Selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsmedizin Göttingen Suizidalität: Definition • Suizidale Gedanken und Affekte („suicidal ideation“): Verbale und nicht verbale Anzeichen, die direkt oder indirekt die Beschäftigung mit Selbsttötungsideen anzeigen, ohne Verknüpfung mit konkreten Handlungen. • Suizidversuch („suicide attempt“): Gezielte und bewusste Handlungen mit der festen Absicht oder der Inkaufnahme, dass Leben zu beenden • In den gebräuchlichen Diagnoseklassifikationen ICD-10 und DSM-IV ist Suizidalität ist ein Symptom, keine Diagnose. • Das Symptom Suizidalität allein lässt keine Einschätzung der psychiatrischen Erkrankung zu. Suizidalität: Leitsymptome Nachweis von Symptomen des präsuizidalen Syndroms (nach Ringel): - Einengung von Verhalten, Gefühlen und zwischenmenschlichen Kontakten - Wendung von Aggressionen und innerer Anspannung gegen die eigene Person - Todeswünsche, Suizidphantasien und konkrete Suizidpläne Verbale Ankündigungen als Appell, Drohung oder Hilfeersuchen Kritisch ist anzumerken, dass bei Kindern und Jugendlichen diese Symptome häufig schwer nachzuweisen sind, weil Schwierigkeiten beim verbalen Ausdruck, der Art der Hilfesuche und den Bewältigungsmöglichkeiten bestehen. Bei Kinder- und Jugendlichen finden sich daher häufig scheinbar unvorhersehbare suizidale Handlungen mit stark impulsiven Verhalten, akuten Angst- oder Panikattacken Suizidalität: Diagnostik • Zur Einschätzung von Suizidalität ist immer die Erhebung der ausführlichen Eigen- und Fremdanamnese notwendig • Beschreibung objektiver und subjektiver Belastungsfaktoren (Verlusterlebnisse, Beziehungskrisen, Vernachlässigung, soziale Belastungen u. ä.) • Einschätzung der Gefährdung und des Wiederholungsrisikos (Schweregrad der Belastungen und der bestehenden psychischen Erkrankung, manifeste Suizidversuche, geringe Problemlösungskompetenz, Impulsivität) • Suizidalität ist die wichtigste und häufigste Indikation für die psychiatrische Behandlung und Krisenintervention, die Einschätzung von Suizidalität ist grundlegend für die Auswahl des Behandlungssettings Suizidalität: Zahlen • Suizide gehören zu den häufigsten unnatürlichen Todesursachen im Kindes- und Jugendalter. Mit ca. 20 000 Suizidtoten in Gesamtdeutschland liegt die aktuelle Zahl von 2004 bei immer noch 10 733 Suiziden, davon 242 vor dem 20. Lebensjahr. • Unter dem Alter von 12 Jahren sind Suizidversuche und vor allem Suizide sehr selten. Hintergrundbedingungen von Unfällen bei Kindern, die sich ungewollt verletzen oder fälschlich etwas Gefährliches schlucken, sind oft ähnlich wie bei suizidalen Handlungen. • Suizidversuche sind unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen (im Gegensatz zum höheren Lebensalter) weit häufiger als Suizide und betreffen häufiger Mädchen und Frauen. Suizidalität: Risikofaktoren • Die typische Koppelung von Suizidalität mit umschriebenen psychiatrischen Erkrankungen wie im Erwachsenenalter ist vor allem bei Kindern, aber auch Jugendlichen weniger ausgeprägt. • Trotzdem zählen aber vor allem bei den Suiziden psychische Störungen auch im Kindes- und Jugendalter zu den prädisponierenden Faktoren (bei Jugendlichen bis zu 90%). • Suizidversuche im Jugendalter können das erste Zeichen einer beginnenden und dann in unterschiedlichem Ausmaß anhaltenden psychischen Störung sein. • Neben der Krisenintervention ist deshalb vor allem unter präventiven Gesichtspunkten den beginnenden und vorhandenen psychischen Störungen Beachtung zu schenken, da diese häufig zu den Faktoren gehören, die die längerfristige Prognose der Suizidalität bestimmen. Suizidalität: Risikofaktoren • Chronische familiäre Kommunikationsstörungen sind unspezifische, aber wichtige Belastungsfaktoren für erhöhte Suizidalität. Eine besondere Risikogruppe sind die Kinder von depressiven Eltern. Unter jenen finden sich gehäuft depressive und suizidale Symptome. • Von zunehmender, noch nicht abschätzbarer Bedeutung für die "Szene" wird das Internet unter dem Stichwort Cybersuicide. Dabei kann Suizidalität ausagiert und reduziert, aber auch angestachelt und aufrechterhalten werden. • Wie bei vielen anderen Störungen ist oft nicht allein das Ausmaß einer psychosozialen Belastung ausschlaggebend, das zur Suizidalität führt, sondern das Zusammentreffen mit mangelnden individuellen Verarbeitungs- und Problemlösungsfähigkeiten und mit der ungenügenden Nutzung familiärer Ressourcen. Suizidalität: Risikofaktoren Entwicklungsbedingte Risikofaktoren, die bei Kindern- und Jugendlichen besonders zu berücksichtigen sind: . • • • • Unfähigkeit, Wesensmerkmale von Leben und Tod eindeutig zu erkennen (vor allem bei kleinen Kindern) Unsicherheit, gefährliche und ungefährliche Methoden zuverlässig zu diskriminieren Unsicherheit, Handlungen zu planen und durchzuführen Geringere Kompetenz zu Ich-Reflexion und damit im negativen Fall zu Selbstentwertung Geringerer Schweregrad und kürzere Dauer psychischer Störungen Suizidalität: Komorbidität • An begleitenden Diagnosen sind zu erwarten: – Akute psychosoziale Belastungsreaktionen – Posttraumatische Belastungsstörungen – Störungen des Sozialverhaltens/ Störung der Impulskontrolle, dissoziales Verhalten in ca. 50% der Fälle – Nikotin-, Cannabis- und Alkoholkonsum sowie andere Formen des Substanzmissbrauchs, ca. 40-65% der Fälle – Angststörungen und andere emotionale Störungen – Persönlichkeitsstörungen (Borderline-Syndrom, narzisstische Persönlichkeitsstörung) – Affektive Störungen, Depressionen in ca. 2/3 der Fälle – Schizoaffektive und schizophrene StörungenPsychosen Suizidalität: Persönlichkeit • An Persönlichkeitsmerkmalen sind zu erwarten: – Abnorme Irritierbarkeit, Impulsivität, Überempfindlichkeit, geringe Frustrationsintoleranz – Exzessive Ängstlichkeit gegenüber kommenden Ereignissen – Chronische depressive Hintergrundstimmung Selbstverletzendes Verhalten: Definition • Unter dem Begriff selbstverletzendes Verhalten werden verschiedene Handlungsweisen zusammengefasst, deren gemeinsames Ziel die Beschädigung des eigenen Körpers ist. • Es gibt eine Vielzahl synonymer Bezeichnungen: Selbstdestruktives Verhalten, Selbstbestrafendes Verhalten, Autoaggressives Verhalten, Automutilatio, Masochistisches Verhalten, Selbstverstümmelung • Selbstverletzendes und suizidales Verhalten haben gemeinsam, dass sich ein schädigender Impuls gegen den eigenen Körper richtet Selbstverletzendes Verhalten: Definition • Selbstverletzendes Verhalten zielt in der Regel allerdings nicht auf die Beendigung des Lebens , sondern dass die wiederholte Beschädigung des eigenen Körpers das zentrale Phänomen darstellt. • Die Wiederholungstendenz gehört ebenso dazu wie die Verletzung als solche. • Bei selbstverletzendem Verhalten handelt sich ebenso nicht um eine Diagnose handelt, sondern um Verhaltensweisen, die in der Regel mit einem komplexen Störungsbild im Rahmen verschiedenster Erkrankungen vergesellschaftet sind Selbstverletzendes Verhalten: Komorbidität Bei folgenden kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen sind selbstverletzende Verhaltenweisen gehäuft anzutreffen: • • • • • • • • • Autistische Störungen Geistige Behinderungen Affektive und schizophrene Psychosen Zwangsstörungen Ticstörungen/Tourette-Syndrom Deprivationssyndrome Störungen des Sozialverhaltens Persönlichkeitsstörungen Essstörungen Selbstverletzendes Verhalten: Formen Schwere Formen von selbstverletzendem Verhalten / Stereotypien: Abbeißen von Fingerkuppen, Zufügung von tiefen Wunden und Verletzungen durch Kopfschlagen, Ins-Gesicht-schlagen, In-dieAugen-bohren, Beißen in Hände, Lippen oder andere Körperpartien Diese schwere Form findet sich gehäuft bei autistischen Syndromen, geistiger Behinderung. Hiervon abzugrenzen sind andere Formen der Selbstverletzung: Sich-Schneiden, Ritzen, Brennen, Inhalieren etc. mit eher sporadischem Auftreten bei psychischer Anspannung Dabei handelt es sich um die häufigste Form bei Jugendlichen, vor allem bei Störungen des Sozialverhaltens, instabilen Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ, neurotischen Störungen und Essstörungen. Selbstverletzendes Verhalten: Diagnostik • Ausschluss von organischen Erkrankungen, die das selbstverletzende Verhalten bzw. dessen Intensität beeinflussen. • Differentialdiagnostisch abzugrenzen sind stereotype Bewegungen von Zwangsstörungen, extrapyramidalen Bewegungsstörungen und motorischen Automatismen im Rahmen einer psychomotorischen Epilepsie. Ticstörungen, Trichotillomanie und Bewegungsstörungen körperlichen Ursprungs müssen von den stereotypen Bewegungsstörungen abgegrenzt werden. • Nach Ausschluss dieser Erkrankungen ist zu eruieren, ob die selbstverletzenden Verhaltensweisen überwiegend dann auftreten, wenn die Kinder besonders beachtet werden wollen, oder ob sie besonders häufig in der Gegenwart bestimmter Personen auftreten (Verhaltensanalyse). Selbstverletzendes Verhalten: Diagnostik • Im Weiteren ist darauf zu achten, ob durch das Auftreten der selbstverletzenden Verhaltensweisen Anforderungen oder andere Tätigkeiten, die den Kindern unangenehm sind, vermieden werden können. • Darüber hinaus wurde in den letzten Jahren der soziale bzw. kommunikative Charakter von selbstverletzenden Verhaltensweisen stärker beachtet. Dies bedeutet, dass die Symptomatik auch die Funktion einer Mitteilung haben kann, wie z.B. dass ein Anliegen des Kindes nicht berücksichtigt wurde, wobei dem Kind keine andere Form der Mitteilung an seine Umwelt zur Verfügung steht. • Weiterhin bleibt zu prüfen, ob die selbstverletzenden Verhaltensweisen die Funktion einer Selbststimulation haben. Speziell stereotypes selbstverletzendes Verhalten zeigt eine ausgeprägte Wiederholungstendenz. Selbstverletzendes Verhalten: Medikamentöse Therapie • Bei ausgeprägten Stereotypien im Rahmen ist die Gabe von Neurolepika, insbesondere Dopaminantagonisten wie Haloperidol und Pimozid oder atypischen Neuroleptika zu erwägen • Für das atypische Neuroleptikum Risperidon belegen Studien eine signifikante Reduktion von autoaggressivem Verhalten im Rahmen von Störungen des Sozialverhaltens und bei Intelligenzminderung, sowohl bei Kindern ab dem fünften Lebensjahr als auch im Jugendalter • In akuten Belastungssituationen ist ferner die bedarfsweise Gabe von sedierenden Neuroleptika oder Anxiolytika zu erwägen Selbstverletzendes Verhalten: Verhaltenstherapie • Aufbau alternativer Verhaltensweisen. Es wird versucht, an die Stelle des selbstverletzenden Verhaltens ein anderes Verhalten zu setzen (Ein Kind mit einem autistischen Syndrom lernt dabei beispielsweise, statt in sein Gesicht auf ein Kissen zu schlagen, welches ihm der Therapeut entgegenhält. Das Kind lernt schließlich dieses Kissen selbstständig mit sich zu führen). • Entzug von Zuwendung und "Bestrafung“ Es handelt sich um die Einführung eines aversiven Reizes oder die Entfernung eines positiven Reizes. • Time-out. Der Patient wird als Konsequenz für die Selbstbeschädigung in einen reizarmen, aber nicht Angst auslösenden Raum verbracht. Dieses Vorgehen erscheint sinnvoll, wenn das selbstverletzende Verhalten im Kontext mit einer sozialen Verstärkung steht . Selbstverletzendes Verhalten: Verhaltenstherapie • Die Dialektische Behaviorale Therapie für Adoleszente (DBT-A) wurde speziell für suizidale Jugendliche mit Persönlichkeitszügen einer instabilen Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ entwickelt. • Vom theoretischen Konstrukt aus wird angenommen, dass die Verhaltensweisen einer Borderline-Störung entstehen, wenn ein Kind mit Schwierigkeiten in der Emotionsregulation in einem invalidierenden Umfeld aufwächst. • Invalidierend bedeutet in diesem Falle z.B., dass dem Kind chronisch mitgeteilt wird, seine Verhaltensweisen seien unsinnig, dumm und falsch. Selbstverletzendes Verhalten: Verhaltenstherapie • Die DBT betrachtet selbstverletzende oder suizidale Verhaltensweisen daher als durchaus funktional. Die Verhaltensweisen sind hierbei häufig die einzige Möglichkeit für die Patienten, ihre Emotionen zu regulieren • Aus Sicht der DBT sind parasuizidale Verhaltensweisen maladaptive Problemlösungen auf für die Patienten überwältigende, extrem intensive, schmerzhafte Emotionen. • Die Jugendlichen sollen so genannte Fertigkeiten erlernen, um in belastenden Situationen geeignete Bewältigungsmöglichkeiten zu haben. • Bsp.: Stressregulation, Umgang mit Gefühlen, Zwischenmenschliche Beziehungen