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Das Riemannsche Integral
Ziel dieses Paragraphen ist es, den Inhalt einer Fläche, die vom Graphen einer
Funktion berandet wird, exakt zu definieren.
f(b)
f(a)
a = t0
t1
t2
t3
t4
t5
t6 = b
Abbildung 11: Graph einer Funktion mit Untersumme
Wir approximieren diesen Flächeninhalt, indem wir zunächst das Intervall
[a, b] unterteilen:
a = t0 < t1 < · · · < tn−1 < tn = b.
In diesem Fall spricht man von einer Zerlegung der Länge n in die Teilintervalle
Ii = [ti−1 , ti ] ; i = 1, . . . , n.
Für jedes dieser Teilintervalle definieren wir
mi := inf {f (x)|ti−1 ≤ x ≤ ti } ,
Mi := sup {f (x)|ti−1 ≤ x ≤ ti } .
Falls die Funktion f beschränkt ist, dann existieren diese Zahlen für jede Unterteilung des Intervalls I = [a, b].
Definition Es sei f : I = [a, b] → R eine beschränkte Funktion und P =
{t0 , t1 , . . . , tn } eine Zerlegung von I, d.h. t0 = a < t1 < ... < tn = b. Die Zahlen
mi , Mi ; i = 1, . . . , n seien wie oben definiert.
(i) Die Untersumme von f bezüglich der Zerlegung P ist definiert durch
U (f, P ) :=
n
X
i=1
mi (ti − ti−1 ).
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(ii) Die Obersumme von f bezüglich der Zerlegung P ist definiert durch
O(f, P ) :=
n
X
Mi (ti − ti−1 ).
i=1
Unmittelbar aus der Definition folgt, dass stets gilt
U (f, P ) ≤ O(f, P ).
Wir vergleichen nun, was passiert, wenn wir verschiedene Zerlegungen betrachten.
Definition Wir sagen, dass eine Zerlegung Q = {t00 , . . . , t0m } eine Verfeinerung
der Zerlegung P = {t0 , . . . , tn } ist, falls P ⊂ Q gilt.
Satz 10.1 Es sei Q eine Verfeinerung von P . Dann gilt
U (f, P ) ≤ U (f, Q) ≤ O(f, Q) ≤ O(f, P ).
Beweis. Wir haben bereits bewiesen, dass die zweite Ungleichung gilt. Wir
werden hier die erste Ungleichung zeigen, die dritte geht analog. Ferner genügt
es, die Situation zu betrachten, wo
P = {t0 , . . . , tn } , Q = {t0 , . . . , tk−1 , u, tk , . . . , tn }
mit
a = t0 < t1 < · · · < tk−1 < u < tk < · · · < tn = b.
Es sei
m0 := inf {f (x)| tk−1 ≤ x ≤ u}
m00 := inf {f (x)| u ≤ x ≤ tk } .
Es gilt dann
U (f, P ) =
n
X
mi (ti − ti−1 ).
i=1
U (f, Q) =
k−1
X
mi (ti − ti−1 ) + m0 (u − tk−1 ) + m00 (tk − u) +
i=1
n
X
mi (ti − ti−1 ).
i=k+1
Vergleichen wir die beiden Summen, so sehen wir, dass wir die folgende Ungleichung beweisen müssen:
mk (tk − tk−1 ) ≤ m0 (u − tk−1 ) + m00 (tk − u).
Nun gilt nach Definition der Größen mk , m0 und m00 :
mk ≤ m0 , mk ≤ m00 .
Damit gilt
mk (tk − tk−1 ) = mk (u − tk−1 ) + mk (tk − u) ≤ m0 (u − tk−1 ) + m00 (tk − u).
2
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Satz 10.2 Es sei f : I = [a, b] → R eine beschränkte Funktion. Dann gilt für
zwei beliebige Zerlegungen P1 und P2 von I, dass
U (f, P1 ) ≤ O(f, P2 ).
Beweis. Es sei P = P1 ∪ P2 die gemeinsame Verfeinerung von P1 und P2 . Dann
gilt nach Satz 10.1
U (f, P1 ) ≤ U (f, P ) ≤ O(f, P ) ≤ O(f, P2 ).
2
Wir betrachten nun die Mengen
U := {U (f, P )| P ist Zerlegung von [a, b]} ,
O := {O(f, P )| P ist Zerlegung von [a, b]} .
Nach Satz 10.2 ist die Menge U nach oben und die Menge O nach unten
beschränkt. Daher besitzt U ein Supremum und O ein Infimum.
Definition Es sei f : I = [a, b] → R eine beschränkte Funktion.
(i) Das Unterintegral von f auf dem Intervall I ist definiert durch
U
Zb
f (x)dx = sup {U (f, P )|P ist Zerlegung von f } .
a
(ii) Das Oberintegral von f auf dem Intervall I ist definiert durch
O
Zb
f (x)dx = inf {O(f, P )|P ist Zerlegung von f } .
a
Aus Satz 10.2 folgt sofort, dass
U
Z
b
f (x)dx ≤ O
a
Z
b
f (x)dx.
a
Definition Eine beschränkte Funktion f : I = [a, b] → R heißt auf dem
Intervall I (Riemann) integrierbar, falls gilt:
U
Z
b
f (x)dx = O
a
Schreibweise: Man schreibt:
Z
Z b
Z
f (x)dx := f (x)dx := U
a
I
Z
b
f (x)dx.
a
b
f (x)dx = O
a
Z
b
f (x)dx.
a
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2
1
1
2
Abbildung 12: Die Funktion f aus Beispiel 10.1
Beispiel 10.1 Es sei I = [0, 2] und
1
f (x) :=
2
für
für
0≤x<1
1 ≤ x ≤ 2.
Für jede Zerlegung P , die den Punkt 1 enthält, gilt
U (f, P ) = 1 + 2 = 3 = O(f, P ).
Also ist f integrierbar und es gilt
Z 2
f (x)dx = 3.
0
Beispiel 10.2 Es sei I = [0, 1] und
0
f (x) =
1
für
für
x∈Q
x ∈ R \ Q.
Dann gilt für jede Zerlegung P von [0, 1]:
U (f, P ) =
n
X
0 · (ti − ti−1 ) = 0,
n
X
1 · (ti − ti−1 ) = 1.
i=0
O(f, P ) =
i=0
Also gilt
0=U
Z1
f (x)dx < O
Z
1
f (x)dx = 1
0
0
und die Funktion f ist nicht integrierbar.
Satz 10.3 Es sei a < c < b. Dann ist eine beschränkte Funktion f genau dann
auf dem Intervall [a, b] integrierbar, wenn sie auf [a, c] und [c, b] integrierbar ist.
In diesem Fall gilt
Zb
a
f (x)dx =
Zc
a
f (x)dx +
Zb
c
f (x)dx.
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Beweis. Man betrachte die Partitionen von [a, b], die den Punkt c enthalten. 2
Satz 10.4 Falls f und g auf I = [a, b] integrierbar sind, dann ist auch f + g
auf I = [a, b] integrierbar, und es gilt
Zb
(f + g)(x)dx =
a
Zb
f (x)dx +
a
Zb
g(x).
a
Beweis. Es sei P = {t0 , . . . , tn } eine Zerlegung von [a, b]. Wir definieren
m0i := inf {f (x)| ti−1 ≤ x ≤ ti } ,
m00i := inf {g(x)| ti−1 ≤ x ≤ ti } ,
mi := inf {f (x) + g(x)| ti−1 ≤ x ≤ ti }
und analog
Mi0 , Mi00
und Mi . Dann gilt
mi ≥ m0i + m00i , Mi ≤ Mi0 + Mi00 .
Damit gilt für jede Zerlegung P :
U (f, P ) + U (g, P ) ≤ U (f + g, P ) ≤ O(f + g, P ) ≤ O(f, P ) + O(g, P ).
Hieraus folgt die Behauptung sofort.
2
Satz 10.5 Die Funktion f sei auf I = [a, b] integrierbar, c ∈ R. Dann ist auch
die Funktion cf auf I = [a, b] integrierbar, und es gilt
Z b
Z b
f (x)dx.
(cf )(x)dx = c
a
a
Beweis. Klar.
2
Satz 10.6 Die Funktion f sei auf I = [a, b] integrierbar. Es gelte
m ≤ f (x) ≤ M, x ∈ [a, b] .
Dann gilt
m(b − a) ≤
Z
b
f (x)dx ≤ M (b − a).
a
Beweis. Für jede Zerlegung P des Intervalls I = [a, b] gilt
m(b − a) ≤ U (f, P ) ≤ O(f, P ) ≤ M (b − a).
2
Bemerkung 10.1 (1) Ist a > b, so definiert man
Z b
Z a
f (x)dx := −
f (x)dx.
a
b
Rb
(2) Ist f ≥ 0, so versteht man das Integral a f (x)dx als den Flächeninhalt, der
vom Graphen der Funktion und der x-Achse eingeschlossen wird. Ist f ≤ 0, so
wird dieser Flächeninhalt negativ gezählt.
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+
+
a
_
Abbildung 13: Das Integral als Flächeninhalt
b