10 Das Riemannsche Integral 10 50 Das Riemannsche Integral Ziel dieses Paragraphen ist es, den Inhalt einer Fläche, die vom Graphen einer Funktion berandet wird, exakt zu definieren. f(b) f(a) a = t0 t1 t2 t3 t4 t5 t6 = b Abbildung 11: Graph einer Funktion mit Untersumme Wir approximieren diesen Flächeninhalt, indem wir zunächst das Intervall [a, b] unterteilen: a = t0 < t1 < · · · < tn−1 < tn = b. In diesem Fall spricht man von einer Zerlegung der Länge n in die Teilintervalle Ii = [ti−1 , ti ] ; i = 1, . . . , n. Für jedes dieser Teilintervalle definieren wir mi := inf {f (x)|ti−1 ≤ x ≤ ti } , Mi := sup {f (x)|ti−1 ≤ x ≤ ti } . Falls die Funktion f beschränkt ist, dann existieren diese Zahlen für jede Unterteilung des Intervalls I = [a, b]. Definition Es sei f : I = [a, b] → R eine beschränkte Funktion und P = {t0 , t1 , . . . , tn } eine Zerlegung von I, d.h. t0 = a < t1 < ... < tn = b. Die Zahlen mi , Mi ; i = 1, . . . , n seien wie oben definiert. (i) Die Untersumme von f bezüglich der Zerlegung P ist definiert durch U (f, P ) := n X i=1 mi (ti − ti−1 ). 10 Das Riemannsche Integral 51 (ii) Die Obersumme von f bezüglich der Zerlegung P ist definiert durch O(f, P ) := n X Mi (ti − ti−1 ). i=1 Unmittelbar aus der Definition folgt, dass stets gilt U (f, P ) ≤ O(f, P ). Wir vergleichen nun, was passiert, wenn wir verschiedene Zerlegungen betrachten. Definition Wir sagen, dass eine Zerlegung Q = {t00 , . . . , t0m } eine Verfeinerung der Zerlegung P = {t0 , . . . , tn } ist, falls P ⊂ Q gilt. Satz 10.1 Es sei Q eine Verfeinerung von P . Dann gilt U (f, P ) ≤ U (f, Q) ≤ O(f, Q) ≤ O(f, P ). Beweis. Wir haben bereits bewiesen, dass die zweite Ungleichung gilt. Wir werden hier die erste Ungleichung zeigen, die dritte geht analog. Ferner genügt es, die Situation zu betrachten, wo P = {t0 , . . . , tn } , Q = {t0 , . . . , tk−1 , u, tk , . . . , tn } mit a = t0 < t1 < · · · < tk−1 < u < tk < · · · < tn = b. Es sei m0 := inf {f (x)| tk−1 ≤ x ≤ u} m00 := inf {f (x)| u ≤ x ≤ tk } . Es gilt dann U (f, P ) = n X mi (ti − ti−1 ). i=1 U (f, Q) = k−1 X mi (ti − ti−1 ) + m0 (u − tk−1 ) + m00 (tk − u) + i=1 n X mi (ti − ti−1 ). i=k+1 Vergleichen wir die beiden Summen, so sehen wir, dass wir die folgende Ungleichung beweisen müssen: mk (tk − tk−1 ) ≤ m0 (u − tk−1 ) + m00 (tk − u). Nun gilt nach Definition der Größen mk , m0 und m00 : mk ≤ m0 , mk ≤ m00 . Damit gilt mk (tk − tk−1 ) = mk (u − tk−1 ) + mk (tk − u) ≤ m0 (u − tk−1 ) + m00 (tk − u). 2 10 Das Riemannsche Integral 52 Satz 10.2 Es sei f : I = [a, b] → R eine beschränkte Funktion. Dann gilt für zwei beliebige Zerlegungen P1 und P2 von I, dass U (f, P1 ) ≤ O(f, P2 ). Beweis. Es sei P = P1 ∪ P2 die gemeinsame Verfeinerung von P1 und P2 . Dann gilt nach Satz 10.1 U (f, P1 ) ≤ U (f, P ) ≤ O(f, P ) ≤ O(f, P2 ). 2 Wir betrachten nun die Mengen U := {U (f, P )| P ist Zerlegung von [a, b]} , O := {O(f, P )| P ist Zerlegung von [a, b]} . Nach Satz 10.2 ist die Menge U nach oben und die Menge O nach unten beschränkt. Daher besitzt U ein Supremum und O ein Infimum. Definition Es sei f : I = [a, b] → R eine beschränkte Funktion. (i) Das Unterintegral von f auf dem Intervall I ist definiert durch U Zb f (x)dx = sup {U (f, P )|P ist Zerlegung von f } . a (ii) Das Oberintegral von f auf dem Intervall I ist definiert durch O Zb f (x)dx = inf {O(f, P )|P ist Zerlegung von f } . a Aus Satz 10.2 folgt sofort, dass U Z b f (x)dx ≤ O a Z b f (x)dx. a Definition Eine beschränkte Funktion f : I = [a, b] → R heißt auf dem Intervall I (Riemann) integrierbar, falls gilt: U Z b f (x)dx = O a Schreibweise: Man schreibt: Z Z b Z f (x)dx := f (x)dx := U a I Z b f (x)dx. a b f (x)dx = O a Z b f (x)dx. a 10 Das Riemannsche Integral 53 2 1 1 2 Abbildung 12: Die Funktion f aus Beispiel 10.1 Beispiel 10.1 Es sei I = [0, 2] und 1 f (x) := 2 für für 0≤x<1 1 ≤ x ≤ 2. Für jede Zerlegung P , die den Punkt 1 enthält, gilt U (f, P ) = 1 + 2 = 3 = O(f, P ). Also ist f integrierbar und es gilt Z 2 f (x)dx = 3. 0 Beispiel 10.2 Es sei I = [0, 1] und 0 f (x) = 1 für für x∈Q x ∈ R \ Q. Dann gilt für jede Zerlegung P von [0, 1]: U (f, P ) = n X 0 · (ti − ti−1 ) = 0, n X 1 · (ti − ti−1 ) = 1. i=0 O(f, P ) = i=0 Also gilt 0=U Z1 f (x)dx < O Z 1 f (x)dx = 1 0 0 und die Funktion f ist nicht integrierbar. Satz 10.3 Es sei a < c < b. Dann ist eine beschränkte Funktion f genau dann auf dem Intervall [a, b] integrierbar, wenn sie auf [a, c] und [c, b] integrierbar ist. In diesem Fall gilt Zb a f (x)dx = Zc a f (x)dx + Zb c f (x)dx. 10 Das Riemannsche Integral 54 Beweis. Man betrachte die Partitionen von [a, b], die den Punkt c enthalten. 2 Satz 10.4 Falls f und g auf I = [a, b] integrierbar sind, dann ist auch f + g auf I = [a, b] integrierbar, und es gilt Zb (f + g)(x)dx = a Zb f (x)dx + a Zb g(x). a Beweis. Es sei P = {t0 , . . . , tn } eine Zerlegung von [a, b]. Wir definieren m0i := inf {f (x)| ti−1 ≤ x ≤ ti } , m00i := inf {g(x)| ti−1 ≤ x ≤ ti } , mi := inf {f (x) + g(x)| ti−1 ≤ x ≤ ti } und analog Mi0 , Mi00 und Mi . Dann gilt mi ≥ m0i + m00i , Mi ≤ Mi0 + Mi00 . Damit gilt für jede Zerlegung P : U (f, P ) + U (g, P ) ≤ U (f + g, P ) ≤ O(f + g, P ) ≤ O(f, P ) + O(g, P ). Hieraus folgt die Behauptung sofort. 2 Satz 10.5 Die Funktion f sei auf I = [a, b] integrierbar, c ∈ R. Dann ist auch die Funktion cf auf I = [a, b] integrierbar, und es gilt Z b Z b f (x)dx. (cf )(x)dx = c a a Beweis. Klar. 2 Satz 10.6 Die Funktion f sei auf I = [a, b] integrierbar. Es gelte m ≤ f (x) ≤ M, x ∈ [a, b] . Dann gilt m(b − a) ≤ Z b f (x)dx ≤ M (b − a). a Beweis. Für jede Zerlegung P des Intervalls I = [a, b] gilt m(b − a) ≤ U (f, P ) ≤ O(f, P ) ≤ M (b − a). 2 Bemerkung 10.1 (1) Ist a > b, so definiert man Z b Z a f (x)dx := − f (x)dx. a b Rb (2) Ist f ≥ 0, so versteht man das Integral a f (x)dx als den Flächeninhalt, der vom Graphen der Funktion und der x-Achse eingeschlossen wird. Ist f ≤ 0, so wird dieser Flächeninhalt negativ gezählt. 10 Das Riemannsche Integral 55 + + a _ Abbildung 13: Das Integral als Flächeninhalt b