
Gewissermaßen eine (zumindest implizite) Kritik der von ihm vertretenen Ansichten stellt die
‘wissenschaftssoziologische’ Aufrollung der sog. Affäre Sokal/Bricmont dar, welche im Appendix dieser Arbeit
nachzulesen ist.
16
II. „Siren calls of postmodernism“17 - Die Geographie und die poststrukturalistische
Philosophie
Bald nachdem der Strukturalismus seine ersten Erfolge gefeiert hatte und tw. sogar
populärwissenschaftlich geworden war (v.a. um die Mitte der 60er Jahre), begann mit der
Weiterentwicklung und Kritik des strukturalistischen Ansatzes die poststrukturalistische
Philosophie.18 Der Großteil der wichtigen zentralen Referenzwerke dieser philosophischen
Richtung (etwa die Arbeiten Derridas) entstanden bereits in den Sechziger- und Siebziger-Jahren.
D.h., ihre Rezeption durch Geographen erfolgte mit einer gewissen zeitlichen Distanz. Im
angloamerikanischen Raum begann diese erst um die Mitte der 80er Jahre (G. BENKO, U.
STROHMAYER 1997, S. 47). Die deutschsprachige Geographie befindet sich heute grosso modo
erst im Anfangsstadium der Bezugnahme auf diese philosophischen Ansätze.
Man kann an dieser Stelle zwei prinzipielle Fragen stellen: 1.) „Wie sehen die Geographen
überhaupt die poststrukturalistische Philosophie?“ und 2.) „Zu welchen konkreten Arbeitsfeldern
bzw. Fragestellungen führt ihre spezielle Sichtweise?“
Ad 1.) und gleich in concretam: Das Amalgam poststrukturalistischer Gedanken eines
geographischen Autors aus dem angloamerikanischen Raum sieht etwa folgendermaßen aus: Die
postmodern/-strukturalistische Philosophie vermittle: a.) die Kritik an der abendländischen
Rationalität + b.) Macht-Diskurse (Herrscher/Beherrschte) + c.) Pluralität: „Critics of the
Enlightenment argue that modernity has consistently generated a variety of victims - peasants,
workers, women, the colonized - and a system of disciplinary institutions (jails, hospitals,
psychatric institutions, schools) which must enforce reason. Postmodern social theorists crticize the
Enlightement for its fallacious rationalism, its universalizing and totalizing character, its arrogant
claims to supply absolute, universal truth ...... In brief, postmodernism considers reason to be an
historical and regional form of thought rather than a universal potential.“ (R. PEET 1997, S. 73)
Auch Benko (1997, S. 8) betont vornehmlich den ‘dekonstruktivistischen’ Aspekt dieser
Philosophie: „Postmodernism presents itself as a movement of deconstruction, intent on
dismantling the hierarchy of knowledge and values, undermining all that gives meaning and all
that has been erected as paradigm or model.“
Man muss hier noch anführen, dass zwischen ‘postmodern’ und ‘poststrukturalistisch’ insofern
eine gewisse Begriffsverswirrung besteht, da für Geographen das eine öfters für das andere zu
stehen scheint (oder für manchen Autor gar synonym ist?) bzw. vice versa. ‘Postmodern’ und
‘poststrukturalistisch’ werden etwa auch von dem deutschen Philosophen G. Böhme (1998, S.
379) synonym verwendet. Sind mit beiden Begriffen explizit philosophische Strömungen
gemeint, so bezeichnet ‘postmodern’ alleine gegebenenfalls auch eine Epoche (definiert über
ganz bestimmte sozioökonomische Aspekte) und die postmoderne/-strukturalistische ist dann
die dazugehörige Philosophie: „Whatever else postmodernism may be about, ... it represents an
attempt to come to terms with - to find the terms for - this bewilderment of the contemporary;
what might be called, with apologies to Edward Said, the dis-orientation of Occidentalism.“ (D.
GREGORY, zit. in A. PRED 1997, S. 130).19
Aber der ‘Knoten’ lässt sich folgendermaßen einigermaßen entwirren: Man muss sich dabei nur
verdeutlichen, dass innerhalb der (geographischen) Literatur ‘Postmoderne’ mit folgenden
unterschiedlichen Begriffsinhalten gebraucht werden kann: a.) als Epochenbegriff; b.) als
Stilbegriff (Architektur und Film); und c.) als philosophisch-theoretischer Zugang zu Wissen und
vgl. G. BENKO 1997, S. 28.
vgl. dazu allgemein F. DOSSE 1999b.
19 Zum Begriff ‘postmodern’ allg. s. auch das Kästchen auf der folgenden Seite.
17
18
Gesellschaft. Und ausschließlich letztere Bedeutung ist equivalent mit der des Begriffes
‘Poststrukturalismus’. (J. K. GIBSON-GRAHAM 2000, S. 95) Dennoch: in der Praxis kommen,
wie gesagt, weiterhin die verschiedensten Begriffe für im Prinzip ganz ähnliche Referenzen vor:
„In the present conjuncture, many human geographers have become swept up by currents loosley
referred to as poststructuralist, deconstructive, or postmodern; currents which braid in
innumerable ways with others within critical human geography, such as Marxism, feminism, and
postcolonialism.“ (M. DOEL 1999, S. 1)
Letztere Aussage verrät nun bereits etwas über die tatsächliche Rezeption von
poststrukturalistischen Ansätzen innerhalb der Geographie - von ‘innumerable ways’ ist da die
Rede und das potentielle Spektrum an Rezeptionsmöglichkeiten einer Philosophie, die von sich
aus schon Pluralität und Relationalität predigt, sollte erwartungsgemäss enorm sein. Unsere
Exkurs: Moderne - Postmoderne
Man kann wohl davon ausgehen, dass man mit Begriffen wie ‘Vormoderne’, ‘Moderne’,
‘Anti-Moderne’, ‘Spätmoderne’ und ‘Postmoderne’ konstruierte Gesellschaftszustände nach
mindestens fünf Kriterien klassifizieren kann: zeitlich, ideengeschichtlich, inhaltlich, räumlich
und raumzeitlich. Eine perfektionistische und schwierig zu bewerkstellende Klassifikation
wäre wohl eine ‘ideenraumgeschichtliche’. Sie wird an dieser Stelle entfallen. Man könnte
diese - zumindest aus ‘moderner’ und ‘spätmoderner’ Sicht universellen Begriffe - auch auf
bestimmte Einzelpersonen oder soziale Gruppen einschränken und somit weitere
Klassifikationen erzeugen, doch von dieser Möglichkeit sei an dieser Stelle abgesehen. 20
Zunächst ist festzuhalten, dass theoretische Überlegungen zumeist nur über historische,
inhaltliche und ideengeschichtliche Klassifikationen der ‘Zeitalter’ reflektieren, während die
räumlichen Klassifikationsmöglichkeiten in der Regel außer Acht gelassen werden. Nicht zuletzt
dürfte dies damit in Zusammenhang stehen, dass „Raum ... als etwas Totes, Fixiertes,
Undialektisches, Unbewegliches begriffen [wurde]. Im Gegensatz dazu stand Zeit für Reichtum,
Fruchtbarkeit, Leben, Dialektik.“ (M. FOUCAULT; zit. in G. WOLKERSDORFER, 2001, S. 36)
a.) Zeitliche Klassifikationen
In den mental maps der meisten Wissenschaftler scheinen vor allem bestimmte historische
Ereignisse in Zusammenhang mit dem Entstehen eines neuen ‘Zeitalters’ gebracht zu werden. So
wird der Begriff ‘Moderne’ mit verschiedensten historischen Ereignissen konnotiert: von
Habermas etwa mit dem 5. Jahrhundert nach Christus, um die römische Vergangenheit von der
christlichen Gegenwart zu trennen. Dabei drücke der Begriff ‘modern’ aus, dass die Menschheit
in einer Epoche lebe, die sich in Verbindung mit der Zukunft sehen würde. Andere bringen mit
der Moderne die Entdeckung der Neuen Welt im Jahr 1492 in Zusammenhang, oder mit der
Renaissance und der Reformation (G. BENKO 1997, S. 3).
Der Terminus ‘Postmoderne’ meint hier, dass wir in einer Zeit nach der Moderne leben. 1870
spricht der englische Salonmaler John Watkins Chapman davon, zu einer postmodernen Malerei
vorstoßen zu wollen. 1917 spricht Rudolf Pannwitz von einem postmodernen Menschen (W.
WELSCH 1993, S. 12). Ursprünglich wurde der Terminus ‘Postmoderne’ in der
Literaturwissenschaft entwickelt, und hat sukzessive Eingang in andere Bereiche gefunden, wie
z.B. in die Malerei, Architektur, 1968 in die Sozialwissenschaften (W. WELSCH 1993, S. 26) und
1979 in die Philosophie (W. WELSCH 1993, S. 31). Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts
Als Beispiel sei die Großmutter einer Bekannten erwähnt, die niemals in ihrem gesamten Leben ihre nähere
Wohnumgebung verlassen hat. Wer würde allen Ernstes behaupten, diese Frau hätte wirklich in der ‘Moderne’
gelebt?
20
sind schließlich auch Bücher über postmodernes Reisen, postmoderne Theologie und den
postmodernen Patienten erschienen (W. WELSCH 1993, S. 9), ehe in den letzten Jahren der
Begriff immerhin auch in der deutschsprachigen Geographie erschienen ist. Der Beginn der
Postmoderne wird gerne mit den emanzipatorischen Bewegungen im Jahre 1968 in Verbindung
gebracht oder auch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in den osteuropäischen
Staaten im Jahre 1989 / 1990.
b.) Ideengeschichtliche Klassifikationen
Grenzt man ‘Zeitalter’ ideengeschichtlich voneinander ab, dürften diese eigentlich gar nicht mehr als ‘Zeitalter’
bezeichnet werden, sondern könnten etwa ‘Ideenzeiten’ genannt werden. So bezeichnet Lyotard schon Aristoteles,
der zwischen drei verschiedenen Formen der Vernunft zu unterscheiden wusste, als ‘Postmodernen’ (W. WELSCH
1993, S. 82), was wiederum aus der Sicht des Modernisten paradox anmuten mag, da seiner Meinung nach zur Zeit
von Aristoteles die ‘Moderne’ noch gar nicht begonnen hat.
Die Moderne ist vor allem gekennzeichnet durch die rationale Bewusstwerdung des Menschen,
prägnant ausgedrückt in Descartes Worten: „Ich denke, also bin ich.“ Vielleicht könnte man als
Grundmetapher einer ökologisch-gemeinschaftlichen Postmoderne: „Wir denken und
empfinden, also sind wir.“ und einer technokratischen Postmoderne: „Wir sind
Wunschmaschinen.“ (G. DELEUZE, F. GUATTARI, zit. in S. MÜNKER, A. ROESLER, 2000,
S. 68ff.) entgegenhalten. Andere definieren die Moderne als Wechsel von absolutistischen
Regierungen zu Demokratien. Für viele ist es die Aufklärung, die nach der französischen
Revolution erst einen eigentlichen Schub für die Moderne bringt. Die Vision des Fortschritts zu
einer besseren und gerechteren Gesellschaft, zu einem unendlichen Fortschritt des Wissens und
die rationale, logozentrische Denkweise werden bestimmend. Fünf Revolutionen, die teilweise
unabhängig voneinander stattfanden, können für den Wechsel zur Moderne gekennzeichnet
werden: die Wissenschaftliche, die Politische, die Kulturelle, die Technische und die
Industrielle(n). Die Aufklärung wurde aber von Anfang an mit starken Gegenkräften
konfrontiert, wie etwa den Romantikern, mit dem jungen Hegel und dem jungen Marx, später
Adorno und den Anarchisten bis hin zu den Postmodernen. Es bleibt festzuhalten, dass jene, die
an der Grundmetapher ‘Moderne’ festhalten, tendenziell an so etwas wie einen fortschrittlichen
Ablauf der Geschichte glauben, während Postmoderne diese Linearität hinterfragen.
c.) Inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Betrachtet man nun die Moderne und die Postmoderne inhaltlich, so können folgende
Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden:
• Beide Konzepte wurden im Abendland entwickelt (dies ist zugleich ein räumliches Kriterium).
• Die Konzepte sind mit Ausnahmefällen keinesfalls trennscharf, auch wenn sich Vertreter beider Richtungen
gegeneinander abzugrenzen vermögen.
• Die Ideale der französischen Revolution wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gelten
weiterhin und /oder werden radikalisiert und/oder auf „hybride Gegenstände“ 21
ausgeweitet.
Folgende - etwas überzeichnete - inhaltliche Differenzen sind festzuhalten:
• Die Moderne glaubt eher an Konsens, die Postmoderne setzt auf (Konsens im) Dissens.
• Die Moderne glaubt an Identität, die Postmodernen hebt die Differenz als Grundfigur hervor,
die sich notwendigerweise aus der Identifizierung einzelner Subjekte ergeben würde.
• Die Moderne glaubt an die Vernunft (oft an eine einzige), die Postmoderne glaubt an viele Rationalitäten, an das
Ende der sog. ‘Meta-Erzählungen’ und dekonstruiert diese.
21
So fordert B. LATOUR ein „Parlament der Dinge“.
• In der Moderne entwickelten sich mächtige Bürokratien, Technologien, Staaten(systeme) samt
staatlicher Gewalt, und wissenschaftliche Ideen, denen viele Postmoderne kritisch
gegenüberstehen.
• Wenn Rationalismus, Wachstum, Beschleunigung, Fortschritt, Dichotomie und Kausalität
einige Grundmetaphern der Moderne sind, dann werden diese von den Postmodernen als
Metaphysik bezeichnet und der Glaube an Chaos, Rhizomatisches Denken,
Indeterminismus und Selbstorganisation wird hochgehalten (W. WELSCH 1993, S. 11).
• Die Moderne glaubte eher an Einheit und Vereinheitlichung, die Postmodernen eher an
Relativierung und Pluralisierung.
• Die Moderne glaubt an den Universalismus, die Postmoderne an den Partikularismus, da die
Moderne zu oft ihre eigenen Partikularismen in totalitärer Manier universalisiert hätte.
• Die Postmoderne wirft der Moderne vor, anthropozentrisch, rassistisch, logozentristisch, sexistisch, dualistisch und
/ oder zentralistisch zu denken (W. ZIERHOFER 1999, S. 7). Die größten Umweltzerstörungen, die
Zunahme der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, die schrecklichsten Völkermorde und Kriege
hätten aus Sicht der Postmodernen im Zeitalter der Moderne stattgefunden. Die Modernen sehen diese
Vorkommnisse als einen Rückfall in eine ‘vormoderne’ Barbarei an und werfen den Postmodernen
ihrerseits vor, chaotisch, fortschrittsfeindlich und unstrukturiert zu denken.
• Die Moderne geht von einem Zentrum oder Subjekt aus (wenn auch implizit), die Postmoderne
radikalisiert diese Denkweise oder verlässt sie.
In diesem Zusammenhang spricht Gregory (zit. in G. WOLKERSDORFER 2001, S. 23) auch davon, dass die
Moderne durch vier Prozesse gekennzeichnet sei: die Verabsolutierung von Raum und Zeit, die Entdeckung der
Welt, die Subjektzentrierung und die Trennung von Kultur und Natur. Moderne als geschichtliche
Erfahrungskategorie kann als kapitalistischer Expansionsprozess betrachtet werden, als eine alltägliche Erfahrung
aber auch als ein kulturelles Erbe der Avantgarde und der ästhetischen Produktion (G. BENKO 1997, S. 5).
Dagegen kann die Postmoderne als Zeitalter der Inflation ästhetischer Produktion betrachtet werden, als Zeitalter
der Selbstlegimitation von versch iedenen Erzählweisen und als Transformationsprozess, der eine Vielzahl politischer,
wirtschaftlicher (Postfordismus) und sozialer Interaktionen (Individualisierung) beinhaltet (G. BENKO 1997, S. 11).
Diese vereinfachte Wiedergabe suggeriert, dass die beiden Weltanschauungen einander völlig
ausschließen würden und verschleiert die Tatsachen, dass es sehr viele Mischformen gibt und
dass neben den Hauptideologen der Moderne wie z.B. Newton und Descartes und dem
Hauptideologen der Postmoderne, Lyotard, kaum ein Wissenschaftler eine derart ‘reine’ Version
der Moderne bzw. Postmoderne erzählt. So wendet sich z.B. Habermas sehr ausführlich gegen
Lyotards Konzept der postmodernen Vielfalt und des Dissens, entwickelte aber seinerseits ein
Konzept verschiedener kommunikativer Rationalitäten. Ihn unterscheidet aber von Lyotard, dass
er (noch) an die Kraft des Konsenses im kommunikativen Diskurs glaubt, während Lyotard die
Differenzen hervorhebt und geradezu feiert. Habermas wendet sich aber auch gegen den
Terminus Postmoderne, obwohl Teile seines Konzeptes andererseits von manchen
Postmodernen angenommen werden. So entwickelt Welsch seinerseits ein philosophisches
Konzept der transversalen Vernunft, (W. WELSCH 1993, S. 295ff.) in welchem er
Verbindungslinien zwischen modernem und postmodernem Denken aufzuzeigen vermag.
Dennoch wäre es zu einfach, die Postmoderne einfach als rein relativistische und pluralistische
Anschauungsweise zu denken, da es auch innerhalb der Postmoderne viele Tendenzen gibt, wie
man Einheit in einer Vielfalt der Meinungen gewinnen kann (P. TEPE 1992, S. 23ff.).
Während z.B. manche Postmodernisten sich eine Integration der zersplitterten Gesellschaft zu
erhoffen scheinen (beispielsweise durch einen neuen Mythos), erwarten andere Postmodernisten
eine Epoche gesteigerter Pluralisierung und Fragmentierung. Während die einen schlicht das
Zeitalter der Technologie, der Flexibilität, des von allen Schranken ‘befreiten’ Kapitalismus mit
der Postmoderne in Verbindung setzen, bringen andere Stichworte wie ‘grün’, ‘alternativ’ und
‘ökologisch’ in die Debatte ein. Das Paradoxon der Postmoderne scheint gerade darin zu liegen,
solch unterschiedliche Ansichten unter einem gemeinsamen begrifflichen Dach nicht mit-,
sondern eher nebeneinander zu vereinigen.
d.) Räumliche und Raumzeitliche Klassifikationen
Vorerst ist festzuhalten, dass man die ‘Zeitalter’ der Moderne und Postmoderne unter einer
räumlichen Klassifizierung auch z.B. ‘Raumfiguren’ oder ‘Raumzeiten’ nennen könnte. Wenn
man Modernisierung räumlich betrachtet, ist auffällig, dass es für die meisten Europäer
selbstverständlich zu sein scheint, in der Moderne zu leben. Für viele Albaner dürfte dies - lapidar
ausgedrückt - allerdings einfach nicht zutreffen. Auch wer in der Mongolei oder in einigen
Gegenden Afrikas unterwegs ist, wird meinen, noch nicht in der Moderne unterwegs zu sein,
bzw. in einem eigenartigen Mischuniversum aus Vormoderne und Hypermoderne. Dazu eine
Anekdote von Anthony Giddens (2001, S. 17): „Eine gute Freundin von mir erforscht die
Lebensgewohnheiten der Dorfbewohner in Zentralafrika. Als sie vor einigen Jahren zum ersten
Mal in den abgelegenen Landstrich fuhr, in dem sie ihre Feldstudien durchführen wollte, wurde
sie am Tag ihrer Ankunft von einem der Dorfbewohner zu einer Abendgesellschaft in sein Haus
eingeladen. Sie hoffte dabei, etwas über die Freizeitgestaltung dieser isoliert lebenden
Gemeinschaft zu erfahren. Es stellte sich allerdings heraus, dass der Anlass der Zusammenkunft
eine Vorführung des Videos von Basic Instinct war. Der Film lief zu dieser Zeit noch nicht
einmal in den Londoner Kinos.“ Bedenkt man nun, dass in weiten Teilen der sog. ‘Dritten Welt’
die Industriealisierung noch gar nicht oder gerade erst begonnen hat, dass gleichzeitig die
Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, sauberem Wasser und Medizin in weiten Teilen der Welt
so schlecht ist, dass täglich ca. 80000 Menschen an Hunger und vermeidbaren Krankheiten
sterben, so sollte man nicht unbedingt davon sprechen, dass die gesamte Erde modernisiert sei selbst wenn manche Dorfbewohner in Afrika einen Kinofilm früher auf Video sehen als viele
Europäer. Vielleicht ist es unangebracht, von einem Ende der Meta-Erzählungen der ‘Moderne’
zu sprechen, aber auf jeden Fall scheint es gerechtfertigt zu sein, davon auszugehen, da ss
Modernisierung und Postmodernisierung auch raumzeitlich diffundieren und nicht gleichzeitig an
allen Orten der Erde gleichsam ‘vom Himmel gefallen sind’. Auch die ideologische Ausweitung
der ‘modernen’ Begrifflichkeit über die gesamte Erdoberfläche, wie etwa durch den Terminus
‘Globalisierung’ suggeriert, ist fragwürdig. Denn es wird am obigen Beispiel sehr deutlich, dass
‘Moderne’ und ‘Postmoderne’ westlich zentrierte Begriffe sind, die westliche
Lebensanschauungen, Werte und Technologien exportieren (sollen).
Man kann deutlich erkennen, dass erstens an verschiedenen Orten dieser Erde zu gleichen
Zeitpunkten verschiedene Stadien der Modernisierung bzw. Postmodernisierung zu beobachten
sind22, dass zweitens die Modernisierung bzw. Postmodernisierung zu unterschiedlichen
Zeitpunkten und Orten unterschiedlich schnell stattfinden. Konzepte wie Modernisierung und
Postmodernisierung können auch räumlich und raumzeitlich verortet bzw. vermessen werden,
und es wäre sicherlich äußerst fruchtbar, wenn dies in einer ausführlichen geographischen Studie
geschehen würde. Die unterschiedlichen Stadien der (Post)-Modernisierung können
beispielsweise an folgenden Beispielen festgehalten werden: Einerseits war in der Zeitschrift
‘New Yorker’, zweifellos einem der westlichen Innovationszentren, nämlich schon 1970 davon
die Rede, dass wir in der Post-Postmoderne leben würden, (W. WELSCH 1993, S. 10) während
über den gesellschaftlichen Entwicklungsstand in Österreich gesagt werden könnte, er würde sich
direkt aus einem monarchistischen Gebilde der Postmoderne zuwenden. Es ist also - selbst
anhand dieses einfachen Vergleiches - ersichtlich, dass es auch so etwas wie Innovationszentren
der modernen bzw. postmodernen Sprachspiele gibt, und dass die Begriffe, die in diesen räumlich
verortbaren und gleichzeitig in einem „Space of flows“ (M. CASTELLS) befindlichen
Innovationszentren (oft global cities) erzeugt werden, auch einem - wenn auch nur schwer mit
Auf eine ausführliche Typologie wird hier verzichtet, aber es ist offensichtlich, dass eine solche erstellt werden
könnte. Für eine vergleichende Studie in mehreren Gesellschaften aller Kontinente vergleiche etwa R.
INGLEHART, 1998, Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel
in 43 Gesellschaften, Frankfurt / New York.
22
herkömmlichen Methoden auf einer Karte darstellbaren - raumzeitlichen Diffusionsprozess
unterliegen.
Die weitgehend technologische Typisierung, die etwa von Giddens und Werlen angewandt wird,
vermag zwar die raumzeitliche Transformationen der Moderne zu erfassen, greift jedoch
hinsichtlich der sozialen Veränderungsprozesse zweifellos zu kurz. Hier sei das Konzept der
raumzeitlichen Entbettung der spätmodernen Lebensformen (B. WERLEN 2000, S. 34) in aller
Kürze den traditionellen Lebensformen (B. WERLEN 2000, S. 32) gegenübergestellt:
Traditionelle Lebensformen:
1. Traditionen verknüpfen Vergangenheit und Zukunft
2. Verwandtschafts-, Stammes- und Standesverhältnisse organisieren und stabilisieren soziale
Beziehungen in zeitlicher Hinsicht
3. Herkunft, Alter und Geschlecht bestimmen soziale Positionen
4. Face-to-face-Situationen prägen die Kommunikation
5. Geringe interregionale Kommunikation
6. Die lokale Dorfgemeinschaft bildet den vertrauten Lebenskontext
Spätmoderne Lebensformen:
1. Alltägliche Routinen erhalten die Seinsgewissheit
2. Global auftretende Generationskulturen, Lebensformen und Stile
3. Soziale Positionen sind erwerbbar
4. Abstrakte Systeme (wie [Plastik-]Geld, Schrift- und Expertensysteme) ermöglichen
mediatisierte Beziehungen über große Distanzen hinweg
5. Weltweite Kommunikationssysteme
6. Die globale Stadt bildet den weitgehend anonymen Erfahrungskontext
Es ist offensichtlich, dass auch (post)moderne Menschen nicht gänzlich ohne traditionelle
Lebensformen (über)leben. So sind Herkunft, Alter und Geschlecht für das Erreichen vieler
sozialer Positionen noch immer ausschlaggebend. Man sollte z.B. auch nicht erwähnen müssen,
dass Frauen am Arbeitsmarkt noch immer diskriminiert werden und in Industriestaaten
durchschnittlich ca. ein Drittel weniger Einkommen als Männer beziehen. Auch Face-to-faceKommunikation wird in einer technologisch durchtränkten Welt nicht völlig unnötig werden, da
sie eine völlig andere Qualität als mediatisierte Kommunikation hat. Auffällig ist, dass mit einer
solchen raumzeitlichen Klassifikation, welche die Entbettungsmechanismen der Moderne
kennzeichnen soll, kein Begriffsraster für von vielen als postmodern bezeichnete Entwicklungen
wie Postmaterialismus, ökologische und emanzipatorische Bewegungen bereitgestellt wird. Es ist
nicht verwunderlich, dass Giddens und in der Folge Werlen ‘die’ Gesellschaft auf ihr verkürztes,
etwas technokratisch anmutendes Begriffsraster der Raum-Zeit-Ausdehnung beziehen und
zumindest erster in der Folge davon spricht, dass wir nach wie vor in einer modernen
Gesellschaft leben würden und er nicht zuviel Zeit auf das postmoderne Konzept verwenden
würde.23
Es ist nach wie vor unklar, auf wie viele verschiedene Methoden man eine (post)moderne Gesellschaft als solche
klassifizieren kann. Man wird aber weiterhin versuchen, die ‘perfekte’ Klassifikation für ‘Moderne’ und
‘Postmoderne’ zu finden bzw. versuchen, sich dieser in kritisch -rationaler Manier anzunähern.
Grundhypothese ist dabei nun, dass eine sinnvolle Aufteilung der Rezeption in mindestens vier
sich doch relativ deutlich von einander unterscheidende Weisen möglich, und vor allem auch,
dass es tatsächlich sehr ratsam ist, eine solche Unterscheidung vorzunehmen (bzw. eigentlich:
Unterscheidungskriterien) einzuführen. Denn das Spektrum dessen, wie, zu welchem Zweck und
A. PONGS, 2000, In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich II, Dilemma,
München.
23
mit welchem praktischen Erfolg (den man vielleicht immer noch am besten anhand der
Beantwortung konkreter Fragestellungen und dem Erkenntnisfortschritt messen sollte)
Poststrukturalismen in der Geographie unterkommen, ist außerordentlich breit und vielschichtig.
Der Umgang mit poststrukturalistischen Tendenzen innerhalb der rezenten Wissenschaften ist
vielleicht deshalb so schwierig, da die Philosophen dieser Richtung eben gerade behaupten, die
bisherige Rationalität (Logik, Methodologie, modus ponens etc.), selbst den Sinn des Sprechens und
Schreibens ‘zerstören’ zu können (der Verantwortung aber, im Gegenzug dazu erklären zu
können, warum Sprache und Kommunikation dennoch tagtäglich funktioniert, entzieht man sich
stillschweigend. Man könnte sagen: Die poststrukturalistische Philosophie versucht mit ihrem
‘Verlust des Sinns’ eine Hypothese von so universeller Gültigkeit ‘durchzuboxen’, dass sie damit
eigentlich auch ihre eigene Beweisführung anzweifeln müsste - dass sie es nicht tut, ist zumindest
einmal verdächtig). Diejenigen, die poststrukturalistische Ideen übernehmen und
weiterentwickeln wollen, übernehmen mit ihnen auch gleichzeitig (und zwar tatsächlich
automatisch) epistemologische Fragestellungen.
Diese metatheoretischen Tendenzen bleiben auch der geographischen PoststrukturalismusRezeption ‘beigemengt’; wenn auch auf keinem Fall systematisch, so finden sich auch dort immer
wieder Texte, die vorgeben, auf der epistemologischen Ebene etwas ändern zu wollen. In der
Praxis bzw. bei relativ konkreten Fragestellungen sieht es etwas anders, denn aus - und so viel sei
vorweggenommen - in der Geographie kommen poststrukturalistische Ideen nur etwas
‘verbogen’, zu einem gewissen Teil daher sicherlich durchaus nicht im Sinne des Erfinders, vor:
etwa dann, wenn innerhalb der deutschsprachigen Geographie von der Dekonstruktion Derridas
- also eines Autors der eine prinzipielle Zerlegung allen Sinns (d.h. letzten Endes auch der
Subjekt-Identität - ‘Dezentrierung des Subjekts’) als seine große Leistung verstanden hatte - nur
mehr überbleibt, dass jede soziale Wirklichkeit als konstruiert aufzufassen sei. Eine Einstellung
gegenüber der Welt, die sich uns nur über die gesellschaftliche ‘Konstruktion’ der Wahrnehmung,
Umwelt etc. aufschließt, wird somit von Derrida abgeleitet. Tatsächlich hat dieser Aspekt Derrida
in seinen philosophischen Schriften nur wenig interessiert. Und im Prinzip geht die
‘konstruktivistische Perspektive’ nicht auf diesen zurück, sondern ist v.a. das Programm der
Vertreter des sog. ‘Radikalen Konstruktivismus’ à la H. v. Förster, E. v. Glasersfeld u.a., einer
rein erkenntnistheoretischen Richtung.24 Bei weitem nicht bei allen geographischen
Einen Überblick dazu gibt S. J. SCHMIDT, 1996, Der radikale Konstruktivismus. Eine neues Paradigma im
interdisziplinären Diskurs, in: ders. (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, 7. Auflage, Suhrkamp,
Frankfurt, S. 11ff.
24
‘Konstruktivisten’ kommen aber die Vertreter dieser Richtung als Referenzautoren vor. Der
Kuhn, Epistemologien, etc.
metatheoretische Ebene
‘Paradigmen -Konzepte‘
theoretische Ebene
Poststrukturalismus
Theorien und Methoden
Praxis
Quelle: eigener Entwurf
Abb. 3: Geltungsbereich poststrukturalistischer Philosophie
Gebrauch des Terminus ‘Konstruktivismus’ durch die Geographen scheint sich daher bei
manchem einfach aus der Annahme ergeben zu haben, dass dort, wo von ‘Dekonstruktion’ die
Rede ist, auch einmal eine ‘Konstruktion’ stattgefunden haben sollte. Dass Landschaften,
Nationen etc. erst durch soziale Sinngebung ent- bzw. bestehen (reproduziert werden) ist sicher
richtig, kann aber nicht mit einem Verweis auf Derrida gerechtfertigt werden.25
Quasi analog zum vielfältigen und diversifizierten ‘Quellgebiet’ der poststrukturalistischen
Philosophie kommt diese innerhalb der Geographie nur eklektisch zum Tragen; bestimmte
Autoren rezipieren nur bestimmte Aspekte; so gehen etwa lediglich die Konsequentesten auch
auf die (totale) Sinndekonstruktion der différence/différance ein. Der Großteil beschäftigt sich nur
mit sozusagen ‘ausgewählten Kapiteln’; dass es dabei zu - grob gesprochen - so etwas wie
‘Bildung von Schulen’ kommen kann - etwa in der Form, dass sich deutliche Präferenzen dabei
zeigen, welche Autoren rezipiert werden -, zeigt ein Vergleich jener englischsprachigen Autoren,
die sich poststrukturalistische Ideen angeeignet haben, mit ihren deutschsprachigen Kollegen
(s.u.).
Eine sinnvolle Aufgliederung der bisherigen von poststrukturalistischer Geographie beeinflussten
Geographie - nämlich nach dem, in welcher Form der Einfluss stattgefunden und sich konkret in
den Arbeiten niedergeschlagen hat - scheint uns folgendes Schema zu bieten. Es orientiert sich
daran, wie die philosophischen Grundlagen reflektiert werden, ob die Autoren etwa nur
zusammenfassend eine deskriptive Wiedergabe der von ihnen gelesenen Philosophen geben, oder
ob sie die angeführten theoretischen Grundlagen auch gedanklich weiterentwickeln, ob ihre
Arbeit versucht konkrete Fragestellungen zu beantworten, oder ob sie dabei zu schlüssigen oder
etwa gar keinen Aussagen kommen:
a.) (in Folge 2.1.) metatheoretischer Diskurs: Man versucht die wichtigste, in gewisser Weise auch
‘epistemologische’ Behauptung der poststrukturalistischen Philosophie in die Praxis
umzusetzen: das Verschwinden des Sinns. Die Autoren partizipieren dabei an dem
vgl. J. DERRIDA, 1997, Die Schrift und die Differenz, 7. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt; und ders., 1998,
Grammatologie, 7. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt a. M..
25
Unternehmen, die Rationalität der abendländischen Geisteswelt, die drei Grundaxiome der
Logik zu dekonstruieren. Nach dem oben bereits ausgeführten wird niemanden überraschen,
dass bei einem solchen Programm auch - und das gerade im Zeitalter der Publikationsflut - die
Forderung nach methodischer Klarheit und möglichst klarer und leicht nachzuvollziehender
Argumentation auf der Strecke bleibt. Ein Verfechter des ‘gleitenden Sinns’ ist von der
Sinnlosigkeit des gesprochenen und geschriebenen Wortes überzeugt. Dass sie/er dennoch d.h. seit jeher und immer noch - in gedruckten Medien publizieren, könnte man ihr/ihm wahrscheinlich dann auch zu Recht - übel nehmen.
b.) (2.2.) (ledigliches) Reflektieren der theoretischen Grundlagen: Bei poststrukturalistischer
Philosophie handelt es sich sicherlich um eine der anspruchvollsten Literatur seit Heidegger
oder etwa Hegel. Alle Texte sind - oft programmatisch (assoziatives Nachjagen dem
gleitenden Sinn) - schwer lesbar und schwer verständlich. Alleine aufgrund dieser Tatsache
scheint es für viele Autoren von ‘Sekundärliteratur’ nahe liegend, die theoretischen
Grundlagen noch einmal zu reflektieren und zusammenzufassen. Neben der relativen Neuheit
dieser Ansätze dürfte es in der Natur der poststrukturalistischen Philosophie liegen, dass so
etwas tatsächlich ziemlich oft für notwendig erachtet wird - auch in Aufsätzen, die letztendlich
praktische Fragestellungen behandeln wollen, wird meist noch einmal ausgeführt, was etwa
Diskursanalyse bedeutet, woher sie kommt, etc. Einem Aufsatz z.B., der zum Ziel hat, ein
Themenheft über poststrukturalistische Tendenzen innerhalb der Geographie einzuleiten,
oder ähnlichen einleitenden Texten, die ebenso ausdrücklich den Zweck haben, den
spezifischen Wissensstand zusammenzufassen, kann man ein solches deskriptives
‘Zurschaustellen’ von theoretischen Aussagen anderer Autoren kaum vorhalten. Es gibt aber
darüber hinaus noch eine Reihe von anderen Aufsätzen, die im Prinzip über die Reflexion und
Deskription bisher geleisteter theoretischer Überlegungen nicht hinaus kommen. Es besteht
die Gefahr einer Theorie um der Theorie willen, denn für einen Geographen (immerhin der
Vertreter einer Spezialdisziplin) bestünde dann kaum noch ein wirklicher Anreiz, sich mit
dieser Denkrichtung zu befassen; sie hilft ihm in dieser Form keine neuen Problemstellungen
zu finden bzw. bestehende Fragestellung zu beantworten.
c.) (2.3.) von der theoretischen Reflexion zur sozialgeographischen Praxis: Das sind all die Texte,
die versuchen mit Aussagen der poststrukturalistischen Philosophie zu konkreten
(‘praktischen’) Ergebnissen zu kommen. Sie haben eine Forschungsfrage und versuchen diese
zu beantworten. Die interessanteste Frage ist hierbei vor allem, wie und vor allem zu welchen
Fragestellungen und Ergebnissen man dabei tatsächlich kommen kann. Würde man die
hypothetische Frage stellen, was denn die poststrukturalistische Philosophie für eine
Spezialdisziplin wie die Geographie denn eigentlich bringe, sollte man hier auf diesem Gebiet
am ehesten eine Antwort darauf bekommen.
d.) (2.4.) von der theoretischen Reflexion zur vermeintlichen sozialgeographischen Praxis: Es ist
vielleicht bezeichnend, dass es einigen Arbeiten gar nicht gelingt, von theoretischen
Fragestellungen loszukommen, bzw. es überhaupt passieren konnte, dass man aufgrund
theoretischer Überlegungen zu keinen bedeutenden Fragestellung kommt, und die dennoch
versuchten Antworten auf solche von einem respektabel komplizierten Theoriegebäude
gestützten Fragen unter dem Strich so banal sind, dass man sich zumindest insgeheim fragen
kann: „wozu der ganze Aufwand.“ Much ado about nothing?
Es ist klar, dass für eine Spezialdisziplin, wie es die Sozial-Geographie nun einmal darstellt, die
Arbeitsweise, die unter den Punkt c.) fällt, am wichtigsten sein muss. Konkrete Fragestellungen,
die immerhin eine Spezialdisziplin ausmachen, kommen vor allem dort vor und können nur dort
auch beantwortet werden. Für metatheoretische Diskurse, philosophisch-theoretische
Abhandlungen oder für eine Verbesserung der philosophischen Grundlagen fehlt - zumindest
einem Großteil der Geographen, dem aber mit Sicherheit – einfach auch eine gewisse
Kompetenz.26
1. Poststrukturalistische Philosophie und deren Rezeption durch englisch- und
deutschsprachige Geographen - eine quantitative Analyse
Diese Autorenanalyse basiert auf einer Auswertung von Arbeiten, die Geographie und
poststrukturalistische Philosophie verbinden wollen. Über die vergleichende und systematische
Betrachtung von Literaturverzeichnissen und Querverweisen wurde versucht, sicherzustellen,
dass eine repräsentative Grundgesamtheit ausgewählt wurde. In den Tabellen scheinen lediglich
die Primär-Autoren auf, die mindestens fünfmal (Grundgesamtheit der Zitate aller Autoren)
zitiert wurden.
Grundsätzlich lassen sich zwischen dem englischsprachigen und deutschsprachigen Raum
Unterschiede in der Rezeption poststrukturalistischer Autoren feststellen. Unter den
englischsprachigen Autoren macht die Diskussion von Lefebrves relativem Raumkonzept den
Abb. 4: Autorenanalyse - englischsprachige Literatur
(n = 291); poststrukturalistische Philosophen dunkel hervorgehoben
30
26
25
20
19
18
17
15
15
15
15
14
13
11
10
10
10
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Großteil der poststrukturalistischen Diskussion aus. Mit Ausnahme von Foucault werden die
poststrukturalistischen Autoren Lyotard, Derrida, Deleuze, Baudrillard, etc. relativ häufiger zitiert
als im deutschsprachigen Raum. Die Rezeption ist dort27 stark auf einen Autor (nämlich
Foucault) konzentriert, während poststrukturalistische Philosophen im angloamerikanischen
Raum häufiger und breiter gestreut zitieren.
Dass die Rezeption poststrukturalistischer Philosophie auch auf anderen Gebieten schief laufen kann bzw.
gelaufen ist zeigen Annotationen bei anderen Autoren: „Oftmals hat sich der Versuch einzelner Autoren, Künstler
oder Kritiker, mit rhetorischen Versatzstücken von J. Derrida, Deleuze, M. Foucault oder Lyotard zu spielen, auch
als barer Unsinn entlarvt.....“ (S. MÜNKER, A. ROESLER 2000, S. 175).
27 In die Zählung wurden alle in diesem Abschnitt beschriebenen Artikel aufgenommen, mit der Ausnahme von: W.
ZIERHOFER, 1999 und W. ZIERHOFER, 2000b, da die viermalige Berücksichtigung eines einzigen Autors das
Ergebnis stark zugunsten der Literaturpräferenzen dieses Autors verzerrt hätte.
26
Abb. 5: Autorenanalyse - deutschspachige Literatur
(n = 268); poststruktualistische Philosophen dunkel hervorgehoben
19
8
6
6
6
6
6
5
5
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25
20
15
10
5
0
Unter den Nicht-Philosophen kommen bei den englischsprachigen Autoren deutlich am
häufigsten (englischsprachige) Geographen vor; bei ihren deutschsprachigen Kollegen werden
neben Werlen auffallend oft Gesellschaftstheoretiker zitiert.
Vergleicht man gezielt die Zitierhäufigkeit bei den (zum Großteil) poststrukturalistischen
Referenzautoren, dann zeigt sich noch einmal deutlicher die Konzentration auf wenige Autoren
im deutschsprachigen, gegenüber einer höheren und ausgewogeneren Vielfalt im
englischsprachigen Raum.
Abb. 6: Zitierhäufigkeit ausgewählter Autoren in Texten der
englisch- und deutschsprachigen Geographie (in %)
35,0
englischsprachige Geographie
deutschsprachige Geographie
30,0
25,0
20,0
15,0
10,0
5,0
0,0
re
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D
G.
2. Gliederung der untersuchten Texte
A
metatheoretisch
B
theoretisch
C
pragmatisch
D
Irrtumskategorie
Curry 1997
Pred 1997
Strohmayer 1997a
Strohmayer 1997b
Reichert 1993
Benko 1997
Berque 1997
Cresswell 1997
Dear 1997
Dixon, Jones 1996
Doel 1999
Gibson-Graham 1997
Gregory 1997
Lipietz 1997
Natter, Jones 1997
Peet 1997
Shields 1997
Slater 1997
Soja 1997
Hasse + Maleczek 200028
Zierhofer 1997
Zierhofer 1999
Zierhofer 2000a
Zierhofer 2000b
Reichert 1996
Reichert 1998
Strohmayer 1998
Cooke 1997
Strassel 2000
Gibson-Graham 2000
Hannah 1997
Harvey 1996
Aufhauser 2001
Berndt 2001
Bauriedl et al 2000
Kutschinske und Meier 2000
Rhode-Jüchtern 1998
Wolkersdorfer 2001
Tab. 1: Klassifizierung der untersuchten Texte
(englischsprachige Autoren: kursiv; deutschsprachige: normal)
Auf den ersten Blick fällt auf, dass sehr viele der untersuchten Artikel im Sektor b.) stehen,
obwohl man die größte Häufigkeit bei einer anwendungsorientierten Spezialdisziplin, wie es die
Sozialgeographie nun einmal darstellt, im Sektor c.) zu erwarten hätte. Diese Tendenz ist vor
allem unter den angloamerikanischen Autoren besonders stark ausgeprägt. Bevor wir also mit der
Analyse der einzelnen Kategorien bzw. Artikel beginnen, kann vorweg einmal festgestellt werden,
dass es offensichtlich unter den poststrukturalistischen Geographen überproportional viele
‘Theoretiker’ gibt, denen einen ungleich kleinere Gruppe an ‘Praktikern’ gegenübersteht.
2.1. Metatheoretische Diskurse
Analog zu dem Postulat der Relationalität, Pluralität und dem Abhandenkommen eines
gemeinsamen Sinns habe einige - ursprünglich geographische, nun aber in poststrukturalistische
Philosophen verwandelte - Autoren versucht, in dem gleichen assoziativen und letztendlich
schwer bis unverständlichem Stil zu schreiben, wie das bestimmte Vorbilder getan haben. Der
Autor entledigt sich der Funktion etwas zu vermitteln und der Leser bleibt auf sich selbst gestellt
bzw., wenn er eine konkrete Aussage erwartet, auch auf der Strecke. Die Autoren befinden sich
selber in dem Dilemma, die Philosophie, die sie vertreten, auch auf den eigenen Text
28
Der Artikel von R. FALTER, J. HASSE 2001 wurde hier nicht berücksichtigt.
anzuwenden. D.h. bei einem radikalen Dekonstruktivisten dürfte man keinen Sinn in dem Text
finden können, bei einem gemäßigten führt das oft zu recht verschrobenen Formulierungen (M.
DOEL 1999, S. 4): „In their becoming-other, the schizoid figures that compose this book [Doel
meint hier seine eigene Monographie] - Baudrillard, Deleuze, Derrida, Foucault, Guattari, Ha rvey,
Irigaray, Lyotard, and Olsson, among others - are symptoms of poststructuralist geography.
These names are neither personal nor authorial, and still less do they index a total body of work.
Rather, they lend consistency to particular configurations of signs and symptoms, each
composing a particular way of existing in the world. If one gives a body of signs a proper name,
such as ‘Baudrillard’ or ‘Deleuze’, it is because of the new symptomatology that they propose.“
Preds Aufsatz „Re-Presenting the Extended Present Moment of Danger: A Meditation on
Hypermodernity, Identity and the Montage Form“ erklärt sich vornehmlich aus seinem Titel: es
ist a.) tatsächlich eine einfache Aneinanderreihung (‘Montage Form’) von Zitaten und (meist
stichwortartig notierten) Gedanken (Meditation)29 - der Rekurs auf das ‘Gleiten des Sinns’ à la
Derrida wird darin eingestreut explizit erwähnt (A. PRED 1997, S. 131). Es gibt wahrscheinlich
keine Aussage dieses Artikels, die einigermaßen zusammenfassbar und vermittelbar wäre.
Analog verhält es sich mit dem Aufsatz von Strohmayer (1997), der zwar sagt, eine konkrete
Fragestellung zu haben („The following essay seeks to analyse a question that is deceptively easy
to phrase: what is the smallest unit of analysis within the human sciences? [also wieder eine
Fragestellung mit so etwas wie ‘Absolutheitsanspruch’] Or, to paraphrase only slightly, where is
the original site of identity?“ - U. STROHMAYER 1997, S. 162), dann aber das Problem hat,
kontinuierlich immer unverständlicher zu werden. Auch hier tauchen Charakteristika eines
unkonventionellen Schreibstils auf, etwa das Verrücken der Zeilen, Worte, das Durchstreichen
von Phrasen, die unmotivierte Anordnung von Textfeldern, oder etwa auch Fußnoten, die auf
nichts verweisen.30 In all dem, was auf die Fragestellung folgt, haben wir keine Antwort auf
dieselbe finden können. Und dafür gibt es prinzipiell nur zwei Erklärungsmöglichkeiten: a.)
entweder haben nur wir den Text nicht verstanden; oder b.) die Antwort darauf gibt es
tatsächlich nicht (so oder so, Strohmayer ist als Dekonstrukteur Erfolg beschieden). Abgesehen
vom Verschwinden der Aussage des Artikels mit dem Sinn, ist klar, dass so wie Strohmayer seine
Fragestellung formuliert hat, er auf der metatheoretischen Ebene mitmischen möchte; er hat,
auch wenn es seiner Philosophie wahrscheinlich entgegensteht, versucht ein Problem von
universalistischer Gültigkeit zu untersuchen.
Ein ebenfalls mehr ‘philosophisches’ als spezifisch ‘geographisches Problem’ ist Currys Aufsatz
(Curry 1997) über das Verschwinden des geographischen Textes - das ist genau genommen ein
besonders metatheoretisches Thema, denn es hätte so gut wie jeder andere Text auch mit im
Prinzip den selben Elementen zum Verschwinden gebracht werden können. Von Descartes über
Locke, Kant, Fichte bis hin zu Wittgenstein und die postmodernen Philosophen (vor allem
Latour) wird ein ganzes Regiment von Referenz-Autoritäten aufgerufen, um ein ausschließlich
Diese Gedanken haben oft die Form des folgenden Text-Beispiels (Zeilenumbruch und Zeichensetzung wurden
penibel eingehalten; es ist kein Formatierungsfehler unsererseits):
“The day-today and minute-to minute
worlds in which we live
are perhaps post-‘high modern,’
but difficult to defend as postmodern;
for,
any placing of the ear to the ground
of past times and places
would aurally reveal that we are not literally completely beyond the
modern modes of life that appeared in conjuncture with specific
forms of industrial capitalism.......” (A. PRED 1997, S. 123).
30 z.B. Anm. 130 auf S. 177.
29
metatheoretisches Problem aufzurollen. Weder die Argumentation noch das Ergebnis sind so
klar, dass es möglich wäre, es prägnant wiederzugeben.
Reichert thematisiert in ihrem Artikel „Subjection objected“31 auf assoziativ-bruchstückhafte
Manier das Verhältnis zwischen Epistemologie und Ontologie und zwischen Natur und Kultur.
Der kurze Artikel besteht quasi nur aus Fragmenten und erinnert eher an einen inneren Monolog
denn an eine wissenschaftliche Arbeit in ‘üblicher’ Form. „Subject vs. object.. can man’s
destruction of the environment be reduced as long as we define ourselves as the other of
nature… is there a more humane society possible as long as we see ourselves as that which the
others are not… dominating forms of human selfunderstanding… written down in the grammar
of our laws the relations between men and women the functioning of the economy” (D.
REICHERT 1993, S. 195) Dazwischen werden Aussagen von Hegel, Foucault, Freud und
Shakespeare zitiert:
„In the western tradition, confession has become the most important technique for the
production of truth. … One confesses one’s crimes one’s sins, one’s thoughts and desires, one’s
illness and troubles.” (M. FOUCAULT, zit. in D. REICHERT 1993, S. 197)
“Desdemona: Am I that name, Iago?
Iago: What name, fair lady?
Desdemona: Such as she says my lord did say I was.” (W. SHAKESPEARE, Othello, Akt 4, 2.
Szene; zit. in D. REICHERT 1993, S. 197)
“The proposition thus arising have been stated as universal laws of thought. Thus the first of
them, the maxim of Identity, reads: ‘Everything is identical with itself, A=A; and, negatively, A
cannot at the same time be A and not A.” (G. W. F. HEGEL, zit. in D. REICHERT 1993, S.
199)
Ergänzt wird der Artikel durch eine ‘Karte des Denkens’, in der verschiedene Gedankenströme
(‘streams of thought’) visualisiert sind. Darin werden die dialektische Logik, die griechische
Tradition (Parmenides) oder auch Freud selbst eingezeichnet. Eine Geschichte bzw. ein Märchen
über die Entstehung der Ich-Identität ist ebenfalls eingebaut. Der Artikel thematisiert die
Nicht/Trennung von Epistemologie und Ontologie sowie von Subjekt und Objekt. Klare
Aussagen sind schwer herauszulesen und wohl auch nicht beabsichtigt. Der Artikel erinnert eher
an eine Abbildung von ‘Gedankenräumen’. Als programmatische Komponente könnte ein
Hinterfragen der herkömmlichen Konstruktionen von Identität, Ich und andere, Ontologie und
Epistemologie - also eine implizite Kritik an der westlich-modernen Art der hierarchischen
Differenzierung von Gegensatzpaaren (vgl. das Konzept von Derrida) - herausgelesen werden.
2.2. Reflektieren der theoretischen Grundlagen
Dear (1997) reflektiert die Arbeiten von den zwei Autoren H. Lefebvre und F. Jameson, vor
allem deren Raumkonzepte (einerseits: Räume sind immer mit Sinn aufgeladen; man kann daher
eine Typologie von verschiedenen Raum-Kategorien erstellen, die jeweils bezeichnen sollen, in
welchem Sinnzusammenhang eingebettet der Raum besteht; andererseits werden neue
postmoderne Möglichkeiten eines solchen ‘place-making’ besprochen - wobei sich die
praktischen Beispiele mit einigen allgemeinen Aussagen über zwei Gebäude in Los Angeles, also
über Architektur, erschöpfen - M. DEAR 1997, S. 59). „The consistencies and nonconformities
D. REICHERT, 1993. Da die Muttersprache der Autorin und auch jene der Herausgeber des Sammelbandes
Deutsch ist, zählen wir diesen Artikel zur Kategorie der deutschsprachigen Autoren, auch wenn er in englischer
Sprache verfasst wurde.
31
in the conjoined projects of Lefebvre and Jameson offer profoundly important insights into the
ways of place-making of the late twentieth century. More than most, Lefebvre allows us to
understand the process of place-making; and Jameson shows us new ways of postmodern placemaking. Only the foolish would ignore these challenges“ (M. DEAR 1997, S. 67). Der Aufsatz
‘erzählt’ nur die bereits geleistete Arbeit von zwei Autoren und hat wohl in dem
Zusammenbringen beider die Innovation seines Aufsatzes gesehen. Praktische Beispiele für den
von ihm propagierten Ansatz zu geben, hat er nicht für notwendig befunden.
Die Diskussion von postmodernen Raumkonzepten nimmt überhaupt einen Großteil der
Argumentation angelsächisch-geographischer Autoren ein. Auch Shields (1997, S. 187)
interessiert vornehmlich das „Problem with ‘Space’“. Die Grundaussage dieses, wie auch anderer
Aufsätze (z.B. Natter, Jones 1997), lässt sich als ein Reflektieren der Thesen umschreiben, dass
sowohl Räume und mit diesen Räumen wiederum Identitäten konstruiert werden. Räume
kommen durch soziale Prozesse zustande und sind daher in weiterer Folge nichts mehr als soziale
Bedeutungszuweisungen. Statt konkrete Beispiele oder Untersuchungen zu liefern, beschränkt
man sich meist darauf, bereits Bekanntes resümierend zu wiederholen. Z.B. Natter und Jones
(1997, S. 158): „A nonessentialist stance towards social space - which for us includes space and
identity in an ever open dialectic - thus points to a praxis that recognizes that no identity/space is
so colonized by hegemony as to remove all traces of its organizing power. The form of resistance
most antithetical to hegemony is one that refuses the emplacement of categorically designated
identifications, while offering a potentially effective strategy for reconfiguring nodal points of
both identity and space.“
Auch Gregory (1997) ist wiederum ‘nur’ eine theoretische Reflexion von Lefebvre (immer wieder
dessen „La production de l’espace“) und Lacans Psychologie. Im Endeffekt kommt der Artikel
über das Beschreiben von dem, was diese beiden Wissenschaftler alles an Interessantem gesagt
haben, nicht hinaus.
Im Gegensatz dazu verfolgt Peet (1997) eine relativ ‘konkrete’, aber immer noch rein
theoretische, Fragestellung. Nämlich inwieweit die Kritik an der abendländischen Rationalität, am
‘logo-zentrischen’ Denken, die Vorstellungen von (ökonomischer) Entwicklung und sozialer
Gerechtigkeit in Frage stellt. Vor allem Angriffe mit dem Foucaultschen Werkzeug der
‘Diskursanalyse’ werden besprochen und dann vom Verfasser des Artikels relativiert.32 Grob
gesprochen funktioniert die Argumentation folgendermaßen: Es gebe ja immer - trotz aller
Relativität - bestimmte soziale Konstellationen, die für die Produktion und Reproduktion von
Wissen und Macht verantwortlich zu machen sind. Daher sind auch Aussagen über sozial
Benachteiligte zulässig, und: „.... socialist development means transforming the conditions of
reproduction within directly democratic and egalitarian social relations of control so that the
needs of the poorest people are met.“ (R. PEET 1997, S. 85)
Um noch einmal auf die sicher einem Großteil der Geographen fehlende philosophische
Kompetenz zurück zu kommen: Die Tendenz, selbst postmoderne Philosophie und
Argumentationen weiter vorantreiben zu wollen, soll noch durch zwei Beispiele für konkrete
Falschaussagen illustriert werden. Es dürfte wohl klar sein, dass eine sachliche Kritik der
Kategorie ‘Sinn dekonstruierender’ Aufsätze nicht möglich ist. Wo es keine Argumentation gibt,
können auch keine Fehler in der Argumentation nachgewiesen bzw. Gegenargumente entwickelt
werden. Es gibt aber in Texten, die auf dem Boden der Rationalität bleiben, Hinweise darauf,
dass manche Geographen aus irgendwelchen Gründen die philosophische Bezugsquelle nur
unzureichend verstanden haben: Etwa wenn D. Gregory im Rahmen der Besprechung von
Lefebvres Raumkonzept und der Lacanschen Psychologie ersteres („..... to sharpen Lefebvre’s
argument“) durch Foucault bestätigt sieht. Das folgende Zitat ist aber, vollkommen aus dem
32
Für die Argumentation s. R. PEET 1997, S. 78f.
Zusammenhang gerissen wird das vielleicht auch wegen der sonst üblichen symbolischen und
wortgewaltigen Sprache gewisser Poststrukturalisten nicht sofort klar, nicht Foucaults eigene
Meinung, sondern dessen Résumée über die Weltanschauung der neoplatonischen Philosophie,
im Detail der Sympathie zwischen Mikro- und Makrokosmos (D. GREGORY 1997, S. 217)33.
Heutzutage noch mit neoplatonischer Philosophie zu argumentieren ist tatsächlich aber nicht
mehr als ein schlechter akademischer Scherz. So unklar Foucault auch geschrieben haben mag,
ihn deswegen zum Neoplatoniker zu degradieren ist schon ein starkes Stück, das sich niemand
anderer (und da vor allem die Philosophie-Studenten) nicht einmal in einer niederrangigen
Lehrveranstaltung hätte erlauben dürfen.
Eine andere Falschaussage liegt sicherlich vor, wenn Gibson-Graham (2000, S. 96) den
Unterschied zwischen Poststrukturalisten und Strukturalisten damit erklärt, dass erstere
gegenüber letzteren durchgesetzt hätten, dass die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat
nicht fix sei. („But perhaps their most salient move was to call into question the fixed relationship
between signifier und signified that characterized Saussurian linguistics“). Das ist so - man vgl.
die einleitenden Kapitel - schlicht und einfach falsch. Die Aussage entbehrt insofern nicht einer
gewissen Ironie, da gerade derjenige, der in der Neuzeit die Arbitrarität des Zeichens durchsetzte
(de Saussure eben), vollkommen um seinen Verdienst gebracht wird und nunmehr stellvertretend
für das ignorans seiner eigenen Theorie herhalten muss.
Der Aufsatz von Dixon und Jones34 (1996) ist ein gutes Beispiel für die sehr eigenartige
Veranschaulichung einer poststrukturalistischen Programmatik. Ein beliebiges und keinesfalls in
irgendeiner Beziehung zum tatsächlichen Untersuchungsgegenstand stehendes Ereignis wird von
den Autoren dafür herangezogen, um bestimmte normative Aussagen über den Charakter
geographischen Denkens und Theoretisierens zu rechtfertigen. So wird dann im Text mit dem
wundersamen Titel „For a Supercalifragilisticexpialidocious Scientific Geography“ die Kritik an
eingefahrenen Denkweisen innerhalb der Geographie mit einem unpassenden, aber - der Ansicht
der Autoren zufolge - parabelartigen Vergleich mit dem Handlungsverlauf im Film-Musical ‘Mary
Poppins’ gerechtfertigt! Die Hauptaussage des Stückes interpretieren sie folgendermaßen (D. P.
DIXON und J. P. JONES 1996, S. 779): „Though ostensibly a story about an all-too-perfect
nanny, the film’s key protagonists serve as allegorical figures animating our analysis. Fortunately
for all concerned, the banker/patriarch comes to the realization that he too can countermand
rather than reproduce the fixed spaces of everyday life.” Ihre daran anschliessende Kritik an
stereotyper Kritik durch Poststrukturalisten liest sich dann folgendermassen; „Contemporary
geographic thought finds scientific approaches triangulated by critiques launched by various
political economy, feminist, and poststructural positions. In aiming their conceptual arsenal at
fixed understandings of scientific geography, however, such critiques run the danger of
essentializing their intended target. Moreover, in the consequent stabilization of the trajectories
taken by these critiques, the process of criticism itself becomes an unreflexive exercise. In this
paper we deploy the resources of poststructuralism to achieve an antiessentialist reading of
scientific geography…” (D. P. DIXON und J. P. JONES 1996, S. 779). Höchst widersprüchlich
erscheint an diesem Absatz, dass die Autoren einerseits die stereotype, unreflektierte Kritik unter anderem auch jene der Poststrukturalisten - anprangern, andererseits aber zwei Sätze später
selbst auf das Arsenal der Poststrukturalistischen Kritik zurückgreifen, um eine
antiessentialistische Lesart von wissenschaftlicher Geographie zu erreichen. Damit weisen die
Autoren - ob absichtlich oder unabsichtlich bleibe dahingestellt - höchstens darauf hin, dass man
eben nicht alles poststrukturalistisch dekonstruieren kann, ja dass die Methode der
Zwar sagt D. GREGORY eine Seite weiter, dass M. FOUCAULT das im Rahmen der episteme des 16. Jh.
behauptet habe, misst dem aber keine weitere Bedeutung bei, und aus dem Zusammenhang - wie aus der formellen
Positionierung der vermeintlichen M. FOUCAULT-Aussage als „Argument“ - geht eindeutig hervor, dass er damit
tatsächlich M. FOUCAULTsche Unterstützung für seine Lefebvre-Interpretation gewonnen hätte.
34 Der sich John Paul Jones III nennt, wobei es sich wohl um ein Pseudonym handelt.
33
Dekonstruktion gar zur ‘Selbstdekonstruktion’ führen kann. Wie auch immer die Aussagen
gelesen werden sollen, eines scheint sicher zu sein: die durch die Poststrukturalisten formulierten
und - je nach Lesart - notwendigen bis lächerlichen Forderungen nach poststrukturalisitscher
Selbstinfragestellung der geographischen Denkweisen (ja sogar der poststrukturalistischen
Denkweise selbst) könnten wohl nur schwer skurriler veranschaulicht werden als durch diesen
Artikel.
In der deutschsprachigen Geographie fallen unter diese Kategorie die Übersichtsartikel von
Strohmayer (1998), Hasse und Maleczek (2000), als eine Art Sonderstellung ein Artikel von Falter
und Hasse (2001), vier Artikel von Zierhofer (1997, 1999, 2000a, 2000b) sowie ein Artikel von
Reichert (1996).
Strohmayer (1998) thematisiert die „Methodische Denkweise im Poststrukturalismus“ und
vermag eine prägnante Übersicht dieser philosophischen Denkrichtung zu vermitteln. Dabei
werden jene Aspekte thematisiert, die schon in Kapitel 1 dieser Arbeit vorgestellt wurden.
Zentrale wissenschaftstheoretische und -geschichtliche Veränderungen wie der linguistic turn, das
Hinterfragen der Meta-Erzählungen durch Lyotard oder die Dekonstruktion von Derrida werden
kurz aufgerollt, ehe die poststrukturalistische Denkweise als Verabschiedung des Glaubens „an
die Erkennbarkeit von Strukturen durch dessen Aufdeckung als sprachlich formulierten
Glauben“ (U. STROHMAYER 1998, S. 104) charakterisiert wird. Die „Rückbesinnung auf die
Kontextabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis und somit deren Historisierung“ (U.
STROHMAYER 1998, S. 104) als Denkmethode werden ebenso betont wie die Kritik an alters-,
geschlechts- oder rassenspezifischen Ausschlussmechanismen durch den modernen
Subjektbegriff oder die Forderung nach methodischem Pluralismus. Das für den
Poststrukturalismus zentrale Infragestellen der Möglichkeit, diesem durch bestimmte
wissenschaftliche Methoden auf die Spur zu kommen, zeigt sich darin, dass Strohmayer betont,
dass sowohl von quantitativen als auch von qualitativen Methoden postulierte Erkennbarkeit
raumzeitlicher Strukturen und Akteuren methodisch niemals einsichtig gemacht werden könne
(U. STROHMAYER 1998, S. 104). Bezugnehmend auf die Geographie wird besonders
hervorgehoben, dass „geographisches Denken und geographische Methoden durch die
Entstehung der ihnen eigenen Selbstverständlichkeiten aus dem Umfeld des Optischen heraus
geprägt sind. Aller Ideologiekritik zum Trotz überlebt die Hegemonie des Sehens bis heute und
reduziert den Phänomencharakter räumlicher Sachverhalte zur einfachen binären Logik von
Anwesenheit und Abwesenheit.“ (U. STROHMAYER 1998, S. 105) In einer Fußnote wird auch
darauf hingewiesen, dass aus dieser Perspektive der ewige wissenschaftstheoretische Disput in der
Geographie zwischen idiographischen und nomothetischen Vorgehensweisen relativiert werde
(U. STROHMAYER 1998, S. 105). Die von uns an verschiedenen Stellen dokumentierten und so glauben wir - argumentativ untermauerten Schwachstellen des Poststrukturalismus werden bei
Strohmayer nicht thematisiert. So verweist der kurze Text explizit auf die Vorteile, verschweigt
aber die Schranken des Poststrukturalismus. Dennoch ist Strohmayer aus unserer Sicht einer der
wenigen Autoren, der die philosophischen Grundlagen korrekt wiedergibt (diese hier auch – im
Gegensatz zu seinen englischsprachigen Arbeiten – relativ gut zu vermitteln vermag) und
eindeutige Schnitzer vermeidet, welche bei den anderen Texten leider des Öfteren anzutreffen
waren.
Hasse et al diskutieren unter Rückgriff auf Derrida und Foucault (Sprache sei kein Spiegel der
Wirklichkeit, sondern konstruiere sie) in den beiden Artikeln vor allem die Neue Phänomenologie
von Schmitz, die das Schisma im ‘westlichen Denken’ zwischen Leib und Intellekt als
Abstraktionsbasis des Denkens bezeichnet und in der Folge eine Phänomenologie des Leibes
entwirft. Während sich Hasse in seinem 2001 erschienen Artikel explizit gegen den
Konstruktivismus wendet (R. FALTER, J. HASSE 2001, S. 121), befürwortete er diesen noch ein
Jahr zuvor und bezeichnete ihn dort fälschlicherweise als Ausgangspunkt für das
poststrukturalistische Denken (J. HASSE, S. MALECZEK 2000, S. 104). Dieser Missgriff wird
aber auch in anderen Artikeln begangen, wie später noch aufgezeigt wird. Hasse und Maleczek
betrachten in ihrem Einleitungsartikel zu Poststrukturalismus und Postmodernismus in der
Geographie gesellschaftliche Aushandlungsprozesse um Körper und Räume. Die
programmatische Komponente besteht in der Betonung, dass es nicht nur gelte, nur über die
Dinge nachzudenken, sondern forciert auch selbstreflexiv darüber, wie man dies tun müsse. Sie
weisen darauf hin, dass der Poststrukturalismus eine Vielfalt von Möglichkeiten für Geographen
aufzeige, anders zu denken. Es bestehe die Chance große Themen wie ‘Natur’, ‘Landschaft’ oder
‘Raum’ neu und unter veränderten Prämissen zu denken. Ein relationales und vernetzendes
Denken soll in den Mittelpunkt gestellt werden. Der Artikel ist mit Ausnahme des oben
erwähnten Fehler gut recherchiert und weist im Gegensatz zu vielen anderen Autoren eine recht
breite Phalanx poststrukturalistischer Autoren im Literaturverzeichnis auf.
Falter und Hasse wenden sich jedoch, wie schon erwähnt, scheinbar gegen jeden
Konstruktivismus (R. FALTER, J. HASSE 2001, S. 121): „Der für die Geographie wichtige
Begriff der Landschaft wird in Entgegensetzung zu reduktionistischen, projektionistischen und
konstruktivistischen Tendenzen vom Totaleindruck her gefasst, und Fotographie als Medium
seiner Darstellung in ihren Möglichkeiten und Grenzen diskutiert. Als Beispiele werden Fotos des
Fotographen Richard Misrach herangezogen. Beziehungen zur klass. Landschaft der auf den
ersten Blick ganz unklassischen Bilder werden aufgezeigt. Schließlich wird anhand antiker und
ostasiatischer Landschaftsauffassung ein Landschaftsbegriff formuliert, der auch diesen gerecht
zu werden versucht. Dazu wird auf das Konzept von ‘Atmosphären’ als Bindeglied von Subjekt
und Objekt hingewiesen, wie es Schmitz entwickelt hat.“ Es bleibt natürlich die Frage, wieso
dieses Konzept als „Entgegensetzung zum Konstruktivismus“ gesehen wird. Man könnte es auch
als dessen Erweiterung interpretieren.
Insgesamt scheint Hasse die einerseits uralte und schon seit Aristoteles bestehende, andererseits
aber postmoderne Diskussion um Einheit/Vielfalt der Rationalitäten (vgl. etwa P. TEPE 1992) in
den beiden hier besprochenen Artikeln auf unterschiedliche Weise übernommen zu haben. Wie
dies zu beurteilen ist, bleibt unklar, jedenfalls scheint Hasse sich in seinen beiden Artikeln selbst
zu widersprechen. Eher für die ökologische ‘Einheits-Richtung’ der Postmoderne oder
Emanzipatorische Paradigmen typisch, aber kaum passend zum Poststrukturalismus sind
Zuschreibungen wie: „Zersetzung der Landschaft“ (R. FALTER, J. HASSE 2001, S. 121) oder
„Aufklärung als Weltbeherrschungsprojekt“ (R. FALTER, J. HASSE 2001, S. 122). Als Kritik an
den Post/Spät/Modernen und deren manchmal puristisch kulturalistisch ausgerichteten
sozialgeographischen Raumkonzeptionen könnte man auch den Satz „Landschaft lässt sich nicht
auf den Charakter kulturell konstruierter Kognitionen reduzieren“ (R. FALTER, J. HASSE 2001,
S. 125) lesen.
Im gleichen Heft sind mehrere Entgegnungen zu Falter und Hasse abgedruckt, die das Konzept
zu großen Teilen ablehnen und als Rückfall in die Landschaftsgeographie - das älteste Paradigma
der Geographie bezeichnen. So schreibt Hard (2001, S. 172), dass es sich bei obigem Artikel „um
eine idiosynkratische und inkonsistente Verbindung der Relikte zweier unterschiedlicher
Vokabulare und Weltanschauungen handelt: eines ‘kritisch-theoretischen’ und eines ‘konservativrevolutionären’ Idioms, versetzt mit einigen esoterischen Elementen. Beide Idiome sind im
wesentlichen nur über das Konzept und Phantasma ‘Landschaft’ lose miteinander verbunden.“
Allerdings ist aus den Formulierungen auch durchaus ersichtlich, dass Polemik bei der ansonsten
sehr intellektuellen Auseinandersetzung zwischen Hard auf der einen Seite sowie Falter und
Hasse auf der anderen Seite eine bedeutende Rolle spielt.35
So schreiben Falter und Hasse (2001, S. 121): „Der Geograph GERHARD HARD [Hervorhebung im Original],
dessen Lebenswerk aus primär politisch -ideologischen Interessen darum kreist, die Begriffe Landschaft und Natur zu
zersetzen [Hervorhebung durch die Autoren]... .“ Dagegen beginnt der Text von Hard mit der Feststellung, dass durch
35
Wolfgang Zierhofer würde dieses Konzept von Falter und Hasse aus seiner a-modernen
Perspektive vielleicht als versuchten Rückfall in die Vormoderne bei gleichzeitiger Beibehaltung
modernistischer Polarisierungen und zusätzlicher Unkenntnis der A-Moderne bezeichnen.
Zierhofer bezieht sich in allen Artikeln auf die Trennung von Natur und Kultur. 1997 war er
noch auf der Suche nach Konzepten aus Nachba rwissenschaften, um Humangeographie als
Disziplin zu reformulieren, die sich unter anderem mit den Beziehungen zwischen den Menschen
und ihrer Um- bzw. Mitwelt befasst. Einerseits beschäftigte er sich mit der Aufnahme
sprachpragmatischer Forschung in die Geographie, andererseits rezipierte er Arbeiten der Natur-,
Öko- und Umweltphilosophie, die Argumente aus der Ökologie und der Evolutionstheorie
heranziehen, um ein relationales Weltbild zu stützen, wie z.B. die deep ecology, die ein
ökozentrisches Denken verfolgt und den Mensch nicht mehr als Maß aller Dinge sieht. Wie
schon im Humanökologischen Paradigma will man sich dort auf den Weg zu einem
‘transaktionistischen Denken’36 und zu einem relationalen Weltbild machen (W. ZIERHOFER
1997, S. 81). Mit dem A-modernen Konzept von Latour scheint Zierhofer dieses Konzept
zumindest vorläufig gefunden zu haben. Zumindest deutet die Wiedergabe der Latourschen
Gedanken in drei Artikeln darauf hin.
Erste Dichotomie
Modernistische
„Reinigung“
Logozentrismus,
Rassismus,
Sexismus,
Natur
(nichtmenschliche
Wesen)
Kultur
(menschliche
Wesen)
Zweite
Dichotomie
Vormoderne
„Übersetzung“
Hybriden, Netzwerke,
Cyborgs, etc.
Abb. 7: ‘Reinigungs-’ und ‘Übersetzungsarbeit’
(Quelle: Zierhofer 1999, S. 4ff.; modifiziert)
Was ist nun dieses a-moderne Konzept, auf welches sich Zierhofer in seinen Artikeln seit 1999
wiederholt bezieht? Es entstammt, wie gesagt, Bruno Latour’s Feder (1995), ein
Wissenssoziologe, der unter anderem die Trennung der Natur- und Sozialwissenschaften
untersucht.37 Das A-moderne Konzept nach Latour wendet sich explizit gegen die Postmoderne
den Titel des Aufsatzes („Hagia Chora“) „ ... auf diese Weise einer der beiden Autoren (FALTER) von seiner
intellektuell wichtigsten Seite [Hervorhebung durch die Autoren] her vorgestellt wird: als Dozent einer ‘Hagia Chora’
genannten ‘Schule für Geomantie’...“ (G. HARD 2001, S. 172). Die Rekonstruktion der gegenseitigen Polemiken
könnte lange fortgesetzt werden, soll aber hier ein Ende finden.
36 Diese Formulierung stammt innerhalb der Geographie von G. ARNREITER und P. WEICHHART 1998.
37 Für eine grundlegende Kritik der Konzepte Latours vgl. etwa J. HALFMANN 2001, S. 135ff; ebenfalls eine neue
Humangeographie und unter anderem mit Rückgriff auf Latour - also alleine dadurch bestehen bereits gewisse
Affinitäten zu dem Programm Zierhofers – schwebt auch S. WHATMORE, 1999, Hybrid Geographies: Rethinking
(z.B. B. LATOUR 1995, S. 80), allerdings übernimmt Zierhofer dieses Urteil nicht. Das von
Zierhofer leicht veränderte Konzept hinterfragt die ‘transzendentalen Polarisierungen’ der
Moderne in Gestern/Heute/Morgen, Kultur (menschlich)/Natur (nicht-menschlich),
Subjekt/Objekt,
Mann/Frau,
Individuum/Gesellschaft,
höherwertig/minderwertig,
Zentrum/Peripherie, Logos/Emotion. Man könnte diesen Polarisierungen noch einige
hinzufügen wie z.B. Arbeit/Freizeit oder auch Ökonomie/Ökologie, Gott/Menschheit,
Ich/andere, zivilisiert/primitiv, Realität/Erscheinung, Richtig/falsch, Wahrheit/Illusion, schön
und hässlich wie bei Haraway (D. HARAWAY; zit. in W. ZIERHOFER 1999, S. 7) anklingt. Als
weitere transzendentale Polarisierungen könnten aber durchaus auch weitere Begriffspaare
gefunden werden, wie die Differenzierungsmöglichkeiten: normal/wahnsinnig, aktiv/passiv,
Wissenschaft/Ideologie,
Theorie/Mythos,
Arbeit/Kapital,
Lohnarbeit/Reproduktion,
Moderne/Postmoderne, Moderne/Vormoderne. Es gäbe nach Latour und Zierhofer immer
etwas ausgeschlossenes Drittes, nämlich die Hybride. Der Fehler der Moderne sei die
Übertreibung der ‘Reinigungsarbeit’, die Polarisierungen und damit Anthropozentrismus,
Logozentrismus, Sexismus, Rassismus, Nationalismus, epistemologischen und ontologischen
Dualismus, Rationalismus und Zentralismus erzeuge. ‘Vermittlungsarbeit’ werde notwendig,
wenn die verleugneten Hybriden nicht vollends die ‘Macht’ übernehmen sollen.
Zierhofer meint, diese Latour’sche Formulierung in ähnlicher Weise auch bei Ulrich Beck
gefunden zu haben (W. ZIERHOFER 1999, S. 5), der immer wieder davon spricht, dass
Handlungsnebenfolgen die Herrschaft übernommen hätten und sein aufsehenerregendes Werk
offenbar genau vor dem Hintergrund dieser Gedankenfigur geschrieben haben soll.38
In der ‘Vormoderne’ würde man hingegen nur hybride Wesen sehen, ohne jede ‘moderne’
Unterscheidung bzw. ‘Reinigungsarbeit’. Zierhofer macht sich sodann auf die Suche nach einer
nicht-dualistischen und gleichzeitig auch nicht-metaphysischen Ontologie, die er „allgemeine
Form relationalen Denkens“ nennt und weiterentwickelt. Nicht die Möglichkeit, die Dinge so wie
die Modernen oder die Vormodernen sehen zu können, wird bestritten (wie etwa in Ansätzen bei
Falter und Hasse), sondern nur die Möglichkeit, es ausschließlich so zu sehen. Die Moderne sei
raum-zeitlich nicht abgrenzbar, sondern lediglich eine von mehreren möglichen Denkweisen. Je
a-moderner Moderne und Postmoderne denken, desto schwieriger seien eindeutige Grenzen
zwischen Moderne, Postmoderne und A-moderne zu ziehen.
Zierhofer zitiert Konstruktivisten wie Maturana und Varela und nimmt Anleihen bei der
Systemtheorie: Ein System konstituiert sich, indem es sich von der Umwelt unterscheidet - das sei
die Grundoperation jedes autopoietischen Systems (W. ZIERHOFER 2000a, S. 112).
Beobachtungen benötigen immer einen Code, anhand dessen die Beobachtung klassifiziert wird.
Auch hier wird - ähnlich wie bei Latour - festgestellt, dass weder externe noch interne Relationen
von sich beanspruchen könnten, eine vollwertige Sicht der Welt abzugeben. Warum? Weil wir
beim Beobachten von etwas anderem uns selbst nicht beobachten könnten. Es gäbe nach
Luhmann keinen Ort außerhalb der Gesellschaft, von dem aus sie sich als Ganzes beobachten
ließe (N. LUHMANN, zit. in W. ZIERHOFER 2000a, S. 115).
Als Fazit zieht Zierhofer den Habermasschen Schluß, dass gemeinsame Vorstellungen von
Menschlichkeit, Würde etc. immer kommunikativ erarbeitet werden müssen (W. ZIERHOFER
2000a, S. 113). Die scheinbar ‘nebensächliche’ Pikanterie, dass Latour sich ausdrücklich gegen die
Habermas’sche Konzeption ausspricht (B. LATOUR 1995, S. 80), erwähnt Zierhofer nicht. Ob
Latour und Zierhofer wirklich dasselbe meinen, bleibt daher fragwürdig.
the ‘Human’ in Human Geography. - In: D. MASSEY, J. ALLEN, P. SARRE, Hrsg., Human Geography Today,
Polity Press, Cambridge, 22-39 vor.
38 U. BECK, 1986, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt.
Für die Geographie entwirft Zierhofer ein neues Forschungsprogramm (W. ZIERHOFER
2000a, S. 116f. sowie W. ZIERHOFER, 2000b, S. 143f.): Die modernistische Wende exemplarisch bei Werlen ersichtlich - hätte Raum nicht länger als alleinigen
Forschungsgegenstand der Geographie definiert (W. ZIERHOFER 2000b, S. 133ff.). Zierhofer
fügt jedoch hinzu, dass alle Denkkategorien fragwürdig seien, und Gesellschaft keine rein
menschliche Kategorie sei. Es gäbe keinen Fixpunkt des Denkens, weder im Raum noch in der
Zeit. Nichts könne aus dem Gemeinschaftsleben der Menschen ausgeschlossen werden. Es
mache auch keinen Sinn mehr, nach einer allgemeinen Definition von Gesellschaft zu fragen. Er
spricht von einer differenzierten Hermeneutik (W. ZIERHOFER 2000a, S. 116), die aus dem
’modernen’ und von Schütz und Giddens stammenden Konzept der doppelten Hermeneutik zu
entwickeln sei. Zierhofer hinterfragt die wissenschaftliche Arbeitsteilung, die sich in der
Trennung von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften manifestiere. Dies sei auch nötig in
Bezug auf Umweltprobleme, Informationstechnologien, deren hybrider Charakter offensichtlich
sei. Wissenschaftliche Disziplinen werden nicht als fixe Grenzen und daher auch nicht als
Hindernisse gedeutet. Disziplinen werden als Form gedeutet, mit Hilfe derer sich
Beobachtungsfähigkeit durch Selektivität weiterentwickeln lässt. Die sprachpragmatische
Perspektive bedeutet, dass Zierhofer Grenzen zwischen den Disziplinen als erst durch die
Sprache konstituiert ansieht. Das Problem, dass sich die Humangeographie modernistisch als
reine Sozialwissenschaft sehe, führe dazu, dass die Ignoranz zwischen den Disziplinen
institutionalisiert wurde - dies sei eben der blinde Fleck der Modernen (W. ZIERHOFER 2000a,
S. 116). Weiters ruft er zu einer systemtheoretischen Betrachtungsweise auf, also dazu,
physikalische Prozesse, Computer, Einzeller, Pflanzen und Säugetiere als Systeme zu betrachten.
Als geographische Forschungsbereiche sieht Zierhofer den Metabolismus, Ressourcennutzunen
und Zeit-Raum-Organisationsweisen. Die Geographie solle jenseits der transzendentalen
Unterscheidung von Natur- und Sozialwissenschaften angesiedelt sein. Zu fragen ist dann aber,
welche Disziplin nicht zwischen diesen Kategorien anzusiedeln sei, wenn ohnehin alles auch
hybrid sei? Insgesamt könnte man zwischen Latour und Zierhofer auf der einen Seite auch
Verbindungen zu Derrida auf der anderen Seite ziehen, der sprachlich konstruierte
Gegensatzpaare mit hierarchischer Ordnung im westlichen Denken diagnostizierte. Auch zu
einem Miterfinder des Strukturalismus gibt es interessante Verbindungen bzw. Gegensätze, die
auch komplementär gedeutet werden können.39
In dem Artikel von Dagmar Reichert „Räumliches Denken als Ordnen der Dinge“ werden
verschiedene Raum-Konzepte einander gegenübergestellt. Einerseits der ‘Erdraum’, zweitens der
‘Raum als gegebenes, unsichtbares Ding’, drittens der ‘logische Raum’. Die Konzeption wurde
von Weichhart einige Jahre später im Sammelband „Handlungszentrierte Sozialgeographie“
weiterentwickelt.40 Räumliches Denken sei der Versuch, die Dinge zu ordnen. Es wird
argumentiert, dass das Reden über Raum-Konzepte immer nur auf der Basis bereits
vorgegebener Raum-Konzepte geschehen kann (D. REICHERT 1996, S. 15ff.). Das RaumKonzept der Alfuren wird nacherzählt: diese unterschieden lediglich zwischen einer Richtung die
dem Meer zugewandt sei und der entgegen gesetzten Richtung, sowie noch zwischen links und
rechts. Wenn wir aber nun das Raum-Konzept der Alfuren betrachten, betrachten wir es immer
Lèvi-Strauss schreibt in einem seiner Werke (C. LÉVI-STRAUSS, 1962, Das wilde
Denken, Suhrkamp, Frankfurt a. M.), dass die ‘Prämodernen’ ebenfalls schon
klassifiziert
hätten
wie
wir
Moderne’,
zwar
nach
anderen
Klassifikationskriterien aber eben so komplexe Systeme entwickeln konnte
wie wir heutzutage. Man könnte also Levi-Strauss in den Mund legen (obwohl
er es so nicht gesagt hat): „Wir sind immer schon modern gewesen.“ Latour
dagegen schreibt „Wir sind nie modern gewesen“, er meint, dass das moderne
polarisierende Denken das prämoderne vernetzende Denken nicht ausgelöscht,
sondern ergänzt habe. Welch überraschende Komplementarität.
40 P. WEICHHART, 1999, Die Räume zwischen den Welten und die Welt der Räume, in: P. MEUSBURGER Hrsg.,
Handlungsorientierte Sozialgeographie. B. Werlens Entwurf in kritischer Diskussion, Steiner, Stuttgart, S. 67 - 94.
39
vor dem Hintergrund eines eigenen, anderen Raum-Konzeptes (D. REICHERT 1996, S. 22). Das
Raum-Konzept des Anaximander, welches offenbar nach Meinung Reicherts für die Konstitution
des modernen Raums typisch sei, wird ebenfalls nachgebildet. Hier werde die Welt als Bild und
als Kreis gedacht, jeweils mit einem Zentrum und einer geschlossenen Grenze. Die Zweiteilung
in Gruppen, die außerhalb der Grenze lebten, sowie jene innerhalb der Grenze sei nicht nur
typisch für unser räumliches Denken, sondern auch für Teilungen entlang der Kategorien
Sexualität, Ethnie und Beruf. Am Ende des Beitrags ist ein Brief eingefügt, insgesamt dominiert
auch hier der erzählerische Stil. Der Artikel könnte auch Kategorie III zugeordnet werden, da der
Versuch unternommen wird, das konstruktivistische Konzept auf das theoretische Prinzip der
‘Verräumlichung’ praktisch anzuwenden bzw. zu hinterfragen. Poststrukturalisten werden hier
kaum zitiert, es wird eher eine konstruktivistische Position eingenommen, die man so ähnlich
auch bei Luhmann lesen kann.
Zur poststrukturalistischen Unterstützung ihrer humanökologischen Positionen nimmt Reichert
(1998) zwar Deleuze und Barthes in das Literaturverzeichnis auf, bezieht sich jedoch im Text
kaum auf die beiden Autoren. Ihr Artikel veranschaulicht trotzdem das Vorhandensein einiger
kongruenter Sichtweisen von Humanökologie und Poststrukturalismus. Der Aufsatz „Ways of
World-Making“ (ein von Nelson Goodman, wie sie selbst sagt, gestohlener Titel) beginnt
zunächst in einer für die Autorin typisch metaphernreichen Manier und zeigt einige
Besonderheiten, Schwierigkeiten, Auffälligkeiten und Konsequenzen auf, welche die Übertragung
ihres am Bonner Geographentag gehaltenen Vortrags in schriftliche Form mit sich bringt; Z.B.:
„Ich möchte mit geschriebenen Worten erreichen, was gesprochene Worte vermochten. Nicht
Propositionen weitergeben, sondern Erfahrungen ausdrücken, ausdrücken in Worten, die
Bewegungen sind und Körper, Variation der Stimme, ihre Melodie, ihr Rhythmus...“ (D.
REICHERT 1998, S. 112).
Bald aber kommen konkretere Aussagen. Reichert schlägt in pluralistischer Manier mit Goodman
vor, „die Rede von einer vorgefundenen Welt durch die Rede von einer Vielzahl von
Weltbeschreibungen zu ersetzen“ (D. REICHERT 1998, S. 113), sie möchte offensichtlich nicht
mehr „als universaler Aufklärungssatellit über der Welt schwebend Daten und Analysen liefern“
(D. REICHERT 1998, S. 112), sondern eher eine Wissenschaft vom Menschen und nicht eine
Wissenschaft von (Menschen als) Objekte(n) betreiben. Oder kurz: sie schreibt über die
Möglichkeiten einer Geo-Graphie aus der Welt und nicht mehr einer Geographie über die Welt.
Sie meint damit „ein Arbeiten, das sich als situiert versteht, als etwas, das in bestimmten
Situationen oder Kontexten geschieht und aus ihnen seine Möglichkeiten und Grenzen schöpft“
(D. REICHERT 1998 S. 115). Konsequent dieser Idee folgend zeigt sie Möglichkeiten zu einem
‘Polylog’ auf, in dem im dialektischen Wechselgespräch erst eine Antwort gefunden werden soll
(D. REICHERT 1998, S. 114). Sie zeigt damit wieder einmal ihre deutliche Nähe zur
Humanökologie, die sie auch dazu führt, sich „für eine Veränderung dieser Wissenschaften, d. h.
für ein neues, auf neue erkenntnistheoretische Grundlagen gestütztes Verständnis dessen, was im
Zusammenhang mit Menschen ‘Wissenschaft’ bedeuten kann“ (D. REICHERT 1998, S. 113),
auszusprechen. Mit jeder erkenntnistheoretischen Position würde das Verständnis von ‘Wissen’
wechseln, was sich exemplarisch beim Wechsel von der logisch-analytischen zur dialektischhermeneutischen Position zeige. Unter Rückgriff auf W. Ong zeigt Reichert, dass sich durch
Änderungen in der Sprachform (z.B. Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Kultur)
grundsätzlich verändern würde, was Wissen in einer bestimmten Kultur heißt und sogar das, was
wir denken könnten. Sogar „die Idee der analytischen Methode in der Wissenschaft wäre ohne
eine bestimmte Technologie der Schrift, ohne alphabetische Schrift, nicht entstanden“ (D.
REICHERT 1998, S. 116) und „vielleicht brauchte es eine ähnliche Änderung im Verständnis
dessen, was Sprache bedeutet, eine ähnliche neue Technologie mit ähnlich radikalen Wirkungen
auf die Struktur unseres Denkens, um das zu kommunizieren, was ich aus der Welt und von
Menschen kommunizieren können will?“ (D. REICHERT 1998, S. 117). Reichert kommt
insgesamt zwar zu Vorschlägen, wie man eine Geo-Graphie neu denken und ‘aus der Welt’
heraus betreiben kann, bleibt aber - vielleicht weil sie eben noch auf der Suche nach einer
passenden Sprache ist - neben den bereits erwähnten Forderungen nach einem Polylog und
neuen erkenntnistheoretischen Positionen sehr vage: „Vielleicht müsste Geo-Graphie zu Geo-??
werden, um das leisten zu können.“ Und sie schließt mit: „Eigentlich wird es jetzt erst
spannend.“
Insgesamt kann für Kategorie B festgehalten werden, dass jene deutschsprachigen
geographischen Theorie-Konzepte, die den Begriff ‘Poststrukturalismus’ im Munde führen oder
von anderen als poststrukturalistisch bezeichnet werden, zumeist gar nicht oder nur eher am
Rande mit Hilfe der dazupassenden Referenzliteratur über dieses philosophische Konzept
reflektieren, sondern ein bisschen Konstruktivismus, ziemlich viel A-Moderne (die dem
philosophischen Poststrukturalismus durchaus ähnlich ist, aber nicht deren linguistische Wurzeln
teilt), etwas Sprachpragmatik und Habermassche Diskursethik, Systemtheorie und etwas
Postmoderne in eklektischer Manier vermengt. Das Endergebnis muss man nicht unbedingt
Poststrukturalismus nennen.
2.3. Von der theoretischen Reflexion zur sozialgeographischen Praxis
Die Rezeption poststrukturalistischer Ansätze in der Geographie hat darin ihre ‘pragmatische
Komponente’, dass der praktisch orientierten Forschung eine Reihe von Instrumenten, sozusagen ein
Werkzeugkasten, zur Verfügung gestellt wird. Diese Instrumente sollen in erster Hinsicht dazu
dienen, traditionelle Fragestellungen unter einem anderen Blickwinkel bzw. diese wieder mit
neuen Fragestellungen untersuchen zu können. Vor allem emanzipatorische Ansätze
(Feminismus, Marxismus) - die an ihren traditionellen Forschungsfeldern natürlich festhalten sehen darin die Möglichkeit das Spektrum ihrer Untersuchungsmethoden und der damit
ermöglichten Kritik zu verbreitern. Prinzipiell lässt sich folgende Konzentration auf inhaltliche
Aspekte hervorheben: Macht - Ideologie - Diskurs (M. Hannah 1997) (was sich leicht mit
traditionell marxistisch-emanzipatorischen Ansätzen verbindet - z.B. D. Harvey 1996); parallel
dazu, dasselbe Programm nur mit zusätzlicher thematischer Beschränkung: etwa Diskriminierung
bzw. Ungleichbehandlung der Frau = Feminismus (J. K. Gibson-Graham 2000, E. Aufhauser
2001, S. Bauriedl et al 2000, K. Kutschinske, V. Meier 2000); ökonomische Ungleichverteilungen
(J. K. Gibson-Graham 2000); die Geographie der politischen Diskurse (G. Wolkersdorfer 2001;
Chr. Berndt 2001; E. Aufhauser 2001)41 und die Frage danach, wie unsere soziale Umgebung
diskursiv konstruiert wird (T. Rhode-Jüchtern 1998, K. Kutschinske, V. Meier 2000)42.
In der Praxis läuft die Übertragung poststrukturalistischer Prinzipien auf Spezialdisziplinen v.a.
auf ein ‘In-Frage-Stellen’ der bestehenden Ordnungen (auch Begriffe) und der damit
zusammenhängenden Frage, wem diese Ordnungen nutzen (Machtstrukturen), und den Entwurf
(bzw. besser: die Adaption) eines geeigneten ‘Instrumentariums’, mit dem diese Sachverhalte nun
untersucht werden können, hinaus. Von dem ‘In-Frage-Stellen’ der gesamten abendländischen
Rationalität, des ‘Sinns’ und des Subjekts ist nicht mehr die Rede: „Poststructuralism offers a
number of strategies for calling into question received ideas and dominant practices, making
visible their power, and creating openings for alternative forms of practice and power to emerge.“
- schreibt etwa Gibson-Graham (2000, S. 97). „The ones that we explore here are deconstruction,
genealogy and discourse analysis, and the theory of performativity.“
Ebenfalls könnte folgender Aufsatz in diese Rubrik aufgenommen werden: KÖRNER, W. und C. PILGRIM,
1998, Diskurs und Hegemonie - Deutungsstrategien in der Frankfurter Stadtentwicklungspolitik. - In: Geographica
Helvetica 53, 3, 96-102.
42 Hierzu wäre auch zu zählen: MEIER, V., 1998, Jene machtgeladene Beziehung der ‚Konversation’...
Poststrukturalistische und postkoloniale Geographie. - In: Geographica Helvetica, 53, 3, 107-111.
41
Dabei wird a.) die Dekonstruktion à la Derrida von Gibson-Graham folgendermaßen rezipiert:
Sprache und Denken funktioniert in der Regel über binäre Strukturen (Mann/Frau,
Fabrik/Nicht-Fabrik etc.). Die, mitsamt den Grundlagen der westlichen Rationalität, können ja
alle zur Erinnerung dekonstruiert werden. Was in der relativ abstrakten Philosophie bei Derrida
auf den Verlust des Sinns hinausläuft, erfährt bei Gibson-Graham folgende ‘praktische’
Wendung: Es gebe (zumindest) zwei Dekonstruktions-Strategien: 1.) Einerseits in dem man den
meist geringer bewerteten Begriff des Gegensatzpaares untersucht; bei Fabrik/Nicht-Fabrik sind
das etwa Untersuchungen zur Bewertung der Hausarbeit, wie viel unbezahlte Arbeit dort
verrichtet wird (J. K. GIBSON-GRAHAM 2000, S. 98), außerhalb der ‘Logik des Marktes’ und
gleichzeitig ihrem Wertsystem unterworfen („Was nichts kostet, ist auch nichts wert“); 2.)
Andererseits kann gezielt untersucht werden, wie sehr der eine Gegensatz eigentlich vom anderen
Gegensatz abhängt bzw. in ihn einbezogen ist. Für das Fabrik/Nicht-Fabrik Beispiel etwa
aufzuzeigen zu versuchen, wie viel an Gütern eigentlich in der Hausarbeit produziert wird (J. K.
GIBSON-GRAHAM 2000, S. 99). In “The End of Capitalism (As We Knew It): A Feminist
Critique of Political Economy” (Blackwell, Oxford 1996) hat die Autorin etwa versucht
„highlighting the ways that a capitalism/noncapitalism binary operates in economic discourse to
constitute capitalism as a necessarily and naturally dominant form of economy ..... to undermine
the ‘capitalocentrism’ of economic discourse.“ Parallel dazu verläuft die Aufgabe, ‘NichtKapitalismus’ als einen positiven Begriff, der ein Arrangement diverser ökonomischer Formen
und Praktiken bezeichnet, zu verstehen statt ihn negativ, als Mangel an etwas zu interpretieren (J.
K. GIBSON-GRAHAM 2000, S. 101f.).
Die b.) ‘Genealogische Methode’ wird auf Foucaults historischen Untersuchungen zur
Entstehung von Diskursen, der diskursiven Festlegung von Normen und vor allem ‘Wahrheit’
zurückgeführt. Man müsse einerseits die „violences enacted by any theory or system of meaning“
kritisch analysieren, andererseits in Verbindung damit auch die eigentliche genealogische Analyse
durchführen, d.h. die Geschichte von Begriffen und Diskursen aufarbeiten: „.... a genealogical
analysis might trace the formation of these disciplined understandings of ‘industry’ and
‘economy’, focusing upon the ruptures and discontinuities as well as the regularities and
correspondences associated with key words of industrialization discourse.“ (J. K. GIBSONGRAHAM 2000, S. 100). Ein anderes - konkretes, da schon stattgefundenes43 - Beispiel ist, zu
untersuchen, wie der Begriff ‘Dritte Welt’ und der für den Begriffsinhalt verantwortliche Diskurs
darum herum entstanden sind (J. K. GIBSON-GRAHAM 2000, S. 103).
Die c.) ‘Performativity’ ist - der Terminus geht auf J. Butler zurück - grob gesprochen der Akt,
durch den Diskurs-Inhalte in die Praxis übersetzt werden. Etwa wie Gender-Identität durch
bestimmte Handlungen automatisch (re)produziert wird (J. K. GIBSON-GRAHAM 2000, S.
100f. und 104f.).
Dass die Rezeption der poststrukturalistischen Philosophie tatsächlich oft nur ein Übernehmen
von einzelnen Aspekten (‘Werkzeugen’) ist, während ein Großteil, sogar ihrer grundlegenden
Aussagen ausgespart bleibt, zeigt besonders schön die Annäherung D. Harveys an den
Poststrukturalismus: Er hat die marxistische Perspektive in Anbetracht der (post)modernen
Philosophie alles andere als aufgegeben, sondern konkret um postmoderne Zugangsweisen an
soziale Phänomene erweitert. ‘Postmoderne’ ist bei ihm zwar vornehmlich eine Art von
Epochenbegriff, der den sozioökonomischen Zustand der Gegenwart umreißen soll, und weniger
eine Bezeichnung für eine bestimmte philosophische Richtung (J. K. GIBSON-GRAHAM 2000,
S. 95; vgl. z.B. auch D. HARVEY 1996, S. 292.); dennoch kommen
postmodern/poststrukturalistische Autoren zu tragen; im Literaturverzeichnis vermischen sich
A. ESCOBAR, 1995, Encountering Development: The Making and Unmaking of the Third World. Princeton
Univ. Press, Princeton.
43
die Verweise auf Marx mit denen auf H. Lefebvre oder J. Lyotard. Der ganze Aufsatz (Harvey
1996) zielt darauf ab, die früheren - und heute fast kanonisch-klassischen - Arbeiten Harveys (wie
etwa Social Justice and the City, Arnold, London 1973) mit postmodern-poststrukturalistischen
Argumenten in Verbindung zu bringen 44, bzw. um diesbezügliche Perspektiven zu erweitern. In
„Social Justice and the City“ habe er z.B. so etwas wie Diskurs-Analysen bereits versucht, indem
er ‘communities of interest’ und deren Äußerungen untersuchte (D. HARVEY 1996, S. 296).
„Social justice is but one of the seven criteria I worked with and I evidently hoped that careful
investigation of it might rescue the argument from the abyss of formless relativism and infinitely
variable discourses and interests grouping. But here too the enquiry proved frustrating. It
revealed that there are as many competing theories of social justice as there are ideals of social
rationality.“ (D. HARVEY 1996, S. 299) Harvey beruft sich im Weiteren auf Wittgenstein, auf
dessen Ausführungen über ‘Sprachspiele’ und der in diesem Zusammenhang angeführten
Möglichkeit, über solche ‘Sprachspiele’ die verschiedenen Bedeutungen von Wörtern
(‘Bedeutungs-Familien’) zu erfassen. Die Bedeutung von Worten hängt von der jeweiligen
Situation (Sprecher, Addressat, Pragmatik etc.) ab, in welcher sie verwendet werden. Auch
‘Gerechtigkeit’ (‘justice’) habe eine so eine ‘Bedeutungsfamilie’ weshalb auch ein gewisser
Diskurs-Relativismus seine Gültigkeit habe. Aber man müsse diese Diskurse auch als soziale
Macht-Instrumente verstehen und unter diesem Gesichtspunkt untersuchen (D. HARVEY 1996,
S. 300). Stellt man die Frage, welche Machtstrategien, zu welchem Zweck und vor allem von
wem, von welchen Akteuren Machtstrategien verwendet werden, also kurz die Frage, welches
soziologische Rahmenkonzept Harvey zur Verankerung seiner Rezeption der Diskurstheorie
dient, dann kommt man bald auf ‘Althergebrachtes’ zurück: „.... it seems important, following
writers as diverse as Wittgenstein [sic!] and Marx, to look at the material basis for the production
of difference, in particular at the production of those radically different experiential worlds out of
which divergent language games about social rationality and social justice could arise. This entails
the application of historical-geographical materialist methods and principles to understand the
production of those power differentials which in turn produce different conceptions of justice
and embed them in a struggle over ideological hegemony between classes, races, ethnic and
political groupings as well as across the gender divide.“ (D. HARVEY 1996, S. 301f.) Was man
aber bei all dem nicht machen dürfe, dass sei in die ‘Postmoderne Falle’ zu gehen, indem man
alles relativiere und überhaupt kein ‘Gerechtigkeits-Konzept’ Gültigkeit zulasse. Auf
marxistischer Grundlage, und zwar in Rekurs auf ‘five faces of oppression’ (die in nuce teilweise
wieder bis auf Marx zurück geführt werden), formuliert Harvey nun seinerseits einen
Bedeutungsgehalt von ‘sozialer Gerechtigkeit’ in Form von sechs Leitsätzen (‘six dimensions of
social justice’). Als Bedeutungen in einem bestimmten pragmatischen Kontext können sie - als
Mitglieder einer ‘Bedeutungsfamilie’ eines ‘Sprachspieles’ nach Wittgenstein - nicht unbrauchbar
im postmodernen Relativismus aufgehen (D. HARVEY 1996, S. 403ff.).
44
vgl. dazu etwa folgende Aussage: Manche Problemstellung in “Social Justice and the City” „was
even at that time argued about in ways which contained the seeds, if not the essence of much of
what many now view as a distinctively postmodernist form of argumentation“ (D. HARVEY
1996, S. 295f.). Ein ebenfalls ‘schönes’ Beispiel für Synkretismus zwischen neuen/neu
übernommenen und althergebrachten Ideen sind einige Arbeiten A. Preds, wo Foucault
ergänzend zu Giddens, Lefebvre, Soja, Thrift etc. empfohlen wird - vgl. dafür z.B. A. PRED,
1990, Making Histories and Constructing Human Geographies. The Local Transformations of
Practice, Power Relations, and Consciousness, Westview Press, San Francisco - Oxford, 6.
Zeit
Wohnung
Arbeitsplatz
Kontrolle durch Arbeitgeber
Weg zur
Arbeit
Kontrolle auf
Dem Weg zur
Arbeit – z.B.
Straßenpolizei
Informationsbeziehung
Raum
Abb. 8: Raum-Zeit-Zyklen und alltägliche „sozialen Kontrollmechanismen“
Entwurf nach Hannah 1997, 356, fig. 15,7
Ein anderes Beispiel zeigt, wie alte Werkzeuge mit neuen poststrukturalistischen Fragestellungen
in Verbindung gebracht werden können. Hannah (1997) hat, angeregt durch Foucaults
Untersuchungen über „Überwachen und Strafen“, Torsten Hägerstrands Zeit-Raum-Diagramme
der alltäglichen Lebenswege zu erweitern versucht, und zwar insofern sie für jeden Abschnitt des
Zeit-Raum-Weges, etwa den Weg zur Arbeit, den Aufenthalt am Arbeitsplatz etc. vorschlägt,
innerhalb desselben Diagramms zusätzlich die jeweils von Raum und Orts abhängigen
Kontrollmechanismen einzutragen (vgl. Abb. 8). ‘Social control’ beschreibt sie anhand eines doch
relativ einfachen Ablaufschemas - ‘obeservation’ > ‘judgement’ > ‘enforcement’ - als zirkulären
Mechanismus, der an jedem Abschnitt des Raum-Zeit-Weges eines Individuums wirksam ist (M.
HANNAH 1997, S. 355.).
Von den deutschsprachigen Aufsätzen dieser Kategorie verbinden zwei (Bauriedl et al 2000;
Kutschinske, Meier 2000) den poststrukturalistischen Ansatz mit dem feministischen und
integrieren so eine emanzipatorische Komponente. Diese Aufsätze verzichten im Allgemeinen
auf die Formulierung einer allgemeinen poststrukturalistischen Programmatik, sondern
versuchen, das Konzept in der Praxis anzuwenden, um zu Handlungsempfehlungen zu gelangen.
Berndt (2001) bezeichnet sein durchaus poststrukturalistisches Konzept mit Verweisen auf de
Saussere und Foucault als ‘cultural turn’.
Rhode-Jüchtern (1998) betrachtet mehrere, recht unterschiedliche Konzepte, die auf dem Weg
zur Formulierung und Anwendung eines relationalen Raumkonzeptes behilflich sein sollen.
Wolkersdorfer benützt in seiner Monographie (2001) die Diskurstheorie Foucaults und die
Handlungstheorie Werlens, um damit ein neues Verständnis der Politischen Geographie und
Geopolitik in der Spät- bzw. Postmoderne zu erlangen; Aufhauser (2001) analysiert mit
derselben Methode die Bevölkerungswissenschaft.
Bauriedl, S. et al gehen in eindeutig poststrukturalistischer Manier davon aus, dass Bedeutungen
nicht nur in Interaktionen, sondern vor allem auch in Diskursen geschaffen werden.
Menschliche Körper und Räume seien wechselseitig aufeinander bezogen und sehr ähnlichen
gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen unterworfen. Unter Bezug auf das Bourdieusche
und Butlersche Konzept werden Räume und Körper als materialisierte Effekte gesellschaftlicher
Diskurse gesehen (S. BAURIEDL et al 2000, S. 132f.), die in Folge anhand diskursiv erzeugter
Konstruktionen über Brustkrebs bei Frauen dekonstruiert werden. Besonders hervorgehoben
werden dabei die Bedeutungen von Fremd- und Eigenwahrnehmungen für
Raumaneignungsstrategien. Die Tabuisierung von Krankheit und körperlichem Gebrechen wird
diskutiert. Die weibliche Brust gelte im öffentlichen Diskurs einerseits als Sexsymbol, gleichzeitig
aber auch als Symbol für Wärme, Geborgenheit und Nahrung. Als Hilfe für betroffene Frauen
wird die Strategie aufgezeigt, wie durch eine ästhetische Inszenierung einer Brustamputierten
Künstlerin im New York Times Magazine Freiräume zurück gewonnen werden können. Als
Strategie wird empfohlen, die Krankheit in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Hier wie auch
im folgenden Artikel, wird versucht, Empfehlungen abzugeben, um konkrete
Handlungsstrategien und Hilfestellungen zu bewirken.
Kutschinske und Meier hingegen rekonstruieren Angst-Räume als Ausdruck der
Geschlechterkonstruktion. Die Themenstellung erinnert an das Humanistische Paradigma, das
ebenfalls das Thema Angst und Raum thematisiert. Die Autorinnen dieses Artikels kritisieren,
dass in bisherigen Studien ‘Geschlecht’ weitgehend als unabhängige, erklärende Variable
betrachtet wird, während in dieser Arbeit die Konstruktion von Geschlechterdifferenz im
Zentrum der Analyse stehe. Während im öffentlichen Diskurs „die Angst [...] für Frauen
reserviert [ist], haben Männer mutig und unerschrocken zu sein“ (K. KUTSCHINSKE, V.
MEIER 2000, S. 140). Den theoretischen Überlegungen zu Raum und Geschlecht aus
dekonstruktiver Perspektive folgen Auszüge aus Gesprächen mit Frauen, die als Joggerinnen die
Münchner Isarauen - bei Dämmerung und Dunkelheit einen sogenannten Angst-Raum - nutzen.
In diesen Gesprächen wird deutlich, wie mächtig sowohl der Angst-Diskurs als auch die
geschlechtsspezifischen Zuordnungen sind, und mit welchen Strategien die Frauen versuchen,
sich ‘freizulaufen’. Auch hier wird der offenbar in der deutschsprachigen Geographie geläufige
Fehler begangen, den Konstruktivismus als aus dem Postrukturalismus entstehend darzustellen:
„Im Gegensatz dazu basiert der dekonstruktivistische Ansatz in der feministischen Wissenschaft
auf der Grundlage poststrukturalistischer Theorien wie dem Konstruktivismus und der
Diskurstheorie.“ (K. KUTSCHINSKE, V. MEIER 2000, S. 139)
Exkurs: Konstruktivismen
Alleine der terminus ‘Dekonstruktion’ dürfte manche zu der Annahme verleiten, ihn der
wissenschaftlichen Richtung des Konstruktivismus zu zuordnen. Nur was in irgendeiner Form
konstruiert ist, kann auch dekonstruiert werden; aber genau dieser Aspekt hat für Derrida keine
bzw. nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Bei den Rezipienten dieser neuen theoretischen
Ansätze zeigt sich mehr oder weniger klar die Tendenz, Dekonstruktivismus und
Konstruktivismus als homogenes Programm und Methode aufzufassen. Tut man das, dann wird
man aber automatisch seinen philosophischen Primär-Quellen nicht mehr gerecht. Die
Dekonstruktion Derridas hat eben nun einmal mit dem Konstruktivismus, der primär eine
erkenntnistheoretische Richtung darstellt, sei es ‘genetisch’, sei es in bezug auf die
philosophischen Grundlagen, nichts gemein.45
Aber auch der Erkenntnistheoretische Konstruktivismus ist - unabhängig von der
poststrukturalistischen Philosophie - in das Blickfeld der Sozialwissenschaften gerückt und bereits
rezipiert worden. Dabei gibt es wiederum ganz bestimmte Probleme. Oft wird mit der
biologischen Theorie von der Autopoiesis (lebendiger) Systeme argumentiert und dieses Konzept
unkritisch (nämlich spontan und selbstverständlich) auf soziale Zusammenhänge übertragen. 46
Und so etwas ist ohne weitere Argumentation sicher unzulässig. Dieser Erkenntnistheoretische
Konstruktivismus (der von seinen Vertretern auf ‘radikaler Konstruktivismus’ getauft worden ist)
Vgl. dazu etwa J. HALFMANN, 2001, Reflexiver und evasiver Konstruktivismus und die Natur.
Beobachtungszirkularität in den Natur- und Sozialwissenschaften, Sociologia Internationalis 39, 119-146.
46 z.B. G. HEURSEN, Konstruktivismus, in: D. HAARMANN Hrsg., 1998, Wörterbuch Neue Schule. Stichworte
zur neuen Reformdiskussion, Beltz, Weinheim, 94; im Prinzip gilt dieser Vorwurf auch für die Systemtheorie N.
LUHMANNs, bezüglich der selbst der ‘Entdecker’ des autopoietischen Aspektes von biologischen Systemen H.
Maturana festgestellt hat, dass er sich dabei nich t so sicher sei, dass seine Theorie - wie durch Luhmann bereits
geschehen - auf soziale Zusammenhänge so einfach anzuwenden sei (für eine Kritik an Luhmann allgemein s. M.
HALLER, 1999, Soziologische Theorie im systematisch -kritischen Vergleich, Leske+Budrich, Opladen, 411ff; für
das Zitat von Maturana ebd., S. 464 Anm. 405).
45
hat sich in letzter Zeit aber selbst um eine Verbreitung seiner Ideen auf Bereiche außerhalb der
Perzeptionspsychologie und Biologie bemüht; systematisch wird er etwa von Pädagogen rezipiert.
E. von Glasersfeld, von dem die offensichtlich jüngste einführende Monographie über den
‘radikalen Konstruktivismus’ stammt 47, hat sich daran maßgeblich beteiligt und etwa auch
Geleitworte für diverse fachspezifische Sammelbände verfasst. Der ‘radikale Konstruktivismus’,
v.a. aufbauend auf den Untersuchungen von J. Piaget, behauptet nun, dass „die Funktion der
menschlichen Vernunft .....nicht [sei], eine vom Wissenden unabhängige, reale Welt darzustellen,
sondern Handlungsschemas und Begriffsstrukturen aufzubauen, die sich im Laufe der Erfahrung
als brauchbar erweisen.“ Also: Viabilität statt der Suche nach ‘absoluten Wahrheiten.’48 Der
Beitrag des ‘radikalen Konstruktivismus’ zur Didaktik fällt dabei dann etwa folgendermaßen aus:
Lernen heiße verstehen; Verstehen bestehe aber darin, dass jemand einzelner Begriffsstrukturen
aufbaut. „.... Die konstruktivistische Orientierung kann nur in dem Sinn helfen, dass sie die
grundlegende Autonomie des Schülers betont und darauf hinweist, dass es unter allen Umständen
nur die Schüler selbst sind, die ihre Begriffsstrukturen aufbauen.“49
Berndt (2001) hat eine Region in Mexiko, die hauptsächlich von der ‘Veredelungsindustrie’
abhängig ist, mit einem ‘konstruktivistischem [Vor-]Verständnis’ untersucht. Sein
‘Instrumentarium’ sind Gedanken à la Foucault; v.a. die Analyse von Diskursen und den dahinter
stehenden (Macht-)Interessen. Er arbeitet heraus, welche Rolle diverse Diskurse in bezug auf ‘die
Region’ (allgemein oder als Wirtschaftsregion) spielen; für welche Zwecke welchen Akteuren sie
nützlich sind (C. BERNDT 2001, S. 254). Er unterscheidet sich damit kaum - außer vielleicht
aufgrund seiner expliziten Praxis-Orientierung - von anderen ‘poststrukturalistischen’
Geographen; dennoch bezeichnet er das, was er mit Foucault und auch mit Rückverweisen bis
auf de Saussure rechtfertigt, mit einer neuen Etikette als eine Arbeit des ‘cultural turn’ (C.
BERNDT 2001, S. 246). Argumente für eine Unterscheidung zwischen ‘Poststrukturalismus’ und
‘cultural turn’ finden sich in dieser einen praktischen Anwendung aber nicht.
Rhode-Jüchtern (1998) sucht hingegen nach Konzepten, um in einer veränderten, globalisierten
Welt neue sozialgeographische Konzepte zu finden. Diese sollen in der Alltagspraxis des
Geographen Anwendung finden. In seinem kurzen Artikel versucht er, das weite Feld der
geographischen
(Buttimer,
Werlen),
soziologischen
(Giddens,
Schulze)
und
poststrukturalistischen/postmodernen (Foucault, Virilio) Raum- und Gesellschaftskonzepte zu
befruchten. In postrukturalistischer Hinsicht bezieht er sich auf die Foucaultschen Heterotopien,
die er folgendermaßen zitiert: „Es gibt zum einen die Utopien, [...] Plazierungen ohne wirklichen
Ort, [...] die mit dem wirklichen Raum der Gesellschaft ein Verhältnis unmittelbarer oder
umgekehrter Analogie unterhalten. Perfektionierung der Gesellschaft oder Kehrseite der
Gesellschaft: jedenfalls [...] wesentlich unwirkliche Räume. Es gibt gleichfalls [...] wirkliche Orte,
wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen
Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Pläne
innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte
außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können [...] die Heterotopien.“ (M.
E. von GLASERSFELD, 1997, Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Suhrkamp, Frankfurt a.
M..
48 Im Prinzip erfüllt solche Forderungen bereits die Erkenntnistheorie eines K. R: Popper; (auch G. BÖHME 1998,
Einführung in die Philosophie. Weltweisheit - Lebensform - Wissenschaft, 3. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt a. M.)
merkt an, dass der ‘Rad. Konstruktivismus’ «bisher noch zu keinen Ergebnissen geführt [habe], die nicht ohnehin in
der Erkenntnistheorie bekannt wären.»
49 E. von GLASERSFELD, 2001, Aspekte einer konstruktivistischen Didaktik, in: A. REITER Hrsg., Konstruktives
Lernen mit neuen Medien: Beiträge zu einer konstruktiven Mediendidaktik, Studienverlag, Innsbruck - Wien München, 7-11; zu Didaktik und Konstruktivismus s. auch W. SCHMIDT-WULFFEN, 1999, Schüler und
Alltagsweltorientierung im Erdkundeunterricht. Zugänge, Perspektiven für die Praxis, Beispiele aus dem Unterricht,
Klett-Perthes, Gotha - Stuttgart, v.a. 12ff.
47
FOUCAULT, zit. in T. RHODE-JÜCHTERN 1998, S. 6). Das Studium dieser Orte sei zugleich
mythologisch wie real. Foucault unterscheide in der Folge verschiedene Formen der
Heterotopien wie Krisenheterotopien (geheiligte, verbotene Orte), Abweichungsheterotopien
(Kliniken, Gefängnisse, Altersheime), Funktionsheterotopien (Friedhöfe), universalisierende
Heterotopien (Kino, Garten), Zeit-Heterotopien (Museen, Bibliotheken), flüchtige Heterotopien
(Feste, Feriendörfer, Jahrmärkte), Tor-Heterotopien (Gefängnis, Sauna, Motel), und
Kompensations-Heterotopien (Bordell, Ordens- u. Sektenkolonien) (T. RHODE -JÜCHTERN
1998, S. 7). In der Folge zeigt Rhode-Jüchtern durch vier praktische Versuche, wie der Raum ins
Leben gesetzt wird, durch die Möglichkeiten des Handelns erzeugt wird (T. RHODEJÜCHTERN 1998, S. 8ff.).
1.) Die Galerie als Passage. Die Gleichzeitigkeit von innerhalb und außerhalb, von internen und
externen Relationen wird gezeigt und anhand eines Bildes von Escher visualisiert.
2.) Versuch der Umcodierung einer Straßenkreuzung durch Abhalten eines studentischen
Frühstücks.
3.) Der Saalepark: Veränderungen durch die deutsche Einheit und die Ansiedlung von
Einkaufszentren.
4.) ‘Convention Center’ - Manhatten: Hier wird der ‘Schutz’ durch Wachschutz und moralische
Regeln thematisiert, semantische Regeln werden als autoritative Ressourcen betrachtet. Bei
Betrachtung eines Verbotsschildes kann man erkennen, dass man dort „nicht schlafen, rauchen,
Alkohol trinken, keine Einkaufswagen und große Pakete mitbringen, nichts ilegenlassen, kein
Radio spielen, nicht wetten, Karten spielen, betteln, etc... darf und die Einhaltung dieser Regeln
auch noch als Kooperation empfinden sollte. Andernfalls wird man entfernt.“
Wolkersdorfer entwickelt in seiner Dissertation (2001) eine Politische Geographie unter
handlungs- und diskurstheoretischer Perspektive. Am Beispiel des Dorfes Horno, dass seit Jahren
mit der Produktion eines ethnischen Diskurses gegen den Ausbau des Tagebaus kämpft, wird die
Foucault’sche Diskurstheorie angewandt, um nachzusehen, wie über ökonomische und ethnische
Diskurse von mehreren Seiten versucht wird, Wahrheiten zu produzieren und so ihre jeweiligen
Absichten durchzusetzen. Die Bedeutungen medialer, justiziärerer, politischer, kirchlicher
Diskurskonstruktionen werden herausgestellt und miteinander verglichen bzw. einander
gegenübergestellt (G. WOLKERSDORFER 2001, S. 208ff.).
Aufhauser (2001) analysiert unter Rückgriff auf Foucault verschiedene Diskursstränge der
Bevölkerungspolitik. Die Autorin beschäftigt sich dabei nicht lange mit philosophischen Fragen,
sondern kommt nach der kurzen Definition des von ihr angewandten Diskursbegriffes „In
Anlehnung an den französischen Historiker und Philosophen Michel Foucault können Diskurse
als ‘inhaltlich-thematisch abgrenzbare, strukturierte und institutionalisierte Formen der
Bedeutungsproduktion’ .... definiert werden“ (E. AUFHAUSER 2001, S. 7f.) sogleich zu ihrem
eigentlichen Anliegen: „Diskurse und ihre ‘Formation’ (Foucault 1973) aus soziologischer
Perspektive zu untersuchen ...“ (E. AUFHAUSER 2001, S. 8). Dabei unterscheidet sie vorerst in
einer groben Klassifikation zwischen dem eugenischen, dem entwicklungspolitischen, dem
feministischen und dem ökologischen Diskurs. Ihre Untersuchung beruht auf der Annahme, dass
es verschiedene, unterschiedlich miteinander verwobene Diskursstränge zum Thema
Bevölkerungspolitik gäbe, jedoch einen diskursiven Mainstream, der die Entwicklung der
bevölkerungspolitischen Aktivitäten präge. Im Zentrum des Diskurses stünden die
Beeinflussungsmöglichkeiten der weiblichen Fertilität zum Zwecke des Erreichens einer
bestimmten demographischen Struktur (E. AUFHAUSER 2001, S. 7ff.). Der diskursive
Mainstream ließe sich für die Nachkriegszeit anhand jener Dokumente gut ablesen, die im
Rahmen der alle 10 Jahre stattfindenden Weltkonferenzen verabschiedet wurden. (H.
MERTENS, zit. in E. AUFHAUSER 2001, S. 19) Der Text zeigt, wie eine soziologische
Anwendung der Diskursanalyse Foucaults vor dem Hintergrund emanzipatorischer Weltbilder
aufschlussreiche Ergebnisse bringen kann. Trotzdem bleibt aber unklar, ob die Methodik
inhaltlich nicht etwas vereinfachend ist, wenn ein diskursiver Mainstream einzig und allein aus
den Dokumenten der Weltbevölkerungskonferenzen abgeleitet wird. Denn die auf geduldigem
Papier gedruckten Diskurse der Weltkonferenzen stehen - wie wir wissen - allzu oft in Kontrast
zur tatsächlich praktizierten Politik. Darüber hinaus wird die Bedeutungsproduktion in anderen
Diskurs-Formationen (wie etwa in massenmedialen, innenpolitischen, sozialwissenschaftlichen,
etc.) vernachlässigt, sodass nicht klar ist, ob tatsächlich von einem diskursiven Mainstream
ausgegangen werden kann und nicht nur ein Mythos, wie z.B. jener der sog. ‘Bevölkerungslobby’,
aufgebaut werden soll.
Insgesamt kann man die Kategorie 3 als sehr heterogen charakterisieren. Die emanzipatorische
Komponente ist ebenso unverkennbar wie die übermäßig starke Rezeption der
Handlungsgeographie Benno Werlens. Aber auch andere wissenschaftliche Analysekonzepte
finden Zugang und werden besonders bei Rhode-Jüchtern mit der Diskurstheorie Foucaults
verknüpft bzw. hybridisiert.
2.4. Von der theoretischen Reflexion zur vermeintlichen sozialgeographischen Praxis
Die Gefahr bei etwas besonders Kompliziertem ist immer auch, dass hinter einer rein formal
schwer verständlichen Sache inhaltlich wenig Aussagekräftiges steckt. Diese Gefahr ist
wahrscheinlich gerade bei einer so schwierigen Philosophie wie der poststrukturalistischen sehr
ausgeprägt, sowohl bei ‘lediglich’ theoretischen Arbeiten, die z.B. nur den bereits bestehenden
Wissenstand wiederholen - eine Reihe der untersuchten Autoren hat tatsächlich nur das gemacht
-, als auch, und da vielleicht gerade besonders, bei Arbeiten, die konkrete ‘praktische’ Ergebnisse
liefern wollen. Es ist vielleicht besonders denkwürdig, wenn eine prächtige, komplizierte und gut
klingende Theorie am konkreten Beispiel nicht viel mehr, oder gerade nur eben das
herauszuholen vermag, was man ohnehin schon weiß.
Theoretisch hätte an dieser Stelle etwa auch der Aufsatz von D. P. DIXON und J. P. JONES
(1996) stehen können. Gleich vorweg: Dass er das nicht tut (tatsächlich befindet er sich in
Kategorie B), liegt vornehmlich daran, dass in einem ersten Teil die Autoren doch relativ
gewissenhaft ihre Aussagen über Epistemologie und poststrukturalistische Philosophie darlegen
und zu begründen vermögen. Trotzdem: Die Grundaussage des Artikels entbehrt nicht einer
gewissen Banalität. Der Text hat kein wirkliches Argumentationsmuster, sondern greift auf die
Form des Gleichnisses zurück: So wie die singende Hauptdarstellerin in einem Disney-Musical
einen, dem Kapital verfallenen, Mann zu einer neuen Weltsicht bekehren kann, ebenso vermag es
- so das gleichnishafte Versprechen - der Poststrukturalismus auch mit der Geographie zu tun.
Kurzum, um diese einfache Aussage zu vermitteln, hätte ein einfacher und einziger Satz genügt,
und v.a. wäre dafür kein über mehrere Seiten gehender (zusätzlich mit einer Doppelseite von
„screenshots“ hinterlegter) Artikel notwendig gewesen.
Nun ist nicht bei allen Artikeln so offensichtlich, daß ihr Erklärungsgehalt dürftig ausfällt.
Manche Arbeiten argumentieren tatsächlich vordergründig viel und ausführlich, kommen aber
letztendlich nicht wirklich zu einem nachvollziehbarem Ergebnis. Wir möchten etwa behaupten,
dass der Aufsatz von Strassel (2000), der eine - es ist nicht möglich zu sagen konkret welche Analyse von modernen Gärten darstellen will, tatsächlich sich auf keine bzw. wenn doch, eine
lediglich banale Aussage reduzieren läßt. Die Zusammenfassung von Strassel Aufsatz nimmt sich
folgendermaßen aus: „Gärten sind trotz ihrer wachsenden kulturellen Bedeutung ein wenig
beachteter Gegenstand der Geographie. Als zu ihrer Erforschung geeignete theoretische Ansätze
werden die strukturalistische Mythentheorie von Claude Lévi-Strauss und der Diskursbegriff von
Michel Foucault vorgestellt und diskutiert. Der Garten von Sissinghurst Castle, England, dient als
Beispiel einer zu solcher Analyse relevanten Gartengestaltung.“ (J. STRASSEL 2000, S. 129)
Also, diese Zusammenfassung sagt uns zwar a.), was in dem Aufsatz alles gemacht und auch was
angeblich untersucht worden ist, aber nichts über ein eventuelles Ergebnis, nicht einmal ob eine
eventuelle Fragestellung positiv oder negativ beantwortet werden konnte. Und b.), dass hier auf
den ersten Blick zwei ‘Untersuchungsmethoden’ vermischt werden, die eigentlich nichts
miteinander zu tun haben.
Als ‘Fragestellung’ darf wahrscheinlich „die wissenschaftliche Erklärung der räumlichen
Ausprägung [sic] und kulturellen Bedeutung von Ziergärten“ angesehen werden. So etwas gebe es
nämlich noch nicht - Strassel vermutet, dass der Geographie einfach noch eine entsprechende
„Theorie ..... zur Erklärung solcher ästhetischen Phänomene“, also von etwas, das von Menschen
im „verfügbaren hausnahen Freiraum ... ohne ökonomischen Sinn und oftmals ohne sozialen
Zwang ästhetisch in einer bestimmten Weise“ gestaltet wird, fehle. Strassel will für eine solche
Theorie „einige Überlegungen, ...... Bausteine“ liefern (J. STRASSEL 2000, S. 119).
Es folgt eine quasi ‘phänomenologische’ Beschreibung eines bestimmten Gartens (was, wie und
wo angepflanzt ist; unterlegt mit Photos). Dass ein englischer Gartenbesitzer während des
Zweiten Weltkriegs seinen Garten als Rückzugsort bezeichnet hat, nimmt Strassel zum Anlass zu
behaupten: „Der Garten ist .... der Raum und das Symbol der Hoffnung und der privaten
Rettung vor der Welt und dem Leid, das dem Menschen von ihr droht. Er ist, soweit dies
möglich ist, das Paradies auf Erden.“ (J. STRASSEL 2000, S. 123)
Dann folgt eine (inadäquate) ‘Anwendung’ der Mythenanalyse von Lévi-Strauss50, wobei aber
nicht ganz klar ist, was Strassel nun eigentlich weiter analysieren will. Denn im Endeffekt kommt
er in diesem Unterkapitel zu einer ganz anderen (banal semiotischen) Aussage, dass wir eine
bestimmte Konstellation von Zeichen als Garten interpretieren. Strassel (mit einigen
Redundanzen und zirkulär): „Der Garten ist als ein System von Aussagen mit der Struktur eines
Mythos interpretierbar, formuliert nach den Codes der räumlichen Gestaltung und in ihren
verbalen Auslegungen. Wir ‘lesen’ in und von ihm als eine seiner Bedeutungen: dies ist ein
Paradies auf Erden. Die räumliche Gestaltung des Gartens als Ort ist seine Zeichensyntax. Nach
ihren Regeln bilden die Elemente des Gartens als sein Ausdrucksmaterial bedeutungsvolle
Einheiten. Dem Garten die Bedeutung eines Paradieses auf Erden zuzusprechen, macht Sinn, da
er zeichenhaft die Inhalte wiedergibt, die wir mit dieser Vorstellung verbinden .......“ (J.
STRASSEL 2000, S. 125).
Er will aber vor allem darauf hinaus, dass der Garten als die Versöhnung des Gegensatzes (und
letzteren kann er tatsächlich von Lévi-Strauss übernehmen) Natur-Kultur (Schlagworte: Das
Rohe und das Gekochte - Titel einer Monographie von Lévi-Strauss) angesehen werden muss.
Diese Behauptung kommt aber sozusagen aus dem Nichts, vor jeglicher Analyse. Lévi-Strauss hat
tatsächlich Mythen untersucht, und gerade durch derartige langwierige und umfangreiche Studien
hat er überhaupt die binären Oppositionspaare aufdecken können. Strassels Ansatz hingegen ist
vielmehr die Karikatur der Methode des Ethnologen. Er weiß das Ergebnis schon vorher (Garten
als Paradies = Versöhnung zweier polaren Gegensätze: Natur-Kultur).
Dann greift Strassel die Diskurs-Theorie Foucaults auf; und zwar mit dem Argument, dass nur
mit dieser sich ermitteln lasse, a.) wie das gesellschaftliche negative und positive Pendant
aussehen könne, deren beider Vermittlung der Garten dann vorstelle und b.), wie solche
‘strukturalen’ Zusammenhänge gesellschaftlich reproduziert werden.51 Im Prinzip sagt Strassel
vgl. dazu etwa M. HAINZL, 1997, Semiotisches Denken und kulturanthropologische Forschungen bei Claude
Lévi-Strauss, Peter Lang, Frankfurt a. M..
51 Diese Fragestellungen haben wir sinngemäß formuliert; wobei wir hoffen J. Strassels Ansichten nicht falsch
wiedergegeben zu haben. Im Original nehmen sie sich folgendermaßen aus: „Die Diskurstheorie muss in der Lage
sein, zwei ‘Lücken’ des strukturalistischen Ansatzes zu schließen. Sie muss zum einen den Gedanken einer
universalistisch bestimmten Mythosstruktur mit der Existenz konkreter historischer Antagonismen verbinden. Die
Widersprüche, die die Gestaltung eines Gartens mythisch versöhnt, sind, kulturell verankert, diejenigen einer
50
damit nicht mehr, als (sinngemäß): ‘ich glaube, dass die kulturelle Vermittlung von
Sprachgebrauch und Begriffsinhalten von Wörtern mit dem Diskurs-Begriff von Foucault erklärt
werden können.’ Denn es geht hier um nichts Garten-spezifisches, sondern um das, wie ein
konkreter Begriff und seine Begriffsinhalte tradiert werden. Über die kulturelle Bedeutung von
Gärten also, außer dass sie als Paradiese angesehen werden müssen, erfährt man in diesem
Aufsatz überhaupt nichts. Eine Diskursanalyse, die Foucault wahrscheinlich näher stehen würde,
hätte sich darauf verlegt, die verschiedenen gesellschaftlichen Bedeutungen von Gärten
herauszufinden (Garten als Statussymbol, als Metapher etc. ....). Übrigens: der Begriff Paradies
war ursprünglich – wahrscheinlich bis zur griechischen Bibelübersetzung - nichts anderes als eine
Bezeichnung einer ganz bestimmten Art von Garten: Parádeisoi hießen die künstlich angelegten
Großgehege, in denen der persische Großkönig zu jagen pflegte.
konkreten Zeit und Gesellschaft und sie haben in diesen ihre Ursachen, gewinnen aus ihnen ihren Sinn als
mythenbildende. Widersprüchlichkeit alleine wirkt noch nicht mythisierend. Und zum anderen muss diese Struktur in
ihren jeweiligen Realisierungen als Gestaltung eines Gartens in der Analyse an konkrete Handlungszusammenhänge
gebunden sein, sonst gewinnt sie keine sozialwissenschaftliche Relevanz.“ (J. STRASSEL 2000, S. 125).
III. Résumée
Die poststrukturalistischen Elemente innerhalb der Geographien sind vielfältig und wenig
systematisch. Den poststrukturalistischen Bezugstext gibt es nicht; so dispers und
unzusammenhängend die unter dem ‘umbrella-term’ ‘Poststrukturalismus’ zusammengefassten
Ideen und Aussagen auf dem Gebiet der Philosophie sind, mindestens ebenso unsystematisch ist
auch die Poststrukturalismus-Rezeption in der Geographie. Hinzu kommt, dass die Rezeption oft
eine Eigendynamik entwickelt und zwar in dem Sinn, dass sie die originären Gedanken erweitert
bzw. umformt oder verzerrt. Es lassen sich zwar auch unter den geographischen Arbeiten
Gemeinsamkeiten herausarbeiten, dennoch sind diese aus den eben genannten Gründen nie so
klar ausgeprägt, wie auf der Ebene der Primär-Autoren (d.h. bei den poststrukturalistischen
Philosophen). Es fällt auf, dass ein überwiegender Teil der Personen, die poststrukturalistisch
arbeiten wollen, konsequent auf diese zurückgreift, um selbst dann ausschließlich theoretische
Fragestellungen zu diskutieren. So gut wie alle wichtigen Referenzautoren (für die
poststrukturalistischen Aspekte der Untersuchung) stammen aus den Reihen der
französischsprachigen Philosophie, die auch die Philosophie‘Wolke’ der
programmatischen
Pluralität
der poststrukturalistischen
Philosophie
theoretische
Ebene
geographische
Praxis
Genealogie
Dekonstruktion
Lacan-Psychologie
Dear
Diskursanalyse
Zierhofer
Harvey
Gibson-Graham
Abb. 9: Der ‘Werkzeugkasten’ - Schematische Darstellung der Rezeption
poststrukturalistischer Ansätze durch Geographen (Quelle: eigener Entwurf)
Wissenschaftsgeschichte kanonisch unter dem Sammelbegriff Poststrukturalisten vereint.
Abgesehen
von
bestimmten
Ähnlichkeiten
bei
den
Fragestellungen
und
Untersuchungsinstrumenten ist diese Bezugnahme ein grundlegendes Argument dafür, von so
etwas wie einer ‘poststrukturalistischen Geographie’ zu sprechen. Ein Paradigma, das sich über
ein bestimmtes Rezeptionsmuster definiert.
1. Poststrukturalistische Geographie als Paradigma
Schurz schlägt vor, den Paradigmenbegriff auf der Grundlage einer Synthese von Kuhns Begriff
der disziplinären Matrix und einigen prominenten Explikationsvorschlägen im Anschluss an
Kuhn zu erweitern. Er fasst Paradigmen als vierteilige kognitive Struktur auf und unterscheidet
dabei zwischen der theoretischen, der empirischen, der methodologischen und der
programmatischen Komponente (G. SCHURZ 1998 S. 9f. – vgl. auch Abb. 10).
Der Theoriekern des Poststrukturalistischen Paradigmas ist pluralistisch, je nach
Rezeptionsmuster des betreffenden Autors. Es gibt nur eine lose Verknüpfung der einzelnen
Ansätze über einen nur vague und breit zu definierenden Theoriekern. Man könnte deswegen
auch von Postrukturalismen in der Geographie sprechen, statt von einem Poststrukturalistischen
Paradigma. Als Grundaussage wird - zumindest bei den Arbeiten mit praktischer Anwendung die (De)Konstruktion sozialer Phänomene (v.a. auch von Diskursen, womit wir bei einem
zweiten Schlagwort wären) erwähnt. Man will zu einem relationalen Verständnis von
metaphysischen Konzepten wie Raum, Gesellschaft oder Natur gelangen und althergebrachte
Abgrenzungen und Dichotomien hinterfragen. Die netzwerkartige, hybride Identität der Dinge
wird ebenso hervorgehoben wie die Dezentrierung. Besonders in der deutschsprachigen
Geographie wird dieses Konzept mit anderen, nicht primär poststrukturalistischen
philosophischen Konzepten verknüpft, wie vor allem dem Konstruktivismus, der A-Moderne,
der Sprachpragmatik, ökologischen Denkrichtungen, der Postmoderne, etc., etc…
Theoriekern
Methodologie
(De)Konstruktion
von Gesellschaft,
Raum, etc.
Relationale
Raumkonzepte
Methodik
Dekonstruktion,
qualitat. Methoden,
(Selbst)Reflexion
Normative
Vorstellungen
Hauptsächlich
Emanzipatorisch
Empirische
Komponente
Programmatik
Epistemologie
Konstruktion der
Wirklichkeit
über Sprache
Relationale Raumkonzepte;
Einheit der
Geographie?!
Abb. 10: Schurz’scher Paradigmenbegriff und Poststrukturalismen in der Geographie
In den empirischen Anwendungen wird oft auf die Differenz zwischen Eigen- und
Fremdwahrnehmungen verwiesen. Besonders häufig in der Praxis angewandt wird dieses
Konzept von Feministischen PoststrukturalistInnen, die die Konstruktion von
Geschlechterdifferenzen de- und rekonstruieren, soziale Ein- und Ausschlusspraktiken
thematisieren und als Antwort konkrete Handlungsstrategien entwerfen. Andererseits wird aber
auch danach gefragt, wie räumliche Ordnungen durch Sprachregelungen konstruiert und befolgt
werden müssen. Besonders eindrucksvoll wird dies bei Rhode-Jüchtern beschrieben. Er
beschreibt (Un)Möglichkeiten der alternativen Umcodierung von Räumen, denen durch
Sprachregelung eine bestimmte Funktion zugewiesen wurde.
Die methodologische Komponente besteht nach Schurz aus der methodischen Komponente, der
epistemologischen Komponente und der normativen Komponente (G. SCHURZ 1998 S. 10).
Die methodische Komponente besteht bei fast allen Poststrukturalisten aus dem Konzept der
Dekonstruktion, welches auf Derrida zurückzuführen ist. Wir konnten keine Arbeit finden, in der
quantitative Methoden angewendet wurden. Alle Arbeiten, die wir der Kategorie C (= Aufsätze,
die eine praktische Komponente beinhalten), bevorzugen qualitative Methoden der
Datengewinnung, wie unstandardisierte, offene Interviews, Beobachtung oder auch Darstellung
von Raum-Zeit-Diagrammen. Darüber hinaus weisen viele auch darauf hin, den
(selbst)reflektiven Perspektivenwechsel als Methode einzuüben und bisher einzig und allein unter
einem bestimmten theoretischen Blickwinkel beobachtete Phänomene vor dem Hintergrund
einer anderen Theorie zu beobachten.
Die epistemologische Komponente besteht aus der Annahme, dass die Wirklichkeit erst durch
die Sprache bzw. das Sprechen über sie konstruiert werde. Raum und räumliche Beziehungen
werden als Konstrukte aufgefasst. Darüber hinaus wird äußerst häufig auf die Diskursanalyse
Foucaults verwiesen, dessen Konzept in der Geographie meist folgendermaßen aufgefasst wird:
die Sprache spiegle die Wirklichkeit nicht wieder, sondern konstruiere sie erst. Der Theoriekern
und die epistemologische Komponente sind demnach bei diesem Paradigma dasselbe.
Die normative Komponente enthält Annahmen darüber, welches Forschungsinteresse befolgt
wird. Hier ist eine emanzipatorische Ausrichtung zu bemerken, indem sie Ungleichheiten und
Machtverteilungen hinterfragen, andererseits neue Möglichkeiten aufzeigen will, wie sich
Geographen dem Phänomen ‘Raum’ auch nähern können um diesen „neu lesen zu lernen“.52
Die programmatische Komponente besteht nach Schurz in einem Forschungsprogramm, d.h. in
einem weitgehend noch uneingelösten Versprechen sowie einer damit einhergehenden Hoffnung,
bei fortgesetzter Arbeit alle Phänomene einer sehr umfassenden Phänomenklasse erfolgreich
erklären zu können (G. SCHURZ 1998, S. 11). Hier ist eindeutig Zierhofers Programm der
wiederzufindenden Einheit der Geographie unter einem relationalen Weltbild anzuführen. Die
Geographie solle jenseits der transzendentalen Unterscheidung von Natur- und
Sozialwissenschaften angesiedelt sein. Hier ist auch das Bemühen vieler Geographen
einzuordnen, darunter etwa Weichhart, Zierhofer, Reichert und Rhode-Jüchtern, zu einem
relationalen Raumkonzept zu gelangen. Eine ähnliche Zielvorstellung bildet den thematischen
Rahmen für den Sammelband von Benko und Strohmayer (1997).
‘Thematische Fokussierungswerte’, das sind bestimmte Begriffe und Schlagwörter für Methoden
und Themenbereiche, die innerhalb der Literatur eines Paradigmas signifikant häufig verwendet
werden, finden sich in der folgenden Tabelle zusammen- bzw. gegenübergestellt.
1.1. Überblick der thematischen Fokussierungswerte
thematische Fokussierungswerte der
angloamerikanischen poststr. Geographie:
-
Dekonstruktion
Diskurs (Diskurs-Analyse, MachtDiskurse etc.), Genealogie
Pluralität
Identität/Dezentrierung
Differenz (différence-différance)
deutschsprachige poststrukturalistische
Fokussierungswerte:
-
(De)Konstruktion
Diskursanalyse
Rationalitäten, Pluralität
Subjekt-Objekt-Trennung (bzw.
Aufhebung)
Denken in Übergängen
T. RHODE-JÜCHTERN, 1996, Den Raum lesen lernen. Perspektivenwechsel als geographisches Konzept,
Oldenbourg, München.
52
-
-
-
‘Production of Space’
Sinn/Bedeutung (‘gleitender Sinn’)
Macht/Wissen (power/knowledge)
Repräsentation/repräsentieren.......
thematische Fokussierungswerte der
emanzipatorischen Ansätze (gender
etc. ..)
linquistische Terminologie (Sinn und
Sinn-Dekonstruktion werden anhand
des Modells erklärt, das die auf
Saussure zurückgehende Linguistik
bzw. dann der Strukturalismus zur
Entstehung des Sinns in einem
sprachlichen System verwendete) - z.B.
‘textual Objekt’; ‘reading/writing space
...’; écriture,
Neologismen: ‘(s)play’ (Doel 1999),
‘rape script’ (Gibson-Graham 1997),
‘thirdspace’ (z.B. Soja 1997)
-
Transaktionistisches Weltbild
Hybride Identität
geMacht
Ein- und Ausschlusspraktiken
Eigen- und Fremdwahrnehmung
(Geschlechter)Differenz
‘Passage’
‘Heterotopien’
‘Performanzen’
Räume als Texte
Tab. 2: Übersicht der thematischen Fokussierungswerte
1.2. Überschneidungsbereiche zu anderen humangeographischen Paradigmen
… sind wie bei vielen anderen humangeographischen Paradigmen, so auch bei ‘dem’
Poststrukturalistischen Paradigma zu beobachten. Für Poststrukturalismen in der Geographie
scheint es aufgrund der Charakteristika dieses Paradigmas konstitutiv zu sein, dass Einzelaspekte
anderer humangeographischer Paradigmen übernommen werden. Die Überschneidungen zur
Familie der Emanzipatorischen, insbesondere zum Feministischen Paradigma, sind besonders
auffällig. Das Hinterfragen der hierarchischen Polarisierungen in der Sprache führt direkt zu
Vorschlägen, gesellschaftlich konstruierte Machtungleichgewichte zu hinterfragen und
‘Verbesserungsvorschläge’ zu thematisieren.
Ein weiterer Überschneidungsbereich dürfte zum Humanistischen Paradigma bestehen. Ähnliche
Fokussierungswerte wie z.B. ‘Angsträume’ (K. KUTSCHINSKE, V. MEIER 2000) deuten darauf
hin. Allerdings ist in dem Artikel von Kutschinske und Meier eine äußerst emanzipatorische
Ausrichtung erkennbar, die nicht unbedingt für das Humanistische Paradigma charakteristisch ist.
Hier ist auf die Polysemie (K.-D. BÜNTING, zit. in G. SCHURZ 1998, S. 22) hinzuweisen: denn
Begriffe wie z.B. ‘Sinn’ oder ‘Bedeutung’ (engl. ‘meaning’) werden von beiden ‘Paradigmen’ (dem
Humanistischen und dem Poststrukturalistischen) thematisiert, aber in durchaus
unterschiedlicher Bedeutung.
Über die verschiedenen Versuche ein relationales Raumkonzept zu formulieren, in dem nicht der
Raum als solcher im Brennpunkt des Interesses steht, sondern die menschlichen Handlungen, die
den Raum konstituieren, sind ebenfalls Zusammenhänge mit dem Handlungstheoretischen
Paradigma erkennbar. Allerdings geht das Poststrukturalistische Konzept oft noch weiter, und
will auch die Aktivitäten des Menschen - im Handlungstheoretischen Paradigma noch im
Zentrum des Interesses - dezentrieren. Raum und Gesellschaft seien als konstruiert aufzufassen.
Ein völlig neuer Versuch, die Länderkunde unter (de)konstruktivistischem Blickwinkel zu
reformulieren, wird zurzeit in deutschen geographischen Instituten formuliert. Es bleibt
abzuwarten, inwieweit dieser Versuch zu einer ‘Modernisierung’ bzw. ‘Postmodernisierung’ dieses
‘Uraltparadigmas’ beizutragen vermag.
Das Humanökologische Paradigma in der Humangeographie geht ähnlich wie einige Stränge des
Poststrukturalismus davon aus, dass die Dichotomie Mensch vs. Natur eine Konstruktion sei. In
der Humanökologie wird die Hybridität der Phänomene ebenso wie im Poststrukturalismus
hervorgehoben. Zentral ist für die Humanökologie - im Gegensatz etwa zur sog. atomistischen eine transaktionistische Sichtweise, die den Beobachter als Teilaspekt des beobachteten Systems
einbezieht.53 Diese Perspektive könnte im Rahmen eines systemtheoretisch orientierten Ansatzes
durchaus mit dem Poststrukturalismus kompatibel sein, wobei man allerdings darauf achten
sollte, dass man den durchaus differenten Theoriekern der beiden Paradigmen nicht miteinander
vermischt. Denn im Gegensatz zum Poststrukturalismus werden in der Humanökologie
keineswegs nur die sprachlichen Konstruktionen bzw. Repräsentationen als Basisabstraktionen
für die weitere Vorgangsweise herangezogen. Vielmehr wird die Person als Medium zwischen der
sog. ‘Gesellschaft’ und der ‘Umwelt’ gesehen.
Das Verhältnis des Poststrukturalismus zum Cultural Turn scheint komplementär zu sein.
Während der Poststrukturalismus vor allem eine bestimmte Methode zur Verfügung stellt, mit
der bestimmte Phänomene oder Sinnzusammenhänge dekonstruiert bzw. als
sprachliche/kulturelle Rekonstruktion analysiert werden können, versucht der Cultural Turn neue
Problemfelder zu erschließen. Man könnte sagen, der Poststrukturalismus beantwortet die Frage
„Wie soll ein bestimmtes Phänomen untersucht bzw. dekonstruiert werden?“, während das
Kulturalistische Paradigmas kein vergleichbares methodisches Instrumentarium ausgebildet hat,
aber neue Forschungsbereiche und Inhalte festzulegen versucht. Es besteht also der Verdacht,
dass es sich hier mit Schurz (1998, S. 33ff.) um zumindest ‘schwache theoretische und empirische
Komplementarität’ handelt, die allerdings von den meisten Proponenten der jeweiligen
Paradigmen im deutschsprachigen Raum bisher nicht bemerkt wurde. Dies kann wiederum
zumindest partiell auf die Verzögerung zurückzuführen sein, die - mit Ausnahme des
Handlungstheoretischen Paradigmas - zwischen der Paradigmenproduktion im angloamerikanischen und ihrer Rezeption im deutschsprachigen Raum immer zu beobachten war.54
Eine zusammenfassende Bemerkung in Zusammenhang zwischen den multidimensionalen
Ontologien, die Humangeographische Paradigmen bereitstellen, und den Poststrukturalismen ist
hier festzuhalten: Ohne gleichzeitige Überschneidung mit anderen Paradigmen scheint der
Poststrukturalismus nicht möglich zu sein. Wenn man im Rahmen der poststrukturalistischen
Geographie zu konkreten empirischen Ergebnissen gelangen will, ist eine Vernetzung bzw. sogar
Verschmelzung mit anderen humangeographischen Paradigmen notwendig.
Vgl. P. WEICHHART, 1993, How does the person fit into the human ecological triangle? From dualism to
duality: the transactional worldview, in: D. STEINER, M. NAUSER, Human Ecology. Fragments of antifragmentary views of the world, London.
54 Ob dies in Zusammenhang mit der Feststellung von Schurz (1998, S. VIII) zu sehen ist, „...dass die kognitive und
soziale Beziehung zwischen den Paradigmen nicht selten gegenläufig ist.“ ist hier schwer zu beantworten, da im
deutschsprachigen Raum der Prozess der Instutitionalisierung der ‘beiden’ Paradigmen erst in den Kinderschuhen
steckt.
53
IV. Schlussplädoyer
Die Dekonstruktion, eine der gebräuchlichsten Methoden derjenigen, die sich Postrukturalisten,
Postmoderne oder auch (De)Konstruktivisten nennen - oder besser so genannt werden - steht
zwar einerseits außerhalb der in den angewandten Wissenschaften üblichen Suche nach
pragmatischen Problemlösungen, andererseits aber in einer anderen wissenschaftlichen Tradition,
nämlich jener des methodischen Zweifels. Wer dekonstruiert, zweifelt systematisch an einer
bestimmten gesellschaftlichen Sinnzuschreibung. Es gibt vielfältige Anwendungsmöglichkeiten
für diese Methode, wie z.B. das Aufdecken und Hinterfragen sprachlicher Sinnzuschreibungen
von Armut und Reichtum, von Geschlechterdifferenz, von der Sinnhaftigkeit des Beschlusses
von Rüstungsproduktion über sprachliche Akte während Millionen verhungern, usw,... Natürlich
war dies soeben eine selektive Rekonstruktion, die man hinterfragen kann, aber so scheint die
Sprache nun einmal zu funktionieren. In einer hoch differenzierten Sprache wie der Schrift ist der
Selektionsgrad meistens sogar recht ausgeprägt.
Wer aber immer an allem zweifelt, alles dekonstruieren will, der kann dabei auch verzweifeln.
Denn es ist wiederum zu bezweifeln, dass es nichts gibt, an dem nicht zu zweifeln ist. Besteht
nicht die Gefahr, in einem semiotischen, (de)konstruktivistischen oder in einem ‘sprachlichen
Derivatedschungel’ zu enden, wenn man alles als sprachlich konstruiert ansieht, und dabei von
den vermeintlich einfachen Bedürfnissen wie atmen, gehen, essen, trinken, und existenziellen
Erlebnissen wie geboren werden und sterben einfach absieht? Ist ein übertriebenes
Metatheoretisieren nicht eine Art von intellektuellem Solipsismus - und sei er auch
institutionalisiert? Wir würden z.B. große Probleme damit bekommen, ein paar Tage lang nichts
zu trinken, auch wenn wir unsere materiellen Bedürfnisse in dieser Zeit sprachlich dekonstruieren
würden. Wir glauben daher nicht daran, dass alles sprachlich erzeugt und dekonstruierbar ist.
Aus einer Popper’schen Perspektive betrachtet, scheint Sprache ein Teil der ‘Welt 3’ zu sein, ein
Teil der Produkte des menschlichen Geistes, zugleich aber auch ein Medium, um zwischen der
Welt 3 und anderen Welten zu vermitteln. 55 Diese sind die Welt der Dinge (Welt 1) und die Welt
der subjektiven Bewusstseinszustände (Welt 2). Es bestehen zweifellos Wechselwirkungen
zwischen diesen Welten und es ist anzunehmen, dass die sprachlichen Konstruktionen über Welt
2 und Welt 1 und andere Gegenstände der Welt 3 großen Einfluss auf diese jeweiligen Welten
ausüben. Aber das bedeutet nicht, dass sie die Gegenstände bzw. Inhalte dieser Welten ersetzen.
Sprache schafft ein symbolisches Abbild einer wahrgenommenen und kognitiv verarbeiteten
Wirklichkeit und zugleich eine neue - eben sprachlich formulierte - Wirklichkeit. Vielleicht ist
Sprache eher ein Derivat der Wirklichkeit, als ‘die’ Wirklichkeit selbst. Natürlich entsteht
innerhalb dieses Derivats wieder eine eigene Wirklichkeit. Das heißt natürlich auch, dass wir
soeben eine ‘neue’ Wirklichkeit geschaffen haben, weil wir über diese schreiben. Solange man
über die Sprache schreibt, befindet man sich innerhalb eines sprachlichen Systems, welches man
nicht verlässt.
Man kann über den 11. September 2001 so sprechen, wie es die meisten Fernsehkommentatoren
taten, die meisten Politiker, die meisten Menschen auf den Straßen, in den Büros und zu Hause.
Man kann den 11. September aber auch als einen Tag zur Sprache bringen, an dem wiederum, so
wie jeden Tag, ca. 20000 bis 30000 Kinder verhungert oder an einer - nach UNO-Definition vermeidbaren Krankheit gestorben sind.
Es ist offensichtlich, dass es sehr unterschiedliche Wirklichkeiten sind, einerseits über ‘etwas’ zu
sprechen oder andererseits dieses ‘etwas’ zu erleben. Man kann zwar über etwas sprechen, was
man erlebt hat, auch über etwas, dass man nicht erlebt hat, man kann aber auch gar nicht darüber
sprechen. Wer aber nicht spricht, der existiert noch immer, auch wenn er sprachlich nicht
55
K. POPPER 1994, Knowledge and the body-mind problem. In defence of interaction, London.
erscheint. Genau dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man z.B. betrachtet, wie die
Aufbereitung von Nachrichtenmeldungen in den einflussreichsten Massenmedien zur Sprache
gebracht werden - und auch, welche und wie viele Meldungen im Selektionsfilter der
Redaktionsstuben hängen bleiben. Es ist manchmal nützlich, viele sprachliche Diskurse zu
hinterfragen, es ist aber vor allem auch von Nutzen, vieles überhaupt erst zur Sprache zu
bringen. 56 Ein einseitig dekonstruktives Programm würde aber diese zweite - ‘konstruktive’ Möglichkeit ausblenden.
Daher stellen wir zum Abschluss folgende Thesen in den Raum:
Die extremsten Formen des Dekonstruktivismus, wobei alles hinterfragt wird, und die auf der
sehr vereinfachenden strukturalistisch-Saussurianischen Theorie des Zeichens basiert, ist
abzulehnen. Man könnte die Methodik der Postmodernen/Poststrukturalisten als neuen
Werkzeugkasten ansehen, aus dem man sich einige gut funktionierende Werkzeuge für einige
wichtige wissenschaftliche Aufgaben herausnehmen kann. Z.B. würde sich die Methode
hervorragend eignen, um Wirklichkeitskonstruktionen weltpolitischer Ereignisse durch
verschiedene sprachliche Diskurse in den verschiedenen Massenmedien zu dekonstruieren, um
sodann in einem zweiten Schritt diesen oft sehr einseitigen Wirklichkeitskonstruktionen andere
Diskurse gegenüberzustellen. Dies wäre natürlich ein recht idealistisches und emanzipatorisches
Programm und stellt nur eine von mehreren Anwendungsmöglichkeiten dar.
Aber zu glauben, allein mit der Methode des Dekonstruktivismus immer sinnvoll Wissenschaft
betreiben zu können, erinnert eher an einen Heimwerker, der versucht, lediglich mit dem
Schraubenzieher seine Wohnung renovieren zu können. Wer nur eine Methode exzessiv
anwendet, lebt nicht nur in einer etwas abgeschotteten Wirklichkeit, sondern wird auch Probleme
bekommen, sein eigenes intellektuelles Weltbild an veränderte Umweltbedingungen anzupassen,
sobald er mit anderen Weltbildern/Theorien/Methoden/Paradigmen in Berührung gerät. Genau
diesen Vorwurf kann man aber gegen einige Postmoderne erheben.
Vgl. hierzu etwa D. REICHERT, W. ZIERHOFER, 1993, Umwelt zur Sprache bringen. Über
umweltverantwortliches Handeln, die Wahrnehmung der Walssterbensdiskussion und den Umgang mit Unsicherheit,
Opladen.
56
Appendix
Naturwissenschaftliche Kritik an den Postmodernen: Alan Sokal und Jean Bricmont
Schon seit vielen Jahren würden sich viele Intellektuelle schamlos naturwissenschaftliche Begriffe
aneignen, ohne überhaupt zu wissen, was diese bedeuten würden. Daraus würde eine Art
‘Einschüchterungsprosa’ hervorgebracht, um den Unterschied zwischen ‘richtig’ und ‘falsch’ zu
nivellieren. Diesen Vorwurf erheben die Physiker Alan Sokal und Jean Bricmont in ihrem Buch
„Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen.“57 Das
Buch und der darauf folgende heftige Streit zwischen postmodernen Sozialwissenschaftern und
Naturwissenschaftern hatte eine Vorgeschichte. Denn nachdem die renommierte Zeitschrift
„Social Text“ einen Artikel von Sokal mit dem Titel „Die Grenzen überschreiten. Auf dem Weg
zu einer transformativen Hermeneutik der Quantenschwerkraft“ veröffentlicht hatte, teilte der
Autor mit, dass es sich hierbei um eine Parodie und inhaltlich um völligen Unsinn handle,
zusammengestellt aus einigen Zitaten bekannter französischer Denker.
In ihrem Buch selbst belegen sie ihre Kritik an den von ihnen als postmodern bezeichneten
Intellektuellen Baudrillard, Deleuze und Guattari, Irigaray, Kristeva, Lacan, Latour und Virilio
mit aussagekräftigen Zitaten. In der Folge soll die Kritik an Bruno Latour und Jean Baudrillard
erörtert werden.
Bruno Latour, Wissenssoziologe und bekannt geworden durch sein Buch „Science in action“, hat
1988 eine semiotische Analyse der Relativitätstheorie vorgestellt, in der „Einsteins Text als
Beitrag zur Delegationssoziologie“ ausgegeben werde. In der Folge widmen sich Sokal und
Bricmont diesem Artikel (A. SOKAL, J. BRICMONT 2001, S. 145ff.). Sie rekonstruieren Latour
als einen Verfechter seines ‘strong programme’, der behauptet hat, dass „der Inhalt jeder
Wissenschaft durch und durch gesellschaftlich“ sei. Latour würde beklagen, dass frühere
gesellschaftstheoretische Analysen keinen Hinweis darauf gegeben hätten, „wie die
Relativitätstheorie selbst als gesellschaftlich gelten könnte“. Latour verteidige dieses Ziel durch
eine Neudefinition des Begriffs ‘gesellschaftlich’. In der Folge zeigen Sokal und Bricmont auf, wie
seine Argumentation durch einige Missverständnisse der Relativitätstheorie entwertet werde.
Erstens missverstehe Latour den physikalischen Begriff des ‘Bezugssystems’ (bei dem es sich um
die Bezeichnung einer Methode handle, die räumliche und zeitliche Koordinaten gewissen
Ereignissen zuordne) und setze dieses mit einem ‘Beobachter’ gleich. Daraus würde Latour einige
fehlerhafte Schlüsse ziehen, z.B. indem er meint, dass Einsteins Buch auch als „Neue
Anweisungen zum zurückholen Fernreisender“ betitelt werden könne.
Zweitens verwechsle Latour den Begriff des ‘Bezugssystems’ in der Physik mit dem des ‘actors’ in
der Semiotik. Außerdem glaube er, dass Einstein bei seiner Theorie drei Bezugssysteme in
Betracht gezogen hätte (und Latour nennt diese drei ‘actors’), was falsch sei, da die LorentzTransformationen den Übergang der Koordinaten eines Ereignisses von einem Bezugssystem auf
ein anderes erlauben würden. Insgesamt missverstehe Latour den Begriff des Bezugssystems (der
bei Einstein verkürzt und aus didaktischen Gründen ‘Beobachter’ genannt werde), da dieses
immer nur fiktiv sei und jederzeit durch Geräte ersetzt werden könne.
Schließlich missverstehe Latour eine zentrale Aussage der Relativitätstheorie, nämlich dass kein
Inertialsystem gegenüber einem anderen ausgezeichnet sei. Seine eigene soziologische
Befangenheit sei dafür verantwortlich, dass er die Relativitätstheorie missverstanden habe. Denn
in der Relativitätstheorie existiere weder der Autor selbst (Einstein) in der physikalischen
A. SOKAL, J. BRICMONT, 2001, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften
mißbrauchen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München.
57
Situation, und schon gar nicht stelle er ein Bezugssystem dar. Latour verwechsle Einsteins
Lehrmethode mit der Relativitätstheorie selbst. Schließlich gebe er die Relativitätstheorie sogar in
ökonomischen und soziologischen Begriffen wieder: „Diese Kämpfe gegen Privilegien in der
Ökonomie oder in der Physik sind im wörtlichen Sinne dasselbe, nicht im metaphorischen. ...
Wer profitiert davon, dass all diese delegierten Beobachter zu Bahndämmen, Zügen,
Sonnenstrahlen, der Sonne, nahen Sternen, beschleunigten Auftrieben und den Grenzen des
Weltalls geschickt werden? Wenn der Relativismus recht hat, wird jeder von ihnen in gleicher
Weise davon profitieren. Wenn die Relativitätstheorie recht hat, wird nur einer von ihnen ... in
der Lage sein, an einem Ort ... die Dokumente, Berichte und Messungen zu sammeln, die von all
seinen Delegierten zurückgeschickt wurden.“ (B. LATOUR, zit. in A. SOKAL, J. BRICMONT
2001, S. 151)
Als Fazit ziehen die Autoren den Schluss, dass Latour die didaktische Aufarbeitung der
Relativitätstheorie mit dem sachlichen Inhalt der Theorie verwechselt habe. Latours Ziele ...
„Unsere Absicht ... ist die folgende: In welcher Weise können wir, durch eine Neuformulierung
des Begriffs der Gesellschaft, Einsteins Werk als explizit gesellschaftlich begreifen? Eine
verwandte Frage lautet: Wie können wir von Einstein lernen, die Gesellschaft zu erforschen?“ (B.
LATOUR, zit. in A. SOKAL, J. BRICMONT 2001, S. 153) ... seien zwar irgendwie erreicht
worden, würden aber auf den soeben dargestellten Missverständnissen beruhen. Auf der Ebene
reiner Logik hätte Latour nichts gelernt, was von seiner Analyse der Relativitätstheorie auf die
Gesellschaft übertragbar wäre. Relativitätstheorie und Soziologie stünden bestenfalls in einer
analogen Beziehung zueinander (A. SOKAL, J. BRICMONT 2001, S. 153).
An Jean Baudrillard kritisieren Sokal und Bricmont das metaphorische Aufgreifen
wissenschaftlicher Begriffe. Er sowie andere Postmoderne würden wissenschaftliche Begriffe aus
ihrem Zusammenhang reißen. Bei Baudrillard sei es der ‘nichteuklidische Raum’, bei Lacan Tori
und imaginäre Zahlen, bei Kristeva unendliche Mengen (A. SOKAL, J. BRICMONT 2001, S.
169 ff.). Baudrillard spreche von einem ‘Hyperraum mit mehrfacher Refraktion’ - dieser existiere
aber weder in der Mathematik noch in der Physik. Baudrillards Schriften seien voller Metaphern
aus der Mathematik und Physik, wie z.B.:
„Im euklidischen Raum der Geschichte ist der schnellste Weg von einem Punkt zum anderen die
Gerade, die gerade Linie von Fortschritt und Demokratie. Aber das gilt nur für den linearen
Raum der Aufklärung.“ (J. BAUDRILLARD, zit. in A. SOKAL, J. BRICMONT 2001, S. 170)
„Dieses Versagen der Erinnerung ergibt sich zweifellos aus der Umkehrbewegung, aus der
parabolischen Krümmung des geschichtlichen Raumes.“ (J. BAUDRILLARD, zit. in A. SOKAL,
J. BRICMONT 2001, S. 170)
„Vielleicht muss man die Geschichte selber als eine chaotische Formation betrachten, bei der
die Beschleunigung der Linearität ein Ende macht und wo die von der Beschleunigung
geschaffenen Turbulenzen die Geschichte endgültig von ihrem Ende entfernen, so wie sie die
Wirkungen von ihren Ursachen entfernen.“ (J. BAUDRILLARD, zit. in A. SOKAL, J.
BRICMONT 2001, S. 173)
Sokal und Bricmont meinen, dass diese Sätze zwar aus wissenschaftlichen Fachbegriffen
zusammengesetzt seien, aber keine Bedeutung hätten. Insgesamt kann die Kritik von Sokal und
Bricmont folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Postmodernen würden Begriffe
verwenden, die aus den Naturwissenschaften stammen, und die sie einfach nicht verstehen und
zusätzlich in falscher Weise zur Erklärung physikalischer Theorien aus sozialwissenschaftlichen
Perspektiven anwenden würden.
Die Kritik der beiden Physiker ist aus unserer Sicht dann zu unterstützen, wenn ‘die
Postmodernen’ versuchen, physikalische Theorien mit falsch verwendeten physikalischen
Begriffen und/oder unter ausschließlicher Verwendung sozialwissenschaftlicher oder sonstiger
unpassender Theorien zu erklären. Aber oft dürfte die Verwendung bestimmter termini technici
durch postmoderne Autoren nicht mehr sein als ein reines Sprachspiel; poetische
Formulierungen bei denen man sich nichts weiter gedacht hat. So etwas dann mit physikalischen
Argumenten zu kritisieren erscheint von vorneherein als aussichtslos. Daneben gibt es aber sicher
auch das Phänomen der Übernahme verschiedener Begriffe aus anderen Sinnzusammenhängen,
ein alltäglicher Vorgang, der in allen Wissenschaften passiert, wenn auch in den ‘exakteren’
Naturwissenschaften weit seltener als in den Sozial- oder Geisteswissenschaften.
Die ‘Sprachlosigkeit’ der Philosophen
Das eben besprochene Buch hatte, wie bereits erwähnt, eine Vorgeschichte: Die
Veröffentlichung eines Artikels von A. Sokal in postmoderner Manier, gespickt mit Zitaten
aktueller Philosophie aber im Grunde genommen inhaltsleer und programmatisch sinnlos.58 Von
einer Zeitschrift angenommen und ohne Probleme (etwa Einsprüche von seiten der Redaktion)
abgedruckt, veröffentlicht Sokal wenige Wochen später eine Klarstellung: Der Artikel war ein
Kuckucksei, nie ernst gemeint, sondern als Experiment zu verstehen. Vertreter postmoderner
Philosophie scheinen selbst nicht zu verstehen, was sie propagieren.
Der inszinierte Vorfall macht nun Schlagzeilen, jenseits der Fachzeitschriften wird er nicht nur
von den Zeitungen propagiert, sondern auch vom Fernsehen aufbereitet. Im Folgenden hat die
Affäre-Sokal - für eine wissenschaftliche Polemik - eine enorme Breitenwirkung (zur Illustration
eine Zahl: 1999 gab es über diese Affaire etwa 84 490 Internetseiten - G. BUSINO 1999, S.
738f.). Sokal hat dann, v.a. zusammen mit dem belgischen Physiker Bricmont - das bereits
besprochene Buch ist das wohl wichtigste Ergebnis dieser Zusammenarbeit -, begonnen,
konkrete Argumente gegen bestimmte Argumentationsweisen der postmodernen Philosophen zu
formulieren. Was folgt, ist wohl eines der kuriosesten Kapitel der jüngeren
Wissenschaftsgeschichte: Kaum einer der angegriffenen (bzw. besser formuliert: angesprochenen)
Autoren geht auf den sachlichen Diskurs ein; der Großteil der Philosophen, und da v.a. die
Hauptproponenten, entscheiden sich für eine zwar im Detail recht schillernde, insgesamt aber
doch recht einfältige Polemik. Hatte man von Anfang an betont, daß die Veröffentlichung eines
Spaß-Artikels der wissenschaftlichen Moral zuwider laufe, meldete sich etwas später B. Latour
persönlich mit dem Vorwurf zu Wort, daß die Motivation, die hinter Sokals Arbeiten stehe, mehr
oder weniger mit intellektuellem amerikanischem Imperialismus gleichzusetzen sei, der alles
nivelliere und bekämpfe, das ihm zu wider laufe. („Nous assistons aux derniers soubresauts d’une
science de guerre froide, mobilisée contre la religion, contre les Rouges, contre l’irrationalisme
des masses“ - B. LATOUR zit. n. G. BUSINO 1999, S. 741). So unsachliche Behauptungen wie
„amerikanischer Kulturimperialismus“, „Hegemoniestreben der harten Wissenschaften“, etc.
machen das gros der philosophischen Verteidigungen aus. Bald nach dem Erscheinen der
Monographie Sokals und Bricmonts meldete sich Derrida selbst zu Wort und sagt (sinngemäß):
Die Einwände Sokals verdienen keinerlei Beachtung. Es sei eine unhaltbare Kampagne
amerikanischer Wissenschaftler gegen ihre europäische Kollegen. Das philosophische Projekt,
das man begonnen habe, laufe schon zu lange, um davon in Frage gestellt bzw. überhaupt
tangiert zu werden (J. DERRIDA zit. n. G. BUSINO 1999, S. 744). Mit ähnlich tendenziösen
Aussagen und Stellungnahmen (oft in Form von Zeitungsartikeln) haben auch eine Reihe anderer
– mehr oder weniger prominenter – Gelehrter (u.a. Gianni Vattimo) auf die Affäre Sokal reagiert.
Für eine detaillierte Aufarbeitung der Affaire (inkl. der genauen Zitate aller Aufsätze, Leitartikel und sonstigen
„Statements“) s. generell G. BUSINO 1999; auf dessen Darstellung gehen prinzipiell auch die folgenden Absätze
zurück.
58
Zusammenfassend läßt sich daher schlicht und einfach feststellen, daß außer klischebeladener
Polemik, die sich vor allem dadurch auszeichnet, nicht auf die Argumente des ‘Gegners’
einzugehen, alle Argumente von Sokal et al. ignoriert worden waren; man hat in gewisser Weise
konsequent den Dialog verweigert. Die Motive für ausgerechnet dieses Verhalten liegen im
Dunkeln, wenn überhaupt, dann nur über Mutmaßungen erreichbar.
Übersicht der Tabellen und Abbildungen
Seite
Abb. 1: Grundmuster eines Zeichens
Abb. 2: Der unendliche Regress der Zeichen
Abb. 3: Geltungsbereich poststrukturalistischer Philosophie
Abb. 4: Autorenanalyse - englischsprachige Literatur
Abb. 5: Autorenanalyse - deutschsprachige Literatur
Abb. 6: Zitierhäufigkeit ausgewählter Autoren in Texten der englisch- und
deutschsprachigen Geographie
Abb. 7: ‘Reinigungs-’ und ‘Übersetzungsarbeit’
Abb. 8: Raum-Zeit-Zyklen und alltägliche ‘soziale Kontrollmechanismen’
Abb. 9: Der ‘Werkzeugkasten’ - Schematische Darstellung der Rezeption
poststrukturalistischer Ansätze durch Geographen
Abb. 10: Schurzscher Paradigmenbegriff und Poststrukturalismen in der Geographie
7
8
19
21
22
Tab. 1: Klassifizierung der untersuchten Texte
Tab. 2: Übersicht der thematischen Fokussierungswerte
23
45f.
22
30
36
43
44
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