Das bestimmte Riemannsche Integral Im Folgenden sei f stets eine auf dem kompakten Intervall [a, b] definierte, beschränkte Funktion. Definition 1 (Riemann- und Darbouxsumme) 1. Seien n ∈ N0 und xi ∈ [a, b], i = 0, 1, . . . , n gegeben. Falls a = x0 < x1 < . . . < xn = b, dann nennen wir die Menge Z := {x0 , x1 , · · · , xn } eine Zerlegung des Intervalles [a, b]. Die Feinheit der Zerlegung Z wird mit |Z| := max {(xi − xi−1 )} 1≤i≤n bezeichnet. Mit Z wird die Menge aller Zerlegungen des Intervalles [a, b] bezeichnet. 2. Wir wählen in jedem Teilintervall [xi , xi+1 ] eine Zwischenstelle ξi mit xi ≤ ξi ≤ xi+1 , i = 0, 1, . . . , n − 1, aus und nennen jede Summe der Form R(Z, ξ) ≡ R(f ; Z, ξ) := n−1 X f (ξi )(xi+1 − xi ), ξi ∈ [xi , xi+1 ] (1) i=0 eine Riemannsche1 Summe zur Zerlegung Z. Mit den (wegen der Beschränktheit von f ) endlichen Zahlen mi := inf {f (x)} , x∈[xi ,xi+1 ] Mi := sup {f (x)} x∈[xi ,xi+1 ] bilden wir Darbouxsche2 Summen: Darbouxsche Untersumme : Darbouxsche Obersumme : s(Z) ≡ s(f ; Z) := S(Z) ≡ S(f ; Z) := n−1 P i=0 n−1 P mi (xi+1 − xi ), Mi (xi+1 − xi ). i=0 Die Darbouxschen Summen sind spezielle Riemann-Summen. Die Abb. 1 a) macht den Zusammenhang mit dem Problem des Flächeninhaltes deutlich. Ist f ≥ 0 und bezeichnet M := {(x, y) ∈ R2 | a ≤ x ≤ b, 0 ≤ y ≤ f (x)} die Ordinatenmenge von f , so ist s(Z) bzw. S(Z) gerade der elementargeometrische Inhalt eines ganz in M gelegenen bzw. M überdeckenden, aus Rechtecken zusammengesetztes Polygon. Es mögen Z, Z 0 , Z 00 Zerlegungen von [a, b] bezeichnen (siehe Abb. 1, b)). Die Zerlegung Z 0 wird Verfeinerung von Z genannt, wenn Z 0 alle Teilpunkte von Z (und weitere) enthält. Schreibweise: Z ≺ Z 0 . Die Zerlegung Z, die genau die Teilpunkte von Z 0 und Z 00 enthält, nennen wir Überlagerung von Z 0 und Z 00 und schreiben Z = Z 0 ∪ Z 00 . Diese Zerlegung ist also eine gemeinsame Verfeinerung sowohl von Z 0 als auch von Z 00 . Ferner kann man jede 1 Bernhard Riemann, 1826-1866; fundamentale Beiträge zur Differentialgeometrie (Riemannsche Geometrie), Zahlentheorie (Riemannsche Vermutung), Topologie (Riemannsche Flächen) 2 Gaston Darboux, 1842-1917 1 y Z0 Z 00 f (x) Z 0 ∪Z 00 a = x0 x1 a) x2 x3 x4 x5 = b x b) Abbildung 1: a) Unter- und Obersummen, b) Überlagerung zweier Zerlegungen Verfeinerung von Z 0 in der Form Z 0 ∪ Z 00 schreiben. Wie verhalten sich nun Ober- und Untersummen bei einer Verfeinerung der Zerlegungen? Der Leser möge sich überlegen, dass folgende unmittelbar einsichtige Beziehung gilt. Für jede Zerlegung Z gilt stets s(Z) ≤ R(Z, ξ) ≤ S(Z) und s(Z) ≤ s(Z ∪ Z 0 ) ≤ S(Z ∪ Z 0 ) ≤ S(Z 0 ). (2) Da Z und Z 0 beliebige Zerlegungen von [a, b] sind, hat man das wichtige Korollar 2 Jede Obersumme ist größer oder gleich jeder Untersumme. Aus der Abschätzung (2) folgt nun weiter, dass wegen der Beschränktheit von f die Unterund Obersummen beschränkte Zahlenmengen sind. Somit existieren Zahlen J∗ := sup {s(Z)} bzw. J ∗ := inf {S(Z)}. Z∈Z Z∈Z Sie heißen unteres bzw. oberes Darbouxsches Integral. Wegen (2) gilt auch stets J∗ ≤ J ∗ . Definition 3 (Riemannsches Integral) Die Funktion f : [a, b] → R heißt im Riemannschen Sinn integrierbar (auch R-integrierbar), falls J∗ = J ∗ . Der gemeinsame Wert J := J∗ = J ∗ wird durch das Symbol Z b Z J ≡ J(f ) := f (x) dx = f (x) dx a [a,b] gekennzeichnet und das Riemann-Integral oder einfach Integral von f über [a, b] genannt. Die Zahlen a und b heißen die untere und obere Integrationsgrenze, f der Integrand, [a, b] das Integrationsintervall und x die Integrationsvariable, für die auch ein anderer Rb Buchstabe gewählt werden kann, etwa a f (t) dt. Die Menge aller über [a, b] integrierbaren (also insbesondere beschränkten) Funktionen wird mit R[a, b] bezeichnet. 2 Zur Berechnung des Integrals mittels der Definition 3 müsste man sämtliche Ober- und Untersummen in Betracht ziehen. Diese Aufgabe wird jedoch dadurch erleichtert, dass man sich auf eine einzige, ansonsten ganz beliebige Folge von immer feiner werdenden Zerlegungen beschränken kann. Man nennt solche Folgen kurz Zerlegungsnullfolgen. Sie sind durch lim |Zn | = 0 gekennzeichnet. Sei nun f auf [a, b] beschränkt. Dann gilt wegen n→∞ des Monotonieprinzips für eine Zerlegungsnullfolge (Zn ) mit Zn ≺ Zn+1 für alle n ∈ N lim s(Zn ) = J∗ n→∞ lim S(Zn ) = J ∗ . und (3) n→∞ Für f ∈ R[a, b] strebt also jede der Folgen (s(Zn )) und (S(Zn )) gegen J = Diese Überlegung ermöglicht die Berechnung von bestimmten Integralen. Rb a f (x) dx. Rb Beispiel 4 1. Für f (x) = c, x ∈ [a, b], ist a c dx = c(b − a). Offenbar haben alle Oberund Untersummen diesen Wert. 2. Sei f : [0, a] → R, f (x) = x3 , a > 0. Wir wählen äquidistante Zerlegungen Zn = {xk = kh | k = 0, 1, . . . , n} mit h := na und erhalten s(Zn ) = h n−1 X 3 (kh) , n X (kh)3 . S(Zn ) = h k=1 k=0 Mit h = a n folgt für die Obersumme · ¸ a4 3 a4 n4 n3 n2 a4 3 3 S(Zn ) = 4 (1 + 2 + · · · + n ) = 4 + + −→ . n n 4 2 4 n→∞ 4 Wegen S(Zn ) − s(Zn ) = h4 n3 = Z a x3 dx = 0 a4 −→ 0 n n→∞ hat s(Zn ) denselben Grenzwert, und es ist a4 . 4 Rb 3. Sei f : [a, b] → R, f (x) := xp , p = 1, 2, . . . , 0 < a < b. Es ist das Integral a xp dx zu berechnen. Wir wählen jetzt eine nicht äquidistante Zerlegungsfolge Zn der Form Zn := {a, aq, . . . , aq k , . . . , aq n = b} q mit q := n ab > 1. Die Zerlegungsfolge Zn hat die Feinheit |Zn | = = max ∆xk = max {xk+1 k=0,...,n−1 k ³ ´ 1 b 1 − q −→ 0, n→∞ − xk } = max {aq k k+1 ³ 1− 1 q ´ } q da n b a → 1 für n → ∞. Als Darbouxsche Unter- und Obersummen ergeben sich s(Zn ) = n−1 X k p (aq ) (aq k+1 k − aq ) , S(Zn ) = k=0 n−1 X k=0 3 (aq k+1 )p (aq k+1 − aq k ). Wir berechnen die Darbouxsche Untersumme, die Darbouxsche Obersumme möge der Leser bestimmen. Es gilt s(Zn ) = ap+1 n−1 P q pk q k (q − 1) = ap+1 (q − 1) k=0 n−1 P (q p+1 )k k=0 (p+1)n ) q−1 = ap+1 (q − 1) 1−(q = ap+1 (q (p+1)n − 1) qp+1 1−q p+1 −1 ³¡ ¢ 1 ´ (p+1)n q−1 q−1 = ap+1 ab n = (bp+1 − ap+1 ) qp+1 − 1 · qp+1 −1 −1 = (bp+1 − ap+1 ) qp +qp−11+...+q+1 −→ 1 (bp+1 p+1 q→1 − ap+1 ) . Der Grenzübergang q → 1 ist gleichbedeutend mit n → ∞. Es ergibt sich für das Integral Z b 1 (bp+1 − ap+1 ) , p ∈ N . xp dx = p + 1 a 4. Die Dirichlet-Funktion ( 0 , für irrationale x , f (x) := 1 , für rationale x ist auf dem kompakten Intervall [a, b] nicht im Riemannschen Sinn integrierbar. Für eine beliebige Zerlegung Z = {x0 , x1 , . . . , xn } des Intervalles [a, b] ist stets mk = 0 und Mk = 1, k = 0, . . . , n − 1, also s(Z) = 0 und S(Z) = b − a und damit J∗ = 0 und J ∗ = b − a > 0 . ¤ Die folgenden Eigenschaften des Riemannschen Integrals lassen sich unmittelbar aus den entsprechenden Eigenschaften von Ober- und Untersumme ableiten. Satz 5 (Eigenschaften des Riemann-Integrals) 1. Es sei −∞ < a < c < b < ∞. Genau dann ist f über [a, b] integrierbar, wenn f über [a, c] und über [c, b] integrierbar ist. Es gilt dann: Z b Z c Z b f (x) dx = f (x) dx + f (x) dx. a a c 2. Die Integration ist eine lineare Abbildung, d. h. sind f, g ∈ R[a, b] dann ist für beliebige α, β ∈ R auch αf + βg ∈ R[a, b], und es gilt Z Z b (αf (x) + βg(x)) dx = α a Z b b f (x) dx + β a g(x) dx. a M.a.W.: R[a, b] ist ein reeller Vektorraum. Rb 3. ∀x ∈ [a, b] : f (x) ≥ 0 ⇒ f (x) dx ≥ 0. a 4. Es gelten die Abschätzungen Rb (b − a) · inf {f (x)} ≤ a f (x)dx ≤ (b − a) sup {f (x)}, x∈[a,b] x∈[a,b] ¯ ¯R Rb ¯ ¯ b ¯ a f (x)dx¯ ≤ a |f (x)|dx ≤ (b − a) sup {|f (x)|}. x∈[a,b] 4 5. Cauchy-Schwarzsche Ungleichung. Die Funktionen f und g seien R-integrierbar auf [a, b]. Dann ist Z µZ b |f (x)g(x)| dx ≤ a ¶1/2 µZ b b 2 f (x) dx ¶1/2 2 g (x) dx a . (4) a 6. Minkowskische Ungleichung. Für die R-integrierbaren Funktionen f und g auf [a, b] gilt µZ ¶1/2 b 2 |f (x) + g(x)| dx µZ ≤ a ¶1/2 b 2 f (x) dx a µZ b + ¶1/2 2 g (x) dx . (5) a Beweis: (Nur Behauptungen 1–4.) Die Aussagen 1.–3. folgen unmittelbar aus der Definition des Riemannintegrals. Zu 4. Für die Zerlegung Z = {a, b} gilt s(Z) = inf {f (x)} (b − a) ≤ S(Z) = sup {f (x)} (b − a). x∈[a,b] x∈[a,b] Nun benutzt man (2), womit die erste Ungleichung gezeigt ist. Da ±f (x) ≤ |f (x)| für alle x ∈ [a, b] gilt, folgt ¯R ¯ Rb ¯ b ¯ ¯ a f (x)dx¯ ≤ a |f (x)|dx ≤ S(|f |, Z), Z = {a, b} = sup {|f (x)|}(b − a). ¤ x∈[a,b] Integrierbarkeit einer beschränkten Funktion f : [a, b] → R zum Wert J bedeutet, dass man Darbouxsche Unter- und Obersummen finden kann, deren Werte beliebig nahe bei J liegen. Um dies zu untersuchen, wird man die Differenz O(f ; Z) := S(f ; Z) − s(f ; Z) = n−1 X (Mk − mk )(xk+1 − xk ) (6) k=0 betrachten müssen. Hierbei ist wieder Z = {x0 , x1 , · · · , xn }. Die Größe ωk := Mk − mk ist nichts anderes als die Schwankung von f im Intervall [ak , bk ]. Man nennt deshalb n−1 P O(Z) = ωk (xk+1 − xk ) auch Oszillations- oder Schwankungssumme. Damit ergibt sich k=0 Satz 6 (Integrationskriterium von Riemann) Eine auf [a, b] erklärte und beschränkte Funktion f ist genau dann über [a, b] integrierbar, wenn zu jedem ε > 0 eine Zerlegung Z mit 0 ≤ O(Z) = S(Z) − s(Z) < ε existiert. Beweis: Die einfache Idee des Beweises fußt auf der Tatsache, dass für jede Zerlegung Z die Ungleichung s(Z) ≤ J∗ ≤ J ∗ ≤ S(Z) besteht. Wenn es eine Zerlegung Z mit S(Z) − s(Z) < ε gibt, dann ist J ∗ − J∗ < ε und daraus folgt J∗ = J ∗ . Wenn umgekehrt J∗ = J ∗ = J ist, dann gilt für eine beliebige Zerlegungsnullfolge 5 O(Zn ) → 0 (siehe (3)), d. h. es ist O(Zn ) < ε für hinreichend großes n. ¤ Um im Einzelfall den langatmigen Nachweis der Integrierbarkeit zu umgehen, ist es wünschenswert, dafür einfache hinreichende Kriterien zur Hand zu haben. In diese Richtung zielt der folgende Satz 7 Sei f : [a, b] → R eine beschränkte Funktion. Dann gilt: (i) f monoton auf [a, b] (ii) f stetig auf [a, b] ⇒ ⇒ f ∈ R[a, b]. f ∈ R[a, b]. Beweis: Zu (i). Es sei f o. B. d. A. eine monoton wachsende Funktion und Z eine äquidistante Unterteilung von [a, b] mit xi := a + ni (b − a), i = 0, . . . , n. Wir wenden Satz 6 an. Zunächst ist Mk = f (xk+1 ), mk = f (xk ). Daraus folgt S(Z) − s(Z) = n−1 P [f (xk+1 ) − f (xk )](xk+1 − xk ) = k=0 = P b − a n−1 b−a [f (xk+1 ) − f (xk )] = (f (b) − f (a) −→ 0 . n→∞ n k=0 n Dies zeigt: f ist Riemann-integrierbar. Zu (ii). Da f auf dem kompakten Intervall [a, b] stetig ist, ist f nach Satz ?? dort auch gleichmäßig stetig. Zu einem ε > 0 gibt es somit ein δ > 0, sodass |f (x) − f (x0 )| < ε für alle x, x0 ∈ [a, b] mit |x − x0 | < δ. Für eine beliebige Zerlegung Z = {a = x0 , x1 , . . . , xn = b} mit |Z| < δ ist dann ωk = Mk − mk ≤ ε und O(Z) = n−1 X ωk (xk+1 − xk ) ≤ ε k=0 n−1 X (xk+1 − xk ) = ε(b − a) . k=0 Nach Satz 6 ist f integrierbar. ¤ Bemerkung 8 Die Aussage des Satzes 7 (ii) gilt auch dann noch, falls die Funktion f in [a, b] beschränkt und bis auf endlich viele Stellen stetig ist. Diese Aussage beruht auf der Tatsache, dass man die endlich P 0 vielen Unstetigkeitsstellen in endlich viele Teilintervalle 0 Ik mit einer Gesamtlänge |Ik | < ε einschließen kann. Auf dem Rest des Intervalles ist f gleichmäßig stetig und man kann wieder wie unter (ii) schließen. ¤ In diesem Zusammenhang kann man fragen, wie viele Unstetigkeitsstellen eine Funktion f besitzen darf, damit sie noch Riemann-integrierbar ist. Die entscheidende Klärung wird uns der Begriff Nullmenge bringen. Definition 9 (Nullmenge) Eine Menge M ⊂ R heißt Nullmenge oder Menge vom Maß Null, wenn es zu jedem ε > 0 höchstens abzählbar viele abgeschlossene (oder auch offene) ∞ P Intervalle I1 , I2 , . . . gibt, die M überdecken und deren Gesamtlänge |Ik | < ε ist. k=1 6 Beispiel 10 Die Menge der rationalen Zahlen in R ist eine Nullmenge. Dazu sei {ri | ri rational, i = 1, 2, . . .} die Menge der rationalen Zahlen und Ii := S(ri − ε/2i+1 , ri + ε/2i+1 ), i = 1, 2, . . . offene Intervalle, die die ri enthalten. Damit ist ∞ i=1 Ii eine Überdeckung der rationalen Zahlen und deren Gesamtlänge ist ∞ X i=1 ∞ X ε |Ii | = = ε. i 2 i=1 ¤ Es sei ausdrücklich bemerkt, dass es sehr wohl überabzählbare Nullmengen gibt. Desweiteren wollen wir sagen, dass eine Funktion f fast überall auf [a, b] stetig ist, falls die Punkte von [a, b], in denen f unstetig ist, nur eine Nullmenge bilden. Ohne Beweis geben wir an: Satz 11 (Lebesguesches Integrabilitätskriterium) Die Funktion f ist genau dann auf [a, b] Riemann-integrierbar, wenn sie dort beschränkt und fast überall stetig ist. In dem folgenden Satz wollen wir ebenfalls ohne vollständigen Beweis festhalten, dass auch Produkte, Quotienten und Beträge integrierbarer Funktionen wieder integrierbar sind. Satz 12 Es seien f, g ∈ R[a, b]. Dann gelten die Aussagen: (i) f · g ∈ R[a, b]. (ii) Für alle x ∈ [a, b] sei g(x) ≥ C > 0. Dann folgt f /g ∈ R[a, b]. (iii) Mit f ∈ R[a, b] sind auch die Funktionen |f | ∈ R[a, b], f + ∈ R[a, b] und f − ∈ R[a, b], wobei ( ( f (x), falls f (x) ≥ 0 0, falls f (x) ≥ 0 f + (x) := f − (x) := 0, sonst , −f (x), sonst sind. Wir machen darauf aufmerksam, dass in (iii) die Aussage f ∈ R[a, b] ⇒ |f | ∈ R[a, b] nicht umkehrbar ist, wie folgendes Beispiel zeigt. Es sei f (x) = 1, falls x rational auf [0, 1] und f (x) = −1, falls x irrational auf [0, 1]. Dann ist |f (x)| = 1 für alle x ∈ [0, 1] und somit R-integrierbar, die Funktion f jedoch nicht (Beispiel 4, 4., Dirichlet-Funktion). Im Satz 5 4. haben wir u. a. die Abschätzung Z b (b − a) inf {f (x)} ≤ f (x)dx ≤ (b − a) sup {f (x)} x∈[a,b] x∈[a,b] a bewiesen. Eine noch genauere Integralabschätzung erhalten wir durch Betrachtung von Mittelwerten. Darunter versteht man die Zahl Z b 1 f (x) dx (Integralmittelwert von f auf I). µ ≡ µ(f ) := b−a a 7 Satz 13 (Mittelwertsatz der Integralrechnung) Der Mittelwert einer Funktion f ∈ R[a, b] genügt den Ungleichungen inf {f (x)} ≤ µ(f ) ≤ sup {f (x)}. Ist insbesondere f x∈[a,b] x∈[a,b] auf [a, b] stetig, so gibt es ein ξ ∈ [a, b] mit µ = f (ξ), d. h. es ist Z b f (x)dx = (b − a) f (ξ) . a Im geometrischen Bild (siehe Abb. 2) wird die Bedeutung von µ als gemittelter Funktionswert sichtbar: µ ist die Höhe eines mit der Ordinatenmenge flächengleichen Rechtecks. f µ a b x Abbildung 2: Integralmittelwert als Höhe eines flächengleichen Rechtecks Beispielsweise ist der Mittelwert von f (x) = xp , p ≥ 0, im Intervall [0, 1] gleich Mittelwert von f (x) := sin x in [0, π] gleich 2/π. Der Beweis des Satzes 13 ergibt sich aus folgendem allgemeineren Kontext. 1 , 1+p der Satz 14 (Erweiterter Mittelwertsatz) Es seien f, g ∈ R[a, b] und für f gelte m ≤ f (x) ≤ M auf [a, b]. (i) Für g(x) ≥ 0 auf [a, b] folgt Z b Z b Z b m g(x)dx ≤ f (x)g(x)dx ≤ M g(x)dx. a a (ii) Ist f überdies stetig auf [a, b] dann gibt es ein ξ ∈ [a, b] mit Z b Z b g(x)dx. f (x)g(x)dx = f (ξ) a (7) a (8) a Beweis: Zu (i). Diese Aussage ergibt sich sofort aus der Integration der Ungleichungen m g(x) ≤ f (x) · g(x) ≤ M g(x). Zu (ii). Da f stetig auf [a, b], gibt es nach dem Satz von Weierstraß Punkte x0 , x1 ∈ [a, b] mit mmin := f (x0 ) und Mmax := f (x1 ) (jeweils absolutes Minimum bzw. Maximum von f ). Somit gilt Z b Z b Z b mmin g(x) dx ≤ f (x)g(x) dx ≤ Mmax g(x) dx . a a a Nach dem Zwischenwertsatz existiert nun ein ξ ∈ [a, b], mit dem die Beziehung (8) erfüllt ist. ¤ 8 Mit g(x) ≡ 1 folgt nun aus Satz 14 sofort die Aussage des Satzes 13. Der nächste Satz gibt Antwort auf die grundlegende Frage: Unter welchen Bedingungen darf man Limes und Integral vertauschen? Gleich bedeutend damit ist: Wann ist die gliedweise Integration einer unendlichen Reihe gestattet? Satz 15 (Gliedweise Integration) Es sei (fn )n∈N0 ⊂ R[a, b] eine gegebene Funktionenfolge, und es gelten lim fn (x) = f (x) gleichmäßig auf [a, b]. Dann ist f ∈ R[a, b] n→∞ und Z b Z b Z b f (x) dx = ( lim fn (x)) dx = lim fn (x) dx. a a n→∞ n→∞ a Mit diesem Resultat folgern wir, da endliche Summen nach Satz 5, 2. gliedweise integriert werden dürfen, ein Resultat für unendliche Reihen. P Korollar 16 Es sei (fn ) ⊂ R[a, b] und f (x) := ∞ n=0 fn (x) gleichmäßig konvergent auf [a, b]. Dann ist f ∈ R[a, b] und ! Z b Z b ÃX ∞ ∞ Z b X f (x) dx ≡ fn (x) dx = fn (x) dx. a a n=0 n=0 a Wir formulieren dieses Ergebnis speziell für Potenzreihen. Wir setzten fn (x) := an xn , n ∈ N0 , und erhalten das Resultat: Z bX ∞ ∞ Z b X n an x dx = an xn dx (9) a n=0 n=0 a M.a.W.: Potenzreihen lassen sich gliedweise (innerhalb ihres Konvergenzkreises) integrieren. Wir wollen nun anhand von ausgewählten Beispielen die vielseitige Anwendbarkeit des Korollars 16 demonstrieren. In Verbindung mit Potenzreihen und Beispiel 4, 3. ergeben sich eine Vielzahl überraschender Ergebnisse. P n Beispiel 17 1. Potenzreihen. Es sei S(x) = ∞ n=0 an x eine Potenzreihe mit Konvergenzradius r > 0. Ist die Reihe für x = a und x = b konvergent, so ist sie in [a, b] gleichmäßig konvergent (auch wenn a = −r und/oder b = +r sind). Durch gliedweise Integration erhalten wir Z b Z b ∞ ∞ X X an n (bn+1 − an+1 ). S(x) dx = an x dx = n + 1 a a n=0 n=0 2. Mittels Potenzreihendarstellung der Exponentialfunktion ergibt Z b ∞ ∞ Z b n X X bn+1 − an+1 x x dx = = (eb − 1) − (ea − 1) = eb − ea . e dx = n! (n + 1)! a 0 n=0 a 9 3. Logarithmische Reihe. Wir nehmen folgendes Resultat vorweg: Z a dx = ln(1 + a). 0 1+x Andererseits kann die Reihe (siehe Korollar 16) ∞ X 1 = (−1)n xn , |x| < 1 1 + x n=0 innerhalb ihres Konvergenzradius gliedweise integriert werden. Es ergibt sich Z a 0 dx = 1+x Z ∞ aX n n (−1) x dx = 0 ∞ X n=0 (−1)n n=0 an+1 , n+1 |a| < 1 . Damit haben wir einen neuen Beweis für die Reihe ln(1 + x) = x − x2 x3 + ± ..., 2 3 |x| < 1 . 4. Weitere Reihenentwicklungen lassen sich durch gliedweise Integration gewinnen. Als Beispiel betrachten wir ein mit Hilfe der geometrischen Reihe auswertbares Integral Z x 0 ∞ X dt = (−1)n 1 + t2 n=0 Z x 2n t dt = 0 ∞ X (−1)n n=0 x2n+1 , 2n + 1 |x| < 1 . Wenn man noch weiß (wir werden dies später zeigen), dass Z x dt = arctan x, x ∈ R, 2 0 1+t ist, so hat man damit die Arcustangens-Reihe arctan x = ∞ X n=0 (−1)n x2n+1 , 2n + 1 |x| < 1, abgeleitet. In ähnlicher Weise läßt sich auch die Arcussinus-Reihe gewinnen. 10 ¤