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Kapitel 8 Regieren im «halbsouveränen Staat»:
Politik im Bundesstaat
Wer die Bundesrepublik Deutschland regiert, so zeigt das Kapitel 7,
muss sich in der Kunst des Regierens in einem «halbsouveränen
Staat» üben: Die Handlungsspielräume der Exekutive sind hierzulande eng begrenzt – aufgrund strenger Machtaufteilung und einer
großen Zahl an Mitregenten und Vetospielern. Hierbei kommt dem
Föderalismus eine besonders wichtige Rolle zu.
1. Die Bundesländer
Einheitsstaaten wie Frankreich, Großbritannien oder Schweden haben nur eine Regierung. In der Bundesrepublik Deutschland aber
sind siebzehn Regierungen am Werke: eine im Bund und sechzehn
in den Ländern. Auch das unterstreicht, dass Machtaufteilung an
Stelle von Machtkonzentration ein Markenzeichen der Bundesrepublik ist.
Jedes Bundesland hat die Attribute der Staatlichkeit: eine eigenständige Regierung mit landeseigener Verwaltung, ein Landesparlament, eine Verfassung und eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit (außer Schleswig-Holstein). Ansonsten aber sind Deutschlands
Bundesländer von unterschiedlicher Statur: Flächenstaaten und
Stadtstaaten (Berlin, Bremen und Hamburg) gehören zu ihnen,
kleine und große Länder, wirtschaftsstarke und -schwache Gliedstaaten sowie CDU/CSU- und SPD -regierte Gemeinwesen.1 Bremen
ist mit rund 660 000 Einwohnern ein Kleinststaat. Doch Nordrhein-Westfalen mit 18 Millionen, Bayern mit zwölf und BadenWürttemberg mit knapp elf Millionen sind bevölkerungsstärker
als die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Neben
wirtschafts- oder finanzschwachen Ländern mit hohen Arbeits1 Gunlicks 2003, Wehling 2004, vgl. Tabelle 6.
196
losenquoten – allen voran die neuen Bundesländer – existieren
strukturstarke Gliedstaaten wie Bayern, Baden-Württemberg und
Hessen. Diese sind mit Nordrhein-Westfalen und Hamburg auch
seit Jahr und Tag Geberländer im Länderfinanzausgleich. 2 Sie
führten allein im Jahre 2004 6,8 Milliarden Euro an die übrigen,
allesamt ausgleichsberechtigten Länder ab.3
Auch kulturelle Faktoren unterscheiden die Bundesländer. Zu
ihnen gehören überwiegend protestantische Länder, vor allem
im Norden Deutschlands, und überwiegend katholische Gliedstaaten wie Bayern und das Saarland, ferner konfessionell gemischte Länder und seit der Wiedervereinigung die ostdeutschen
Bundesländer mit einer größtenteils konfessionslosen Bevölkerung.
Markante Unterschiede kennzeichnen auch die parteipolitische
Zusammensetzung der Regierungen in den Ländern. Anfang Oktober 2006 beispielsweise stand eine Mehrheit von CDU- bzw.
CSU-geführten Regierungen (Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland und
Thüringen) einer Minderheit von SPD -dominierten Regierungen
gegenüber (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und RheinlandPfalz). Koalitionen aus CDU und SPD amtierten zu diesem Zeitpunkt nicht nur im Bund, sondern auch seit 1995 in Bremen, seit
1999 in Brandenburg, in Schleswig-Holstein (seit 2005), in Sachsen
(seit 2005) und seit der Regierungsbildung nach der Landtagswahl
von 2006 in Sachsen-Anhalt. Die parteipolitische Zusammensetzung im Frühherbst 2006 weicht jedoch von der langfristigen
Parteifärbung der Länderregierungen ab, wie die letzte Spalte der
Tabelle 6 zeigt. Sie informiert über die durchschnittlichen Kabinettssitzanteile der Parteien in den Ländern seit 1949 und zeigt sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands eine tendenzielle
Nord-Süd-Spaltung an. Die Unionsparteien sind in Süddeutschland sowie in Sachsen und Thüringen die dominierenden Regie2 Bayern war bis 1986 und 1992 ein Empfängerland und von 1989 bis
1991 sowie ab 1993 ein Geberland (Bundesministerium der Finanzen,
29.9.2006).
3 Bundesrat Drucksache 920/05, 23.12.2005.
197
rungsparteien. Die SPD hingegen war lange die stärkste Regierungspartei im Norden Deutschlands (außer in Schleswig-Holstein), in
Nordrhein-Westfalen und in Hessen. In den neuen Ländern ist die
SPD in Brandenburg und in Berlin die stärkste Regierungspartei –
und mit Abstrichen auch in Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern.
2. Mitregent und Vetospieler: der Bundesrat
Die Bundesländer und die Ministerpräsidenten an ihrer Spitze spielen eine so wichtige politische Rolle, dass die Einstufung der Bundesrepublik Deutschland als «Republik der Landesfürsten»4 nicht
zu weit hergeholt ist. Ohne die «Landesfürsten», die Ministerpräsidenten der Länder, geht im Beziehungsgeflecht von Bund und Ländern in der Tat wenig voran. Besonders großen Einfluss erlangen die
Länder auf die Bundespolitik durch den Bundesrat, ihre Vertretung
auf Bundesebene. Durch den Bundesrat wirken die Länder maßgebend bei der Gesetzgebung und der Verwaltung des Bundes mit –
und seit 1992 sogar in Angelegenheiten der Europäischen Union.
Das hatten sich die Länder im Gegenzug zu ihrer Zustimmung zum
Vertrag über die Europäische Union erstritten und waren damit
erstmals in die bis dahin allein vom Bund regierte Domäne der Außenpolitik eingebrochen.
Der Bundesrat ist weder eine Ständevertretung noch ein Parlament
und auch keine zweite Kammer des Parlaments. Er ist vielmehr «ein
Verfassungsorgan sui generis»5 , ein bürokratischer Rat, der sich aus
Mitgliedern der Regierungen der Länder zusammensetzt, die mit
imperativem Mandat ausgestattet sind. In den Bundesrat entsenden
die Länderregierungen Vertreter der Exekutive, nicht Vertreter des
Volkes wie im Ständerat der Schweiz oder im Senat der Vereinigten
Staaten von Amerika.
4 Steffani 1997: 56ff. Schneider (2001: 371) hingegen hält die «Republik des
Kanzlers und der Landesfürsten» für die genauere Bezeichnung.
5 von Beyme 2006: 64, zum Bundesrat Patzelt 2005d.
198
Derzeit beträgt die Gesamtzahl der Stimmen im Bundesrat 69.6 Die
Zahl der Stimmen, die jedes Land im Bundesrat führt, variiert mit
der Bevölkerungsgröße der Länder (siehe Tabelle 6) – im weiteren
Unterschied zur Schweiz und zu den USA, in denen jeder Gliedstaat
mit der gleichen Anzahl von Repräsentanten im Ständerat bzw. im
Senat vertreten ist. In Deutschland führt jedes Land im Bundesrat
mindestens drei Stimmen, so schreibt es der Artikel 51 II des Grundgesetzes vor. Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern haben vier, Länder mit mehr als sechs Millionen fünf und Gliedstaaten
mit mehr als sieben Millionen Einwohnern seit 1990 sechs Stimmen.7 Die hierfür erforderliche Grundgesetzänderung gab den bevölkerungsstärksten Ländern – Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – je eine Stimme mehr und
verschaffte ihnen eine Ein-Drittel-Sperrminorität gegen die befürchtete Majorisierung durch die kleineren Länder.
Deutschlands politische Klasse rekrutiert sich fast ausschließlich
aus politischen Parteien. Auch deshalb werten viele Beobachter die
Bundesrepublik als «Parteienstaat». Folgerichtig zählt der deutsche
Bundesstaat als «Parteienbundesstaat»8 . Zu Recht, denn die politischen Parteien spielen in ihm eine herausragende Rolle. Allein deshalb ist die parteipolitische Verteilung der Bundesratsstimmen von
größter Bedeutung. Diese Verteilung ist derzeit zugunsten der Unionsparteien geneigt (siehe Tabelle 6). Häufig divergierten die parteipolitischen Mehrheiten im Bundesrat und im Bundestag.9 So hatten
die Regierungen Brandt und Schmidt im Bundesrat keine eigene
6 Seit dem Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik im Januar 1957 betrug die Zahl der Stimmen im Bundesrat 45 und infolge der Wiedervereinigung bis Ende 1995 68. Hessen führt seit 1.1.1996 fünf statt vier Stimmen, weil die Zahl seiner Einwohner über sechs Millionen stieg. Dadurch
erhöhte sich die Gesamtzahl der Bundessratstimmen auf 69.
7 Zur Stimmenverteilung nach Ländern siehe Tabelle 6. Bremen ist weit
überproportional vertreten, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg
und Bayern sind unterrepräsentiert: Jede Bundesratsstimme Bremens steht
für rund 220 000 Bremer, jede Bundesratsstimme Nordrhein-Westfalens
repräsentiert mehr als drei Millionen und jede Bundesratsstimme Bayerns
und Baden-Württembergs jeweils rund zwei Millionen Einwohner.
8 von Beyme 2004: 343.
9 Bauer 1998: 79 ff., 94ff.
199
Zahler im LFA 2006
Parteipolitische
Zusammensetzung
der Regierung am
1.10.2006
Stärkste Regierungspartei 1949–2005
(Kabinettssitzanteil)
CDU+
FDP
CDU
(75,1)
403,7 12 468 519 32 378
7,8 58,0
6
Ja
CSU
CSU
(89,5)
SPD
(54,7)
SPD
(70,9)
SPD
(73,8)
SPD
(73,4)
SPD
(68,0)
SPD
(40,8)
Katholikenanteil
Ja
Arbeitslosenquote 2005
6
Wirtschaftskraft pro
Einwohner 2005
330,7 10 739 285 30 793 7,0 38,0
Einwohnerzahl
2005
Stimmen im
Bundesrat
BadenWürttemberg
Bayern
BIP
2005
Bundesland
Tabelle 6: Die Bundesländer im Vergleich
Berlin
79,6
3 396 990 23 433 19,0 9,2
4
Nein
Brandenburg
Bremen
48,1
2 558 622 18 799 18,2 3,1
4
Nein
24,5
663 909
36 903 16,8 12,2
3
Nein
Hamburg
80,0
1 744 215
45 866 11,3 10,1
3
Ja
SPD+
PDS
SPD+
CDU
SPD+
CDU
CDU
9,7 25,6
5
Ja
CDU
18 327 20,3 3,4
3
Nein
SPD+
PDS
23 563 11,6 17,9
6
Nein
27 082 12,0 43,0
6
Ja
24 015
8,8 46,9
4
Nein
CDU+
FDP
CDU+
FDP
SPD
26 162 10,7 65,3
3
Nein
CDU
CDU+
SPD
CDU+
SPD
CDU+
SPD
CDU
Hessen
197,8 6 095 262 32 451
Mecklen31,3 1 707 872
burg-Vorpommern
Nieder188,4 7 995 482
sachsen
Nordrhein- 489,1 18 060 193
Westfalen
Rheinland- 97,5 4 059 910
Pfalz
Saarland
27,5 1 051 155
Sachsen
75,8
4 275 371
17 729 18,3 3,7
4
Nein
SachsenAnhalt
SchleswigHolstein
Thüringen
48,1
2 472 505
19 454 20,2 4,1
4
Nein
69,0
2 833 023
24 356 11,6 6,1
4
Nein
44,7
2 336 865 19 128 17,1 8,1
4
Nein
2245,5 82 459 178 27 232 11,7 31,5
-
-
Deutschland
200
CDU/
CSU+
SPD
SPD
(48,5)
SPD
(62,8)
CDU
(61,5)
CDU
(57,2)
CDU
(96,1)
SPD
(46,4)
CDU
(55,6)
CDU
(80,0)
CDU/
CSU
(48,8)
Spalte 1: Ländername.
Spalte 2: Bruttoinlandsprodukt in Milliarden Euro (Der Fischer Weltalmanach 2006:
127).
Spalte 3: 30.11.2005 (ebd.: 127).
Spalte 4: Berechnet auf der Basis von Spalte 2 und 3.
Spalte 5: Arbeitslose in Prozent der zivilen Erwerbspersonen (ebd.: 127).
Spalte 6: Katholiken in Prozent der Bevölkerung 2004, Sekretariat der Deutschen
Bischofskonferenz (http://dbk.de/daten/fs_daten.html, Zugriff am 5.5.2006).
Spalte 7: Stand 2006.
Spalte 8: Zahler im horizontalen Länderfinanzausgleich (LFA) (Stand 2006).
Spalte 9: Stand 1.10.2006.
Spalte 10: Ermittelt auf Basis des Kabinettssitzanteils der Parteien auf Tagesbasis von 1949
bis 31.12.2005 außer Baden-Württemberg (ab 25.4.1952), Berlin (ab 1.2.1952, ab 3.10.1990
West- und Ost-Berlin), Brandenburg (ab 1.11.1990), Mecklenburg-Vorpommern (ab
25.11.1990), Saarland (ab 1.1.1957), Sachsen (ab 27.10.1990), Sachsen-Anhalt (ab 2.11.1990)
und Thüringen (ab 8.11.1990).
Mehrheit auf ihrer Seite. Gleiches widerfuhr der Regierung Kohl
seit Mai 1990 und – nach kurzer Unterbrechung – von 1991 bis 1998.
Besonders ungünstig waren die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und Bundesrat für die rot-grüne Koalition im Bund. Sie verlor
schon kurz nach ihrer Bildung die Mehrheit in der Länderkammer,
und zwar durch die Niederlage bei der Landtagswahl in Hessen im
Februar 1999. Und seit der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt von
2002 bis zum Ende ihrer Amtszeit hatte es die rot-grüne Koalition
gar mit einer Bundesratsmehrheit aus CDU- oder CSU-dominierten
Ländern zu tun.
Das änderte sich grundlegend mit der Bildung der zweiten
Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD im Herbst 2005. Doch
auch diese Koalition konnte im Bundesrat nicht auf eine gleichfarbige Mehrheit zählen: Nur vier Länder mit insgesamt 17 Bundesratsstimmen wurden ebenfalls von einer Großen Koalition regiert, so
der Stand Anfang Oktober 2006. Die Unterstützung der übrigen –
teils CDU- oder CSU-geführten, teils SPD-dominierten – Länder
muss von Fall zu Fall gewonnen werden. Das ist ein mitunter
schwieriger Akt der Konsensbildung. Er erfordert die Überbrückung von parteipolitischen Unterschieden und von ökonomischfinanziellen Disparitäten zwischen den Ländern, ganz abgesehen
vom Kampf um Reputation und sonstige Vorteilsergatterung, den
die Ministerpräsidenten der Länder unter sich und mit der Bundesregierung ausfechten.
201
Ein auffälliges Muster zeigt auch die Verteilung der Bundesratsstimmen nach der Finanzkraft der Länder an: Im vereinigten
Deutschland haben die finanzschwächeren, beim Länderfinanzausgleich ausgleichsberechtigten Länder eine starke Mehrheitsposition.
Sie kontrollieren 43 von insgesamt 69 Stimmen – ein in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzender Unterschied zur Lage bis Mitte
1990.10 Die reicheren Länder haben mit ihren 26 Stimmen zwar eine
Sperrminorität, die sie beispielsweise im Falle von Grundgesetzänderungen einsetzen können. Allerdings können die reicheren Länder von den finanzschwächeren mit absoluter Mehrheit überstimmt
werden. Das ist für die ärmeren Länder der entscheidende Hebel,
mit dem sie Reformen, die in eine für sie unliebsame Richtung führen, beispielsweise zugunsten eines Wettbewerbsföderalismus, verhindern können.
2.1 Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung
Divergierende Mehrheiten im Bundesrat und Bundestag sind folgenreich: Die Bundestagsopposition kann nämlich im Verein mit
der Bundesratsmehrheit an Vorhaben der Bundesregierung mitregieren, wenn sie die Länderregierungen ihrer parteipolitischen
Färbung auf ihre Seite bringt und die Bundesregierung kompromissbereit ist. Doch auch die Blockade der Gesetzgebung durch die
Bundesratsmehrheit ist unter diesen Bedingungen möglich. Deshalb
gerät der deutsche Föderalismus des Öfteren in den Ruf eines «Blo-
10 Noch Ende Mai 1990 hatten die ausgleichspflichtigen Länder mit 22
Stimmen eine knappe Mehrheit im Bundesrat – gemessen an den 41 vollberechtigten Stimmen des Bundesrates dieser Tage, also ohne Berlin.
Berlin besaß aufgrund des Vorbehaltes der Alliierten bis Mai 1990 kein
volles Stimmrecht im Bundesrat und führt erst seit Juni 1990 vier vollberechtigte Stimmen. Zählte man Berlin aufgrund seiner Subventionsabhängigkeit zu den finanzschwächeren Ländern, kippten die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat infolge des vollen Stimmrechts von Berlin im
Juni 1990: Nun besaßen die finanzschwächeren Länder eine Mehrheit
von 23 zu 22. Der Beitritt der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik
am 3.10.1990 verschob die Gewichte weiter zugunsten der finanzschwächeren Gliedstaaten.
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