Gegen das Vergessen Gegen die Krankheit Eine Ausstellung erinnert an das Schicksal italienischer Zwangsarbeiter. Seite 3 2016 gab es Fortschritte im Kampf gegen Zika, Ebola, Krebs. Seite 10 Grafik: 123rf/incomible Donnerstag, 29. Dezember 2016 STANDPUNKT Arm bleibt arm Stefan Otto über die allzu knauserigen Unionsparteien Der Zustand ist alarmierend: Es gibt in Deutschland immer mehr Kinder, die in relativer Armut aufwachsen und aller Voraussicht nach in diesen Verhältnissen ausharren werden. Dabei haben sie die Möglichkeit, in eine Kita und auf eine Schule zu gehen – wie Kinder aus wohlhabenderen Familien auch. Trotzdem besitzen sie nicht annähernd die gleichen Chancen. Um dies zu ändern, scheint es vor allem am politischen Willen zu fehlen. Nach der Präsentation der PISA-Studie verhallte die Kritik am Abschneiden der deutschen Schüler rasch, sie wirkte wie ein Jammern auf hohem Niveau. Immerhin schnitt Deutschland im OSZE-Staatenvergleich weiterhin im oberen Mittelfeld ab. Dabei ergab die Studie auch, dass ein Bildungserfolg nach wie vor maßgeblich von der Herkunft abhängt. Um daran etwas zu ändern, braucht es weitreichende Reformen. Die Vorschläge des Kinderhilfswerks sind allesamt nicht neu: weder ein weiterer Ausbau der Kinderbetreuung noch eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Familie oder eine Ausweitung des Unterhaltsvorschusses für Alleinerziehende. Doch mehrfach wurden Gesetzesnovellen aus dem sozialdemokratisch geführten Familienministerium von anderen Ressorts ausgebremst. Bedenken gab es jedes Mal auch wegen der hohen Kosten der Vorhaben. Dieser geradezu knauserige Zug der Unionsparteien innerhalb der Großen Koalition setzt sich bislang durch. Das ist bedauerlich, denn angesichts der außerordentlich guten konjunkturellen Lage gibt es kaum einen besseren Zeitpunkt für soziale Investitionen. UNTEN LINKS Von wegen, es gibt keine guten Nachrichten mehr. Wenn SPDFraktionschef Thomas Oppermann drei Tage vor Beginn des Wahljahres Lockerungsübungen mit der Linkspartei ankündigt, ist das zum Beispiel eine. Über die sich die Genossen in beiden Parteien vermutlich richtig freuen werden. Die stinkt doch unisono dieser verbissene Kampf an, mit dem sie sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert voneinander abgrenzen mussten. Jetzt wird’s endlich sportlich. Ein paar Dehnübungen bekommen selbst führende Sozis in beiden Parteien ja schon seit geraumer Zeit hin. Aber nur so locker, wie man im Café Einstein eben sein kann. Doch wollen sie tatsächlich Seit’ an Seit’ Angela Merkel das Fürchten lehren, muss da entschieden mehr geschehen. Da ist wirklich keine Übung auszulassen, um das Rückgrat zu stärken. Und da dürfen sogar Kniebeugen kein Tabu sein – auch wenn man dabei für einen Moment so ganz und gar nicht auf Augenhöhe mit den Anderen ist. oer ISSN 0323-3375 71. Jahrgang/Nr. 304 Bundesausgabe 1,70 € www.neues-deutschland.de Ausreise ohne Alternative Immer mehr Asylsuchende ohne Bleibeperspektive werden zur Rückkehr gedrängt Gegen den Hass Die israelische Schauspielerin Channa Maron setzte sich für die Versöhnung ein. Ein Band erzählt ihre Geschichte als Comic. Seite 17 Abb.: Reprodukt/Barbara Yelin Russisch-türkische Einigung über Syrien-Waffenruhe Vereinbarung soll landesweit gelten Istanbul. Russland und die Türkei haben sich auf eine landesweite Waffenruhe für Syrien verständigt. Wie die Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, sollte die Waffenruhe am Mittwochabend um Mitternacht in Kraft treten und im ganzen Land gelten. Eine offizielle Bestätigung für die Einigung gab es jedoch nicht. Auch hatte bis Mittwochnachmittag keine der irregulären Konfliktparteien in Syrien dem Plan zugestimmt. Russland und die Türkei vereinbarten laut Anadolu, die seit zwei Wochen geltende Waffenruhe in Aleppo auf ganz Syrien auszuweiten. Wie bei früheren Waffenstillstandsvereinbarungen, die von Russland und den USA ausgehandelt worden waren, sollen »Terrorgruppen« davon ausgenommen sein. Welche konkret damit gemeint sind, wurde nicht veröffentlicht. Wird die Waffenruhe eingehalten, könnten Verhandlungen zwischen der syrischen Regierung und der Opposition im Januar in Kasachstans Hauptstadt Astana stattfinden. AFP/nd Russlands Sport dementiert Dopinggeständnis Antidoping-Agentur RUSADA: Zitate in Zeitungsbericht sind verfälscht Foto: photocase/Nordreisender Berlin. Vor fast genau zehn Jahren wurde der Begriff »freiwillige Ausreise« von einer Jury aus Sprachwissenschaftlern zum Unwort des Jahres gekürt. Verschleiert werden solle, dass viele Schutzsuchende dazu gedrängt werden, die Bundesrepublik wieder zu verlassen, weil sie ansonsten abgeschoben werden. Trotzdem hat sich die euphemistische Umschreibung etabliert. So auch in der »Süddeutschen Zeitung«, die nun vermeldete, dass dieses Jahr nach Schätzungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gut 54 000 Menschen mit finanzieller Unterstützung Deutschland verlassen hätten, etwa 18 500 mehr als im Vorjahr. Die meisten von ihnen stammten vom Westbalkan und hatten nur geringe Chancen auf ein dauerhaftes Bleiberecht. Es handelte sich hauptsächlich um Albaner, Serben und Kosovaren. Dass sich darunter zahlreiche in ihrer Heimat diskriminierte Roma befanden, war in dem Münchner Blatt nicht zu erfahren. Stattdessen wurde eine »kaum überschaubare Fülle von Angeboten für freiwillige Rückkehrer« gelobt, die etwa Existenzgründern zugute kämen. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums seien dieses Jahr 21,5 Millionen Euro bereitgestellt worden, also etwa 400 Euro pro Person. Südosteuropäer gehen weitgehend leer aus. Laut BAMF wird die freiwillige Rückkehr in europäische Drittstaaten, aus denen die Einreise ohne Visum möglich ist, vom Bund nicht gefördert. Es werden keine Starthilfen oder Reisebeihilfen gewährt. Lediglich Reisekosten können übernommen werden. Nichtsdestotrotz werden »freiwillige Ausreisen« parteiübergreifend und von Vertretern der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl im Vergleich zu den insgesamt selteneren Abschiebungen als die humanere Methode gelobt. Auch die sprachliche Kritik ist weitgehend verstummt. avr Seite 5 Jahr der verpassten Chancen für Kinder Das Deutsche Kinderhilfswerk bemängelt, dass die soziale Herkunft eine immer größere Rolle spielt In Deutschland leben laut EU 1,7 Millionen Kinder in Armut – das sind 200 000 mehr, als noch vor zehn Jahren. Reformen seien nötig, um diese Tendenz aufzuhalten, sagt das Kinderhilfswerk. Von Stefan Otto Kurz nach Weihnachten hat sich das Deutsche Kinderhilfswerk mit einer Jahresbilanz zu Wort gemeldet, die es in sich hat: Die Organisation bemängelt, dass es bei der Bekämpfung von Kinderarmut ein »Jahr der verpassten Chancen« gewesen sei. Die Bundesregierung habe es unterlassen, »in großen Reformprozessen einen deutlichen Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit für Kinder zu machen«, heißt es in einer Mitteilung vom Mittwoch. Bei den gängigen Instrumenten einer Armutsbekämpfung habe es 2016 kaum Verbesserungen gegeben: Für Kinder unter sechs Jahren, deren Eltern Arbeitslosengeld II bekommen, gibt es im kommenden Jahr nicht mehr Geld, Jugendliche im Hartz-IV-Bezug erhalten nur fünf Euro mehr. Eine Nullrunde gibt es auch beim Schulbedarfspaket; und das Kindergeld wird nur um zwei Euro angehoben. Im Bildungsbereich belege die PISA-Studie nach Ansicht des Kinderhilfswerks eindrücklich, dass der Bildungserfolg unverändert stark von der sozialen Herkunft abhängt. »Hier vermissen wir an vielen Stellen den politischen Willen, sich dem drängenden strukturellen Problem der schlechten Bildungschancen der von Armut betroffenen Kinder in Deutschland an zunehmen«, bemängelt der Verband. Grundsätzliche Reformen seien aber dringend notwendig, betonte Thomas Krüger, Präsident des Kinderhilfswerkes. Mit »politischen Kleckereien« lasse sich Kinderarmut nicht bekämpfen. Ein bundesweites Programm müsse res- sortübergreifend auf den Weg gebracht werden, das bei der Beschäftigungspolitik ansetze, »damit Eltern durch eigene Erwerbstätigkeit sich und ihren Kindern eine ausreichende finanzielle Lebensgrundlage bieten können«, »Kinderarmut lässt sich nicht mit politischen Kleckereien bekämpfen.« Thomas Krüger, Präsident des Kinderhilfswerkes heißt es. Die Linkspartei präzisierte diesen Gedanken bereits – der Mindestlohn müsse auf zwölf Euro angehoben werden, um Eltern damit aus prekären Beschäftigungen zu drücken, lautet ihre Forderung. Das Bundesfamilienministerium hat sich zu der Bilanz des Kin- derhilfswerkes nicht geäußert. Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) bedauerte jedoch unlängst, dass der staatlichen Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende nicht bereits zum 1. Januar ausgeweitet werden kann. Die Kommunen und die Union hatten sich Anfang Dezember geweigert, eine Novelle auf den Weg zu bringen, die deutlich mehr Kindern diesen staatlichen Vorschuss gewährt. Auch das Kinderhilfswerk zeigte sich enttäuscht, dass ein Gesetzgebungsverfahren in diesem Jahr nicht abgeschlossen werden konnte, weil dies ein wirksames Mittel zur Armutsbekämpfung sei. In einem weiteren Schritt drängt der Verband auf eine stetige Verbesserung von Bildungseinrichtungen. Insbesondere gebe es noch immer einen Nachholbedarf beim Ausbau von qualitativ hochwertigen Kindertagesstätten, um dort benachteiligte Kinder besser fördern zu können. Moskau. Die russische Antidoping-Agentur RUSADA hat ein angebliches Eingeständnis ihrer Leiterin zu organisiertem Doping dementiert. Die Aussagen von Anna Anzeljowitsch in der »New York Times« seien verfälscht und aus dem Zusammenhang gerissen worden, teilte die RUSADA am Mittwoch der Agentur Tass zufolge mit. Die Zeitung hatte Anzeljowitsch mit den Worten zitiert, es habe in Russland eine »institutionelle Verschwörung« beim Doping gegeben. Sie habe nur die Formulierung des Dopingsonderermittlers Richard McLaren bei seinen Vorwürfen gegen Russland wiedergeben wollen, hieß es nun. Auch der Kreml bezweifelte die Glaubwürdigkeit des Berichts. Sportminister Pawel Kolobkow erklärte, Anzeljowitsch sei zudem keine Staatsbedienstete. Sie hätte deswegen auch nicht als Vertreterin der russischen Sportpolitik zitiert werden dürfen. Die RUSADA sei eine private, keine staatliche Organisation. dpa/nd Seite 19 Beileid Japans für Pearl Harbor Zeichen der Versöhnung mit USA Honolulu. Mit einem gemeinsamen Besuch am Mahnmal von Pearl Harbor 75 Jahre nach dem japanischen Angriff haben Japans Ministerpräsident Shinzo Abe und US-Präsident Barack Obama ein Zeichen der Versöhnung gesetzt. Abe gedachte am Dienstag (Ortszeit) in Hawaii der Opfer und erklärte sein »aufrichtiges und immerwährendes Beileid«. Obama warb in seiner Rede für Weltoffenheit und Toleranz. Abe zollte den mehr als 2400 Opfern des japanischen Überraschungsangriffs auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor seinen Respekt. Er würdigte die »mutigen Männer und Frauen, die ihr Leben in einem Krieg verloren haben, der genau an diesem Ort begann«. Obama sagte, er empfange Abe »in einem Geist der Freundschaft«. Es war das erste Mal, dass ein japanischer Ministerpräsident das Mahnmal von Pearl Harbor besuchte. Eine Entschuldigung hatte Japans Regierung allerdings ebenso ausgeschlossen wie Obama bei seinem Besuch im Mai in Hiroshima, wo er der Opfer des US-Atombombenabwurfs gedachte. AFP/nd Seiten 4 und 7