Selbstschädigendes Verhalten bei stationären Patienten mit einer

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Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I
Universitätsklinikum Ulm
Prof. Dr. med. Wolfgang Kaschka
Ärztlicher Direktor
Selbstschädigendes Verhalten bei stationären Patienten
mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung
- Eine retrospektive Datenanalyse -
Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin der Medizinischen
Fakultät der Universität Ulm
von
Christian Bretzel
Tettnang
2014
Amtierender Dekan:
Prof. Dr. Thomas Wirth
1. Berichterstatter:
PD Dr. Carmen Uhlmann
2. Berichterstatter:
Prof. Dr. Markus Jäger
Tag der Promotion:
23.04.2015
I
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................III
1
Einleitung ................................................................................................................. 1
1.1
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ................................................................ 1
1.1.1
Das Krankheitsbild ....................................................................................... 1
1.1.2
Diagnosekriterien ......................................................................................... 3
1.1.3
Ätiologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung ........................................... 5
1.1.4
Epidemiologie, Verlauf und Prognose .......................................................... 7
1.1.5
Borderline-Syndrom bei Männern ................................................................ 8
1.2
Affektive Reagibilität und selbstschädigendes Verhalten .................................... 9
1.3
Selbstschädigendes Verhalten ..........................................................................11
1.3.1
Selbstverletzendes Verhalten .....................................................................11
1.3.2
Suizidales Verhalten ...................................................................................15
1.3.3
Differenzialdiagnostik..................................................................................17
1.4
Behandlung am ZfP Südwürttemberg in Weissenau ..........................................19
1.5
Schlussfolgerung und Ziele der Studie...............................................................22
1.5.1
2
Material und Methoden ...........................................................................................25
2.1
Patientenkollektiv ...............................................................................................25
2.2
Indexaufenthalt ..................................................................................................25
2.3
Voraufenthalte ...................................................................................................26
2.4
Suizidstufen .......................................................................................................26
2.5
Datenerhebung ..................................................................................................28
2.6
Datenblatt ..........................................................................................................28
2.7
Validierte Messinstrumente................................................................................34
2.7.1
Die Symptom-Checkliste SCL-90-R ............................................................34
2.7.2
Beck Depressions Inventar (BDI) ................................................................35
2.7.3
Clinical Global Impressions (CGI) ...............................................................36
2.8
3
Hypothesen ................................................................................................23
Statistik ..............................................................................................................37
Ergebnisse ..............................................................................................................39
3.1
Zusammensetzung des Patientenkollektivs .......................................................39
3.2
Selbstverletzendes Verhalten während des Indexaufenthaltes ..........................47
3.3
Suizidales Verhalten während des Indexaufenthaltes ........................................52
3.4
Situation der Patienten vor Aufnahme................................................................57
II
4
3.4.1
Selbstverletzendes Verhalten .....................................................................58
3.4.2
Suizidversuch .............................................................................................59
3.4.3
Substanzmissbrauch ..................................................................................60
3.5
Zusammenhang zwischen selbstverletzendem und suizidalem Verhalten .........61
3.6
Selbstschädigendes Verhalten und Therapieerfolg ............................................64
Diskussion ..............................................................................................................72
4.1
Rahmenbedingungen und Allgemeines .............................................................72
4.2
Vor dem stationären Aufenthalt..........................................................................74
4.3
Während des stationären Aufenthalts ................................................................76
4.3.1
Selbstverletzendes Verhalten während des Aufenthalts .............................76
4.3.2
Suizidales Verhalten während des Aufenthalts ...........................................79
4.3.3
Selbstschädigendes Verhalten während des Aufenthalts ............................82
4.4
Einschränkungen ...............................................................................................84
5
Zusammenfassung .................................................................................................86
6
Literaturverzeichnis ................................................................................................88
7
Danksagung ............................................................................................................97
8
Anhang ....................................................................................................................98
8.1
Datenblatt Projekt Suizidalität ............................................................................99
III
Abkürzungsverzeichnis
Abb.
Abbildung
ADHS
Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom
BDI
Beck Depressions Inventar
BPS
Borderline-Persönlichkeitsstörung
CGI
Clinical Global Impression
DSM-IV-TR
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4th
Edition, Text Revision
EDV
Elektronische Datenverarbeitung
F 60.30
Emotional instabile Persönlichkeitsstörung: Impulsiver Typ
F 60.31
Emotional instabile Persönlichkeitsstörung: Borderline-Typ
F 61
Kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen
GSI
Global Severity Index
ICD
International Classification of Diseases
MW
Mittelwert
M-W-U-Test
Mann-Whitney U-Test
n
Anzahl der Patienten
p
Signifikanzniveau
PSDI
Positive Symptom Distress Index
PST
Positive Symptom Total
r
Korrelationskoeffizient
SCL-90-R
Symptom-Checkliste
SD
Standardabweichung
SV
Suizidversuch
SVV
Selbstverletzendes Verhalten
SVV + SV
Selbstschädigendes Verhalten
Tab.
Tabelle
WHO
Weltgesundheitsorganisation
ZfP
Zentrum für Psychiatrie
1
1 Einleitung
1.1 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung
1.1.1 Das Krankheitsbild
Mit dem ursprünglichen Begriff 'Borderland insanity' beschrieb Rosse (1890)
Personen,
die
eine
Vielzahl
von
nervösen
Beschwerden,
körperlichen
Symptomen, hypochondrischen Befürchtungen oder Verhaltensstörungen zeigten,
ohne jedoch eindeutig 'verrückt' zu sein. Verwendet wurde dieser Begriff durch
den englischen Psychiater Hughes, der in seinen zwei Arbeiten zu diesem Thema
(Hughes, 1884a; Hughes, 1884b) im Jahr 1884 erstmalig auf die BorderlinePathologie einging und von einem 'borderland', also von einer Grenzregion
berichtete, in welcher er die psychischen Symptome lokalisierte. Das Wort
'Borderline' (zu deutsch 'Grenzlinie') kam erstmals im Jahr 1938 auf. Der
amerikanische Psychoanalytiker Adolph Stern verwendete ihn in seiner Arbeit
'Psychoanalytic investigation of and therapy in the borderline group of neuroses'
(Stern, 1938). Er beschrieb einen Patiententyp, bei dem er mit seinen
psychoanalytischen Methoden keinen Behandlungserfolg hatte und sich nach
damaliger Lehrmeinung diagnostisch im Übergangsbereich zwischen Neurose
einerseits und Psychose andererseits befand. Klare nosologische Konturen
erlangte der Borderlinebegriff dann seit einer 1967 von Kernberg initiierten
Diskussion (Kernberg, 1967 und 1978; Steinert et al., 1995). In seinem Konzept ist
die Borderlinepathologie grundsätzlich im Bereich der Persönlichkeitsstörungen
angesiedelt, geht allerdings über eine rein deskriptive Persönlichkeitspathologie
erheblich
hinaus.
Nach
seiner
Auffassung
Borderlinepersönlichkeitsorganisation
eine
korrespondierend
neurotischen
mit
der
Art
Suprastruktur
und
stellt
dar,
die
die
-
psychotischen
Persönlichkeitsorganisation - einen strukturellen Raum für unterschiedliche
Persönlichkeitsstörungen vorgibt (Steinert et al., 1995). Die Arbeitsgruppe um
Grinker
(1968)
untersuchte
erstmals
eine
größere
Gruppe
von
'Borderlinepatienten' und entwickelte Unterscheidungsmerkmale, mit deren Hilfe
Untergruppen mit tendenziell neurotischen beziehungsweise psychotischen
Symptomen gebildet werden konnten. Hierauf basierend etablierten Gunderson et
al. (1975 und 1978) ihr 'diagnostisches Interview für Borderline-Patienten',
2
Einleitung
wodurch Borderlinestörungen eindeutig von Schizophrenie abgegrenzt werden
können. Fortan galt 'Borderline' als eine eigene klinische Entität (Steinert et al.,
1995). In den folgenden Jahrzehnten zeigte sich, dass viele Patienten an dieser
Störung litten, durch fehlende Diagnosekriterien allerdings nicht erfasst wurden.
Nach
heutiger
Lehrmeinung
wird
dieses
Krankheitsbild
unter
den
Persönlichkeitsstörungen subsummiert (Hartkamp et al., 2002).
Die
Definition
der
Persönlichkeitsstörungen
nach
ICD-10
(International
Classification of Diseases) ist nahezu deckungsgleich mit der Definition nach
DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Sie entsprechen
weitestgehend den ursprünglichen von K. Schneider verfassten Kriterien, welche
die statistische Norm und sowohl das Leiden der Betroffenen als auch das Leiden
der Umwelt an dem Betroffenen hervorhoben (Schneider, 1923; Bronisch, 2003).
Somit handelt es sich bei einer Persönlichkeitsstörung um eine schwere Störung
des Verhaltens, welche nicht direkt auf eine Hirnschädigung/-krankheit oder eine
andere psychische Störung zurückzuführen ist. Ihr Auftreten beginnt meist in der
Kindheit oder der Adoleszenz, sie besteht während des Erwachsenenalters weiter
und ist somit zeitlich überdauernd. Diese tief verwurzelten, anhaltenden und
weitgehend stabilen Verhaltensmuster weichen deutlich von der kulturell
erwarteten und akzeptierten Norm ab und zeigen sich als starre Reaktionen in
unterschiedlichen persönlichen und sozialen Lebenslagen (Bronisch, 2003; Bohus
et al., 2009; Dilling et al., 2004).
Evident wird diese Definition, wenn für den Hintergrund des zu beurteilenden
Verhaltens eine statistische Norm und nicht eine Idealnorm angenommen wird.
Hierdurch
wird
die
Beurteilung
weniger
von
politischen,
religiösen,
philosophischen und moralischen Einflüssen abhängig gemacht (Bronisch T,
2003).
Unter
den
Persönlichkeitsstörung
Persönlichkeitsstörungen
(BPS)
im
klinischen
Persönlichkeitsstörungen (Renneberg, 2003).
gehört
Kontext
zu
die
den
Borderlinehäufigsten
3
Einleitung
1.1.2 Diagnosekriterien
Als Teil der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde die BPS erst 1992 eingeführt. Bei der
BPS besteht eine schwerwiegende Störung der Affektregulation. Diese wird
begleitet von einer verzerrten Wahrnehmung des Selbstbildes sowie einer Störung
des zwischenmenschlichen Verhaltens (Bohus et al., 2006).
Unter der
Bezeichnung der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung werden nach ICD-10
ein impulsiver Typ (F60.30) sowie der Borderline-Typ (F60.31) unterschieden.
Emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle sind für den impulsiven Typ
kennzeichnend, welcher sich beispielsweise in gewalttätigen Ausbrüchen und
anderem aggressivem Verhalten äußert (Möller et al., 2009; Bohus et al., 2009).
Für den Borderline-Typus F60.31 müssen darüber hinaus noch weitere
Bedingungen erfüllt sein. Somit ist auf Kriterienebene nach ICD-10 der Begriff der
BPS weiter gefasst und schließt den impulsiven Typus mit ein. In Tabelle 1 ist der
Kriterienkatalog der Weltgesundheitsorganisation ICD-10 (Dilling et al., 2004)
abgebildet.
4
Einleitung
Tab. 1: Diagnostische Kriterien der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom
Borderline-Typus nach ICD-10 (Dilling et al., 2004)
Mindestens drei der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen müssen
vorliegen:
1. deutliche
Tendenz
unerwartet
und
ohne
Berücksichtigung
der
Konsequenzen zu handeln
2. deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem
dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
3. Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle
explosiven Verhaltens
4. Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar
belohnt werden
5. unbeständige und unberechenbare Stimmung.
Zusätzlich
müssen
mindestens
zwei
der
folgenden
Eigenschaften
und
Verhaltensweisen vorhanden sein:
1. Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild, Zielen und "inneren
Präferenzen" (einschließlich sexueller)
2. Neigung, sich in intensive aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit
der Folge von emotionalen Krisen
3. übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden
4. wiederholte Drohungen oder Handlungen mit Selbstbeschädigung
5. anhaltende Gefühle von Leere.
Die Merkmale nach ICD-10 entsprechen hierbei weitgehend den Kriterien nach
DSM-IV-TR (Saß et al., 2003), welche vor allem in den USA verwendet werden.
Da letztere vor allem in der Forschung Verwendung finden und auch als
aussagekräftiger gelten, sollen auch diese Kriterien in Tabelle 2 vorgestellt
werden. Hier wird von BPS gesprochen, wenn die betroffene Person unter
durchgreifenden Mustern von Instabilität im Bereich interpersoneller Beziehungen,
des Selbstbildes und der Emotionen sowie ausgeprägter Impulsivität leidet. Der
Beginn ist spätestens im frühen Erwachsenenalter. Die Störung besteht in
verschiedenen Zusammenhängen und zeigt sich durch mindestens fünf der
folgenden Symptome.
5
Einleitung
Tab. 2: Diagnostische Kriterien BPS nach DSM-IV-TR (Saß et al., 2003)
1. Verzweifelte Versuche reales oder phantasiertes Verlassenwerden zu
vermeiden. Beachte: Suizidale und selbstschädigende Handlungen aus
Kriterium fünf sollen hier nicht berücksichtigt werden.
2. Ein
Muster
von
instabilen
und
intensiven
zwischenmenschlichen
Beziehungen mit einem Wechsel zwischen extremer Idealisierung und
Abwertung.
3. Identitätsstörung:
ausgeprägte
und
andauernde
Instabilität
des
Selbstbildes und der Selbstwahrnehmung.
4. Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen.
Beachte: Suizidale oder selbstschädigende Handlungen aus Kriterium fünf
sollen hier nicht berücksichtigt werden.
5. Wiederkehrendes suizidales Verhalten, Gesten oder Drohungen, oder
selbstschädigende Verhaltensweisen.
6. Affektive Instabilität mit ausgeprägter Reaktivität der Stimmung.
7. Chronisches Gefühl der Leere.
8. Unangemessene intensive Wut oder Schwierigkeiten Wut zu kontrollieren.
9. Transiente, belastungsbezogene paranoide Vorstellungen oder schwere
dissoziative Symptome.
1.1.3 Ätiologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Als ätiologisches Modell wird heute von den meisten Wissenschaftlern eine
multifaktorielle Wechselwirkung aus genetischen und psychosozialen Faktoren
sowie dysfunktionalen Verhaltens- und Interaktionsmustern angenommen (Bohus
et al., 2006; Dubo et al., 1997).
Den
genetischen
Anteil
an
der
Krankheitsentstehung
unterstreicht
eine
Zwillingsstudie (Torgersen et al.), die im Jahr 2000 veröffentlicht wurde. In dieser
konnte eine erhebliche hereditäre Beteiligung an der Entstehung der Krankheit
nachgewiesen werden. Genetische Faktoren konnten etwa 68 Prozent der Varianz
erklären. In der Studie wurde die Konkordanzrate von 92 monozygoten mit 129
dizygoten Zwillingen verglichen, von denen einer der beiden nach DSM-IVKriterien eine BPS hatte. Des Weiteren bestehen auch andere indirekte Hinweise
6
Einleitung
auf Erblichkeit: Bei etwa 50 Prozent der Patientinnen und der Patienten1 mit BPS
wird
retrospektiv
von
einem
manifesten
Aufmerksamkeitsdefizit-
und
Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) in der Kindheit berichtet. Bei diesem wiederum ist
eine klare genetische Prädisposition gesichert (Bohus et al., 2006).
Wie in Abbildung 1 zu erkennen ist, wird die Entstehung dieses Krankheitsbildes
neben den genetischen Faktoren auch durch traumatisierende Erlebnisse, vor
allem in der Kindheit und Adoleszenz, beeinflusst. So kam es in 40 bis 71 Prozent
der Fälle zu sexuellem Missbrauch, wobei eine Korrelation zwischen der Schwere
der Erkrankung und der Schwere des sexuellen Missbrauchs besteht (Lieb et al.,
2004;
Petermann
et
al.,
2005).
Des
Weiteren
konnten
körperliche
Gewalterfahrungen (etwa 60 Prozent) sowie schwere Vernachlässigung (etwa 40
Prozent) an biographisch relevanten psychosozialen Belastungsfaktoren eruiert
werden. Bei der sexuellen Gewalt handelt es sich meist um sehr frühe und
langdauernde Traumatisierungen, welche die Patienten vorwiegend im familiären
Umfeld erfahren (Zanarini et al., 1997). Allerdings gibt es keine Beweise, dass
sexueller Missbrauch in der Kindheit zwingend für die Entstehung einer BPS
notwendig
ist.
Festzuhalten
Persönlichkeitsstörung
nicht
ist
um
außerdem,
eine
dass
es
chronische
sich
bei
dieser
posttraumatische
Belastungsstörung handelt, allerdings sind Überschneidungen möglich (Bohus et
al., 2006).
1
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden nur die maskuline Form verwendet.
7
Einleitung
negative
Kindheitserfahrungen
Genetische Faktoren
emotionale Dysregulation
Impulsivität
dysfunktionale Verhaltensweisen wie selbstverletzendes Verhalten,
Suizidalität, Substanzmissbrauch, psychosoziale Konflikte und Defizite
Abb. 1: Das neurobehaviorale Modell der BPS, nach Lieb et al., 2004
1.1.4 Epidemiologie, Verlauf und Prognose
Die BPS ist mit einer Punktprävalenz von 1 – 3 Prozent in der Gesamtbevölkerung
eine recht häufige Erkrankung (Torgersen et al., 2001; Lieb et al., 2004;
Gunderson et al., 2001). In ambulanten psychiatrischen Einrichtungen wird von
einer Häufigkeit von 10 Prozent ausgegangen, unter stationären Patienten nimmt
diese Persönlichkeitsstörung sogar einen Anteil von bis zu 20 Prozent ein und
gehört somit zu den häufigsten Aufnahmediagnosen im psychologischen und
psychiatrischen Umfeld. Unter den Geschlechtern ist sie bei Frauen mit 70
Prozent im Vergleich zu Männern (30 Prozent) häufiger (Lieb et al., 2004; Tadić et
al., 2009; McGirr et al., 2007). Berücksichtigt man diese Geschlechterverteilung
sowie die Tatsache, dass sich die meisten Patientinnen im Altersbereich zwischen
15 und 45 befinden, so kann in dieser Gruppe sogar von einer Prävalenz von über
3 Prozent ausgegangen werden (Bohus et al., 2006).
Starke
Stimmungsschwankungen,
aggressive
Durchbrüche
und
schwere
Selbstzweifel können erste Symptome für eine BPS sein und bereits in der frühen
8
Einleitung
Adoleszenz
beginnen.
Kommen
Selbstverletzungen,
Suizidversuche,
Essstörungen sowie Drogenprobleme hinzu, erhärtet sich der Verdacht auf das
Vorliegen dieser psychischen Störung. Von anderen Persönlichkeitsstörungen
unterscheidet sich die BPS in vielerlei Hinsicht: Bei ihr liegt der Fokus auf der
Behandlung borderlinetypischer Symptome. Die Störung wird eher ich-dyston als
ich-synton wahrgenommen, deshalb besteht bei den Patienten häufig ein großer
Leidensdruck (Renneberg, 2003). In einer Longitudinalstudie war im Verlauf von
zehn Jahren ein Rückgang sämtlicher krankheitstypischer Symptome bei
insgesamt 88 Prozent der Patienten zu verzeichnen. Darüber hinaus konnten
Faktoren identifiziert werden, die für eine zeitlich frühere Remission sprechen.
Diese waren insbesondere junges Alter, die Abwesenheit von sexuellem
Missbrauch in der Vergangenheit, kein Substanzmissbrauch in der Familie, eine
gute berufliche Stellung, keine ängstlich-abhängige Persönlichkeit, sowie niedriger
Neurotizismus und ein hohes Maß an Verträglichkeit (Zanarini et al., 2006).
1.1.5 Borderline-Syndrom bei Männern
Lange Zeit nahm man an, dass die BPS fast ausschließlich das weibliche
Geschlecht betrifft. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass im klinischen
Bereich rund 80 Prozent der Patienten weiblich sind (Widiger et al., 1991). Somit
galt das Borderline-Syndrom lange Zeit als typisch weibliche psychiatrische
Erkrankung. Allerdings zeichnet sich in neueren Studien zunehmend deren
Bedeutung für das männliche Geschlecht ab und es muss von einer deutlich
höheren Prävalenz unter Männern ausgegangen werden. In der Studie nach Grant
et al. (2008) wird sogar von einer annähernd gleichen Prävalenz unter beiden
Geschlechtern
gesprochen.
Allerdings
ist
die
Symptomatik
eher
geschlechtsspezifisch. Bei Frauen ist gehäuft ein selbstschädigendes Verhalten
anzutreffen. Sie kommen daher eher mit medizinischen Einrichtungen wie
chirurgischen Ambulanzen oder psychotherapeutischen und psychiatrischen
Einheiten in Berührung.
Männer fallen weniger durch autoaggressives Verhalten auf. Bei ihnen steht eher
ein impulsives, streitsüchtiges Wesen im Vordergrund. Durch Gewalt gegenüber
Anderen und dissozialen Verhaltensweisen kommen männliche 'Patienten' eher
mit der Justiz in Berührung. Unter Gefängnisinsassen und Patienten forensischer
9
Einleitung
Kliniken,
ist
die
BPS
nach
der
antisozialen
Persönlichkeitsstörung
die
zweithäufigste Persönlichkeitsstörung (Watzke et al., 2006). So wie beim
weiblichen Geschlecht wird des Weiteren versucht, negative Emotionen und
Spannungszustände mit Alkohol, Drogen oder anderen illegalen Substanzen zu
kompensieren, wodurch ein zusätzliches Problem in Form einer Suchtproblematik
entstehen kann.
Die Ätiologie scheint, wie auch bei den Frauen, multifaktoriell zu sein. So sind
wohl genetische Einflüsse wie auch negative Kindheitserfahrungen an der Genese
der Erkrankung beteiligt.
1.2 Affektive Reagibilität und selbstschädigendes
Verhalten
Eine Störung der Affektregulation, im Sinne einer erhöhten affektiven Reagibilität,
ist das zentrale Merkmal der BPS. Auf schwach ausgebildete, emotional relevante
Stimuli wird mit intensiven, rasch aufschießenden Affektregungen geantwortet.
Nur verzögert wird auch wieder das emotionale Ausgangsniveau erreicht. Dabei
fällt den Patienten die Differenzierung verschiedener Gefühlsqualitäten wie Wut,
Angst oder Verzweiflung oft schwer. Borderline Patienten neigen somit zu
undifferenzierten dysphorischen Verstimmungen, die in quälenden, aversiven
Spannungszuständen kumulieren können (Stiglmayr et al., 2001; Herpertz et al.,
2003).
Neben diesen affektgeladenen Zuständen gibt es auch Phasen völliger
Affektlosigkeit, in denen die Patienten dann weniger sensibel sind. Zustände bis
zur völligen Gefühlstaubheit können vorkommen. In diesen dissoziativen
Zuständen ist es dem Bewusstsein nicht mehr möglich, Informationen von außen
und innen sinnvoll in Einklang zu bringen. Es wird schwer, Gefühle und Gedanken
zu trennen. Unter hoher Anspannung kann es sogar zu Störungen der
sensomotorischen Integration kommen. Dies kann von den Patienten als eine
Verzerrung des Raum-Zeit-Gefühls, ein ausgeprägtes Gefühl von Fremdheit oder
als Verlust der Kontrolle über die Realität empfunden werden. Die Patienten
10
Einleitung
berichten häufig 'neben sich gestanden zu haben'. Für eine gewisse zeitliche
Phase kann teilweise eine Amnesie herrschen (Bohus et al., 2009).
Personen, die sich selbst verletzen weisen oft weitere bestimmte psychologische
Eigenschaften auf. Die bekannteste ist wohl die 'negative Emotionalität' (Klonsky
et al., 2007). Diese Personen erleben in ihrem täglichen Leben häufiger und
intensiver negative Emotionen als Menschen ohne selbstverletzendes Verhalten.
Bei ihnen finden sich überdurchschnittlich oft Veränderungen in Form von
emotionaler Dysregulation, negativer Stimmung, Depression und Angstzuständen
(Andover et al. 2005). Die gesteigerten negativen Emotionen und die Linderung
dieser durch das Zufügen von Verletzungen, können der Hauptgrund für das
selbstverletzende
Verhalten
sein
(Klonsky,
2007).
Aus
den
negativen
Stimmungsauslenkungen können aversive Spannungszustände entstehen, welche
die Patienten in Form von selbstschädigenden Verhaltensweisen zu durchbrechen
versuchen. Diese können Formen wie beispielsweise parasuizidale Handlungen,
Selbstverletzungen, bulimische Ess-/Brechattacken, Glücksspiel oder auch
episodische Alkohol- oder Drogenexzesse annehmen. Hierdurch erklärt sich auch
die hohe Komorbiditätsrate an Erkrankungen wie Essstörungen, die Einnahme
illegaler psychotrop wirkender Substanzen und anderer Verhaltensauffälligkeiten
(Zanarini et al., 1989; Herpertz et al., 2003; Tadić et al., 2009).
Folgende Abbildung 2 zeigt den typischen Teufelskreis aus Spannungsaufbau
gefolgt von Spannungslösung durch Selbstverletzung. Meist gehen dem Verhalten
belastende emotionale Zustände voraus, die nach der selbstverletzenden
Handlung abgebaut werden, beziehungsweise ein Gefühl der Entspannung
aufgebaut wird (Nitkowski, 2009). Lerntheoretisch stellt dies eine negative
Verstärkung dar, durch operante Konditionierung kann dieses Verhalten zur
baldigen Habituierung führen (Herpertz et al., 2003).
Einleitung
11
Abb. 2: Typischer Verlauf von Spannungsaufbau und Spannungslösung bei BorderlinePersönlichkeitsstörung (Herpertz et al., 2003).
1.3 Selbstschädigendes Verhalten
Unter selbstschädigendem Verhalten lassen sich im Wesentlichen die beiden
Rubriken selbstverletzendes Verhalten und suizidales Verhalten subsummieren.
Auf beide Punkte soll im Folgenden eingegangen werden.
1.3.1 Selbstverletzendes Verhalten
Das selbstverletzende Verhalten ist definiert als ein gegen sich selbst gerichtetes
Zufügen von Verletzungen und Beschädigungen des eigenen Körpers ohne
suizidale Absichten. Es kann unterschiedliche Funktionen erfüllen und ist sozial
nicht akzeptiert (Petermann et al., 2009; Whitlock et al., 2007). In der Literatur
werden öfters auch andere Namen benutzt, wie beispielsweise Selbstverwundung
oder gar Selbstverstümmelung. Etwa 4 Prozent der Erwachsenen in der
Allgemeinbevölkerung berichten von mindestens einem stattgehabtem, bis zu 1
Prozent von schwerem, selbstverletzenden Verhalten in der Vergangenheit
(Klonsky et al., 2003; Nock et al., 2005). In der Studie nach Klonsky (2011) wird
12
Einleitung
sogar von einer Lebenszeitprävalenz von 5,9 Prozent bei US-Amerikanern
berichtet, wobei diese Handlungen bei 2,7 Prozent der Allgemeinbevölkerung
mindestens fünf Mal oder häufiger zu finden seien. Unter stationären Patienten in
psychiatrischen Einrichtungen ist (nach Briere et al., 1998) bei 21 Prozent der
Erwachsenen und (nach DiClemente et al. 1991) bei 61,2 Prozent der
Jugendlichen ein selbstverletzendes Verhalten zu erkennen. Auch ist zu
beobachten, dass jüngere Personen in besonderem Maße gefährdet sind.
Selbstverletzendes Verhalten ist hauptsächlich bei jugendlichen Patienten zu
finden. Das Erstmanifestationsalter liegt durchschnittlich zwischen 12 und 14
Jahren (Klonsky, 2011; Nock et al., 2006). Etwa die Hälfte der Betroffenen
berichtet sogar, dass dieses Verhaltensmuster bereits im Grundschulalter
begonnen habe (Bohus et al., 2006). Die Möglichkeiten der Selbstverletzungen
sind mannigfaltig, oft werden verschiedene Arten kombiniert. Besonders häufig
kommen dabei vor:

Schnitte durch scharfe Gegenstände wie Messer, Rasierklingen oder
Glasscherben. Die Schnitttiefe reicht von meist nur oberflächlich bis sehr
tief. Die Lokalisation ist prinzipiell am ganzen Körper möglich, meistens
finden
sich
die
Wunden
aber
am
Unterarm.
Diese
Form
der
Selbstschädigung kommt mit 70 Prozent am häufigsten vor (Klonsky et al.,
2007).

An älteren Wunden kann durch Manipulation, wie aufreißen, kratzen oder
verunreinigen, der Heilungsvorgang gestört werden. Das Abheilen ist
erschwert und häufig treten Wundheilungsstörungen und Infektionen auf.

Brennen mit heißen Gegenständen, wie beispielsweise Zigaretten.

Konsum
von
schädlichen
Substanzen,
wie
Medikamente,
Alkohol,
Chemikalien oder Zigarettenkippen.

Schlagen des Kopfes gegen eine Wand oder andere harte Gegenstände.

Fingernägel abreißen oder abkauen bis es blutet.

Ausreißen von Kopfhaaren.
Am häufigsten ist die Schädigung im Bereich der Unterarme zu finden, gefolgt von
Händen, Handgelenk, Oberschenkel und Bauch (Whitlock et al., 2006). Bei vielen
Personen tritt dieses selbstverletzende Verhalten nur einmal oder wenige Male
auf. Es kann jedoch einen repetitiven Charakter annehmen (Favazza, 1998),
13
Einleitung
wobei chronisches selbstverletzendes Verhalten eher bei der Minderheit der
Patienten beschrieben wird (Nock et al., 2006). Diverse Studien berichten von
einer anderen, geringeren Schmerzwahrnehmung bei diesen Patienten. In
stressigen,
emotional
schwierigen
Phasen
kann
sich
die
Schwelle
der
Schmerzwahrnehmung nochmals erhöhen. Während des selbstverletzenden
Handelns kann so das Schmerzempfinden deutlich reduziert oder sogar
aufgehoben sein (Bohus et al., 2000).
Selbstverletzendes Verhalten assoziieren die meisten Menschen mit einer BPS.
Häufig wird dieses sogar gleichgesetzt und fälschlicherweise als ein die Diagnose
implizierendes Phänomen angesehen. Dabei sind Selbstverletzungen weder ein
hinreichendes noch notwendiges Diagnosekriterium (Steinert et al., 2012). Es
besitzt als alleiniges Kriterium weder ausreichende Sensitivität noch Spezifität
(Gunderson et al., 2001). Solche Verhaltensmuster können neben der BorderlineStörung auch bei anderen Erkrankungen wie etwa bei Substanzmissbrauch,
geistiger Behinderung, posttraumatischer Belastungsstörung, Angststörungen,
Essstörungen,
der
Major
Depression,
Schizophrenie
oder
anderen
Persönlichkeitsstörungen gefunden werden (Klonsky et al., 2003).
Allerdings
sind
diese
gegen
sich
selbst
gerichteten,
schädigenden
Verhaltensweisen im besonderen Maße mit der BPS vergesellschaftet. So ist bei
bis zu 85 Prozent der Patienten mit dieser Persönlichkeitsstörung ein
selbstverletzendes Verhalten, zumindest während einiger Zeitabschnitte, in
Erfahrung zu bringen (Bohus et al., 2006). Bei über 40 Prozent der Patienten ist
dies sogar mit einer Häufigkeit von über 50 Ereignissen zu verzeichnen (Dulit et
al., 1994). Es wird somit offensichtlich, dass dieses Verhalten ein wichtiges
Symptom für die BPS darstellt und somit berechtigterweise einen festen Platz
sowohl im DSM-IV-, als auch im ICD-10-Katalog eingenommen hat.
In der Veröffentlichung von Nitkowski (2009) werden folgende Gründe für ein
selbstverletzendes Verhalten benannt und in Tabelle 3 dargestellt. Häufig können
diese auch kombiniert vorkommen.
14
Einleitung
Tab. 1: Modelle zur Funktion von selbstverletzendem Verhalten, nach Nitkowski et al. (2009)
aus: Klonsky (2007) und Salbach-Andrae et al. (2007)
Modell
Funktion der Selbstverletzung
Ausdruck und Kontrolle von Gefühlen,
Affekt-/Emotionsregulation
insbesondere Reduktion von negativen Affekten
oder emotionaler Erregung
Anti-Dissoziation
Anti-Suizid
Selbstbestrafung
Beendigung von Depersonalisations- oder
Derealisationszuständen
Vermeidung von Selbstmordimpulsen
Bestrafung der eigenen Person oder Ausdruck
von Wut auf sich selbst
Sensation Seeking
Erzeugung von An- oder Erregung
Interpersonale Beeinflussung
Suche nach Hilfe oder Manipulation anderer
Interpersonale Abgrenzung
Behauptung der eigenen Unabhängigkeit und
Abgrenzung von Anderen
Verhaltenspsychologisch kann das selbstverletzende Verhalten anhand des
Vulnerabilitäts-Stress-Modells erklärt werden. Traumatische Kindheitserfahrungen
oder andere Einflüsse konnten als konstitutionelle Risikofaktoren identifiziert
werden und erhöhen die Anfälligkeit für selbstverletzendes Verhalten. Als
Reaktion auf akute Belastungen können diese Handlungen ausgelöst werden,
wodurch beispielsweise sich aufdrängende Suizidgedanken abgebaut oder ein
Bedürfnis nach Aufmerksamkeit befriedigt werden. Allerdings hält diese positive
Erfahrung nur kurz an, was oft zur baldigen Wiederholung des Verhaltens führt
(Nitkowski et al., 2009).
Es ist festzuhalten, dass selbstverletzendes Verhalten kein Suizidversuch darstellt.
Allerdings gibt es einen Zusammenhang zwischen selbstverletzendem Verhalten
einerseits und suizidalen Handlungen andererseits. In der Theorie nach Joiner
(2005) werden mehrere spezifische Hypothesen dazu formuliert, warum ein
Mensch mit selbstverletzendem Verhalten in der Vorgeschichte ein erhöhtes
Suizidrisiko hat. Ein Suizid sei für den Menschen eine angsteinflößende, extreme
Handlung. Den Meisten fehle zunächst die 'Fertigkeit', diese Hemmschwelle zu
15
Einleitung
überwinden. Eine mögliche Theorie ist nun, dass die Personen durch die
wiederholten selbstverletzenden Handlungen sowohl mutiger und kompetenter
werden, als auch eine gewisse Gewöhnung an autoaggressive Handlungen
eintritt.
Bei der BPS ist in der Gruppe der Patienten mit selbstverletzendem Verhalten eine
doppelt so hohe Suizidrate als bei den Patienten ohne diese Handlungen zu
verzeichnen (Gunderson et al., 2001). Das selbstverletzende Verhalten gilt somit
als Risikofaktor für eine suizidale Handlung (Walsh et al., 2007; Bohus et al.,
2006).
1.3.2 Suizidales Verhalten
In der Altersgruppe der Personen unter 40 Jahren ist, nach den Unfällen, der
Suizid die zweithäufigste Todesursache. Jeder vierte Tod eines Menschen unter
30 Jahren ist der Freitod. Im Jahr 2005 starben in Deutschland 10260 Menschen
durch Suizid, wobei die tatsächlichen Zahlen die offiziellen Angaben mit Sicherheit
übertreffen. Unter den Todesarten wie Verkehrsunfälle, Drogenmissbrauch und
unklare Todesursache kann ein erheblicher Anteil an Suiziden vermutet werden.
Des Weiteren ist das Risiko für einen Suizid bei psychischen Erkrankungen
generell
erhöht.
Medikamenten-
Insbesondere
oder
bei
Substanzabhängigkeit
Alkoholabusus
sowie
wie
Drogen-,
Depressionen
oder
Persönlichkeitsstörungen, aber auch durch Einsamkeit im Alter ist eine deutlich
erhöhte Suizidrate im Vergleich zur Normalbevölkerung zu verzeichnen (Fiedler,
2005).
Suizidales- und selbstverletzendes Verhalten haben gemeinsam, dass sich beides
gegen den eigenen Körper, gegen sich selbst, richtet. Die Motivation zu einem
Suizidversuch
beziehungsweise
die
Suizidabsicht
ist,
wie
auch
das
selbstverletzende Verhalten, der Versuch einer Flucht aus einem unerträglichen
Zustand. Allerdings ist bei ersterem nicht die kurzfristige Reduktion der
emotionalen Belastung das Ziel, sondern das dauerhafte Stoppen dieser durch
den eigenen Tod (Walsh, 2006).
Patienten mit selbstverletzendem Verhalten sind nicht zugleich auch potentielle
Suizidenten. Unter ihnen gibt es einen großen Anteil an Personen, bei denen es in
Einleitung
16
der Vergangenheit weder zu einem Suizidversuch, noch zu ernsthaften Gedanken
und Plänen dahingehend gekommen war. Dennoch berichtet ein beträchtlicher
Anteil der Personen mit selbstverletzendem Verhalten (50 Prozent allgemein und
bis zu 70 Prozent der stationären Patienten) von mindestens einem stattgehabten
Suizidversuch (Nock et al., 2006).
Ein großer Anteil aller Suizidversuche wird von Patienten mit BPS begangen. Bei
dieser Störung kommt es im Laufe des Lebens bei 40 bis 85 Prozent der
Betroffenen zu Selbstmordversuchen, wobei im Durchschnitt drei Versuche
begangen werden (McGirr et al., 2007; Bohus et al., 2006). Die hohe Rate an
Suizidversuchen spiegelt die ambivalente Einstellung der Patienten gegenüber
dem Suizid wider. Für gewöhnlich besteht kein echter Wunsch zu sterben.
Vielmehr ist die Motivation darin begründet, anderen die Verantwortung für ihr
Leben zu übertragen. Hierdurch kann sich durch die Hospitalisierung das suizidale
Risiko erhöhen, wohingegen im Rahmen einer ambulanten Therapie das Risiko
eher verringert wird (Soloff et al., 2008). Bei Patienten mit BPS sind folgende
Risikofaktoren für suizidales Verhalten bekannt (Oldham, 2006; Gunderson et al.,
2001):

Vorherige Suizidversuche (erhöht die Suizidwahrscheinlichkeit um den
Faktor 40)

Komorbidität an einer affektiven Störung

Schwere Hoffnungslosigkeit

Positive Familienanamnese an suizidalem Verhalten und Suiziden

Komorbider Substanzmissbrauch

Sexueller Missbrauch in der Vergangenheit

Hohes Maß an Impulsivität und/oder antisoziale Züge
Leider sind viele Patienten mit ihrem Suizidversuch doch irgendwann 'erfolgreich'
und tragen so mit etwa 10 Prozent zu den Todesursachen bei (Gunderson et al.
2001; Paris et al., 2001; Bohus et al., 2007). Schätzungen zufolge war bei etwa 30
Prozent der Menschen, die durch Suizid starben, sowie bei 40 Prozent der
Menschen, die einen Suizidversuch unternahmen, eine BPS in Erfahrung zu
bringen. Bei Suizidenten, die sich in ambulanter psychiatrischer Behandlung
befanden, bestand dieses Krankheitsbild sogar bei über 50 Prozent der Personen
(APA, 2003). Die Suizidrate ist damit gegenüber der Allgemeinbevölkerung um
17
Einleitung
das 400-fache und gegenüber der Gruppe von jungen Frauen sogar um den
Faktor 800 erhöht (Gunderson et al., 2001; Pompili et al., 2005).
1.3.3 Differenzialdiagnostik
Selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität weisen häufig nicht nur etliche
Gemeinsamkeiten auf, oft sind diese beiden Schädigungstypen auch in zeitlichem
Zusammenhang zu finden. Wird eine Suizidabsicht nicht klar geäußert, ist es
aufgrund der ähnlichen Symptome im klinischen Alltag meist schwer, hier
hinreichend zu differenzieren. Aber gerade dies ist im Hinblick auf die Therapie
dringend nötig. So ist bei einem suizidalen Patienten ein stationärer Aufenthalt
indiziert, während bei reinem selbstverletzendem Verhalten ein ambulantes
Setting in Betracht gezogen werden kann (Nitkowski et al., 2010).
Als Motiv wird beim Suizid die endgültige Beseitigung eines unerträglichen
psychischen Schmerzes durch den eigenen Tod angenommen, wohingegen mit
dem selbstverletzenden Verhalten ein unangenehmer Affektzustand reduziert
werden soll (Muehlenkamp, 2005; Walsh, 2006). Somit kann beides als Strategie
zur Emotionsbewältigung angesehen werden, wobei sich beide Typen wohl in den
Emotionen, die bewältigt werden sollen, unterscheiden. Bewältigung von
negativen
Affekten
wie
Wut,
Frustration
oder
Angst
führt
eher
zu
selbstverletzendem Verhalten, während suizidales eher durch anhaltende, weniger
erregende negative Emotionen wie Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst und
Gefühle der Leere hervorgerufen wird (Klonsky, 2009; Goldston, 2006). In einer
Vergleichsstudie war die Intention bei den Patienten mit suizidalen Handlungen
vorwiegend die, 'es den anderen leichter machen zu wollen'. Im Gegensatz dazu
wollen Personen mit selbstverletzendem Verhalten eher positive Gefühle
herbeiführen, von Problemen abzulenken oder auch Ärger ausdrücken (Brown et
al., 2002).
In der Unterscheidung zwischen suizidalem und selbstverletzendem Verhalten
kommt
auch
der
Art
der
Selbstschädigung,
also
sowohl
der
Selbstverletzungsmethode als auch der medizinischen Schwere, eine bedeutende
Rolle zu. Beim Auswerten diverser Studien sah man, dass Schneiden in 42
Prozent der Fälle für selbstverletzendes Verhalten genutzt wurde, aber nur in 26
Prozent der Fälle für Suizid. 'Härtere Methoden' wie ein Sturz aus großer Höhe
18
Einleitung
und die Benutzung von Schusswaffen kamen, im Gegensatz zu schwerem
Kratzen und Schlägen gegen sich selbst, beim selbstverletzenden Verhalten gar
nicht zum Einsatz und sprechen damit wiederum eher für suizidales Verhalten
(Nitkowsky et al., 2010). Ein starker Wunsch zu sterben geht meist auch mit
erhöhter Verletzungsschwere einher. Allerdings findet sich nicht regelmäßig ein
positiver Zusammenhang zwischen der Gefährlichkeit des Suizidversuches und
der Suizidabsicht. Dies kann dadurch erklärt werden, dass für die Einschätzung
der Gefährlichkeit auch fundierte medizinische oder pharmakologische Kenntnisse
des Suizidenten vorhanden sein müssen (Brown et al., 2004) - was man am
Beispiel
eines
Suizidversuches
durch
Medikamentenüberdosierung
veranschaulichen kann.
In
der
Studie
nach
Nitkowski
et
al.
(2010)
wird
als
ein
weiterer
differenzialdiagnostischer Punkt die Lebenszeithäufigkeit bzw. die Episodenzahl
der selbstschädigenden Vorkommnisse erwähnt. In dieser Veröffentlichung fanden
sich, verteilt über die Lebenszeit, für selbstverletzendes Verhalten bei klinisch
auffälligen Jugendlichen und Erwachsenen eine stark schwankende Anzahl von
sieben bis 709 Einzelepisoden - im Vergleich dazu aber nur ein bis fünf Episoden
von Suizidversuchen. Daher kann ein sich ähnelndes, sehr häufig auftretendes
selbstschädigendes Verhalten auf selbstverletzendes Verhalten hindeuten.
In der Differenzierung von selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität stellt die
Absicht das zentrale Merkmal für die Unterscheidung dar. Es ist sinnvoll, die
Motive und Funktionen, welche eine Selbstschädigung beziehungsweise eine
Suizidabsicht begründen sowie weitere Merkmale des Verhaltens zu erfragen und
zusammenfassend zu bewerten. Wie in Abbildung 3 dargestellt, kann eine
Verdachtsdiagnose so schrittweise verifiziert werden (Nitkowski et al. 2010).
19
Einleitung
Selbstverletzendes
Verhalten
Suizidversuch
Nicht suizidale
Selbstschädigungsabsicht
Suizidabsicht
(Todeswunsch)
Selbstbestrafung
Abbau von emotionalen
Belastungen (Bewältigung)
Ablenkung von
Problemen
Erzeugen positiver
Gefühle
Ausdruck von Wut
Entlastung anderer
Abb. 3: Einfluss von spezifischen und unspezifischen Motiven auf selbstverletzendes
Verhalten; spezifische Motive beeinflussen nur eine, unspezifische beide
Selbstschädigungsformen (nach Nitkowski et al., 2010).
1.4 Behandlung am ZfP Südwürttemberg in Weissenau
Als Kriterium für diese Persönlichkeitsstörung müssen nach ICD-10 fünf der
insgesamt zehn Symptome vorliegen, hieraus ergibt sich eine Vielfalt an
Kombinationsmöglichkeiten. Da Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten
sowohl nach ICD-10 als auch DSM-IV fester Bestandteil der Diagnosekriterien
sind, ist es nicht verwunderlich, dass ein Großteil der Patienten aufgrund dieser
Problematik
vorstellig
wird
(Steinert
et
al.,
2010).
Im
Klinikverbund
20
Einleitung
Südwürttemberg, der aus sechs Klinikstandorten und fünf Tageskliniken besteht,
betrifft dies in etwa 5 Prozent aller Aufnahmen in der Erwachsenenpsychiatrie
(Steinert et al., 2009).
Tatsächlich nehmen etwa 80 Prozent der Patienten mit BPS im Laufe ihres
Lebens psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch, häufig
aufgrund von selbstschädigendem oder suizidalem Verhalten. Hierdurch werden
die Versorgungsstrukturen in besonderem Maße gefordert, was zusätzlich durch
das hohe Inanspruchnahmeverhalten dieser Patienten noch verstärkt wird. Die
langwierige Therapie spiegelt sich auch in den hohen Behandlungskosten wider
(Bohus et al., 2006). Diese sollen etwa 15 Prozent der für psychische Krankheiten
ausgegebenen Gesamtkosten betragen. Der Großteil, etwa 90 Prozent der
Kosten, wird durch den stationären Aufenthalt verursacht, der im Mittel pro Patient
und Jahr in Deutschland bei 68 Tagen liegt. Bei dieser chronischen, schwer
therapierbaren Störung bleibt es meist auch nicht bei einem einzelnen stationären
Aufenthalt. Die Wahrscheinlichkeit der Wiederaufnahme in eine psychiatrische
oder psychotherapeutische Versorgungseinrichtung liegt bei etwa 80 Prozent
(Jerschke et al., 1998; Bohus, 2006).
Im Rahmen einer (voll-)stationären Therapie verbringen die Patienten den Großteil
der Zeit auf Station, was viele Vorteile bieten kann. Im Falle einer akuten
Krisensituation kann diese zur Entlastung beitragen, bietet die Möglichkeit der
Abschottung von der ereignisreichen Umwelt und ermöglicht beispielsweise
Unterstützung in Form einer Therapie. Als Kehrseite kann sich allerdings eine
Hospitalisierung mit einhergehender Regression einstellen. Die ohnehin schon
angeschlagene
Selbstverantwortung
kann
vollends
abgegeben
und
die
Zuständigkeit für sich und sein Leben dem Therapeuten übertragen werden.
Hierdurch kann eine, von therapeutischer Seite natürlich nicht gewünschte,
Verstärkung der patientenspezifischen Symptomatik entstehen. In Form eines
Teufelskreises kann so selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität gefördert
werden (Steinert, 2012).
Das Krankheitsbild der BPS ist, wie bereits mehrfach dargestellt, häufig mit
selbstverletzendem Verhalten und suizidalen Krisen vergesellschaftet. Gerade
letzteres ist in der Regel mit einer ambulanten Behandlung nicht mehr zu
vereinbaren. Auch eine stationäre Behandlung in einer psychosomatisch-
21
Einleitung
psychotherapeutischen Einrichtung kann dann nicht durchführbar und sinnlos
werden. Ein stationärer Aufenthalt in einer akutpsychiatrischen Station ist dann
meist zwingend notwendig (Uhlmann et al., 2008).
Psychiatrische Krankenhäuser der stationären Regelversorgung stehen oft im
Konflikt
zwischen
der
Spezialisierung
Erkrankungsbilder einerseits
zur
Behandlung
bestimmter
und der Sektorisierung mit einer möglichst
gemeindenahen, regionalen Versorgung andererseits (Gebhardt et al., 2002). Das
Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg ist bestrebt, diese beiden Konzepte
zu verwirklichen. Vor diesem Hintergrund wurde im November 2005 im Rahmen
einer Qualitätsverbesserungsmaßnahme dahingehend eine Umstrukturierung
vorgenommen und eine neue Station eingerichtet (Uhlmann et al., 2008). Grund
dafür war ein unverhältnismäßig hoher Anteil von Zwangsmaßnahmen an
Patienten in der Diagnosegruppe F6 (Persönlichkeitsstörung) gegenüber dem
Durchschnitt anderer Kliniken im Benchmarking. Im ZfP Südwürttemberg in
Weissenau wurden die Patienten bis zu dieser Umstrukturierung so therapiert wie
in
Deutschland
üblich
-
beispielsweise
in
Psychotherapiestationen
in
psychiatrischen Kliniken, gelegentlich auch in psychosomatischen Kliniken oder
Tageskliniken. Bei akuten Krisen, die bei dieser Patientengruppe regelmäßig in
Form von selbstschädigendem Verhalten und häufig auch im Zusammenhang mit
Substanzmissbrauch zu finden sind, kommt es dann zu einer Einweisung oder
Verlegung in eine psychiatrische Akutstation. Die in der Regel unfreiwillige
Aufnahme erfolgt meist in ein Umfeld bestehend aus akut psychotischen, im
Verhalten auffälligen Mitpatienten. Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass dieses
Stationsklima nicht gerade in positiver Weise unterstützt. Insbesondere bei
Patienten mit BPS werden oft Erinnerungen an ihre häufig vorhandene
traumatische
Vergangenheit
geweckt,
was
in
eine
Eskalation
aus
Therapieverweigerung, Gewalt und Zwangsmaßnahmen münden kann (Steinert et
al., 2009).
Bei
dieser
2006
eingerichteten
Station
handelt
es
sich
um
eine
gemischtgeschlechtliche Akutstation, daher werden die Patienten zu jeder Uhrzeit
aufgenommen.
Zur
Aufnahme
kommen
vorwiegend
Patienten
mit
den
Hauptdiagnosen F6 oder F4 (Anpassungs- und Belastungsstörung). Meist
geschieht
dies
notfallmäßig
im
Rahmen
einer
suizidalen
oder
schwer
22
Einleitung
selbstverletzenden Krise, gelegentlich sind die Patienten auch intoxikiert und
fremdaggressiv. Die Zuweisung erfolgt entweder durch ein vorbehandelndes
Allgemeinkrankenhaus oder direkt durch niedergelassene Ärzte. Nicht auf dieser
Station aufgenommen werden Patienten mit primärer Substanzabhängigkeit,
psychotischen
oder
affektiven
Störungen
(Steinert
et
al.,
2009).
Das
therapeutische Konzept lehnt sich an die dialektisch-behaviorale Therapie
(Linehan, 1996) an. In Deutschland wurde diese stationäre Therapieform von der
Arbeitsgruppe um Bohus an der Freiburger Universitätsklinik erfolgreich eingeführt
(Bohus et al., 2000; Bohus et al., 2004).
Gegenüber anderen therapeutischen Einrichtungen bietet diese Spezialstation im
ZfP
in
Weissenau
deutlich
symptomspezifischere
psychotherapeutische
Therapieverfahren, zielgerichteter als dies beispielsweise auf einer gemischten
Aufnahmestation mit verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen möglich ist.
Des Weiteren kann auf einer Station für Patienten mit gleicher Symptomatik davon
ausgegangen
werden,
dass
die
Stationsatmosphäre
und
das
gesamte
Stationserleben deutlich besser ist als auf einer allgemeinen psychiatrischen
Aufnahmestation (Uhlmann et al., 2008).
1.5 Schlussfolgerung und Ziele der Studie
Das spezielle therapeutische Setting des ZfP Südwürttemberg ist verhältnismäßig
selten anzutreffen. In vielen anderen psychiatrischen Einrichtungen wird dieses
Patientenkollektiv aufgrund von selbstschädigendem Verhalten meist in einer
allgemeinen psychiatrischen Aufnahmestation vorstellig. Nach Steinert (2012) ist
im Allgemeinen über das stationäre therapeutische Setting zur Behandlung der
BPS relativ wenig bekannt. Dies liegt auch darin begründet, dass die meiste
Literatur aus dem englischsprachigen Raum stammt und dort einerseits ein
deutlich anderes Therapiekonzept praktiziert wird und andererseits auch viel
seltener stationär behandelt wird. In Großbritannien ist eine Einweisung wegen
Suizidalität bei BPS weitgehend unüblich. Selbst in den USA wird hier deutlich
zurückhaltender verfahren. Dies mag hierzulande stutzig machen, da gerade in
23
Einleitung
den Vereinigten Staaten verstärkt mit juristischen Regressforderungen im
medizinischen Sektor zu rechnen ist (Steinert, 2012).
Seit der Gründung dieser Station gab es keine Analyse dieses speziellen
Patientenkollektivs hinsichtlich der Häufigkeit, des Verlaufs und eines möglichen
Zusammenhangs von Suizidalität und selbstverletzendem Verhalten. In dieser
retrospektiven Studie soll diese Patientengruppe auf diverse Aspekte hin
ausgewertet
werden,
auch
um
allgemeingültige
Aussagen
zu
dieser
Patientengruppe treffen zu können. Es wurden verschiedene Fragestellungen
herausgearbeitet, anhand derer diese Patientengruppe näher beschrieben werden
kann. Sowohl die Häufigkeit als auch die Arten von selbstverletzendem Verhalten
und Suizidalität sollten erfasst und systematisch ausgewertet werden. Des
Weiteren soll in diesem Zusammenhang die Vorgeschichte der Patienten
beleuchtet werden. Besonderes Augenmerk wurde dabei auch auf die Zeit kurz
vor der jeweiligen stationären Aufnahme gerichtet, um einen möglichen
Zusammenhang mit dem stationären Aufenthalt erfassen zu können. Darüber
hinaus sollte auch der Therapieerfolg während des stationären Aufenthalts
bestimmt
werden.
Dabei
wird
der
Frage
nachgegangen,
ob
diverse
Patientensubgruppen hierbei in besonderem Maße profitieren. Letztendlich sollen
diese Ergebnisse vor dem Hintergrund der aktuell gängigen Fachliteratur diskutiert
werden.
1.5.1 Hypothesen
Hypothese 1:
a)
Bei Patienten mit BPS gibt es während des stationären Aufenthaltes einen
Zusammenhang zwischen selbstverletzendem Verhalten einerseits und
suizidalem Verhalten andererseits.
b)
Bei Patienten mit BPS gibt es während des stationären Aufenthaltes einen
Zusammenhang zwischen der durch den Therapeuten vergebenen Höhe
der Suizidstufe einerseits sowie dem selbstschädigenden Verhalten (also
dem selbstverletzenden Verhalten, dem suizidalen Verhalten und der
Summe aus beiden) andererseits.
24
Einleitung
Hypothese 2:
Patienten mit BPS, die selbstverletzendes bzw. suizidales Verhalten während des
Aufenthaltes zeigen, haben im Vergleich zu Patienten ohne selbstschädigendes
Verhalten
einen
schlechteren
Therapieerfolg,
gemessen
anhand
der
Selbstbeurteilungsskalen zu Depression (BDI) und allgemeiner psychischer
Symptomatik (SCL-90-R) sowie des Fremdbeurteilungsinstruments zum klinischen
Eindruck (CGI).
25
2 Material und Methoden
2.1 Patientenkollektiv
Das Patientenkollektiv bildeten alle Patienten mit den Diagnosen F 61
(kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen) sowie F 60.31 (emotional
instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus) nach ICD-10, die in den
Jahren 2008 und 2009 auf einer spezifischen Station des ZfP Südwürttemberg in
Weissenau stationär aufgenommen worden waren. Mit Hilfe der elektronischen
Patientenakte Medicare wurde eine Namensliste erstellt. Auf dieser waren alle
Patienten aufgeführt, die diese Kriterien erfüllten und somit untersucht werden
sollten. Hierdurch konnten n = 87 Patienten identifiziert werden, deren Daten die
Grundlage dieser retrospektiven Studie bildeten. Das Patientenkollektiv setzte sich
aus n = 77 (89 Prozent) Frauen und n = 10 (11 Prozent) Männern zusammen. Das
Durchschnittsalter lag bei 32,3 Jahren, die Altersspanne erstreckte sich von 20 bis
66 Jahren.
2.2 Indexaufenthalt
Während des Untersuchungszeitraumes konnte es zu mehreren stationären
Aufenthalten eines Indexpatienten kommen. Um Strukturgleichheit zu schaffen
musste ein Auswahlverfahren definiert werden, mit welchem unter dieser Gruppe
von Aufenthalten ein bestimmter, der sogenannte Indexaufenthalt, ausgewählt
werden konnte. Dieser wurde durch folgende Kriterien definiert:
Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich vom 01.01.2008 bis 31.12.2009. Hier
war der Tag der stationären Aufnahme das Einschlusskriterium, der Tag der
Entlassung blieb unberücksichtigt.
Wurde ein Patient in diesem Zeitraum nur einmal stationär aufgenommen, so war
dies der Indexaufenthalt.
Material und Methoden
26
Kam es in diesem Zeitraum zu zwei oder mehr stationären Aufenthalten, so wurde
derjenige als Indexaufenthalt ausgewählt, bei dem von therapeutischer Seite die
höchsten Suizidstufe vergeben wurde.
Gab es mehrere Aufenthalte mit gleichrangigen Suizidstufen, so wurde der
gewählt, bei dem diese Suizidstufe zeitlich als erstes vorkam.
Aufgrund von Therapiemodulen, emotional bewegenden Ereignissen oder
ähnlichem, durchlaufen die meisten Patienten während eines Aufenthalts mehrere
Suizidstufen. Ausschlaggebend für das Kriterium Indexaufenthalt war nur die
höchste vergebene Suizidstufe während des jeweiligen Aufenthaltes. Hierbei
wurde nicht berücksichtigt, wann diese Suizidstufe auf der Station aufgetreten war
oder wie lange diese vorgelegen hatte. Basierend auf dem EDV Programm
Medicare wurde mit Hilfe der Suchfunktion jeder in Frage kommende Aufenthalt
nach der jeweils höchsten Suizidstufe durchsucht.
2.3 Voraufenthalte
Zu jedem Patienten wurde die Anzahl der stationären Aufenthalte seit dem Jahr
2000 ermittelt. Dies geschah wieder anhand der elektronischen Patientenakte
Medicare, in der jeder Aufenthalt im ZfP Südwürttemberg in Weissenau
dokumentiert wird. Für gewöhnlich kommen die Patienten wohnortgebunden
immer in dieselbe Einrichtung somit ist die Erfassung der Gesamtzahl an
Aufenthalten durch Medicare recht zuverlässig. Um mögliche Aufenthalte in
anderen stationären Einrichtungen ebenfalls erfassen und bewerten zu können,
wurden die einzelnen Arztbriefe eines jeden Patienten dahingehend ausgewertet.
2.4 Suizidstufen
Im Klinikverbund ZfP Südwürttemberg wird die Suizidalität der Patienten
regelmäßig und standardisiert eingestuft. Sowohl bei Aufnahme, als auch in
regelmäßigen, den Umständen angepassten Abständen während des stationären
Material und Methoden
27
Aufenthaltes, wird die Suizidalität des Patienten geprüft und ihm eine der fünf
Suizidstufen zugeordnet, mit jeweils daraus resultierender klinischer Konsequenz
(Steinert et al., 2010). Die einzelnen Suizidstufen werden in Tabelle 4 dargestellt.
Tab. 4: Suizidstufen nach Steinert et al. (2010)
Suizidstufe 0
Keine Suizidalität, weder aktuell noch in der Vorgeschichte
Suizidstufe 1
Suizidalität in der Vorgeschichte, aktuell keine Suizidgedanken,
absprachefähig
Suizidstufe 2
Aktuell Ruhewünsche oder Suizidgedanken, keine konkreten
Handlungsabsichten, aktuell glaubhafte Distanzierung und
absprachefähig
Suizidstufe 3
Ruhewünsche oder Suizidgedanken ohne konkrete
Handlungsabsichten, eingeschränkte Absprachefähigkeit
Suizidstufe 4
Akute Suizidalität, konkrete Suizidabsichten oder passiv sich
aufdrängende Suizidgedanken, Handlungsdruck
Bei Patienten mit BPS wird im Rahmen eines stationären Aufenthaltes meistens
die Suizidstufe 1 oder 2 vergeben. Bedingung hierfür ist unter anderem die
Annahme voller Selbstverantwortung und Absprachefähigkeit, womit meist auch
eine
Wochenendbeurlaubung
und
freier
Ausgang
möglich
sind.
Die
Absprachefähigkeit wird bei Suizidstufe 3 als mangelhaft eingeschätzt, allerdings
ist auf Station von keinem Suizidrisiko auszugehen. Die Patienten sollten die
Station nur unter Begleitung verlassen. Die Suizidstufe 4 ist durch kompletten
Kontrollverlust über eigene Impulse mit konkreten Suizidabsichten oder sich
aufdrängenden Suizidgedanken gekennzeichnet. Diese Stufe erfordert erhöhte
Material und Methoden
28
Sicherheitsmaßnahmen, wie zum Beispiel der verpflichtende Aufenthalt im Essund Aufenthaltsbereich sowie das Abmelden beim Pflegepersonal, falls dieser
verlassen werden sollte. Andernfalls wird mit Isolierung gedroht. Die Patienten
wechseln in dieser Situation aus dem Therapiemodul in das sogenannte
Krisenmodul, in welchem der therapeutische Fokus ausschließlich auf das Thema
Suizidalität gerichtet ist und die Patienten sich zu Nacht im 'weichen Zimmer'
befinden (Steinert et al., 2010).
2.5 Datenerhebung
Die Datenerhebung fand auf der Station 56, einer Kriseninterventionsstation des
ZfP Südwürttemberg, in Weissenau statt. Der Zeitraum erstreckte sich von März
bis Oktober 2010. Die Daten wurden EDV-gestützt mit Hilfe der elektronischen
Krankenakte Medicare erfasst. Die Datenanalyse wurde als Maßnahme zur
Qualitätssicherung in dem ZfP-weiten Qualitätsmanagement durchgeführt. Ein
Votum der Ethikkommission musste somit nicht eingeholt werden.
2.6 Datenblatt
Im Vorfeld musste ein Datenblatt erstellt werden. Die beinhaltenden Punkte sowie
die Gestaltung wurden im Plenum bestehend aus PD Dr. C. Uhlmann, Prof. T.
Steinert und Dr. S. Tschöke besprochen und von mir entworfen. Dabei wurde
festgesetzt, dass es folgende Informationen enthalten soll:
Name
Name und Vorname des jeweiligen Patienten
Medicare-Patientennummer
Jeder Patient wird in der EDV-gestützten elektronischen Patientenakte mit einer
festen Patientennummer geführt.
Material und Methoden
29
Medicare-Aufnahme-ID (Fall-ID)
Jedem Aufenthalt wird eine feste Aufnahmenummer für den jeweiligen stationären
Aufenthalt zugeteilt.
Indexaufenthalt Zeitraum
Gibt an, in welchem Zeitraum der jeweilige Indexaufenthalt stattgefunden hat.
Anzahl Tage Indexaufenthalt
Die Summe der Tage des Indexaufenthaltes.
Indexaufenthalt ist wievielter Aufenthalt
Bei den meisten Patienten mit einer BPS bleibt es nicht bei einem einzigen
stationären Aufenthalt. Im Laufe des Lebens kann es zu mehrfachen, zum Teil
auch einer sehr großen Anzahl an Klinikaufenthalten kommen. In dieser Rubrik
wurde erfasst, wie viele stationäre Aufenthalte im Rahmen der BPS dem
Indexaufenthalt seit dem Kalenderjahr 2000 bereits vorausgegangen waren.
Hierzu wurden sämtliche Aufenthalte, die durch Medicare angezeigt wurden,
gezählt.
Da aber gelegentlich nicht alle stationären Aufenthalte durch das EDV-Programm
angezeigt werden, wurden zusätzlich alle vorhandenen Arztbriefe betrachtet und
insbesondere im anamnestischen Teil nach Vermerken zu weiteren Aufenthalten
gesucht, um diese ebenfalls berücksichtigen zu können.
Wird
ein
Aufenthalt
durch
Wochenende/Beurlaubung
oder
anderweitig
unterbrochen, so kann es vorkommen, dass zu einem Aufenthalt mehrere
Aufnahme-ID Nummern von Medicare vergeben werden. Um dies richtigerweise
als einen zu werten, wurden zum einen die ärztlichen und pflegerischen Einträge
in der digitalen Patientenakte Medicare sowie die dazugehörigen Arztbriefe
berücksichtigt.
Gelegentlich fanden stationäre Aufenthalte nicht immer in derselben Einrichtung,
in diesem Fall dem ZfP Südwürttemberg, sondern auch auswärtig statt. Da dies
zum einen nur bei wenigen Patienten der Fall war und zum anderen auch nur
wenige Informationen zu deren Häufigkeit gewonnen werden konnten, wurden
diese nicht berücksichtigt und flossen somit nicht in die Bewertung mit ein.
Material und Methoden
30
Aufenthalte gesamt seit 2000
In dieser Rubrik wurde dokumentiert, zu wie vielen stationären Aufenthalten es
insgesamt in den Jahren von Januar 2000 bis Dezember 2009 gekommen war.
Stichtag war hier, analog zu oben, der erste Tag des Aufenthalts.
Rubrik Selbstverletzungen
Diese Tabelle wurde entworfen, um das selbstverletzende Verhalten während des
stationären Aufenthaltes erfassen und dokumentieren zu können.
Nicht bei allen Patienten beziehungsweise bei jedem Klinikaufenthalt kam es zu
selbstverletzendem Verhalten. Dies wurde dichotom festgehalten (ja, es kam einoder mehrfach zu selbstverletzendem Verhalten; nein, es kam während des
Indexaufenthalts zu keiner Form von selbstverletzendem Verhalten). Diese
Unterteilung war wichtig, um Gruppen zu bilden und diese miteinander vergleichen
zu können.
Des Weiteren wurde das selbstverletzende Verhalten aufgeschlüsselt in die
Qualitäten:

Schneiden:
Mit
scharfen
Gegenständen
wie
Rasierklingen
oder
Glasscherben.

Brennen: Herbeiführung von Brandwunden durch heiße Gegenstände wie
Zigaretten.

Kratzen: Zum Beispiel Aufkratzen der Haut durch Fingernägel.

Wunden aufreißen: An vorhandener Wunde manipulieren, so dass der
Heilungsprozess verzögert wird und die Wunde nicht abheilen kann.

Anderes: Zum Beispiel der Konsum von Alkohol. Hierbei war wichtig, dass
dies nicht nur ein Konsum von Alkohol war, sondern dieser im Rahmen
eines selbstverletzenden Verhaltens aufgetreten war. Bei unklarer, nicht
eindeutiger Sachlage wurde mit einem Facharzt besprochen, wie dies
individuell zu werten ist.
Zu jeder Art des selbstverletzenden Verhaltens wurde dokumentiert an welchem
Tag nach stationärer Aufnahme dieses im jeweiligen Indexaufenthalt aufgetreten
war. Hierbei war Tag eins der Tag der Aufnahme. Insgesamt wurde die Summe
der Selbstverletzungen jeweils bei den einzelnen Arten, als auch insgesamt
ermittelt.
Material und Methoden
31
Auf der Kriseninterventionsstation werden suizidales und selbstverletzendes
Verhalten bei Patienten mit BPS sehr zuverlässig EDV-gestützt durch Medicare
dokumentiert und protokolliert. Um diese Ereignisse aufzufinden und auszuwerten,
wurden alle Eintragungen - wie beispielsweise von Pflegekräften, Psychologen,
Ärzten und Ergotherapeuten - während des gesamten Indexaufenthaltes
durchgelesen. Wurde ein passender Eintrag gefunden, so wurde auf dem
Datenblatt sowohl der Tag als auch die Uhrzeit der Eintragung festgehalten.
Hierdurch ist ein erneutes Auffinden des Ereignisses garantiert. Zudem wurde
ausgerechnet, wie viele Tage seit dem ersten Tag der Aufnahme bereits
vergangen waren. Diese Summe der Tage wurde dann ebenfalls auf dem
Datenblatt festgehalten.
Rubrik suizidales Verhalten
Das suizidale Verhalten wurde in folgende Sparten untergliedert:

Suizidversuch: Erfasst, ob es während des Indexaufenthaltes zu einem
Suizidversuch gekommen war.

Direkte Suizidankündigung: Unter diese Rubrik fallen beispielsweise vom
Patienten konkret geäußerte Suizidgedanken oder auch feste Suizidpläne
sowie klare Äußerungen bezüglich Suizid oder das Verfassen eines
Abschiedsbriefes.

Indirekte Suizidankündigung: Hier kommt es nicht zu einer klaren
Suizidäußerung oder zu konkreten Plänen, vielmehr sind indirekte suizidale
Handlungen und Äußerungen erkennbar. Beispielsweise der Aufenthalt an
Bahngleisen mit dem Kommentar „Macht Euch um mich keine Gedanken
mehr“ oder das Verschenken von Wertgegenständen können auch als
solche gewertet werden. Ein weiterer Vorfall, welcher als indirekte
Suizidankündigung gewertet wurde, war das Erscheinen einer stationären
Patientin nachts im Stationszimmer. Diese übergab dem Pflegepersonal
einen Seidenschal mit der Äußerung, dass diese ihn doch besser an sich
nehmen sollen.

Hochrisikoverhalten / suizidales Verhalten: Eine Schädigung der eigenen
Gesundheit oder auch der Tod werden im Rahmen des Verhaltens in Kauf
genommen. Beispiele: Fahren eines PKW ohne gültige Fahrerlaubnis, mit
deutlich überhöhter Geschwindigkeit oder bei roter Ampel über die
Material und Methoden
Straßenkreuzung.
32
Dies
geschieht
meist
im
Zusammenhang
mit
Alkoholabusus und anderen das Bewusstsein beeinflussenden Substanzen.
Wichtig hierbei war, dass dies im Kontext mit suizidalem Verhalten geschah
und nicht als eine Form des selbstverletzenden Verhaltens durchgeführt
wurde. Bei Unklarheit wurde mit einem
Facharzt für Psychiatrie
Rücksprache gehalten.
Analog zur Rubrik Selbstverletzungen wurden auch hier alle Einträge während des
gesamten Indexaufenthaltes durchgelesen. Wurde eine passende Eintragung
gefunden, so wurde auf dem Datenblatt sowohl der Tag, als auch die Uhrzeit des
Ereignisses festgehalten. Zudem wurde ausgerechnet, wie viele Tage seit dem
ersten Tag der Aufnahme bereits vergangen waren. Diese Summe der Tage
wurde dann ebenfalls auf dem Datenblatt notiert. Da das Thema Suizidalität sehr
ernst genommen wird, konnte von einer zuverlässigen Eintragung bei Medicare
ausgegangen werden.
Rubrik Vorgeschichte
In dieser Sparte wurde erfasst, was vor dem jeweiligen Indexaufenthalt an
Ereignissen stattgefunden hat. Die Tabelle wurde untergliedert in die Punkte:

Selbstverletzungen: Jegliches selbstverletzende Verhalten, was kein
Suizidversuch war.

Suizidversuch: Soll festhalten, ob es in der Vergangenheit des Patienten zu
Suizidversuchen gekommen war.

Risikoverhalten: Ein Verhalten, bei dem Schaden an der körperlichen
Gesundheit oder sogar ein letaler Ausgang in Kauf genommen wird.

Substanzmissbrauch:
Konsumieren
von
Substanzen
mit
potentiell
körperlich oder psychisch abhängig machender Wirkung, die illegal sind
oder die Gesundheit negativ beeinträchtigen: z.B. Alkohol, Drogen.
Bei den vier Punkten wurde des Weiteren berücksichtigt, wann diese im zeitlichen
Verhältnis vor dem jeweiligen Indexaufenthalt aufgetreten waren. Hierzu war eine
weitere Unterteilung der Tabelle nötig. Diese sollte widerspiegeln, ob die oben
genannten Punkte unmittelbar vor dem stationären Aufenthalt aufgetreten waren,
Material und Methoden
33
oder ob das Ereignis zeitlich bereits eine Weile zurücklag. Daher wurde die
Tabelle weiter unterteilt in:

Liftetime-Vorgeschichte: Erfassung der gesamten Lebensspanne des
Patienten von der Kindheit bis zu den letzten drei Tagen vor dem jeweiligen
Indexaufenthalt.

Bis zu drei Tage vor der Aufnahme: zur Dokumentation der 72 Stunden vor
der stationären Aufnahme.
Die Ergebnisse auf diese Fragestellungen wurden in Form einer KatalogAntwortmöglichkeit dokumentiert. Diese war nötig um eine Einheitlichkeit
herbeizuführen. Somit konnten anschließend bei der Auswertung bessere
Vergleiche gezogen werden. Festgelegt wurden diese Antwortmöglichkeiten:

Nein: Es ist in der Zeit vor dem Aufenthalt nie aufgetreten. Diese
Antwortmöglichkeit wurde gewählt, wenn dies in den Quellen konkret
ausgeschlossen wurde. Problematisch war, wenn keine genauen Angaben
zu den einzelnen Punkten zu eruieren waren. Dann stellte sich die Frage,
ob hier nichts genannt wurde, weil es zu keinem Vorfall in der
Vergangenheit kam, oder ob dies einfach vergessen wurde zu erfragen
beziehungsweise zu dokumentieren. Aus diesem Grund wurde die
Antwortmöglichkeit unklar (siehe unten) zusätzlich eingeführt. Allerdings
zeigte sich während der Datenerhebung, dass diese Kriterien doch sehr
zuverlässig abgeprüft wurden. Somit konnte davon ausgegangen werden,
dass bei nicht Erwähnen, auch kein Ereignis in der Vergangenheit
stattgefunden hat. Somit wurde dies als nein gewertet.

Einmalig: Es wurde eindeutig erwähnt, dass es genau einmal aufgetreten
war.

Mehrfach: Es kam mehr als ein Mal vor.

Unklar: Diese Antwortmöglichkeit wurde mit in den Katalog aufgenommen,
kam aber nie zur Anwendung.
Die Angaben zur Vorgeschichte des jeweiligen Patienten wurden überwiegend
anhand der Arztbriefe erhoben. Hierzu wurde als erstes der zum Aufenthalt
dazugehörige Entlassungsbrief gelesen. Besonderes Augenmerk wurde hier auf
den anamnestischen Teil gelegt. Konnten aus diesem keine ausreichenden
Material und Methoden
34
Angaben gewonnen werden, so wurden zusätzlich auch die Arztbriefe zu anderen
Aufenthalten ausgewertet. Hilfreich erwies sich in diesem Zusammenhang die
Suchfunktion des EDV-Programmes. Zu den jeweiligen vier Rubriken wurde unter
anderem mit Stichworten gesucht wie:

Selbstverletzung, SVV, schneiden, ritzen, Schnittverletzung, verletzen

Suizidversuch, umbringen, Handlung, antun

Risikoverhalten

Substanzmissbrauch, Drogen, Alkohol, THC, Kiffen, Sucht
2.7 Validierte Messinstrumente
Sowohl zur stationären Aufnahme als auch bei Entlassung wird bei jedem
Patienten der Gesundheitszustand anhand verschiedener Testverfahren /
Fragebögen erhoben. Hierdurch kann eine Aussage über die Schwere der
Erkrankung und den Verlauf während des Klinikaufenthaltes getroffen werden. Im
Rahmen der Datenerhebung wurde bei jedem der 87 Patienten sowohl bei Beginn
als auch bei Ende des Aufenthaltes der BDI (Beck Depressions Inventar), der
CGI-Wert (Clinical Global Impressions) und der SCL-90-R Wert (SymptomCheckliste) bestimmt.
2.7.1 Die Symptom-Checkliste SCL-90-R
Die Symptom-Checkliste SCL-90-R gehört zu den national und international
gebräuchlichen Selbstbeurteilungsinstrumenten. Bei dieser Art des Testverfahrens
muss sich die Person anhand der Fragen selbst einschätzen. Der Test kommt bei
Erwachsenen und Jugendlichen ab dem 12. Lebensjahr zum Einsatz und kann in
durchschnittlich 10 bis 15 Minuten bearbeitet werden. Er hat den Status eines
Standardinstruments erreicht und wird als Routineverfahren bei der Evaluation
ambulanter
und
stationärer
psychosozialer
Interventionen
oder
als
Screeninginstrument für psychische Störungen eingesetzt. Er dient der Erfassung
subjektiv empfundener Beeinträchtigung durch körperliche und psychische
Symptome innerhalb der letzten sieben Tage. Erfasst wird dies anhand von 90
Material und Methoden
Items,
welche
Depressivität,
die
35
Bereiche
Paranoides
Aggressivität/Feindseligkeit,
Denken,
Phobische
Angst,
Ängstlichkeit,
Psychotizismus,
Somatisierung, Unsicherheit im Sozialkontakt und Zwanghaftigkeit abdecken. Bei
diesen
90
Items
geben
drei
globale
Kennwerte
Auskunft
über
das
Antwortverhalten. Der wichtigste davon ist der GSI (Global Severity Index). Ihm
wird große Bedeutung beigemessen, da er die grundsätzliche psychische
Belastung misst. Durch den PSDI (Positive Symptom Distress Index) wird die
Intensität der Antworten gemessen und anhand der PST (Positive Symptom Total)
wird eine Auskunft über die Anzahl der Symptome gegeben, bei denen eine
Belastung vorliegt. Die Fragen zu diesen neun Skalen müssen anhand einer fünfstufigen Likertskala beantwortet werden, diese reicht von überhaupt nicht bis sehr
stark. Erfragt werden die Symptome der vergangenen sieben Tage. Hierdurch
ergänzen sich Verfahren zur Messung der zeitlich extrem variablen Befindlichkeit
und der zeitlich überdauernden Persönlichkeit. Anschließend wird der Test
ausgewertet und die Skalenrohwerte erhoben. Aus dem Jahr 2002 liegen
Normwerte für Jugendliche und Erwachsene getrennt nach Alter und Geschlecht
vor.
Anhand
dieser
Normstichproben
können
für
die
Normalpopulation
geschlechts-, alters- und bildungsabhängige T-Werte gebildet werden. Hierdurch
kann gruppenintern besser verglichen werden (Franke 2002, Glöckner-Rist et al.,
2011, Uhlmann et al., 2008).
2.7.2 Beck Depressions Inventar (BDI)
Der
BDI
gehört
zu
den
weltweit
am
häufigsten
eingesetzten
Selbstbeurteilungsinstrumenten zur Beurteilung der Depressionsschwere bei
Patienten
mit
dieser
Diagnose.
Des
Weiteren
eignet
er
sich
als
Screeninginstrument in der Bevölkerung. Zur Anwendung kommt er bei
Erwachsenen und Jugendlichen ab 13 Jahren und nimmt etwa 10 bis 15 Minuten
Bearbeitungszeit in Anspruch. Erhebungszeitraum sind die letzten zwei Wochen.
Der Fragebogen wurde in den 1960er Jahren von Dr. Aaron T. Beck entworfen
und seitdem mehrmals modifiziert. Der aktuell gängige BDI-II-Test (Beck et al.,
2006) setzt sich aus 21 Fragegruppen, bestehend aus meist vier abgestuften
Antwortmöglichkeiten, zusammen und ist durch aufsteigende Schwere der
Symptomatik
charakterisiert.
In
jeder
Rubrik
soll
der
Teilnehmer
die
Material und Methoden
36
Antwortmöglichkeit auswählen, die für ihn für die letzten zwei Wochen am
zutreffendsten ist. Zur Auswertung werden die einzelnen Werte addiert. Die
Durchführungs-,
Auswertungs- und Interpretationsobjektivität ist durch die
standardisierte Vorgabe und die Interpretation des Summenwertes gegeben
(Kühner et al., 2007).
2.7.3 Clinical Global Impressions (CGI)
Neben den Selbstbeurteilungsbögen wird auch von therapeutischer Seite der
Zustand des Patienten eingeschätzt und dokumentiert. Dies geschieht unter
anderem
durch
den
CGI
im
Rahmen
der
Basisdokumentation.
Diese
Fremdbeurteilung des klinischen Globaleindrucks beschreibt die Schwere der
psychischen Erkrankung eines Patienten. Der CGI wird durch zwei Bögen, sowohl
bei Beginn, in Form eines CGI-Aufnahme, als auch am Ende, durch den CGIEntlassung, erhoben. Hierbei wird der Schweregrad bei Aufnahme unterteilt in die
Rubriken 0 = nicht beurteilbar, 1 = nicht krank, 2 = Grenzfall psychischer
Erkrankung, 3 = leicht krank, 4 = mäßig krank, 5 = deutlich krank, 6 = schwer
krank und 7 = extrem schwer krank. Am Ende des Aufenthaltes wird die
Zustandsänderung erfasst. Hierbei bedeutet ein CGI-Wert von 0 = nicht
beurteilbar, 1 = Zustand ist sehr viel besser über 4 = Zustand ist unverändert bis 7
= Zustand ist sehr viel schlechter (Uhlmann et al., 2008).
Im Rahmen der Datenerhebung wurden für jeden der 87 Patienten die jeweiligen
Testergebnisse erhoben. Diese waren zum einen der BDI als auch der SCL-90-RWert in Form eines Selbstbeurteilungstests, als auch der CGI-Wert, welcher durch
den Therapeuten erhoben wurde. Der SCL-90-Wert wurde als Rohwert und als
Normwert erfasst. Dokumentiert wurden die Messwerte bei Aufnahme und am
Ende des stationären Aufenthaltes. Hierdurch konnte zum einen eine Aussage
darüber gemacht werden, wie der Krankheitszustand / Schweregrad bei
Therapiebeginn war. Zum anderen repräsentierte das Testergebnis am Ende des
Aufenthaltes den Therapieerfolg. Es wurde im Verhältnis zum Ausgangswert bei
Aufnahme betrachtet.
Material und Methoden
37
2.8 Statistik
Der deskriptive Ergebnisteil wurde mit dem PC Programm Excel ausgewertet. Die
Inferenzstatistik wurde mit dem Statistik-Programm Statistica erstellt. Hierbei
kamen für die Signifikanzberechnungen der t-Test für unverbundene Stichproben
sowie die Varianzanalyse mit Messwiederholung beziehungsweise der U-Test
nach Mann und Whitney und der Korrelationskoeffizient nach Spearman zur
Anwendung.
Die Ermittlung des Rangkoeffizienten nach Spearman eignet sich, wenn der
beobachtete Zusammenhang nicht linear, aber monoton ist. Das heißt, dass ein
monotoner Zusammenhang nicht unbedingt durch eine Gerade dargestellt wird,
sondern durch eine beliebige monotone Funktion f(x). Hierbei kommt es
beispielsweise bei einer Zunahme des Betrages x auch zu einem Anstieg bei f(x)
(bei gleichsinnigem Zusammenhang). Beim Spearman-Koeffizient werden nicht
die Originalmesswerte, sondern nur deren Rangzahlen berücksichtigt. Dieser
Rangkorrelationskoeffizient
ist
somit
robust
gegenüber
messtechnischen
Ausreißern. Er wurde zur Prüfung der Hypothesen 1a und 1b verwendet. Das
Signifikanzniveau wurde bei den Berechnungen auf p < 0.01 eher konservativ
gesetzt.
Der t-Test bezeichnet eine Gruppe von Hypothesentests mit t-verteilter
Testprüfgröße. Grob können hier der t-Test für eine Stichprobe, bei dem überprüft
wird,
ob
ein
Stichprobenmittelwert
mit
einem
vorgegebenen
Mittelwert
vereinbar/signifikant ist sowie der t-Test für zwei Stichproben unterschieden
werden. Bei letzterem kommt in der Regel der t-Test für zwei unverbundene
Stichproben zur Anwendung. Dabei werden die Mittelwerte zweier Stichproben
verglichen. Voraussetzung dafür ist Normalverteilung und Gleichheit der Varianz.
Bei unseren Berechnungen zur Prüfung der intervallskalierten Daten von
Hypothese 2 lag das Signifikanzniveau in einem Spektrum von p = 0.20 bis p =
0.70 somit war kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen zu
verzeichnen. Allerdings war einmalig mit einem p = 0.06 bei einer Berechnung ein
Trend zu erkennen.
Bei ordinalskalierten Daten werden Rangsummentests verwendet. Sie haben
schwächere Voraussetzung und benötigen beispielsweise keine Normalverteilung.
Material und Methoden
38
Den ordinalskalierten Werten jeder Stichprobe wird nach einer bestimmten
Vorschrift eine Rangzahl zugeteilt. Somit können dann Rangsummen berechnet
werden, aus welchen dann wiederum die Prüfgröße ermittelt wird. Die beiden
Rangreihen können so verglichen werden. Solch eine Alternative zum t-Test bildet
der U-Test von Mann und Whitney (Weiß et al., 2008). Bei Hypothese 1a zeigte
sich bei diesem Testverfahren mit einem p = 0.003 bei der einen und mit einem p
= 0.002 bei der anderem Messung ein hochsignifikanter Unterschied. Bei
Hypothese 2 war mit einem Spektrum von p = 0.20 bis p = 0.67 kein signifikanter
Unterschied zu verzeichnen.
Als weiteres Messinstrument kam mithilfe des Statistik-Programms Statistica eine
Varianzanalyse (ANOVA) mit Messwiederholung zur Anwendung. Im Gegensatz
zur MANOVA kommt diese 'analysis of variance' nur bei einem Faktor zur
Anwendung. Die unabhängigen Einflussvariablen werden in diesem Fall durch die
zwei Gruppen gebildet und sind somit nominalskaliert. Diesen werden als
abhängige Zielvariable die metrische Zufallsvariable zugeordnet. Diese abhängige
Variable enthält die Messwerte. Bei diesem Messverfahren soll überprüft werden,
ob die Varianz zwischen den Gruppen größer ist als innerhalb der einzelnen
Gruppen und ob diese sich somit signifikant unterscheiden. Bei der einfaktoriellen
Varianzanalyse mit Messwiederholung wird die abhängige Variable mehrfach bei
der gleichen Gruppe erhoben. Dies wurde im Zusammenhang mit dem stationären
Aufenthalt sowohl bei Aufnahme als auch bei Entlassung durchgeführt. Das
Signifikanzniveau lag bei p = 0.46 bei der einen und bei p = 0.06 bei der anderen
Rechnung.
39
3 Ergebnisse
3.1 Zusammensetzung des Patientenkollektivs
Untersucht wurden alle Patienten mit den Diagnosen F 61 und F 60.31, die in den
Jahren 2008 und 2009 auf einer spezifischen Krisenstation für BorderlinePatienten im ZfP Südwürttemberg in Weissenau stationär aufgenommen waren.
Hieraus ergab sich ein Patientenkollektiv, bestehend aus n = 87 Patienten. Wie
der Abbildung 4 zu entnehmen ist, setzte sich die Patientengruppe aus 11 Prozent
Männern (n = 10) und 89 Prozent Frauen (n = 77) zusammen.
Männer
11%
(n = 10)
Frauen
89%
(n = 77)
Abb. 4: Geschlechterverteilung der 87 stationären Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den
Jahren 2008 und 2009.
(n: Anzahl der Patienten)
In der Tabelle 5 ist zu erkennen, dass sich die Altersspanne von 20 bis 66 Jahre
erstreckt. Der Mittelwert lag bei 32,3 Jahren bei einer Standardabweichung von s
± 10,1 Jahren. In der Abbildung 5 wird anhand eines Boxplots zusätzlich der
Median von 30 Jahren und sowohl das erste Quartil mit 24 Jahren, als auch das
dritte Quartil mit 37 Jahren grafisch dargestellt.
Ergebnisse
40
Tab. 5: Altersverteilung der 87 stationären Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung
im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
Altersdurchschnitt
Alters-Median
Alter-Minimal
Alter-Maximum
Alter-Standardabweichung
Alter-1.Quartil
Alter-3.Quartil
1. Quartil = 24
Minimum = 20
15
25
32,3 Jahre
30 Jahre
20 Jahre
66 Jahre
10,1 Jahre
24 Jahre
37 Jahre
3. Quartil = 37
Median = 30
35
45
Maximum = 66
55
65
Abb. 5: Boxplot, Altersverteilung der 87 stationären Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den
Jahren 2008 und 2009.
Im Methodenteil wurden bereits die Kriterien beschrieben, nach denen bei jedem
Patienten der sogenannte Indexaufenthalt bestimmt wurde. Wie in Tabelle 6 zu
erkennen ist, lag die Aufenthaltsdauer auf Station während des Indexaufenthaltes
im Schnitt bei 40,3 Tagen, mit einer Standardabweichung von s ± 41,9 Tagen.
Unter den insgesamt n = 87 Aufenthalten war der längste Aufenthalt mit 196
Tagen und der kürzeste mit einem Tag zu verzeichnen. Zusätzlich ist in Abbildung
6 in Form eines Boxplots zum einen der Median mit 25 Tagen, als auch das erste
Quartil mit sieben Tagen, sowie das dritte Quartil mit 59,5 Tagen grafisch
dargestellt.
Ergebnisse
41
Tab. 6: Verteilung der Aufenthaltsdauer der 87 stationären Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den
Jahren 2008 und 2009.
Mittelwert
Median
Minimum
Maximum
Standardabweichung
1.Quartil
3. Quartil
Median = 25
Minimum = 1
1. Quartil = 7
0
40,3 Tage
25 Tage
1 Tag
196 Tage
41,9 Tage
7 Tage
59,5 Tage
50
Maximum = 196
3. Quartil = 59,5
100
150
200
Abb. 6: Boxplot, Verteilung der Aufenthaltsdauer der 87 stationären Patienten mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in
Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
Wie bereits im Methodenteil beschrieben, wurden alle relevanten stationären
Aufenthalte, seit dem Jahr 2000, ausgewertet. Wie man der Tabelle 7 entnehmen
kann, kam es gemittelt über alle n = 87 Patienten im Durchschnitt zu 3,4
Aufenthalten, die Standardabweichung lag hier bei s ± 3,8 Aufenthalten. Die
Spannweite erstreckte sich von einem bis zu maximal 27 Aufenthalten. In der
Abbildung 7 sind in Form eines Boxplots zusätzlich auch der Median mit zwei
Aufenthalten, sowie das erste Quartil mit einem und das dritte Quartil mit vier
Aufenthalten grafisch dargestellt.
Ergebnisse
42
Tab. 7: Verteilung der Anzahl an stationären Aufenthalte seit dem Jahr 2000. Das
Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im
Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau in den Jahren 2008 und 2009.
Mittelwert
Median
Minimum
Maximum
Standardabweichung
1. Quartil
3.Quartil
3,4 Aufenthalte
2 Aufenthalte
1 Aufenthalt
27 Aufenthalte
3,8 Aufenthalte
1 Aufenthalt
4 Aufenthalte
Minimum = 1
Median = 2
1. Quartil = 1
0
5
10
Maximum = 27
3.Quartil = 4
15
20
25
30
Abb. 7: Boxplot, Durchschnittliche Verteilung der stationären Aufenthalte seit dem Jahr
2000. Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau in den
Jahren 2008 und 2009.
Zur Definition des jeweiligen Indexaufenthalts kam den Suizidstufen maßgebliche
Bedeutung zu. Die Kriterien hierfür wurden im Methodenteil bereits erläutert. Die
prozentuale Verteilung der vier Suizidstufen ist der Abbildung 8 zu entnehmen.
Unter den 87 Patienten war bei etwa 44 Prozent (n = 38) die Suizidstufe 2 am
häufigsten für den Indexaufenthalt definierend, also die am höchsten erreichte
Suizidstufe während des Indexaufenthaltes. Gefolgt von Suizidstufe 3 mit 30
Prozent (n = 26). Suizidstufe 1 wurde bei 16 Prozent (n = 14) und Suizidstufe 4 bei
10 Prozent (n = 9) der Patienten vergeben.
Ergebnisse
43
Suizidstufe 4
10%
(n = 9)
Suizidstufe 1
16%
(n = 14)
Suizidstufe 3
30%
(n = 26)
Suizidstufe 2
44%
(n = 38)
Abb. 8: Verteilung der vier Suizidstufen unter den 87 stationären Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den
Jahren 2008 und 2009. Hierbei stellt Suizidstufe 1 das niedrigste und Suizidstufe 4 das
höchste Level dar.
(n: Anzahl der Patienten)
Zur Einschätzung der Schwere der psychischen Erkrankung dient unter anderem
der CGI-Wert. Dieser wird als Fremdbeurteilungstest durch den Therapeuten
sowohl am Anfang in Form einer CGI-Aufnahme, als auch am Ende des jeweiligen
Aufenthalts als CGI-Entlassung erhoben. Zu bemerken ist, dass diese zwei
Beurteilungsbögen
unabhängig
voneinander
sind,
also
zwei
voneinander
getrennte Testbögen darstellen. Durch den CGI-Wert konnte eine weitere
Charakterisierung des Patientenkollektives vorgenommen werden.
Die folgende Abbildung 9 zeigt den CGI-Wert der Patienten bei Aufnahme. Von
den n = 87 Patienten waren n = 2 nur leicht krank, weitere n = 8 wurden als mäßig
krank eingestuft. Die meisten Patienten (n = 34) erreichten den Skalenwert
deutlich krank, gefolgt von n = 30, die als schwer krank eingestuft zur stationären
Aufnahme kamen. Als extrem schwer krank wurden von den Therapeuten n = 6
Patienten klassifiziert. Ein Patient war nicht beurteilbar und bei weiteren n = 6
Patienten wurden keine Angaben gemacht.
Ergebnisse
44
40
n = 34
Anzahl der Patienten
35
n = 30
30
25
20
15
n=8
10
5
n=1
n=0
n=0
n=6
n=6
n=2
0
Abb. 9: CGI-Wert bei stationärer Aufnahme, Fremdbeurteilung der Schwere der psychischen
Erkrankung durch den Therapeuten. Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten
mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in
Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
(CGI: Clinical Global Impression, n: Anzahl der Patienten)
Standardmäßig wird bei Entlassung des Patienten die jeweilige Zustandsänderung
durch den Therapeuten eingeschätzt. Hierdurch wird eine Aussage über den
Therapieerfolg getroffen. Die verhältnismäßige Verteilung ist der Abbildung 10 zu
entnehmen. Nach dieser Fremdbeurteilung wurden n = 6 Patienten mit dem
Zustand ist sehr viel besser entlassen. Von den n = 87 Patienten war bei n = 33
der Zustand viel besser. Am häufigsten war mit n = 35 Patienten die Rubrik
Zustand ist nur wenig besser vertreten. Bei n = 6 Patienten war der Zustand
unverändert, bei weiteren n = 6 Patienten konnte kein Zustand erhoben werden.
Bei n = 1 Patienten hatte sich der Zustand sogar etwas verschlechtert.
Ergebnisse
45
40
n = 35
Anzahl der Patienten
35
n = 33
30
25
20
15
10
n=6
n=6
n=6
5
n=1
n=0
n=0
0
1) Zustand 2) Zustand 3) Zustand 4) Zustand 5) Zustand 6) Zustand 7) Zustand
ist sehr viel
ist viel
ist nur
ist
ist etwas
ist
ist sehr viel
besser
besser
wenig
unverändert schlechter schlechter schlechter
besser
Zustand
nicht
erhoben
Abb. 10: CGI-Wert bei Entlassung vom stationären Aufenthalt, Fremdbeurteilung der
Schwere der psychischen Erkrankung durch den Therapeuten. Das Patientenkollektiv
bildeten 87 stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für
Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
(CGI: Clinical Global Impression, n: Anzahl der Patienten)
Des Weiteren wurde der psychische Zustand auch anhand des BDI erfasst. Dies
geschah allerdings nicht bei allen Patienten des Kollektivs. In der Summe konnten
für die Aufnahme bei n = 64 und für die Entlassung bei n = 49 Patienten Werte
erhoben werden. In der Tabelle 8 wird der BDI Summenwert bei Aufnahme dem
bei
Entlassung
gegenübergestellt.
Somit
können
Durchschnittswert
mit
Standardabweichung, Minimum, Maximum, Median und Quartile verglichen
werden.
Ergebnisse
46
Tab. 8: Gegenüberstellung des BDI Summenwertes bei Aufnahme und bei Entlassung. Das
Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im
Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009. Zur
Auswertung kamen bei Aufnahme 64 und bei Entlassung 49 Patienten.
(BDI: Beck Depressions Inventar)
Durchschnitt
Standardabweichung
Median
Minimum
Maximum
1. Quartil
3. Quartil
BDI
BDI
Aufnahme Entlassung
30,35
19,61
12,44
11,59
32
20
4
0
55,6
39,9
20,75
8
39
28,4
Auch beim SCL-90-R T-Wert - Global Severity Index (GSI) - gab es für die
Aufnahme bei n = 64 Patienten und für die Entlassung bei n = 49 Patienten
Angaben.
Aus diesen Werten
wurde
jeweils der Durchschnittswert mit
Standardabweichung, Minimum, Maximum, Median und Quartile gebildet. In der
Tabelle 9 sind diese Werte abgebildet und gegenübergestellt.
Tab. 9: Gegenüberstellung des SCL-90-R T-Wertes (GSI) bei Aufnahme und bei Entlassung.
Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den
Jahren 2008 und 2009. Zur Auswertung kamen bei Aufnahme 64 und bei Entlassung 49
Patienten.
(SCL-90-R T-Wert/GSI: Symptom-Checkliste / Global Severity Index)
Durchschnitt
Standardabweichung
Median
Minimum
Maximum
1. Quartil
3. Quartil
SCL-90-R
SCL-90-R
T-Wert/GSI T-Wert/GSI
Aufnahme Entlassung
71,36
62,80
7,91
11,14
71
63
52
35
80
80
67
57
80
69
Ergebnisse
47
3.2 Selbstverletzendes Verhalten während des
Indexaufenthaltes
Wie der Abbildung 11 zu entnehmen ist, zeigten von den n = 87 stationären
Borderline-Patienten 38 Prozent (n = 33) mindestens einmal während des
Aufenthaltes eine selbstverletzende Handlung. Bei den anderen 62 Prozent (n =
54) der Patienten war während des Indexaufenthaltes kein selbstverletzendes
Verhalten in Erfahrung zu bringen.
SVV ist
aufgetreten
38%
(n = 33)
SVV nicht
aufgetreten
62%
(n = 54)
Abb. 11: Verteilung der Patienten mit beziehungsweise ohne selbstverletzendem Verhalten
während des Indexaufenthaltes. Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in
Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
(n: Anzahl der Patienten, SVV: selbstverletzendes Verhalten)
Unter der Gruppe der Patienten mit selbstverletzendem Verhalten wurden diese
Handlungen auf verschiedene Weise und in unterschiedlicher Häufigkeit
praktiziert. Die gängigsten autoaggressiven Handlungen wurden hierbei in Form
einer Katalogauswahl dokumentiert. Der Rest wurde unter der Rubrik sonstiges
zusammengefasst und auf dem Datenblatt stichwortartig beschrieben.
Im Folgenden soll zuerst die Verteilung der unterschiedlichen Methoden des
selbstverletzenden Verhaltens dargestellt werden. Bei einem Patienten kann es
während
seines
stationären
Aufenthaltes
zu
mehreren
Arten
des
selbstverletzenden Verhaltens kommen. So kann er sich beispielsweise durch
Ergebnisse
48
Schneiden oder auch durch Brennen selbst verletzen. In der Abbildung 12 soll
dies getrennt voneinander dargestellt und betrachtet werden, also jede Qualität
des selbstverletzenden Verhaltens für sich alleine zur Wertung kommen.
Insgesamt zeigte das Patientenkollektiv eine Anzahl von n = 54 selbstverletzenden
Handlungen. Hierbei war das Schneiden beziehungsweise Ritzen mit scharfen
Gegenständen mit 50 Prozent (n = 27) die häufigste Methode. Gefolgt von
Alkoholkonsum im Rahmen des selbstverletzenden Verhaltens mit 18 Prozent (n =
10). Eher seltener waren die Rubriken Wunde manipulieren (9 Prozent, n = 5),
Kratzen (6 Prozent, n = 3) und Brennen (4 Prozent, n = 2) aufgetreten. Unter der
Rubrik sonstiges wurden 13 Prozent (n = 7) der selbstverletzenden Handlungen
zusammengefasst. Hier wurden die Punkte Abreißen von Fingernägeln, Hand
beziehungsweise Kopf gegen die Wand schlagen, schädliches Essverhalten,
Inhalation von Deospray und Nagellack, Herbeiführen von Erbrechen, Unterlassen
der Einnahme von wichtigen und indizierten Medikamenten zusammengefasst.
sonstiges
13%
(n = 7)
Alkohol
18%
(n = 10)
Schneiden
50%
(n = 27)
Wunde manip.
9%
(n = 5)
Kratzen
6%
(n = 3)
Brennen
4%
(n = 2)
Abb. 12: Prozentuale Verteilung der verschiedenen Arten an selbstverletzenden Handlungen
während des Indexaufenthaltes. Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in
Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
(n: Anzahl der Patienten)
Ergebnisse
49
Des Weiteren kann die Anzahl der jeweiligen selbstverletzenden Handlungen auch
patientenbezogen betrachtet werden, dies soll in Abbildung 13 dargestellt werden.
So wurde in der Gruppe der Patienten, die während des Indexaufenthaltes
selbstverletzendes Verhalten zeigten (n = 33), das Schneiden von 82 Prozent (n =
27) als selbstschädigender Akt praktiziert. Alkoholkonsum im Rahmen des
selbstverletzenden Verhaltens ist mit 30 Prozent (n = 10) an zweiter Stelle zu
finden. An alten Wunden manipulieren (15 Prozent, n = 5), Kratzen (9 Prozent, n =
3), brennen mit heißen Gegenständen (6 Prozent, n = 2) waren dagegen weniger
häufig aufgetreten. Darüber hinaus kam es bei 21 Prozent (n = 7) der Patienten zu
Selbstverletzungen, die unter der Rubrik sonstiges zusammengefasst wurden.
100
90
82 %
(n = 27)
80
Prozent
70
60
50
30 %
(n = 10)
40
30
20
6%
(n = 2)
10
9%
(n = 3)
15 %
( n = 5)
21 %
(n = 7)
0
Schneiden Brennen
Kratzen
Wunde
manip.
Alkohol
sonstiges
Abb. 13: Prozentuale Verteilung der Arten an Selbstschädigung unter den Patienten mit
selbstverletzendem Verhalten (n = 33). Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre
Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie
Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
(n: Anzahl der Patienten)
Um
eine
Aussage
über
Häufigkeit
und
zeitliches
Vorkommen
des
selbstverletzenden Verhaltens während des stationären Aufenthalts treffen zu
können, wurde zu jedem selbstschädigenden Ereignis der Aufenthaltstag
dokumentiert. Jeder Aufenthalt wurde zeitlich in Quartale unterteilt. Die Abbildung
Ergebnisse
50
14 nimmt Bezug auf die Patientengruppe mit selbstverletzendem Verhalten
während
des
Indexaufenthaltes.
Es
werden
sowohl
die
Häufigkeit
der
Selbstverletzungen als auch die Anzahl der Patienten dargestellt - jeweils bezogen
auf
ein
Quartal
des
Aufenthaltes.
Es
lässt
sich
erkennen,
dass
die
Häufigkeitsverteilung der Patienten mit selbstverletzendem Verhalten über den
gesamten Aufenthalt annähernd gleich bleibt. Im ersten (Q1) sowie im zweiten
(Q2) Quartal zeigten jeweils 15 Prozent (n = 13) der Patienten selbstverletzendes
Verhalten. Auch im letzten Viertel (Q4) kam es bei annähernd gleicher
Patientenzahl (16 Prozent, n = 14) zu sich selbst verletzenden Handlungen.
Lediglich im vorletzten Quartal Q3 war eine verhältnismäßig höhere Patientenzahl
(21 Prozent, n = 18) selbstverletzend.
Des Weiteren wird in der Abbildung 14 die zeitliche Verteilung der Anzahl an
selbstverletzenden
Indexaufenthaltes
Handlungen
wird
die
ersichtlich.
Summe
der
Für
jedes
Ereignisse
für
Quartal
das
des
gesamte
Patientenkollektiv aufgetragen. Auch hier kommt es zu einer annähernd gleichen
Verteilung der Häufigkeiten über alle vier Quartale. Im ersten Viertel (Q1) des
Aufenthalts waren mit 31 die meisten Verletzungen zu verzeichnen, hingegen war
die Summe im zweiten Quartal (Q2), mit 24 selbstverletzenden Handlungen, am
geringsten. Die letzten beiden Quartale Q3 und Q4 lagen dazwischen mit jeweils
29 und 27 selbstverletzenden Handlungen.
Anzahl der Patienten bzw. des SVV
Ergebnisse
51
35
31
29
30
27
24
25
n = 18
(21 %)
20
15
n = 13
(15 %)
n = 13
(15 %)
SVV Ges. Q1
SVV Ges. Q2
n = 14
(16 %)
10
5
0
Anzahl der Patienten mit SVV
SVV Ges. Q3
SVV Ges. Q4
Anzahl der selbstverletzenden Handlungen
Abb. 14: Selbstverletzendes Verhalten in zeitlichem Bezug während des Indexaufenthaltes.
Darstellung sowohl der Patientenzahl mit selbstverletzendem Verhalten als auch der
Summe aller selbstverletzenden Handlungen im jeweiligen Aufenthaltsquartal (Q1 bis Q4).
Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den
Jahren 2008 und 2009.
(n: Anzahl der Patienten, SVV: selbstverletzendes Verhalten)
Bei dieser Darstellung ist allerdings auch die Problematik von möglichen
Untergruppen
zu
berücksichtigen.
Bei
den
Patienten
könnten
diese
selbstverletzenden Handlungen zeitlich inhomogen auftreten. Beispielsweise
könnte es eine Gruppe geben, die diese Handlungen tendenziell zu Beginn des
Aufenthalts zeigt. Dieser würde dann eine Gruppe gegenüberstehen, die
dahingehend eher gegen Ende des stationären Aufenthaltes auffällig wird. Würde
aus diesen Untergruppen fälschlicherweise eine gemeinsame Gruppe gebildet
werden, so würde dies ebenfalls zu dem obigen, annähernd homogen verteilten
Diagramm führen. Vor diesem Hintergrund wurde eine weitere Analyse der
Patienten mit selbstverletzendem Verhalten auf die Bildung von Untergruppen
durchgeführt. Hier wurde bei jedem Patienten der Tag berücksichtigt, an dem das
selbstverletzende Verhalten während des Aufenthaltes das erste Mal aufgetreten
war. In Abbildung 15 ist auf der Abszissenachse die Gesamtzahl der
Aufenthaltstage aufgetragen. Der erste Tag des selbstverletzenden Verhaltens
wurde auf der Ordinatenachse dargestellt. In dieser Grafik erkennt man eine
zufällige Verteilung der Punkte. Insbesondere ist keine Clusterbildung erkennbar,
was für eine Gruppenbildung sprechen würde.
Ergebnisse
52
Tag der 1. Selbstverletzung während Aufenthalt
120
100
80
60
40
20
0
-20
-20
0
20
40
60
80
100
120
140
160
180
Aufenthaltsdauer in Tagen
Abb. 15: Darstellung des Auftretens der ersten selbstverletzenden Handlung im zeitlichen
Verlauf des stationären Aufenthaltes. Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten
mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in
Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
3.3 Suizidales Verhalten während des Indexaufenthaltes
Während der stationären Aufenthalte kam es bei den n = 87 Patienten zu
insgesamt 35 suizidalen Handlungen. Ein konkreter Suizidversuch wurde von
sieben Patienten unternommen. In der Summe konnte bei 16 Patienten eine
Suizidankündigung eruiert werden, dies geschah bei neun Patienten durch eine
direkte und bei sieben in Form einer indirekten Suizidankündigung. Ein Hochrisikobzw. suizidales Verhalten wurde zwölf Mal erhoben. Dargestellt wird dies in der
Abbildung 16.
Ergebnisse
53
Anzahl der Personen mit suizidalen
Hanlungen
14
n = 12
12
10
8
n=9
n=7
n=7
6
4
2
0
Suizidversuche
direkte
Suizidankündigung
indirekte
Suizidankündigung
Hochrisiko-/suizidales
Verhalten
Abb. 16: Häufigkeit des suizidalen Verhaltens während des stationären Aufenthaltes. Das
Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im
Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
(n: Anzahl der Patienten)
Aufgrund der geringen Anzahl an suizidalen Verhaltensweisen wurde auf eine
quantitative Analyse verzichtet und die Vorfälle qualitativ ausgewertet. Im
Folgenden sollen die wesentlichen suizidalen Ereignisse kurz vorgestellt werden.
Hierbei soll insbesondere aufgezeigt werden, in welcher Weise eine indirekte oder
direkte
Suizidankündigung
stattgefunden
hatte,
wie
Hochrisikoverhalten
beziehungsweise suizidales Verhalten praktiziert und Suizidversuche ausgeübt
wurden.
Zusammenfassung der Patienten mit Suizidversuchen
Unter dem Kollektiv von 87 Patienten kam es während der zwei Jahre bei
insgesamt sieben zu Suizidversuchen. Hierunter war ein männlicher Patient, der
sich während eines Ausgangs von Station zuhause erhängen wollte. Der Konsum
großer Mengen an Alkohol und eine körperliche Auseinandersetzung gingen dem
voraus. Das verwendete Kabel hielt allerdings seinem Körpergewicht nicht stand
und war gerissen. Nach diesem missglückten Versuch hatte er sich multiple
Schnittverletzungen zugefügt. Die anderen sechs Patienten, bei denen ein
Ergebnisse
54
Suizidversuch vorgekommen war, waren allesamt weiblich. Eine Patientin wollte
sich vor den Zug werfen und ihrem Leben so ein Ende setzen. Auf gleiche Weise
wollte sich auch eine weitere Patientin suizidieren. Sie wurde von der Polizei auf
die Station zurückgebracht, nachdem sie sich auf die Schienen gelegt hatte. Bei
dieser Patientin kam es während desselben Aufenthaltes noch zu einem weiteren
Suizidversuch. Zu Beginn hatte sie in suizidaler Absicht 60 Tabletten Zopiclon
eingenommen und musste daher kurzzeitig in ein Akutkrankenhaus überwiesen
werden. Bei den restlichen Suizidversuchen handelte es sich ebenfalls um
Medikamentenintoxikationen. Dies bedeutete bei einer Patientin die Einnahme von
10 Tabletten Dimenhydrinat (Vomacur®). Eine weitere Patientin sammelte über
einen längeren Zeitraum Medikamente. In suizidaler Absicht löste sie dann zehn
Tabletten Aspirin in einem Becher auf und trank diesen zusammen mit dem
gesammelten Chlorprothixen (Truxal®). Eine weitere Patientin nahm in suizidaler
Absicht zehn Tabletten à 200 mg Quetiapin (Seroquel®) und fügte sich in diesem
Zusammenhang mit einer Rasierklinge Verletzungen am Unterarm zu. Bei einer
anderen Patientin konnte der Wirkstoff nicht erfasst werden, da in der
Patientenakte nur von "einer Tabletteneinnahme in suizidaler Absicht" die Rede
war. All diesen Patienten war gemeinsam, dass dem jeweiligen Aufenthalt schon
einige
stationäre
vorausgingen
-
Aufenthalte
die
im
Spannbreite
Zusammenhang
bewegte
sich
mit
ihrer
zwischen
Erkrankung
drei
und
17
Voraufenthalten (4, 4, 3, 9, 5, 17, 3). Die Aufenthaltsdauer war auch relativ lange
und bewegte sich im zeitlichen Rahmen zwischen 90 und 139 Tagen (127, 139,
90, 129, 112, 32, 100). Nur ein Aufenthalt war mit einer Dauer von 32 Tagen
kürzer, was jedoch damit zusammenhing, dass der Patient in ein Akutkrankenhaus
verlegt wurde. Bei jedem dieser sieben Patienten war auch ein selbstverletzendes
Verhalten während des Aufenthaltes aufgetreten, welches oft in direktem
Zusammenhang mit dem suizidalen Ereignis stand. Bis auf einen Patienten war
bei allen in der Vorgeschichte mindestens ein Suizidversuch in Erfahrung zu
bringen, von der Methode ähnelte dieser sehr dem Versuch, der während des
Aufenthaltes praktiziert wurde. Bei fünf dieser Patienten war ein regelmäßig
praktizierter Substanzmissbrauch zu finden. Dieser hatte oft auch in den Tagen
vor Aufnahme stattgefunden. Hier standen vor allem ein Alkohol- und
Medikamentenabusus, sowie der Konsum von Tetrahydrocannabinol und anderen
Drogen im Vordergrund.
Ergebnisse
55
Zusammenfassung der Patienten mit direkter Suizidankündigung
Für die Jahre 2008 und 2009 konnte im Rahmen der retrospektiven
Datenerhebung bei insgesamt 16 Patienten eine Suizidankündigung eruiert
werden. Bei neun Patienten wurden diese Vorhaben in Form einer direkten, also
klar geäußerten Weise offenbart. Diese Patienten waren ausschließlich weiblich
und bei fünf folgte dann auch ein Suizidversuch während des Aufenthaltes. Bei
den meisten dieser neun Patientinnen waren in der Anamnese neben
selbstverletzendem Verhalten
und
mehrfachem
Substanzmissbrauch
auch
zahlreiche Suizidversuche vor dem stationären Aufenthalt in Erfahrung zu bringen.
Als direkte Suizidankündigung wurden beispielsweise die konkreten Pläne einer
50-jährigen Patientin gewertet. Sie habe genaue Vorstellungen, wie sie vermeiden
könne einen bestimmten Tag, ihren Geburtstag, noch zu erleben. Sie wolle mit
dem Zug irgendwohin fahren und sich dann das Leben nehmen. Speziell an
diesem Tag fühle sie sich als Versagerin. Des Weiteren sei sie auch im Begriff
eine Tasse zu zerschlagen und sich dann mit den Scherben die Halsschlagadern
aufzuschneiden. Eine andere Patientin erzählte den Therapeuten, dass ihr
momentan "alles egal" sei und sie "keine Perspektive" mehr habe. Heute
Vormittag wollte sie in einen vorbeifahrenden LKW laufen, sei aber durch
Mitpatienten zurückgehalten worden. Auch sei sie bereits auf einer Brücke
gestanden, in der Absicht von dieser zu springen. Eine weitere Patientin
offenbarte ebenfalls ihre Suizidideen. Sie habe klare Vorstellungen von der
Durchführung. So wolle sie mit dem PKW zu einem Kletterturm fahren und dort mit
einem Strick um den Hals herunterspringen. Zusätzlich wolle sie sich einen
Nikotintee
machen.
Eine
weitere
Patientin
berichtete
nach
ihrem
Wochenendurlaub von massiven nächtlichen Angstzuständen in ihrer Wohnung.
Daraufhin habe sie sich verbarrikadiert. In den Morgenstunden hätte sie den
Entschluss gefasst, sich zu suizidieren. Dazu habe sie alle Medikamente und
Rasierklingen zusammengesucht und ausgebreitet. Eine andere Patientin
verschickte über Tage hinweg Abschiedsbriefe, in denen sie ihren Suizid
ankündigte.
Ergebnisse
56
Zusammenfassung der Patienten mit indirekter Suizidankündigung
Neben den direkten Suizidankündigungen ergab sich auch bei sieben Patienten
eine Suizidankündigung in indirekter Weise. Hierzu zählte zum Beispiel die
Äußerung einer Patientin, die dem Therapeuten auf dem Bett sitzend mitteilte,
dass es ihr am liebsten wäre einfach einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.
Etwa zwei Wochen später beging sie einen Suizidversuch. Eine andere Patientin
äußerte gegenüber den Therapeuten, dass sie das Gefühl habe, sich von vielen
Dingen verabschieden zu müssen. Des Weiteren habe sie den Wunsch zum
Bahnhof zu gehen. Dies wurde ebenfalls als indirekte Suizidankündigung
gewertet. Auch bei dieser Patientin kam es zu einem Suizidversuch während des
stationären Aufenthaltes. Eine weitere Patientin kam zurück auf Station und hatte
sich während ihres Ausgangs mit einer Rasierklinge viele Schnitte am Unterarm
zugefügt. Auf Nachfrage antwortete sie, jetzt nicht mehr im Besitz der Klinge zu
sein. Sie sei an den Bahngleisen spazieren gegangen. Der Grund hierfür sei, dass
sie das Gefühl habe, man wolle sie los werden. Auch diese Patientin unternahm
einen Suizidversuch. Als weitere indirekte Suizidankündigung wurde das
Verhalten einer Patientin gewertet, die zusammengekauert im Bett lag. Auf
Nachfrage erwiderte diese, sie habe eine Rasierklinge im Bett und wolle sich mit
dieser die Pulsadern aufschneiden. Des Weiteren suchte eine andere Patientin
nachts in Straßenkleidung das Stationszimmer auf und klopfte an die Tür. Sie
überreichte der Pflegekraft ein Seidentuch mit den Worten: "Macht euch um mich
keine Sorgen mehr". Auch dies wurde als indirekte Suizidankündigung gewertet,
weil es bei dieser Patientin wegen eines missglückten Suizidversuchs Strangulation mittels eines dünnen Stricks - zur stationären Aufnahme kam. Ein
männlicher Patient, bei dem eine indirekte Suizidankündigung in Erfahrung zu
bringen war, kam von der Ergotherapie zurück auf Station. Von den Therapeuten
wird er als emotional sehr erregt beschrieben - hochrotes Gesicht, weinend,
angespannt und mit geballten Fäusten. Er sagt, dass er in der Ergotherapie ein
spitzes Messer gesehen und sofort Suizidgedanken gehabt habe. Während er
dies erzählt, weint er und klopft mit der Faust gegen seinen Kopf. Außerdem sagt
er, dass er mit dem Gedanken spiele alles abzubrechen und abzuhauen. Auch
habe er sich heute Morgen nicht rasiert, weil er nicht versprechen könne, sich
nicht zu verletzen.
Ergebnisse
57
Zusammenfassung
der
Patienten
mit
Hochrisikoverhalten/suizidalem
Verhalten
Exemplarisch soll hier das risikoreiche Fahrverhalten einer weiblichen Patientin
genannt werden. Bei ihr kam es während des Ausgangs zu riskantem
Fahrverhalten, wie zum Beispiel dem Überqueren von roten Verkehrsampeln und
dem
unangeschnallten
Fahren
mit
überhöhter
Geschwindigkeit.
Solch
rücksichtsloses Fahrverhalten war auch bei mehreren anderen Patienten zu
finden. Ebenfalls als Hochrisikoverhalten wurde bei einem anderen Patienten das
'Spazierengehen auf der Bundesstraße' gewertet. Als suizidales Verhalten wurde
bei einer weiteren Patientin gewertet, dass sie sich im Bereich beider
Handgelenke
Schnittverletzungen
zufügte.
Auch
bei
ihr
waren
in
der
Vorgeschichte mehrere Suizidversuche in Erfahrung zu bringen. Eine andere
Patientin weihte zwei Mitpatientinnen in ihre suizidalen Pläne und Gedanken ein.
Gegenüber den Therapeuten räumte sie dann ein, dass sie für die kommende
Woche ihren Suizid geplant habe. Als Mittel zum Zweck sammelte sie
Bastelschnüre. Auch dies wurde als suizidales Verhalten gewertet, genauso wie
das Verhalten bei folgender Patientin. Diese klagte über massive Suizidgedanken
in den letzten Tagen. Sie meinte, dass ihr nur noch ein Strick helfen könne. Auf
Nachfrage räumte sie ein, bereits ein Telefonkabel an sich genommen zu haben.
In der Anamnese wird von diversen Suizidversuchen berichtet, wie zum Beispiel
die Strangulation durch ein Kleidungsstück.
3.4 Situation der Patienten vor Aufnahme
Durch Lesen der Arztbriefe und Auswertung der elektronischen Patientenakte
Medicare konnten mehrere Aussagen zu den einzelnen Patienten vor dem
jeweiligen stationären Aufenthalt getroffen werden. Die Dokumentation wurde
unterteilt einerseits in die letzten drei Tage (72 Stunden) vor Aufnahme und
andererseits in den Zeitraum bis drei Tage vor Aufnahme, was somit der
gesamten Lebenszeit gleichgesetzt werden kann. Ausgewertet wurden die drei
Rubriken selbstverletzendes Verhalten, Suizidversuch und Substanzmissbrauch.
Ergebnisse
58
3.4.1 Selbstverletzendes Verhalten
Wie in der Abbildung 17 ersichtlich, zeigte sich in den drei Tagen vor der
jeweiligen stationären Aufnahme bei 70 Prozent (n = 61) der Patienten kein
selbstverletzendes Verhalten. Bei 20 Prozent (n = 17) kam es in diesen 72
Stunden einmalig und bei 10 Prozent (n = 9) mehrfach zu gegen sich selbst
gerichteten, verletzenden Handlungen.
In der Zeit davor, also der gesamten Lebenszeit, waren bei 14 Prozent (n = 12)
der Patienten keine selbstverletzenden Handlungen zu eruieren. Einmalig kamen
diese bei 2 Prozent (n = 2) und mehrfach bei 84 Prozent (n = 73) der Patienten
vor.
90
n = 73
(84 %)
Anzahl der Patienten
80
70
n = 61
(70 %)
60
50
40
30
20
n = 12
(14 %)
n = 17
(20 %)
n=2
(2 %)
10
n=9
(10 %)
0
KEIN SVV
EINMALIG SVV
3 Tage vor Aufnahme
MEHRFACH SVV
Lebenszeit
Abb. 17: Selbstverletzendes Verhalten in der Zeit vor dem jeweiligen stationären Aufenthalt.
Zeitlich unterteilt in drei Tage vor Aufnahme und der Zeit davor, also der Lebenszeit. Jeweils
unterteilt in kein, einmaliges und mehrfaches selbstverletzendes Verhalten. Das
Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im
Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
(n: Anzahl der Patienten, SVV: selbstverletzendes Verhalten)
Ergebnisse
59
3.4.2 Suizidversuch
Wie in der Abbildung 18 dargestellt, zeigten in den drei Tagen vor dem
Indexaufenthalt insgesamt 9 Prozent (n = 8) der Patienten ein suizidales Verhalten
in Form eines Suizidversuches. Davon begingen 7 Prozent (n = 6) einen
Suizidversuch und bei 2 Prozent (n = 2) kam es sogar zu mehreren Versuchen.
Bei den restlichen 91 Prozent (n = 79) der Patienten kam es in den letzten 72
Stunden vor Aufnahme zu keinem Suizidversuch.
Anders verhielt es sich in der Lebenszeit, also der Zeitspanne bis drei Tage vor
Aufnahme. Hier war bei 40 Prozent (n = 35) der Patienten kein Suizidversuch in
Erfahrung zu bringen. Jedoch begingen 16 Prozent (n = 14) der Patienten einmalig
und 44 Prozent (n = 38) sogar mehrfach einen Suizidversuch.
90
Anzahl der Patienten
80
n = 79
91 %
70
60
50
40
n = 38
44 %
n = 35
40 %
30
20
n=6
7%
10
n = 14
16 %
n=2
2%
0
KEIN SV
EINMALIG SV
3 Tage vor Aufnahme
MEHRFACH SV
Lebenszeit
Abb. 18 Suizidversuche in der Zeit vor dem jeweiligen stationären Aufenthalt. Zeitlich
unterteilt in drei Tage vor Aufnahme und der Zeit davor, also der Lebenszeit. Jeweils
unterteilt in keine, einmalige und mehrfache Suizidversuche. Das Patientenkollektiv bildeten
87 stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie
Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
(n: Anzahl der Patienten, SV: Suizidversuche)
Ergebnisse
60
3.4.3 Substanzmissbrauch
In dieser Sparte wurde ein möglicher Substanzmissbrauch vor dem jeweiligen
Indexaufenthalt erfasst. Gewertet wurde der Konsum von Substanzen mit
potentiell körperlich oder psychisch abhängig machender Wirkung, die illegal sind
oder die Gesundheit negativ beeinträchtigen. Dies waren beispielsweise Konsum
und Missbrauch von Alkohol, Drogen oder Medikamenten. Wie in Abbildung 19
dargestellt, zeigten von den insgesamt 87 Patienten in den drei Tagen vor
stationärer Aufnahme 36 Prozent (n = 31) einen Substanzabusus. Dieser war bei
14 Prozent (n = 12) der Patienten einmalig und bei 22 Prozent (n = 19) sogar
mehrfach vorgekommen. Bei 64 Prozent (n = 56) fand sich in den Tagen vor
Aufnahme keine Einnahme von psychotropen Substanzen.
Für die Lebenszeit konnte bei 44 Prozent (n = 38) kein Substanzmissbrauch
eruiert werden. Bei gerade 2 Prozent (n = 2) fand sich ein einmaliger, bei mehr als
der Hälfte der Patienten (54 Prozent, n = 47) dagegen ein mehrfacher Abusus.
90
Anzahl der Patienten
80
70
60
50
40
n = 56
64 %
n = 47
54 %
n = 38
44 %
30
n = 12
14 %
20
10
n = 19
22%
n=2
2%
0
KEIN SUB
EINMALIG SUB
3 Tage vor Aufnahme
MEHRFACH SUB
Lebenszeit
Abb. 19: Substanzmissbrauch in der Zeit vor dem jeweiligen stationären Aufenthalt. Zeitlich
unterteilt in drei Tage vor Aufnahme und der Zeit davor, also der Lebenszeit. Jeweils
unterteilt in keinen, einmaligen und mehrfachen Substanzmissbrauch. Das
Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im
Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
(n: Anzahl der Patienten, SUB: Substanzmissbrauch)
Ergebnisse
61
3.5 Zusammenhang zwischen selbstverletzendem und
suizidalem Verhalten
In der Hypothese 1a wurde postuliert, dass es einen Zusammenhang zwischen
selbstverletzendem Verhalten einerseits und suizidalem Verhalten andererseits
gibt. Hierzu wurde eine Rangkorrelation nach Spearman durchgeführt. In dem
gesamten Patientenkollektiv zeigte sich hierbei ein positiver Korrelationskoeffizient
von r = 0,413 bei einem Signifikanzniveau von p < 0.01 zwischen
selbstverletzendem und suizidalem Verhalten. Dies wird in Abbildung 20 in Form
der Regressionsgeraden zum Ausdruck gebracht.
Abb. 20: Regressionsgerade von Anzahl suizidales Verhalten vs. selbstverletzendes
Verhalten während des stationären Aufenthaltes. Das Patientenkollektiv bildeten 87
stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie
Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
Ergebnisse
62
Zur weiteren Bestätigung der Alternativhypothese wurde ein Mann-Whitney U-Test
(M-W-U-Test) gerechnet. Hierzu wurden die Patienten in Gruppen eingeteilt. Diese
setzten sich zusammen aus einerseits selbstverletzendes Verhalten während des
Aufenthaltes
aufgetreten
(ja/nein)
und
andererseits
suizidales
Verhalten
aufgetreten (ja/nein). Wie auch in der Abbildung 21 zu erkennen ist, zeigte im
Durchschnitt die Patientengruppe mit selbstverletzendem Verhalten (n = 33) auch
deutlich häufiger ein suizidales Verhalten als die Patientengruppe ohne
selbstverletzendes Verhalten (n = 54). Dieser Unterschied ist mit einem p = 0.003
hochsignifikant (M-W-U-Test: U = 548,00; Z = 3,00).
Durchschnitttliche Anzahl an suizidalen
Handlungen
3,5
3
2,5
2
1,5
1
1,06
0,5
0,15
0
Selbstverletzendes Verhalten
nicht aufgetreten
Selbstverletzendes Verhalten
aufgetreten
Abb. 21: Mittelwerte der Anzahl des suizidalen Verhaltens nach Gruppeneinteilung der
Patienten in selbstverletzendes Verhalten nein (n = 54) vs. ja (n = 33). Das Patientenkollektiv
bildeten 87 stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für
Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
Auf der anderen Seite war in der Patientengruppe mit suizidalem Verhalten (n =
22) auch hochsignifikant häufiger (p = 0.002) eine selbstverletzende Handlung zu
verzeichnen als in der Gruppe ohne suizidales Verhalten (n = 65) (M-W-U-Test: U
= 390,00; Z = 3,17). Dies wird in Abbildung 22 graphisch dargestellt.
Ergebnisse
63
Durchschnittliche Anzahl an
selbstverletzenden Handlungen
3,5
3
2,5
2
1,5
2,36
1
0,5
0,91
0
Suizidales Verhalten nicht
aufgetreten
Suizidales Verhalten
aufgetreten
Abb. 22: Mittelwerte der Anzahl des selbstverletzenden Verhaltens nach Gruppeneinteilung
der Patienten in suizidales Verhalten nein (n = 65) vs. ja (n = 22). Das Patientenkollektiv
bildeten 87 stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für
Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
In Hypothese 1b wird ein Zusammenhang zwischen den Suizidstufen einerseits
und dem selbstschädigenden Verhalten andererseits postuliert. Hierzu wurde eine
Spearman Rangkorrelation gerechnet, wobei die maximal erreichte Suizidstufe
des jeweiligen Aufenthalts als eine Variable zur Anwendung kam. Dieser wurden
als
zweite
Variable
die
zwei
unterschiedlichen
Ausprägungen
des
selbstschädigenden Verhaltes gegenübergestellt. Hierbei fand sich für das
selbstverletzende Verhalten ein positiver Korrelationskoeffizient von 0,42 sowie für
das suizidale Verhalten ein Koeffizient von 0,58. Dieser Zusammenhang zwischen
den Suizidstufen und den beiden Ausprägungen des selbstschädigenden
Verhaltens ist mit p < 0.01 hochsignifikant. Im weiteren Vorgehen wurde als neue
Variable das selbstschädigende Verhalten als Summe aus suizidalem und
selbstverletzendem Verhalten gebildet. Mit einem Korrelationskoeffizienten von
0,54 ergab sich auch hier ein positiver Zusammenhang mit den Suizidstufen. Das
Signifikanzniveau lag bei p < 0.01.
Ergebnisse
64
3.6 Selbstschädigendes Verhalten und Therapieerfolg
In Hypothese 2 wird ein Unterschied zwischen den Gruppen einerseits und dem
Therapieerfolg andererseits postuliert. Der Therapieerfolg wurde dabei anhand der
Selbstbeurteilungsskalen
BDI
und
SCL-90-R,
als
auch
dem
Fremdbeurteilungsbogen CGI erfasst. Zur Auswertung kam jeweils die Differenz
aus Entlass- und Aufnahmewert. Diese repräsentiert den Therapieerfolg genauso
wie eine mögliche Zustandsverschlechterung. Anhand eines t-Tests wurde diese
Differenz diversen Patientengruppen gegenübergestellt. Aus der gesamten
Patientenklientel (n = 87) wurden verschiedene Gruppen gebildet. Hierbei bildete
die Gruppe der Patienten mit beziehungsweise ohne selbstverletzendem
Verhalten je eine Einheit. Eine weitere Gruppe wurde durch das Kriterium
suizidales Verhalten aufgetreten ja/nein repräsentiert. Die dritte Gruppe bildeten
die Patienten, bei denen irgendein selbstschädigendes Verhalten während des
Aufenthalts
stattgefunden,
Selbstschädigendes
beziehungsweise
Verhalten
schließt
nicht
stattgefunden
selbstverletzendes
und
hatte.
suizidales
Verhalten ein.
Wie im Methodenteil bereits erwähnt, ist zur Durchführung eines t-Tests eine
Normalverteilung Grundvoraussetzung. Bei einem Test auf Normalverteilung gab
es innerhalb der Gruppen keine signifikanten Unterschiede. Sie gelten daher als
normalverteilt und ein parametrisches Rechnen ist legitim.
In der Tabelle 10 sind die Ergebnisse des t-Tests für den Therapieerfolg,
gemessen durch BDI, dargestellt. Von dem Gesamtkollektiv der Patienten (n = 87)
kamen n = 49 zur Auswertung. Dies war dadurch begründet, dass nicht zu jedem
Patienten ein BDI-Wert für Aufnahme und Entlassung vorgelegen hatte. Für die
Gruppe der Patienten mit selbstverletzendem Verhalten während des Aufenthaltes
(n = 20) ergab sich für den BDI-Wert im Mittel eine Verbesserung von 8,30
Punkten (SD ± 9,31). Eine Differenz von 12,20 Punkten (SD ± 10,99) für die
Patientengruppe ohne selbstverletzendes Verhalten (n = 29) stand diesem
gegenüber. In der Gruppe der Patienten mit suizidalem Verhalten (n = 15) konnte
ein Mittelwert von 11,57 Punkten (SD ± 11,04) der Patientengruppe ohne
suizidalem Verhalten (n = 34) mit einem Mittelwert von 10,18 Punkten (SD ± 10,28
Punkte) gegenübergestellt werden. Die dritte Gruppe der Patienten, bestehend
Ergebnisse
65
aus selbstverletzendem und suizidalem Verhalten (n = 26), verbesserte sich im
Mittel um 9,55 Punkte (SD ± 10,63), wohingegen die Patientengruppe ohne
jegliches selbstverletzendes, suizidales Verhalten (n = 23) von der Therapie im
Mittel um 11,80 Punkte (SD ± 10,28) profitierte.
Tab. 10: T-Test für zwei unverbundene Stichproben. Der Therapieerfolg wurde durch die
Differenz des BDI-Wertes aus Aufnahme- und Entlasswert gebildet. Dieser wurde bei den
Gruppierungen selbstverletzendes Verhalten, suizidales Verhalten und selbstschädigendes
Verhalten untersucht. Zur Gegenüberstellung kam jeweils Handlung war aufgetreten vs.
Handlung war nicht aufgetreten. Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in
Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009. Zur Auswertung kamen n = 49 Patienten.
Handlung war
aufgetreten
Handlung war nicht
aufgetreten
t-Wert
p
BDI Veränderung für
Gruppe: SVV
n = 20
MW = 8,30
SD = 9,31
n = 29
MW = 12,20
SD = 10,99
-1,30
0.20
BDI Veränderung für
Gruppe: SV
n = 15
MW = 11,57
SD = 11,04
n = 34
MW = 10,18
SD = 10,28
0,43
0.67
BDI Veränderung für
Gruppe: SVV + SV
n = 26
MW = 9,55
SD = 10,63
n = 23
MW = 11,80
SD = 10,28
-0,75
0.46
(BDI: Beck Depressions Inventar, MW: Mittelwert, n: Patientenzahl, p: Signifikanzniveau, SD:
Standardabweichung, SV: suizidales Verhalten, SVV: selbstverletzendes Verhalten, SVV + SV:
selbstschädigendes Verhalten)
Diese Werte sind mit einem Signifikanzniveau von p = 0.20 für selbstverletzendes
Verhalten, p = 0.67 für suizidales Verhalten und p = 0.46 für die Gruppe
bestehend aus selbstverletzendem und suizidalem Verhalten allesamt nicht
signifikant. Der Grund hierfür soll durch die folgende Abbildung 23 und der
dazugehörigen Varianzanalyse mit Messwiederholung aufgezeigt werden. Hierbei
sind exemplarisch die Messwerte der Gruppe suizidales und selbstverletzendes
Verhalten dargestellt - zum einen bei Aufnahme und zum anderen bei Entlassung.
Die Differenz der beiden abhängigen Größen ist wieder dem Therapieerfolg
gleichzusetzen. Die gestrichelte Gerade zwischen den beiden Messpunkten bildet
die Patientengruppe ab, bei der ein selbstverletzendes oder suizidales Verhalten
Ergebnisse
66
aufgetreten war. Die Patientengruppe ohne solche Handlungen wird anhand der
durchgezogenen Linie zwischen den beiden Punkten repräsentiert. Beide Gruppen
hatten bei Entlassung - im Vergleich zum Ausgangswert - einen niedrigeren BDIWert, profitierten somit von der Therapie. Allerdings startete die Gruppe mit
selbstverletzendem und suizidalem Verhalten schon von einem höheren
Ausgangsniveau. Auch der BDI-Wert am Ende des Aufenthalts war höher.
Unschwer zu erkennen ist ein annähernd paralleler Verlauf der beiden Geraden
und damit kein signifikanter Interaktionseffekt (ANOVA mit Messwiederholung
F(1,47) = 0,56, p = 0.46).
45
40
BDI-Summenwert
35
30
25
20
15
10
Gruppe ohne Selbstschädigung
Gruppe mit Selbstschädigung
5
Aufnahme
Entlassung
Abb. 23: Varianzanalyse (ANOVA) mit Messwiederholung, F(1,47) = 0,56, p = 0.46. Für die
Patientengruppe mit selbstschädigendem Verhalten (gestrichelt Linie) sowie ohne
(durchgezogene Linie). Gemessen wurde der BDI-Wert bei Aufnahme und bei Entlassung.
Das
Patientenkollektiv
bildeten
87
stationäre
Patienten
mit
BorderlinePersönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den
Jahren 2008 und 2009.
(BDI: Beck Depressions Inventar, p: Signifikanzniveau)
Ergebnisse
67
Analog zum BDI wurde auch mit dem SCL-90-R verfahren. Hierbei wurden die
gleichen drei Patientengruppierungen im Rahmen eines t-Testes dem SCL-90-R
T-Wert (GSI) gegenübergestellt. Der Therapieerfolg ergab sich wieder aus der
Differenz der zwei Werte zu Beginn und Ende des stationären Aufenthalts. Da
auch der SCL-90-R T-Wert nicht beim gesamten Patientenkollektiv (n = 87
Patienten) vorgelegen hatte, kamen n = 49 Patienten zur Auswertung. Wie der
Tabelle 11 zu entnehmen ist, ergab sich für die Patientengruppe mit reinem
selbstverletzenden Verhalten (n = 20) im Durchschnitt ein Punktewert von 5,95
(SD ± 9,33) sowie ohne solche Handlungen (n = 29) ein Mittelwert von 9,14 (SD ±
8,80). In der Gruppe der Patienten mit suizidalem Verhalten (n = 15) zeigte sich
ein Durchschnitt von 7,07 (SD ± 10,85). Diesem stand ein Mittelwert von 8,18 (SD
± 8,32) bei der Patientengruppe ohne suizidales Verhalten (n = 34) gegenüber. In
der Summe der beiden Verhaltensweisen zeigten die Patienten (n = 26) einen
Mittelwert von 5,54 (SD ± 10,06), dieser stand dem Mittelwert von 10,43 (SD ±
7,13)
bei
der
Patientengruppe
ohne
jegliches
selbstschädigendes Verhalten (n = 23) gegenüber.
selbstverletzendes
oder
Ergebnisse
68
Tab. 11: T-Test für zwei unverbundene Stichproben. Der Therapieerfolg wurde durch die
Differenz des SCL-90-R T-Wertes (GSI) aus Aufnahme- und Entlasswert gebildet. Dieser
wurde bei den Gruppierungen selbstverletzendes Verhalten, suizidales Verhalten und
selbstschädigendes Verhalten untersucht. Zur Gegenüberstellung kam jeweils Handlung
war aufgetreten vs. Handlung war nicht aufgetreten. Das Patientenkollektiv bildeten 87
stationäre Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie
Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009. Zur Auswertung kamen n = 49
Patienten.
Handlung war
aufgetreten
Handlung war nicht
aufgetreten
t-Wert
p
SCL-90-R T-Wert/GSI
Veränderung für
Gruppe: SVV
n = 20
MW = 5,95
SD = 9,33
n = 29
MW = 9,14
SD = 8,80
-1,22
0.23
SCL-90-R T-Wert/GSI
Veränderung für
Gruppe: SV
n = 15
MW = 7,07
SD = 10,85
n = 34
MW = 8,18
SD = 8,32
-0,39
0.70
SCL-90-R T-Wert/GSI
Veränderung für
Gruppe: SVV + SV
n = 26
MW = 5,54
SD = 10,06
n = 23
MW = 10,43
SD = 7,13
-1,94
0.06
(SCL-90-R T-Wert/GSI: Symptom-Checkliste / Global Severity Index, MW: Mittelwert, n:
Patientenzahl, p: Signifikanzniveau, SD: Standardabweichung, SV: suizidales Verhalten, SVV:
selbstverletzendes Verhalten, SVV + SV: selbstschädigendes Verhalten)
Auch bei diesen t-Tests sind die Ergebnisse mit einem p-Wert von p = 0.23 für
selbstverletzendes und p = 0.70 für suizidales Verhalten beide Ergebnisse nicht
signifikant. Ebenso nicht signifikant ist das Resultat der Gruppe bestehend aus
beiden Verhaltensweisen, allerdings war hier mit einem p = 0.06 ein Trend zu
erkennen. Wie bei der t-Test Rechnung mit dem BDI als Zielvariable, wurde auch
hier zusätzlich eine Varianzanalyse mit Messwiederholung durchgeführt. Erfasst
wurde der psychische Zustand dieses Mal durch den SCL-90-R T-Wert, welcher
ebenfalls ein Eigenbeurteilungstest ist. Dieser wurde erneut bei Aufnahme sowie
bei Entlassung erhoben. In Abbildung 24 wird die Patientengruppe mit
selbstverletzendem, suizidalem Verhalten als gestrichelte Linie zwischen den
beiden Messwerten dargestellt. Diese Gruppe ist bei Aufnahme durchschnittlich
mehr betroffen, startet somit von einem höheren Ausgangswert, als die
Patientengruppe ohne diese Verhaltensweisen (durchgezogen Linie). Zu erkennen
ist in beiden Gruppen ein im Vergleich zum Ausgangswert deutlich niedrigerer
Ergebnisse
69
Messwert bei Entlassung. Allerdings kommt es in der Gruppe der Patienten ohne
jegliche selbstschädigende Handlung zu einer etwas steileren Geraden, also
einem größeren Profit durch die Therapie. Dies spiegelt sich auch in den
Mittelwerten beim t-Test wider. So verbessert sich die Gruppe der Patienten mit
selbstverletzendem, suizidalem Verhalten im Durchschnitt um 5,54 Punkte,
wohingegen sich die Patientengruppe ohne diese Verhaltensweise im Mittel um
10,43 Punkte bessert. Es ist auch hier erwartungsgemäß ein Interaktionstrend zu
erkennen, mit dem sich die Patientengruppe mit selbstschädigendem Verhalten
(gestrichelte Linie) von der ohne (durchgezogene Linie) insofern unterscheidet,
dass
Patienten
mit
selbstschädigendem
Verhalten
eher
etwas
weniger
Therapieerfolg aufweisen (ANOVA mit Messwiederholung F(1,47) = 3,77, p =
0.06).
Ergebnisse
70
80
75
SCL-90-R T-Wert
70
65
60
55
Gruppe ohne Selbstschädigung
Gruppe mit Selbstschädigung
50
Aufnahme
Entlassung
Abb. 24: Varianzanalyse (ANOVA) mit Messwiederholung, F(1,47) = 3,77, p = 0.06. Gemessen
wurde der SCL-90-R T-Wert (GSI) bei Aufnahme und bei Entlassung. Mit einem
Signifikanzniveau von p = 0.058 ist ein Trend zu erkennen, mit dem sich die
Patientengruppen mit selbstschädigendem Verhalten (gestrichelt Linie) von denen ohne
(durchgezogene Linie) unterscheidet. Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre
Patienten
mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung
im
Zentrum
für
Psychiatrie
Südwürttemberg in Weissenau, in den Jahren 2008 und 2009.
(SCL-90-R T-Wert/GSI: Symptom-Checkliste / Global Severity Index, p: Signifikanzniveau)
Der CGI-Wert wird durch den Therapeuten erhoben. Er stellt somit einen
Fremdbeurteilungstest dar. Dieser existiert in zwei unterschiedlichen Versionen.
Erhoben wird sowohl der Zustand des Patienten bei Aufnahme (durch den CGIAufnahme) als auch die Zustandsänderung bei Entlassung (anhand des CGIEntlassung). Die Messwerte erreichen hierbei die Stufe einer Ordinalskalierung.
Von den Patienten (n = 87) kamen n = 81 zur Auswertung. Bei der Frage nach
einem möglichen Zusammenhang zwischen selbstschädigendem Verhalten und
Therapieerfolg wurden anhand eines Mann-Whitney U-Tests Rangsummen
gebildet und verglichen. Dabei wurde analog zu den beiden vorherigen t-Tests
Ergebnisse
71
verfahren und die gleichen Gruppen gebildet. Zum einen war dies die Gruppierung
selbstverletzendes Verhalten aufgetreten (ja/nein), als auch suizidales Verhalten
aufgetreten (ja/nein). Des Weiteren wurde auch hier die Summe dieser beiden
Verhaltensweisen, also das selbstschädigende Verhalten als dritte Gruppe
benannt. In Form eines Mann-Whitney U-Tests wurden die Rangsummen der
Gruppen dem Therapieerfolg gegenübergestellt. Hier kam es zu keinem
signifikanten Unterschied. Wie in Tabelle 12 ersichtlich, zeigte sich in der Gruppe
der Patienten mit selbstverletzendem Verhalten (n = 29) kein signifikanter
Unterschied (p = 0.70) gegenüber der Patientengruppe ohne diese Handlungen (n
= 52) (M-W-U-Test: U = 714,50; Z = 0,39). Auch die Gruppe der Patienten mit
suizidalem Verhalten (n = 19) unterschied sich bei einem p = 0.22 nicht signifikant
von der Gruppe ohne diese Verhaltensweise (n = 62) (M-W-U-Test: U = 480,00; Z
= 1,21). Bei den Patienten mit (n = 35) bzw. ohne (n = 46) selbstschädigendem
Verhalten war ebenfalls kein signifikanter Unterschied (p = 0.91) (M-W-U-Test: U =
793,50; Z = 0,11) erkennbar.
Tab. 12: Mann-Whitney U-Test. Rangsummen für zwei unverbundene Stichproben. Der
Therapieerfolg wurde durch den CGI-Wert erfasst. Dieser wurde bei den Gruppierungen
selbstverletzendes Verhalten, suizidales Verhalten und selbstschädigendes Verhalten
untersucht. Zur Gegenüberstellung kam jeweils Handlung war aufgetreten vs. Handlung war
nicht aufgetreten. Das Patientenkollektiv bildeten 87 stationäre Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung im Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau, in den
Jahren 2008 und 2009. Zur Auswertung kamen n = 81 Patienten
Handlung war
aufgetreten
Handlung war nicht
aufgetreten
U
Z
p
CGI Veränderung für
Gruppe: SVV
n = 29
RS = 1228,50
n = 52
RS = 2092,50
714,50
0,39
0.70
CGI Veränderung für
Gruppe: SV
n = 19
RS = 888,00
n = 62
RS = 2433,00
480,00
1,21
0.22
CGI Veränderung für
Gruppe: SVV + SV
n = 35
RS = 1446,50
n = 46
RS = 1874,50
793,50
0,11
0.91
(CGI: Clinical Global Impression, RS: Rangsummenwert, n: Patientenzahl, p: Signifikanzniveau,
SD: Standardabweichung, SV: suizidales Verhalten, SVV: selbstverletzendes Verhalten, SVV +
SV: selbstschädigendes Verhalten)
72
4 Diskussion
4.1 Rahmenbedingungen und Allgemeines
Im
ZfP
Südwürttemberg
in
Weissenau
wurde
im
Rahmen
einer
Qualitätsverbesserungsmaßnahme durch Umstrukturierung im November 2005
eine neue Station eingerichtet. Zur dortigen Aufnahme gelangen vorwiegend
Patienten mit einer der Hauptdiagnosen F6 oder F4, jedoch ohne primäre
Substanzabhängigkeit, psychotische oder affektive Störungen als Leitdiagnose.
Diese speziellen stationären Rahmenbedingungen mit dem damit verbundenen
therapeutischen Setting sind verhältnismäßig selten anzutreffen. Seit der
Gründung
dieser
Station
gab
es
keine
Analyse
dieses
spezifischen
Patientenkollektivs hinsichtlich Suizidalität und selbstverletzenden Verhaltens.
Retrospektiv untersucht wurden nun alle Patienten mit der Diagnose F60.31
beziehungsweise F61 (mit BPS), die in den Jahren 2008 und 2009 auf dieser
speziellen Station aufgenommen worden waren. Daraus ergab sich ein
Patientenkollektiv, bestehend aus n = 87 Patienten.
Die Aufenthaltsdauer schwankte zwischen einem Tag und 196 Tagen. Bei diesem
Krankheitsbild ist eine Aufenthaltsdauer über mehrere Wochen oder sogar Monate
durchaus üblich und auch in anderen stationären therapeutischen Einrichtungen
alltäglich. Insbesondere sollte hier mit Psychiatrien innerhalb Deutschlands
verglichen werden, da gerade im englischsprachigen Ausland bei diesem
Krankheitsbild deutlich anders mit Suizidalität umgegangen wird. So sind dort
stationäre Aufenthalte wegen suizidaler Intention deutlich seltener, wohingegen
suizidales Verhalten in Deutschland regelmäßig eine Zuweisung in eine
medizinische Einrichtung nach sich zieht. Des Weiteren kann suizidales Verhalten
des Patienten den Entlassungstermin stark beeinflussen, den Aufenthalt deutlich
verlängern und eine Aufenthaltsdauer von mehreren Monaten hervorrufen. Somit
sollte eine stationäre Behandlung von über 6,5 Monaten, wie sie unter dem
Patientenkollektiv einmal aufgetreten war, nicht verwundern. Hierin birgt sich
natürlich die Gefahr der Hospitalisierung und Regression, was wiederum in Form
eines Teufelskreises ein selbstschädigendes Verhalten fördern kann (Steinert,
2012). Ein verhältnismäßig kurzer stationärer Aufenthalt war meistens durch eine
Diskussion
73
Verlegung in andere medizinische Einrichtungen begründet. Dies kam meist im
Rahmen von selbstschädigenden Verhaltensweisen und der damit verbundenen
Überweisung
in
ein
Allgemeinkrankenhaus
zustande.
Das
untersuchte
Patientenkollektiv war im Durchschnitt 40,3 Tage auf der spezifischen Station im
ZfP Südwürttemberg in Weissenau stationär aufgenommen. Für sich alleine
betrachtet mag dies als ein langer Zeitraum erscheinen, liegt aber dennoch
deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt. So beträgt die mittlere stationäre
Aufenthaltsdauer bei diesem Krankheitsbild in Deutschland etwa 68 Tage (Bohus
et al., 2006; Jerschke et al., 1998). Der zeitliche Unterschied kann darin begründet
sein, dass bei den meisten psychotherapeutischen Einrichtungen, die dem
dialektisch-behavioralen Therapieansatz nach Linehan folgen, ein zeitlicher
Rahmen von 12 Wochen für die stationäre Behandlung vorgesehen ist.
Die Patientenklientel auf dieser gemischtgeschlechtlichen Station war mit 89
Prozent Frauen überwiegend weiblich. Dies überrascht nicht, da bei diesem
Krankheitsbild im klinischen Bereich rund 75 bis 80 Prozent Frauen anzutreffen
sind (Skodol et al., 2003; Widiger et al., 1991), wohingegen die männlichen
Patienten eher mit der Forensik beziehungsweise mit der Justiz in Berührung
kommen.
Das Durchschnittsalter lag bei 32,3 Jahren, wobei sich die Altersspanne von 20
bis 66 Jahre erstreckte. Im
untersuchten Patientenkollektiv befanden sich, im
Vergleich zu anderen psychotherapeutischen Einrichtungen, die dem dialektischbehavioralen Therapieansatz (Linehan, 1996) folgen, auch einige Patienten mit
einem für dieses Krankheitsbild recht fortgeschrittenen Lebensalter. Der
Erkrankungsbeginn einer BPS ist definitionsgemäß im Kindes- und Jugendalter
angesiedelt. In einer Longitudinalstudie nach Zanarini et al. (2006) war bei
insgesamt 88 Prozent der Patienten im zeitlichen Verlauf von 10 Jahren eine
komplette Remission krankheitsspezifischer Symptome zu beobachten. Demnach
könnte das teilweise relativ fortgeschrittene Patientenalter dadurch zustande
kommen, dass vor allem die schwer kranken Patienten zur Aufnahme in diese
spezifische Station des ZfP Weissenau gelangen, also Menschen, die in ihrer
'Erkrankungskarriere' schon sehr weit fortgeschritten sind. Suizidale Krisen,
dissoziative
Störungen,
Depression,
Angst
und
posttraumatische
Belastungsstörungen sowie langjährige komorbide Substanzabhängigkeit sind
Diskussion
74
keine Seltenheit. Bei dieser Patientenklientel ist die Erkrankung häufig chronisch,
die Prognose demnach tendenziell schlecht.
4.2 Vor dem stationären Aufenthalt
Über alle Patienten gemittelt, wurden seit dem Jahr 2000 in etwa 3,4 stationäre
Aufenthalte in einer psychiatrischen Einrichtung verbracht - wohnortgebunden in
den meisten Fällen im ZfP Südwürttemberg in Weissenau. Auch hier gab es eine
sehr große Spannbreite, die sich von einem Aufenthalt bis zu 27 Aufenthalten
erstreckte. Der Median lag bei zwei Aufenthalten. Akute Lebenskrisen, suizidale
Ereignisse oder selbstverletzendes Verhalten können eine sofortige stationäre
Aufnahme im ZfP Weissenau oder einer anderen psychiatrischen Einrichtungen
notwendig machen. Bei dieser recht chronischen, schwer therapierbaren
Erkrankung werden die Versorgungsstrukturen in besonderem Maße eingefordert.
Nach Jerschke et al. (1998) bleibt es meist nicht bei einem Aufenthalt. Da sich die
Daten in den letzten Jahren auch kaum geändert haben, beträgt die
Wahrscheinlichkeit
der
Wiederaufnahme
in
eine
psychiatrische
oder
psychotherapeutische Versorgungseinrichtung etwa 80 Prozent.
Da selbstschädigendes Verhalten sehr häufig mit diesem Krankheitsbild assoziiert
ist, nimmt dieses Symptom berechtigterweise einen festen Platz in den
Diagnosekriterien sowohl nach ICD-10 (Dilling et al., 2004) als auch DSM-IV (Sass
et al., 2003) ein. Bei diesem Patientenkollektiv konnte bei 86 Prozent der
Patienten ein selbstverletzendes Verhalten irgendwann in der Lebenszeit vor dem
untersuchten stationären Aufenthalt in Erfahrung gebracht werden, bei 84 Prozent
kam es sogar mehrfach vor. Mit nur 2 Prozent geschah dies bei einem sehr
kleinen Anteil der Indexpatienten als ein einmaliges Ereignis. Laut einem relativ
aktuellen Artikel, ist das selbstverletzende Verhalten bei 85 Prozent der Patienten
mit einer BPS zumindest während einiger Zeitabschnitte aufgetreten (Bohus et al.,
2006). Auch in anderen gängigen Studien wird von einem ähnlich hohen Anteil
berichtet und ist somit annähernd deckungsgleich mit dem hier untersuchten
Patientenkollektiv.
Ebenso wurde die Lebenszeit im Hinblick auf Suizidversuche in Augenschein
genommen. Dabei waren 60 Prozent der untersuchten Patienten in ihrer
Diskussion
75
Vorgeschichte dahingehend schon auffällig geworden, bei 16 Prozent war dies ein
einmaliges
Geschehen
und
bei
weiteren
44
Prozent
waren
mehrere
Suizidversuche in Erfahrung zu bringen. In einer Studie von Black et al. (2004) zur
Suizidalität bei BPS wird ebenfalls von einer ganz ähnlich hohen Prävalenz
berichtet. Demnach sollen bis zu drei Viertel der Patienten einen Suizidversuch
hinter sich haben. Eine Suizidrate von 10 Prozent bei dieser Erkrankung
unterstreicht die Ernsthaftigkeit dieses Themas.
In der Vorgeschichte war ein Substanzmissbrauch bei insgesamt 56 Prozent der
Patienten zu finden, hierbei war dies bei 54 Prozent der Patienten ein mehrfacher,
bei weiteren 2 Prozent ein einmaliger. Dies zeigt, dass ein Substanzmissbrauch
als komorbide Störung häufig mit dieser psychischen Erkrankung assoziiert ist.
Durch diese Selbstmedikation versuchen die Patienten oft ihre negativen
Emotionen wie Ärger, Wut oder Angst zu durchbrechen. Als Kehrseite kann sich
daraus allerdings eine Abhängigkeitsstörung entwickeln. In einer Studie von Trull
et al. (2000) erfüllten 57,4 Prozent der Patienten mit einer BPS die
Diagnosekriterien
einer
Substanzabhängigkeit,
49
Prozent
weisen
eine
Alkoholabhängigkeit auf, bei 38 Prozent konnte ein Drogenkonsum in Erfahrung
gebracht werden. Bei uns wurde eine Abhängigkeitserkrankung als mehrfacher
Substanzmissbrauch erfasst. Hierbei entsprechen sich annähernd die Zahlen
unserer Datenerhebung (54 Prozent) denen der Studie von Trull et al. mit 57,4
Prozent.
Des Weiteren wurde untersucht, ob selbstverletzendes Verhalten, Suizidalität oder
Substanzmissbrauch
im
Zusammenhang
mit
dem
stationären
Aufenthalt
aufgetreten waren, beziehungsweise zu diesem geführt hatten. Hierzu wurden die
72 Stunden vor der jeweiligen Aufnahme betrachtet. Bei etwa 30 Prozent der
stationären Patienten war in dieser Zeit ein selbstverletzendes Verhalten in
Erfahrung zu bringen, dies war bei 20 Prozent ein einmaliges Ereignis und bei
weiteren 10 Prozent trat es mehrfach auf. In den drei Tagen vor Aufnahme kam es
bei insgesamt 9 Prozent der Patienten zu einem Suizidversuch, davon war dieser
bei 7 Prozent einmal und bei 2 Prozent mehrfach vorgekommen. Ein
Substanzmissbrauch fand sich bei insgesamt 36 Prozent - bei 22 Prozent
mehrfach und bei 14 Prozent einmalig in den drei Tagen vor der stationären
Aufnahme. Es kann somit zusammenfassend gesagt werden, dass bei vielen
Diskussion
76
Patienten ein selbstschädigendes Verhalten im direkten Zusammenhang mit dem
stationären Aufenthalt stand oder auch die stationäre Einweisung bedingt hat.
4.3 Während des stationären Aufenthalts
4.3.1 Selbstverletzendes Verhalten während des Aufenthalts
Während des stationären Aufenthaltes konnte bei 38
Prozent
des
Patientenkollektivs mindestens einmal ein selbstverletzendes Verhalten in
Erfahrung gebracht werden, 62 Prozent der Patienten waren dahingehend
unauffällig.
Insgesamt wurden von den 33 Patienten mit selbstverletzendem Verhalten
insgesamt 54 Handlungen begangen. Bei der Betrachtung der verhältnismäßigen
Zusammensetzung dieser Summe, war das Schneiden mit 50 Prozent die mit
Abstand am häufigsten praktizierte Methode. Auch in gängiger wissenschaftlicher
Literatur wird üblicherweise diese Selbstverletzungsmethode als die häufigste
genannt. Als Mittel zum Zweck kann prinzipiell jeder scharfe Gegenstand dienen,
wobei Rasierklingen, Glasscherben, Messer oder Scheren üblich sind (Petermann
et al., 2008). Eine Rasierklinge kann zum Beispiel im Akku-Fach des Handys
versteckt und so unerlaubter Weise auf Station geschmuggelt werden. Mit
abnehmender
Häufigkeit
folgt
der
Alkoholkonsum
in
Form
einer
selbstschädigenden Verhaltensweise mit 18 Prozent. Seltener waren die
Handlungen Wunde manipulieren mit 9 Prozent, Kratzen mit 6 Prozent und
Brennen mit 4 Prozent zu verzeichnen. Weitere Vorkommnisse wie etwa Abreißen
von Fingernägeln, Hand beziehungsweise Kopf gegen die Wand schlagen,
schädliches Essverhalten, Inhalation von Deospray und Nagellack, Herbeiführen
von Erbrechen, Unterlassen der Einnahme von wichtigen und indizierten
Medikamenten wurden unter dem Punkt Sonstiges zusammengefasst und
machten 13 Prozent dieser Handlungen aus. Auf der anderen Seite können diese
selbstverletzenden Verhaltensweisen auch patientenbezogen betrachtet werden.
Unter dieser Perspektive wurde aus der Gruppe der Patienten, die während des
Aufenthalts ein selbstverletzendes Verhalten zeigten, von 82 Prozent das
Schneiden als eine solche Handlung ausgeübt. Eine Studie von Nitkowski (2009)
Diskussion
77
untersucht die Häufigkeitsverteilung der einzelnen Arten selbstverletzender
Handlungen. Hierzu wurden diverse Veröffentlichungen zu diesem Thema
zusammengefasst und aus acht Publikationen eine Rangreihung der am
häufigsten genutzten Verletzungsmethoden erstellt. Dabei war das Schneiden mit
61,8 Prozent, genauso wie in unserer Studie, die mit Abstand am häufigsten
praktizierte Methode des selbstverletzenden Verhaltens. Bei der untersuchten
Patientenklientel des ZfP Südwürttemberg in Weissenau konnte bei weiteren 30
Prozent der stationären Patienten Alkoholkonsum als weitere Form in Erfahrung
gebracht werden. Weitere 15 Prozent manipulierten an alten Wunden. In der
Häufigkeitsverteilung nach Nitkowski wurde diese Methode von 25,6 Prozent
praktiziert und war somit in einer ähnlichen Größenordnung angesiedelt. Zu
Handlungen wie Kratzen kam es auf der Station des ZfP Weissenau bei 9 Prozent
dieser Patienten, gefolgt von 6 Prozent mit Brennen. Zum Vergleich seien auch
hier die Häufigkeitsverteilungen bei Nitkowski genannt, die in beiden Qualitäten
ein gehäufteres Vorkommen zeigten. Hier war das Kratzen/Kneifen bei 42,7
Prozent der Patienten zu finden, das Verbrennen/Verbrühen bei 22,0 Prozent.
Allerdings muss bei diesem Vergleich berücksichtigt werden, dass sich die von
uns erhobenen Daten auf ein Patientenkollektiv beziehen, welches sich in einem
stationären Aufenthalt befand. Hierdurch wird der Handlungsspielraum für das
selbstverletzende Verhalten eingeschränkt beziehungsweise verändert. Auch
wenn unsere Daten zu Art und Häufigkeit mit der Veröffentlichung von Nitkowski
im Wesentlichen übereinstimmen, können hiermit diverse Unterschiede erklärt
werden. Weitere selbstverletzende Handlungen, welche sich in den zwei Jahren
auf der spezifischen Station zeigten, wurden unter der Rubrik Sonstiges
zusammengefasst. Dies betraf insgesamt 21 Prozent der Patienten in dieser
Gruppe.
Die Frage, ob Alkoholabusus auch eine Form des selbstschädigenden Verhaltens
darstellen kann, wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. So zählt
beispielsweise
Favazza
(1998)
eine
Überdosierung
von
Alkohol
und
Medikamenten nicht zum selbstverletzenden Verhalten, während hier nach
Linehan et al. (2006) ein Zusammenhang besteht. Für die Sichtweise von Favazza
spricht ein schlecht erkennbarer Zusammenhang zwischen der Verhaltensweise
und der dadurch erkennbaren zugefügten Schädigung. Ebenfalls ist Alkohol- und
Medikamentenkonsum in Form eines komorbiden Substanzmissbrauchs möglich
Diskussion
78
(Nitkowski, 2009). Andere Studien sind eher der Auffassung, dass weniger der Art
oder Form eine Bedeutung beigemessen werden soll. Vielmehr gilt es die
zugrunde
liegende
Absicht
des
(suizidalen
oder
nicht-suizidalen)
selbstschädigenden Verhaltens zu erfassen (Nitkowski et al., 2009). In unserer
retrospektiven
Studie
wird
die
letztere
Sichtweise
vertreten
und
der
Alkoholkonsum aus einer selbstverletzenden Absicht heraus auch als ein
diesbezügliches Verhalten gewertet. Bei nicht eindeutiger Sachlage wurde mit
einem Facharzt Rücksprache gehalten.
Das nichtsuizidal motivierte selbstverletzende Verhalten wurde unter anderem von
Petermann et al. (2008) als eine eigenständige diagnostische Entität diskutiert und
vorgeschlagen, es in diverse Klassifikationssysteme aufzunehmen. Die emotionale
Dysregulation ist zentrales Merkmal der BPS. Sie geht mit erhöhter affektiver
Reagibilität und gesteigerten negativen Emotionen einher. Zur Durchbrechung
dieser quälenden, aversiven Spannungszustände kommt dem selbstverletzenden
Verhalten große Bedeutung zu (Kamphuis et al., 2007). So kann dies als eine
spezifische Persönlichkeitseigenschaft beziehungsweise Trait von manchen
Patienten gesehen werden, wohingegen andere über davon abweichende
Copingstrategien
zur
Emotionsregulation
verfügen.
Vor
Beginn
der
Datenerhebung bestand die Vermutung, dass ein erhöhtes Aufkommen an
selbstverletzenden Handlungen speziell am Beginn und am Ende des stationären
Aufenthaltes zu finden ist. Grund dieser Annahme war, dass gerade diese beiden
Zeitpunkte mit erhöhter emotionaler Spannung und psychischem Stress
verbunden sind. Dies konnte allerdings nicht bestätigt werden. So zeigte sich über
alle vier Aufenthaltsquartale eine annähernd konstant bleibende Frequenz an
selbstschädigenden Handlungen. Auch die Zahl der Personen, bei denen es zu
selbstschädigenden
Aufenthaltsabschnitte
Handlungen
nahezu
gekommen
konstant.
war,
Dies
blieb
spricht
über
die
dafür,
vier
dass
selbstverletzendes Verhalten bei einer bestimmten Patientengruppe einen festen
Bestandteil der Stressbewältigung darstellt. Bei diesem Krankheitsbild können
unterschiedliche, im zeitlichen Verlauf willkürlich auftretende Stressoren intensive
negative Affekte hervorrufen. Durch selbstverletzendes Verhalten versucht eine
Gruppe von Patienten diese zu durchbrechen um Entspannung herbeizuführen.
Diskussion
79
4.3.2 Suizidales Verhalten während des Aufenthalts
Die Gruppe der Patienten mit suizidalem Verhalten war mit 22 Patienten zu klein
um in sinnvoller Weise quantitative Berechnungen durchführen zu können.
Insbesondere war mit sieben Personen die Anzahl der Patienten mit einem
Suizidversuch während des Aufenthaltes recht klein. Daher soll im Folgenden auf
die Patientengruppe mit suizidalem Verhalten in qualitativer Weise eingegangen
werden. Bei dem Patientenkollektiv von 87 Patienten wurden insgesamt sieben
durch einen Suizidversuch auffällig, bei 16 konnten Suizidankündigungen eruiert
werden. Bei neun geschah dies in Form einer direkten und bei sieben Personen
durch eine indirekte Suizidankündigung. Ein Hochrisiko-/suizidales Verhalten
zeigten 12 der untersuchten stationären Patienten. Bei den sieben Personen mit
Suizidversuch wurden verschiedene Methoden angewandt. Ein männlicher Patient
versuchte sich mit Hilfe eines Kabels zu erhängen. Die anderen sechs Patienten
waren allesamt weiblich. Zwei von ihnen wollten sich vor den Zug werfen und so
ihrem Leben ein Ende setzen. Bei den restlichen Suizidversuchen handelte es
sich um Medikamentenintoxikationen. Auffallend war hierbei, dass bei sechs
dieser insgesamt sieben Patienten in der Vorgeschichte mindestens ein
Suizidversuch in Erfahrung zu bringen war. Von der Methode ähnelten diese
Versuche denen während des Aufenthalts. Beispielsweise waren bei dem
männlichen Patienten, der sich durch Erhängen suizidieren wollte, zwei
Strangulationsversuche in der Vergangenheit in Erfahrung zu bringen. Des
Weiteren wurden die Suizidversuche gelegentlich von Substanzmissbrauch und
selbstverletzendem Verhalten begleitet. So fand sich Alkoholabusus und
selbstverletzendes Verhalten in Form von Schneiden sowohl bei dem männlichen
Patienten als auch bei einer Patientin, die sich vor den Zug werfen wollte. Bei all
diesen sieben Patienten war sowohl in der Vorgeschichte als auch während des
stationären Aufenthalts mehrfach ein selbstverletzendes Verhalten ausfindig zu
machen. Regelmäßig wurden die Suizidversuche während des stationären
Aufenthalts von diversen direkten und indirekten Suizidäußerungen oder einem
suizidalen Verhalten begleitet. Dies und die hohe Parallelität aus suizidalem und
selbstverletzendem Verhalten reflektieren die Schwere der Erkrankung und
unterstreichen nochmals die Ausführung von oben, dass diese Gruppe beide
Selbstschädigungsformen benötigt, um mit Belastungen fertig zu werden. Des
Weiteren bestätigen die retrospektiv erhobenen Suizidversuche auch die These,
dass ein stattgehabter Suizidversuch als ein Risikofaktor für das Auftreten eines
Diskussion
80
weiteren gewertet werden muss. Untermauert wird dies durch eine groß angelegte
Studie. Um Risikofaktoren für einen Suizid zu identifizieren, wurden von Brown et
al. (2000) in einer prospektiven Studie 6891 ambulante psychiatrische Patienten
über 20 Jahre beobachtet. Hierbei zeigte sich, dass ein früherer Suizidversuch ein
signifikanter Risikofaktor für einen zukünftigen Suizidversuch darstellt. Demnach
sollte dies als ein wichtiger Bestandteil zur Abschätzung des suizidalen Risikos in
die Bewertung eines psychiatrischen Patienten einfließen.
Suizidversuche und selbstverletzendes Verhalten weisen häufig Gemeinsamkeiten
in der Art der Selbstschädigung auf, eine klare Unterscheidung ist aufgrund der
Ähnlichkeit beider Phänomene nicht immer möglich. Beispielsweise kann das
Schneiden oder der Medikamentenabusus bei beiden Formen zur Anwendung
kommen (Nitkowski et al., 2010). Aufgrund dieser Überschneidung kann sich eine
hinreichende Differenzierung dieser beiden Verhaltensmuster im klinischen Alltag
gelegentlich
schwer
gestalten
und
ein
selbstverletzendes
Verhalten
fälschlicherweise als ein Suizidversuch gewertet werden (Favazza, 1998).
Allerdings
kommt
der
Unterscheidung
zwischen
selbstverletzendem
und
suizidalem Verhalten immense Bedeutung zu. Nicht zuletzt deshalb, da sich bei
den beiden Formen der Selbstschädigung unterschiedliche therapeutische
Konsequenzen ergeben. Ein hilfreiches Kriterium für die Trennung dieser zwei
Phänomene kann die Betrachtung der Selbstverletzungsmethode und der
medizinischen Verletzungsschwere darstellen. Von Nitkowski et al. (2010) wurden
diesbezüglich mehrere Studien (wie beispielsweise Jacobson et al., 2008; Brown
et al., 2002; Chapman et al., 2007; Linehan et al., 2006) ausgewertet und
verglichen. Hier wurde Schneiden im Durchschnitt bei etwa 42 Prozent der Fälle
für selbstverletzendes Verhalten genutzt, aber nur in 26 Prozent für einen
Suizidversuch.
Offensichtlicher
war
dies
bei
härteren
Methoden
der
Selbstschädigung. Ein Sturz aus der Höhe oder die Nutzung von Schusswaffen
waren im Rahmen des selbstverletzenden Verhaltens gar nicht zu finden, dafür
aber schweres Kratzen und Schlagen. Etwas schwerer kann die Abgrenzung bei
der Überdosierung von Arzneimitteln, Drogen oder dem Abusus anderer
Substanzen von einer nicht-suizidalen, selbstverletzenden Handlung sein. Jedoch
zeigten sich diese Methoden in jeder der vier oben genannten Studien mit
deutlicher Mehrheit als suizidal motiviert. Diese Erkenntnis ist auch sehr gut mit
den Ergebnissen unserer Studie in Einklang zu bringen. Des Weiteren konnte
Diskussion
81
Nitkowski (2010) aufzeigen, dass 56 Prozent aller Suizidversuche durch
Überdosierung an Arzneimitteln und Drogen ausgeübt wurden. In unserer
Patientengruppe
waren
bei
sieben
Personen
während
des
stationären
Aufenthaltes insgesamt acht Suizidversuche in Erfahrung zu bringen. Von diesen
acht
Suizidversuchen
wurden
fünf
in
Form
einer
Überdosierung
von
Medikamenten ausgeübt, was einem prozentualen Anteil von etwa 63 Prozent
entspricht. Diese Größenordnung stimmt gut mit dem von Nitkowski errechneten
Prozentsatz überein. In der Differenzierung dieser selbstschädigenden Handlung
gilt es folgende Aspekte zu berücksichtigen. So kann die Annahme einiger Studien
(Hasley et al., 2008) nicht durchgehend bestätigt werden, dass ein starker Wunsch
zu sterben regelmäßig auch mit erhöhter Verletzungsschwere einhergeht. Ein
solcher
Zusammenhang
zwischen
der
Gefährlichkeit
des
Suizidversuchs
einerseits und der Suizidabsicht andererseits erfordert (nach Brown et al., 2004)
auch eine genaue Einschätzung der Tödlichkeit der angewandten Methode. Auf
die suizidal motivierte Überdosierung der Medikamente übertragen bedeutet dies,
dass fundiertes Wissen um die Wirkung einer bestimmten Substanz und deren
Dosierung
vorhanden
sein
muss.
Ohne
ein
profundes
biologisch-
pharmakologisches Hintergrundwissen kann der Betroffene die Tragweite seines
Handelns nicht sicher abschätzen. In der Differenzierung zwischen suizidalem und
selbstverletzendem Verhalten gilt es daher von therapeutischer Seite abzuklären,
welche Motive verfolgt wurden und in welcher Weise sich der Patient im Vorfeld
über erwartete und tatsächliche Verletzung im Klaren war (Nitkowski et al., 2010).
Selbstverletzendes Verhalten ist wie das suizidale Verhalten regelmäßig mit dem
Krankheitsbild der BPS assoziiert und daher auch fester Bestandteil der
Diagnosekriterien. Solch selbstschädigendes Verhalten kann gehäuft ein schnelles
Handeln erzwingen und eine stationäre Aufnahme wird dann meist unumgänglich.
Allerdings ist das Einfordern eines sofortigen Sistierens dieser Verhaltensweise
meist unrealistisch (Steinert, 2012). Aber genau dies wird im Rahmen einer
Psychotherapie in den meisten Einrichtungen verlangt und durch einen
Therapievertrag festgehalten. Des Weiteren ist bei diesen Einrichtungen mit einer
längeren Wartezeit zu rechnen. Eine Alternative zur allgemeinpsychiatrischen
Aufnahmestation bietet die auf Borderline-Persönlichkeitsstörungen fokussierte
Spezialstation des ZfP Südwürttemberg in Weissenau. Sie bietet den Vorteil eines
deutlich symptomspezifischeren psychotherapeutischen Vorgehens. Außerdem
Diskussion
82
wird durch eine ähnliche Patientenklientel die Stationsatmosphäre für die
Patienten verbessert. So kann der Patient nach akuter Krisenintervention für eine
anschließende
ambulante
oder
teilstationäre
Psychotherapie
vorbereitet
beziehungsweise motiviert werden.
4.3.3 Selbstschädigendes Verhalten während des Aufenthalts
Hypothese 1a
Selbstverletzendes Verhalten kann mit einer Reihe von psychischen Störungen
wie beispielsweise Essstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen oder
Substanzmissbrauch vergesellschaftet sein (Nitkowski et al., 2009; Petermann et
al., 2008). Neben diesen psychischen Störungen tritt selbstverletzendes Verhalten
aber gehäuft gemeinsam mit Suizidversuchen auf. Diese Annahme führte zur
Hypothese 1a. Bei dieser wurde ein Zusammenhang zwischen selbstverletzendem
Verhalten einerseits und suizidalem Verhalten andererseits postuliert. Bei einem
Korrelationskoeffizienten
von
r
=
0,413
nach
Spearman
und
einem
Signifikanzniveau von p < 0.01 konnte diese Alternativhypothese angenommen
und ein positiver Zusammenhang bestätigt werden. Des Weiteren wurde dieser
Zusammenhang auch anhand eines Mann-Whitney U-Tests bestätigt. Im Hinblick
auf suizidales Verhalten unterschied sich die Gruppe der Patienten mit
selbstverletzendem Verhalten signifikant von der Gruppe ohne selbstverletzendes
Verhalten. Ebenfalls war bei der Gruppeneinteilung suizidales Verhalten ja/nein
ein hochsignifikanter Unterschied gegenüber dem selbstverletzenden Verhalten
ersichtlich. Ein solch gleichsinniger Zusammenhang findet sich auch in aktueller
Literatur. Von den beiden Autoren Nitkowski und Petermann (2012) wird die Rate
der Komorbidität beider Verhaltensmuster über mehrere Stichproben auf 56
Prozent geschätzt. Die Hypothese nach Joiner (2005) könnte als weiterer
möglicher Grund den positiven Zusammenhang dieser beiden Formen der
Selbstschädigung untermauern. Hierbei wird postuliert, dass eine Person durch
ihre selbstverletzenden Handlungen sowohl mutiger als auch kompetenter wird.
Die Angst vor einer suizidalen Handlung schwindet zunehmend bis die
Hemmschwelle
für
diese
extreme
Handlung
überwunden
wird.
Durch
selbstverletzendes Verhalten kann somit der Weg in Richtung suizidales Verhalten
gebahnt werden.
Diskussion
83
Hypothese 1b
Der positive Zusammenhang zwischen selbstverletzendem und suizidalem
Verhalten spiegelte sich auch in Hypothese 1b wider. Von therapeutischer Seite
wird jeder Patient in zeitlich sinnvollen Abständen hinsichtlich Suizidalität beurteilt
und ihm eine der fünf Suizidstufen zugeteilt. Sie reflektiert daher ebenfalls die
Suizidalität und ist somit ein indirektes Maß für das suizidale Verhalten. Dem
Patientenkollektiv war zu 44 Prozent die Suizidstufe 2 vergeben worden, gefolgt
von Suizidstufe 3 mit 30 Prozent, Suizidstufe 1 mit 16 Prozent und Suizidstufe 4
mit 10 Prozent. Die Annahme eines direkten Zusammenhangs zwischen der Höhe
der Suizidstufe einerseits und dem selbstschädigenden Verhalten andererseits
bestätigte sich in einer Spearman Rangkorrelation bei einem Signifikanzniveau
von p < 0.01. Somit ist im Durchschnitt bei einer höheren Suizidstufe auch
vermehrt selbstverletzendes Verhalten zu finden. Dies bestätigt ebenfalls die
Hypothese 1a.
Hypothese 2
Die Hypothese 2 konnte nicht bestätigt werden, da sich im t-Test zwischen der
Gruppe mit selbstschädigendem Verhalten und der ohne selbstschädigende
Handlungen beim Therapieerfolg kein signifikanter Unterschied zeigte. Allerdings
wurde in einer Varianzanalyse ersichtlich, dass die Gruppe der Patienten mit
selbstschädigendem Verhalten im Durchschnitt kränker sind. Es zeigte sich in
allen drei Therapiebeurteilungs-Tests BDI, SCL-90 und CGI, dass diese
Patientengruppe durchschnittlich von einem schlechteren Ausgangsniveau startet.
Auch bei Entlassung waren die Patienten mit selbstschädigendem Verhalten
während des Aufenthalts schwerer krank als die ohne solche Handlungen. Die
Differenz der Krankheitsschwere zwischen beiden Gruppen war bei Entlassung
annähernd gleich wie die bei Aufnahme, was einen annähernd parallelen Verlauf
der beiden Geraden zur Folge hatte. Lediglich beim Selbstbeurteilungstest zur
allgemeinen psychischen Symptomatik (SCL-90-R) war ein Interaktionstrend zu
erkennen, wobei sich die Patientengruppe mit selbstschädigendem Verhalten von
der ohne insofern unterschied, dass Patienten mit selbstschädigendem Verhalten
eher etwas weniger Therapieerfolg aufweisen. Diese Phänomene sind mit
aktuellen Studien und dem derzeitigen Wissensstand gut vereinbar. Nitkowski
(2009) verglich diverse Studien: Die Untersuchung von Jacobson et al. (2008)
Diskussion
84
zeigte unter anderem, dass Jugendliche mit selbstverletzendem Verhalten meist
weniger depressiv, hoffnungslos und einsam sind sowie dem Leben zugeneigter
erscheinen als die Vergleichsgruppe der Jugendlichen, die Suizidversuche
begangen hatten. Des Weiteren konnte aufgezeigt werden, dass im Hinblick auf
depressive Symptomatik, Suizidgedanken, Aggression, Wut und Lebensfreude
speziell
die
Gruppe
psychisch
stärker
beeinträchtigt
war,
die
beide
Selbstschädigungsformen (also selbstverletzendes und suizidales Verhalten)
aufwies.
Es
kann
vermutet
werden,
dass
diese
Patienten
beide
Selbstschädigungsformen benötigen, um mit Belastungen fertig zu werden. Wird
eine Rangfolge gebildet, so zeigt sich, dass Patienten mit beiden Formen der
Selbstschädigung am stärksten belastet sind. Nachfolgend schließen sich die
Patienten mit ausschließlich suizidalem Verhalten an, gefolgt von einem weniger
deutlichen Unterschied bei den Patienten mit und den Patienten ohne
selbstverletzendes Verhalten. Somit scheint der Grad der Belastung einen
signifikanten Einfluss darauf zu haben, welche Form des selbstschädigenden
Verhaltens gewählt wird - also ob ein selbstverletzendes Verhalten, ein suizidales
Verhalten, die Kombination aus beiden, oder etwa keines praktiziert wird
(Nitkowski, 2009).
4.4 Einschränkungen
Die Durchführung dieser Studie erfolgte in einer retrospektiven, statistischen
Analyse. Ein solches Studiendesign ist in Form einer nicht-interventionellen Studie
meist kostengünstig und ethisch in der Regel unbedenklich. Allerdings muss als
Nachteil in Kauf genommen werden, dass mit dieser Studienart die Klärung eines
kausalen Zusammenhanges nicht schlüssig möglich ist. Es muss stets mit dem
Einfluss einer Störgröße, eines sogenannten Confounders, gerechnet werden.
Eine weitere Limitierung bei dieser Art der Studie ist die Erinnerungsverzerrung,
der Recall Bias. Diese machte sich beispielsweise in der Auswertung der
Arztbriefe bemerkbar. Im Zusammenhang mit der Anamnese, also der
Vorgeschichte des Patienten, wird von therapeutischer Seite in erster Linie das
dokumentiert, was der Patient erzählt, woran dieser sich erinnern kann und welche
Bedeutung dem beigemessen wird.
Diskussion
85
Eine weitere Einschränkung entstand dadurch, dass der Therapieerfolg nicht bei
jedem Patienten durchgehend erhoben werden konnte. So waren bei dem BDIWert bei etwa 56 Prozent und beim SCL-90-Wert bei etwa 54 Prozent der
Patienten ein kompletter Datensatz aus Aufnahme- und Entlasswert in Erfahrung
zu bringen. Beim CGI-Entlassung wurde immerhin bei 93 Prozent der Patienten
eine Beurteilung vorgenommen.
Durch die Form einer retrospektiven Studie konnte nur das ausgewertet werden,
was auch in der elektronischen Patientenakte Medicare dokumentiert war.
Selbstverletzende Handlungen und vor allem Suizidalität werden sehr ernst
genommen. Daher kann man zuverlässig davon ausgehen, dass bei Eintreten
eines solchen Ereignisses, dieses auch vermerkt wird. Allerdings gibt es
gelegentlich auch Vorkommnisse, die aufgrund subjektiver Wertung durch
Therapeuten oder Pflegepersonal gewissen Schwankungen unterliegen. Eine
zuverlässige Reproduzierbarkeit ist hier nicht immer gegeben. Als Beispiel sei der
Konsum von Alkohol genannt. Dieser Abusus kann im Rahmen eines
Substanzmissbrauchs auftreten, aber auch dem Zweck einer selbstverletzenden
Handlung dienen. Gewertet wurde hierbei so, wie es in der Patientenakte
deklariert war. Bei unklarer Fallsituation wurde mit einem Facharzt für Psychiatrie
Rücksprache gehalten.
86
5 Zusammenfassung
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist eine psychische Erkrankung,
deren zentrales Merkmal eine Störung der Affektregulation darstellt. Die
Reizschwelle gegenüber relevanten emotionalen Stimuli ist niedrig und wird mit
rasch aufschießenden und intensiven Affektregungen beantwortet. Das sehr hohe
Erregungsniveau bildet sich dabei auch nur verzögert wieder zurück. Des
Weiteren ist eine Differenzierung verschiedener Gefühlsqualitäten wie Wut, Angst
oder Verzweiflung oft erschwert. Diese Spannungszustände werden meist als ichdyston und aversiv-quälend empfunden, ein Großteil der Patienten versucht diese
negativen
emotionalen
Zustände
mit
selbstschädigendem
Verhalten
zu
durchbrechen. Selbstverletzendes Verhalten, komorbider Substanzmissbrauch
und suizidale Krisen stellen somit ein großes Problem bei den - überwiegend
weiblichen - Patienten dar und können eine akute Aufnahme in eine psychiatrische
Klinik bedingen. Im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg in Weissenau
wurde Ende 2005 im Rahmen einer Umstrukturierung eine Akutstation gegründet,
in der speziell Patienten mit Persönlichkeitsstörungen und akuten Krisen zur
Aufnahme gelangen. In dieser retrospektiven Studie soll die Patientengruppe der
BPS analysiert und insbesondere die Art und Häufigkeit von selbstschädigendem
Verhalten und Suizidalität erfasst und systematisch ausgewertet werden. Ein
direkter Zusammenhang zwischen diesen beiden Verhaltensmustern wurde
angenommen. Ebenso sollte die Beziehung zwischen selbstschädigendem
Verhalten und Therapieerfolg untersucht werden. Zur Untersuchung gelangten alle
Patienten mit den Diagnosen 'emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom
Borderline-Typ' sowie 'kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen' (F60.31
und F61), die 2008 und 2009 auf der gemischtgeschlechtlichen Station in
Weissenau stationär aufgenommen waren. Die nötigen Informationen zu dem
jeweiligen Patienten wurden mit Hilfe der elektronischen Patientenakte Medicare
anhand der Verlaufsdokumentation sowie der Arztbriefe generiert. Zur Erhebung
der Daten diente ein selbst entworfenes Datenblatt, das im Wesentlichen folgende
Punkte beinhaltete: Zeitraum und Anzahl der Tage des Indexaufenthalts,
Aufenthalte seit dem Jahr 2000, die maximal vergebene Suizidstufe, sowie die
Rubriken
Selbstverletzung,
suizidales
Verhalten
und
Vorgeschichte.
Der
Zusammenfassung
87
Therapieerfolg wurde anhand der Selbstbeurteilungsskalen zu Depression und
allgemeiner psychischer Symptomatik sowie des Fremdbeurteilungsinstruments
zum klinischen Eindruck gemessen. Die Auswertung erfolgte mit den Programmen
Statistica und Excel. In der spezifischen Station wurden in 2008 und 2009
insgesamt 87 Patienten stationär aufgenommen. Dies waren mit 89 Prozent
überwiegend Frauen. Im Mittel lag die Aufenthaltsdauer bei 40,3 Tagen, das Alter
bei 32,3 Jahren. Auch waren mit durchschnittlich 3,4 Voraufenthalten mehrere
Voraufenthalte die Regel. Selbstverletzendes Verhalten wurde von 38 Prozent der
Patienten während des Aufenthaltes ausgeübt, wobei Schneiden die mit Abstand
häufigste praktizierte Methode war. Die Frequenz der Handlungen blieb über den
Aufenthalt
annähernd
gleichmäßig
verteilt,
auch
waren
im
Mittel
pro
Aufenthaltsquartal etwa gleich viele Patienten dahingehend auffällig. Zwölf
Patienten zeigten ein Hochrisiko-/suizidales Verhalten, Suizidankündigungen
waren bei neun in direkter und bei sieben in indirekter Weise geäußert worden. Zu
Suizidversuchen kam es bei sieben Patienten. Beide Formen des selbstschädigenden Verhaltens korrelierten hochsignifikant. Zwischen ihnen war kaum
Unterschied beim Therapieerfolg zu erkennen. In einer Varianzanalyse zeigte sich,
dass die Patienten mit selbstschädigendem Verhalten kränker sind als Patienten
ohne
dieses
Merkmal,
der
Therapieerfolg
jedoch
ähnlich
groß
ist.
Selbstschädigendes Verhalten ist regelmäßig mit dem Krankheitsbild der BPS
assoziiert und kann einen stationären Aufenthalt erforderlich machen. Von
therapeutischer Seite ein sofortiges Sistieren dieser Handlungsweise einzufordern,
ist
meist
nicht
angebracht.
Selbstverletzende
Handlungen
sind
als
selbstschädigendes Verhalten stark mit suizidalem Verhalten assoziiert und somit
neben einem vorherigen Suizidversuch ein wichtiger Risikofaktor für einen
weiteren. Das Differenzieren dieser beiden Verhaltensweisen ist oft eine klinische
Herausforderung. Selbstschädigende Verhaltensweisen spiegeln die Stärke der
psychischen Erkrankung wider. Im Umkehrschluss kann gesagt werden, dass
diese Verhaltensweisen benötigt werden, um mit Belastungen fertig zu werden.
Für diese meist sehr kranken Patienten bietet die spezifische Akutstation eine
Alternative zur allgemeinpsychiatrischen Aufnahmestation. Durch die vom
Krankheitsbild
her
homogene
Klientel
wird
so
eine
angenehmere
Stationsatmosphäre erreicht, in der eine effektivere Therapiemotivation für die
meist anschließende Psychotherapie geschaffen werden kann.
88
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7 Danksagung
Danksagung aus Gründen des Datenschutzes entfernt.
98
8 Anhang
,
8.1 Datenblatt Projekt Suizidalität
Name, Vorname
Medicare - Patientennummer
von:
Medicare – Aufnahme ID
(Fall-ID)
bis:
Indexaufenthalt Zeitraum
(Def.: bei mehreren Aufenthalten, der
mit höchster Suizidstufe)
Anzahl Tage
Indexaufenthalt
Suizidstufe
Datum + Uhrzeit
Häufigkeit (welcher Tag nach Aufnahme) + Summe
Bemerkung
□ Schneiden
□ ja
□ Brennen
□ nein
□ Kratzen
Selbstverletzungen
□ Wunde aufreißen
□ Anderes:
Häufigkeit / Anzahl
Suizidversuch
Direkte Suizidankündigung
Indirekte Suizidankündigung
Hochrisikoverhalten / suizidales Verhalten
Blatt-Nr.
Aufenthalte gesamt seit
2000
Bemerkung
Bis zu drei Tage vor der Aufnahme
Lifetime-Vorgeschichte
Selbstverletzung
nein
einmalig
mehrfach
unklar
nein
einmalig
mehrfach
unklar
Suizidversuch
nein
einmalig
mehrfach
unklar
nein
einmalig
mehrfach
unklar
Risikoverhalten
nein
einmalig
mehrfach
unklar
nein
einmalig
mehrfach
unklar
Substanzmissbrauch
nein
einmalig
mehrfach
unklar
nein
einmalig
mehrfach
unklar
Blatt-Nr.
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