Katholische Kirchengemeinde St. Christophorus (Hrsg.): Björn Kooger Zwangsarbeit von "Ostarbeitern" 1942 - 1945 Frauen und Männer aus der Ukraine erinnern sich an ihre Arbeits- und Lebensbedingungen im Volkswagenwerk Wolfsburg 2004 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stadt Wolfsburg. Umschlagbild: Drei "Ostarbeiterinnen" nach der Befreiung, 19.4.1945 (StA WOB). Text auf der Rückseite: "Zum ewigen Andenken - für Eudokia K. von Nadeshda T., mit der sie zusammen in der KdF-Stadt gelebt hat." mpressum: Herausgeber: St. Christophorus-Gemeinde, Wolfsburg Redaktion: Björn Kooger / Karl Theodor Weise Druck: Konkol, Fallersleben Inhaltsverzeichnis Vorwort 1. 1.1. Einleitung Forschungsstand Zum Stand der Forschung in Wolfsburg 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4 3.5. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 5. 5.1. 5.2. 6. 6.1. 6.2. 7. 8.1. 8.2. 8.3. Forschungsauftrag und –methode Quellenlage Zum Inhalt des Fragebogens Arbeitskräftemangel in der NS-Kriegswirtschaft Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Politischer Kurswechsel – 1943 Das Volkswagenwerk und der "Ostarbeitereinsatz" Deportation Methoden der Beschaffung von Arbeitskräften / Razzien Herkunft der Rekrutierten / Heimatort / Beruf der Eltern Ankunft in der "Stadt des KdF-Wagens" Arbeitseinsatz Verteilung der Arbeitskräfte Politische Vorgaben zum Arbeitseinsatz Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze im Volkswagenwerk Arbeit in der "Stadt des KdF-Wagens" Entlohnung / Arbeitszeit Behandlung am Arbeitsplatz Leben im Wohnlager Gemeinschaftslager / Betriebslager / Bombenangriffe Unterbringung Ernährung / Solidarität / Bekleidung Gesundheitsfürsorge Freizeit / Kontakte zur deutschen Bevölkerung Verfolgung und Widerstand "Ostarbeitererlasse" Widerstand / Flucht / Sabotage Kriegsende Betriebsverlagerungen Repatriierung Abschlussbetrachtung Prälat Heinrich Günther zum Gedenken der Opfer des Nazi-Regimes Begegnung mit ehemaligen Zwangsarbeitern (2002) Im Dienst der Versöhnung (2004) Seite 4 7 7 9 10 10 12 12 15 16 20 22 22 25 26 27 27 28 30 32 33/35 36 39 39 41 42/46/47 49 50 53 53 54 57 57 58 60 61 63 64 Abkürzungsverzeichnis DAF DDR GBA Gestapo Gulag GPU IG Ju KdF KGB KZ Nds. NKWD NS RGBl. RLM RFSS RM RM RSHA SD SBZ SMERSCH SS StAWOB UdSSR USSBS VJP VWW Deutsche Arbeitsfront Deutsche Demokratische Republik Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz Geheime Staatspolizei Glawnoje Uprawlenije Lagerei (Hauptverwaltung für Lager) Gossudarstwennoje Polititscheskoje Uprawlenije (Staatliche politische Verwaltung) Interessengemeinschaft Junkers Kraft durch Freude Komitet Gossudarstwennoj Besopasnosti (Komitee für Staatssicherheit, 1954-1993) Konzentrationslager Niedersächsisch Narodnyj Kommissariat Wnutrennich Del (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, 1934-1946) Nationalsozialismus Reichsgesetzblatt Reichsluftfahrtministerium Reichsführer SS Reichsmark Reichsministerium Reichssicherheitshauptamt der SS Sicherheitsdienst des Reichsführers SS Sowjetisch besetzte Zone / Ostzone / später: DDR smert' spionam (Tod den Spionen, Sowjetische Spionageabwehr, 1943-1946) Schutzstaffel Stadtarchiv Wolfsburg Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United States Strategic Bombing Survey Vierjahresplan Volkswagenwerk VORWORT Mit dieser Arbeit tritt die Katholische Kirche in Wolfsburg an die Öffentlichkeit, um zu dokumentieren, dass sie auf der Seite der von staatlicher Diktatur Betroffenen, der Leidenden und Bedürftigen steht. Sie unterstützt die Schwachen, erinnert an die Leiden der Opfer und spendet ihnen Trost. Das gilt ganz besonders für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die das nationalsozialistische Regime im Zweiten Weltkrieg aus den besetzten Ländern Europas deportierte, um sie für eine Kriegsmaschinerie arbeiten zu lassen, die die Heimatländer der Verschleppten eroberte, besetzte und zerstörte. Mit dieser Broschüre will die St. Christophorus-Gemeinde an die Frauen und Männer erinnern, die einst aus der ehemaligen Sowjetunion und zwar aus der Ukraine deportiert wurden und in der Rüstungsproduktion des damaligen Volkswagenwerks Zwangsarbeit verrichten mussten. Sie beauftragte im Rahmen eines ABM-Projekts den Historiker Dr. Björn Kooger, Kontakte zu Frauen und Männern in der Ukraine herzustellen, die das Schicksal der Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg erleiden mussten. Um ihre Arbeits- und Lebensbedingungen im Volkswagenwerk zu erforschen, ermittelte er ihre Adressen und schickte ihnen Fragebögen zu und wertete die Antworten aus. Sie bilden die Grundlage für diese Arbeit. Gewiss wird damit nur ein Teilaspekt des komplexen Themas näher beleuchtet. Auch handelt es sich nur um eine Quellengattung, nämlich Erinnerungen Betroffener, und jedermann weiß, dass solche Aussagen durchaus nicht immer verlässlich sind. Aber der Autor geht reflektiert mit den Texten um, und hat damit etwas getan, was bisher nur in Ansätzen geleistet werden konnte, nämlich primäre Quellen zum Schicksal jener Frauen und Männer zu ermitteln und auszuwerten, die im damaligen Volkswagenwerk die größte Gruppe der dort eingesetzten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter stellten. So will die Katholische Kirche in Wolfsburg ihren Beitrag zu dieser Auseinandersetzung mit einer dunklen Vergangenheit leisten und reiht sich damit in das Ensemble derjenigen gesellschaftlichen Kräfte in Wolfsburg ein, die sich neben der Stadt und der Volkswagen AG als eigenständige Kraft für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Wolfsburg engagieren. Sie setzt damit den Aufklärungsprozess über die Anfangsphase der Wolfsburger Stadtgeschichte fort, der 1983 nur begonnen werden konnte, weil ihn eine engagierte Öffentlichkeit von der Stadt Wolfsburg einforderte. Zugleich soll diese Publikation die engen Beziehungen der St. Christophorus-Gemeinde zu ihren Partnern in Kiew festigen. Das Auffinden und die Befragung betroffener ukrainischer Bürger haben das Kontaktgeflecht zwischen ihr und ihren Partnern vor Ort noch vertieft. Die Katholische Kirche in Wolfsburg will ihnen zeigen, dass sie an der Seite derjenigen steht, die unter den Untaten des nationalsozialistischen Besatzungsregime in der damaligen Sowjetunion zu leiden hatten. Die Stadt Wolfsburg hat die Durchführung des Projekts und die Publikation dieser Broschüre finanziell gefördert; Ihr sei dafür herzlich gedankt. Weiterhin gilt mein Dank Herrn Dr. Klaus-Jörg Siegfried, dem Leiter des Instituts für Museen und Stadtgeschichte, für die fachliche Beratung und Unterstützung dieses Projekts. Von Herzen danke ich auch Frau Rosa Reiner für ihre unermüdliche Übersetzungsarbeit. Prälat Heinrich Günther 1. EINLEITUNG 1.1. FORSCHUNGSSTAND Die ersten Studien zum Einsatz von über 7 Millionen ausländischen Arbeitskräften im "Dritten Reich" erschienen Mitte der 60er Jahre in den USA und in der DDR. Die DDR-Forschung konzentrierte sich dabei auf die Rolle von Industriellen, erst Eichholtz und Drobisch gingen darüber hinaus. In der bundesrepublikanischen Forschung war der Ausländereinsatz hingegen 40 Jahre lang kein Thema, obwohl es sich um einen der bedeutendsten sozial- und wirtschaftspolitischen Aspekte des II. Weltkrieges in Deutschland gehandelt hat. Dies überrascht, da in den sogenannten Nürnberger Industrieprozessen (Flick, Krupp, IG Farben) Manager v.a. wegen der "Beschäftigung von Sklavenarbeitern" verurteilt worden waren, ganz zu schweigen vom Prozess gegen den ehemaligen Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA) und Gauleiter von Thüringen, Fritz Sauckel. 1 2 3 4 5 Der stellvertretende US-Hauptankläger in Nürnberg, Robert Kempner, beschrieb die Haltung der Angeklagten in den Prozessen wie folgt: "In den Augen der Nazi-Führer und der SS scheint Massenverschleppung zum Zweck der Zwangsarbeit eine natürliche und gesetzliche Begleiterscheinung der erfolgreichen Invasion und die Zivilbevölkerung nur ein Teil der Beute des Siegers [gewesen] zu sein." 6 Für Kempner fehlte den Angeklagten jegliches Unrechtsbewusstsein in bezug auf den Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeitern. Diese Haltung, die von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung geteilt worden sein dürfte, war der (wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit der Thematik in der frühen Bundesrepublik nicht förderlich. 7 Generell beeinträchtigten in der Bundesrepublik die politischen Rahmenbedingungen des "Kalten Krieges", die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wiederaufstieges und die Verteidigung gegenüber einer anklagenden DDR- bzw. neomarxistischen Geschichtsschreibung lange Zeit eine Auseinandersetzung mit Themen wie dem Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen, Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen sowie der Mitverantwortung von Wirtschaft und Verwaltung für die nationalsozialistischen Verbrechen. Ulrich Herbert hat auf die mit einer derartigen Auseinandersetzung verbundenen gesellschaftlichen Schwierigkeiten hingewiesen: eine gesellschaft-liche Diskussion über die Rolle der Wirtschaft im "Dritten Reich" hätte wohl auch die kapitalistische Orientierung der Bundesrepublik tangiert und damit den notwendigen wirtschaftlichen Wiederaufstieg Westdeutschlands und die Einordnung des Landes in die antikommunistische Front erschwert. In den meisten Heimatländern der Zwangsarbeiter war der Arbeitseinsatz durchaus Gegenstand der Forschung, doch wurden derartige Arbeiten - insbesondere aus Osteuropa - wegen der Sprachbarriere nur 8 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Immer noch lesenswert: Edward L. Homze, Foreign Labour in Nazi Germany, Princeton 1967. Als Beispiel: Eva Seeber, Zwangsarbeiter in der faschistischen Kriegswirtschaft, Berlin (Ost) 1964. Dietrich Eichholtz / K. Drobisch, Die Zwangsarbeit ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland während des zweiten Weltkrieges, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 /1970, S.626-639. Die in diesem Zeitabschnitt vorgelegten Arbeiten fanden kein größeres Publikumsinteresse und wurden auch von wissenschaftlicher Seite nicht ausreichend rezipiert, so etwa: Hans Pfahlmann, Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, Darmstadt 1968. Vgl. Ulrich Herbert, Der "Ausländereinsatz". Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in Deutschland 1939-1945 – ein Überblick, in: Jochen August u.a. (Hrsg.), Herrenmenschen und Arbeitsvölker. Ausländische Arbeiter und Deutsche 1939-1945, Berlin 1986, S.13-54, hier: S.13f. Vgl. Robert M. W. Kempner, SS im Kreuzverhör, München 1964, S.119f. Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.47: "In der öffentlichen Auseinandersetzung spielten die Fremdarbeiter bislang kaum eine Rolle, sie wurden und werden als beiläufige Selbstverständlichkeit des Kriegsalltags gesehen. Der Ausländereinsatz wird nicht unter Krieg, Nazismus oder Verbrechen subsumiert – hat nicht den Status des historisch Besonderen. Die schlägt sich auch in der wissenschaftlichen Literatur nieder." Vgl. Ludwig Eiber (Hrsg.), Verfolgung-Ausbeutung-Vernichtung. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern 1933-1945, Hannover 1985, S.7: Eiber schreibt zur Forschungslage bis 1970: "Antikommunismus, Kalter Krieg, die Restauration der alten gesellschaftlichen Strukturen und die Rehabilitierung der faschistischen Herrschaftsträger in Wirtschaft, Militär, Polizei und Justiz waren keine guten Voraussetzungen für eine Bestandsaufnahme der Verbrechen unter dem NS-Regime." Vgl. Ulrich Herbert, Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der "Weltanschauung" im Nationalsozialismus, in: ders. (Hrsg.), Europa und der "Reichseinsatz". Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S.384-426. hier: S.384f. selten rezipiert, inzwischen liegen jedoch wichtige Untersuchungen v.a. polnischer Autoren auch auf deutsch vor. In der UdSSR hingegen standen Zwangsarbeiter pauschal unter Kollaborationsverdacht und ihr Schicksal war damit per se kein Thema der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung hätte auch unangenehme Fragen in bezug auf die sowjetische Regierung der Stalinzeit aufgeworfen, beispielsweise, warum Staat und Armee nicht in der Lage gewesen waren, Millionen sowjetischer Bürger vor Besatzung, Verschleppung und Zwangsarbeit zu schützen. Aufgrund der beschriebenen Forschungssituation hatten die Mitte der 80er und Anfang der 90er Jahre erschienenen Arbeiten von Ulrich Herbert bahnbrechenden Charakter. Sie stehen in Zusammenhang mit einer Änderung des Forschungsinteresses, das sich u.a. im Aufkommen der Regionalgeschichte und der OralHistory manifestierte. Dieser Paradigmen- und Methodenwechsel hält bis heute an; neueste Forschungsergebnisse für den hiesigen Raum legten Karl Liedke für Braunschweig und Janet Anschütz und Irmtraud Heike für Hannover vor. Inzwischen sind auch Untersuchungen erschienen, die sich detailliert mit der Lage der "Ostarbeiter" befassen. 10 11 12 13 14 15 ZUM STAND DER FORSCHUNG IN WOLFSBURG Im Jahre 1983 forderten die Ratsfraktionen der SPD und Die Grünen mit der Unterstützung des DGB und des evangelischen Kirchenkreises Aufklärung über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk während des Zweiten Weltkrieges. Der Kulturausschuss beauftragte den Leiter des Stadtarchivs mit der Erforschung dieser Thematik. 1986 beschloss der Verwaltungsausschuss, seine Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Dies erfolgte durch die kommentierte Dokumentation Klaus-Jörg Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk 1939 – 1945. Frankfurt/M. 1986 (4. Auflage 1999). Zwei Jahre später erschien die Darstellung des Themas in Klaus-Jörg Siegfried, Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk, Frankfurt/M., 1988. Mangels Forschungskapazität konnte Siegfried keine Primärquellen zu den Arbeits- und Lebensverhältnissen der Zwangsarbeiter aus der ehemaligen Sowjetunion ermitteln und verwenden. Die Darstellung erfolgte daher durch die Interpretation von Aussagen anderer Zwangsarbeiter und durch Auswertung der in deutschen Archiven verfügbaren Quellen zur Lage der "Ostarbeiter" im Volkswagenwerk. Sicherlich nicht aufgrund mangelnder Forschungskapazität, sondern vermutlich wegen mangelnder Zugänglichkeit mag das Gleiche auch für die umfassende Darstellung Hans Mommsen (mit Manfred 16 17 10 11 12 13 14 15 16 17 Einige Beispiele: Waclaw Długoborski / Czeslaw Madajczyk, Ausbeutungssysteme in den besetzten Gebieten Polens und der UdSSR, in: Friedrich Forstmeier / Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Kriegswirtschaft und Rüstung 1939-1945, Düsseldorf 1977, S.375-416; Waclaw Długoborski (Hrsg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel. Achsenmächte und besetzte Länder, Göttingen 1981; Waclaw Długoborski, Die deutsche Besatzungspolitik gegenüber Polen, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / HansAdolf Jacobsen (Hrsg.), Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945. Eine Bilanz, Bonn 1986, S.572-591; Czeslaw Madajczyk, Deutsche Besatzungspolitik in Polen, in der UdSSR und in den Ländern Südosteuropas, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S.426-439. Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Die OstarbeiterInnen. Opfer zweier Diktaturen, Köln 1994, S.5 und S.9; Ulrich Herbert (Hrsg.), Europa und der "Reichseinsatz". Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S.16f. Ulrich Herbert, Fremdarbeiter, Politik und Praxis des "Ausländereinsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1985; ders. (Hrsg.), Europa und der "Reichseinsatz". Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991. Vgl. Eiber, Verfolgung-Ausbeutung-Vernichtung, S.9; Birgit Schneider-Bönninger, Geschichte der Gedenkstätten in der Stadt Wolfsburg, in: Topographie der Erinnerung. Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus im Gebiet der Braunschweigischen Landschaft, hrsg. von der Braunschweigischen Landschaft e.V., Braunschweig 2004, S.167-173, hier: S.168f. Karl Liedke, Gesichter der Zwangsarbeit. Polen in Braunschweig 1939-1945, Braunschweig 1997; Janet Anschütz / Irmtraud Heike, Feinde im eigenen Land. Zwangsarbeit in Hannover im Zweiten Weltkrieg, Hannover 2000. Angelika Heider, Erinnerungen ehemaliger "Ostarbeiter", in: Dachauer Hefte 16 (2000), S.71-86; Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Die OstarbeiterInnen. Opfer zweier Diktaturen, Köln 1994. Vgl. Schneider-Bönninger, Geschichte der Gedenkstätten in der Stadt Wolfsburg, S.169ff. Nachforschungen in sowjetischen Archiven oder Befragungen ehemaliger "Ostarbeiter" waren bis Anfang der 90er Jahre kaum möglich. Erst die Einrichtung von Entschädigungsfonds durch die Regierung Kohl ab Ende 1992 bzw. die damit verbundene Gründung von Nationalstiftungen in den größeren Nachfolgestaaten der UdSSR schufen hierfür günstigere Voraussetzungen. Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung, Die OstarbeiterInnen, S.10f. Grieger), Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf, 1996 gelten. Auch in den "Historischen Notaten", der Schriftenreihe des Unternehmensarchivs der Volkswagen AG, fehlt bislang ein autobiographischer Bericht, der in ähnlicher Weise wie die bisher erschienenen Erinnerungen französischer, niederländischer und polnischer Zwangsarbeiter Aufschluss über die Lage der "Ostarbeiter" im damaligen Volkswagenwerk geben könnte. 18 1.2. FORSCHUNSAUFTRAG UND -METHODE Somit bestand eine Forschungslücke zur Lage der sowjetischen Zwangsarbeiter in der "Stadt des KdFWagens", immerhin der größten Ausländergruppe im Volkswagenwerk. Daher war es das Ziel eines zweijährigen Forschungsprojektes, Erinnerungsberichte ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Ukraine zu erhalten. Sie bilden die Quellengrundlage dieser Publikation, deren Ziel eine Darstellung der Lage der "Ostarbeiter" im damaligen Volkswagenwerk ist, die die Binnensicht der Betroffenen angemessen berücksichtigt. Um die Glaubwürdigkeit der Aussagen zu überprüfen, werden sie in den Zusammenhang mit der allgemeinen Lage der "Ostarbeiter" in der NS-Kriegswirtschaft gestellt. Da auch die Betriebsebene dank Mommsen/Grieger gründlich erforscht ist, können ihre Ergebnisse ebenfalls in die Darstellung einbezogen werden. Auf ihre Publikation wird Bezug genommen, um die Aussagen der "Ostarbeiter" in den historischen Zusammenhang der Betriebsebene zu stellen und dadurch auch die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen deutlich zu machen. 19 20 21 1.3. QUELLENLAGE Generell ist die archivalische Quellenlage zum Zwangsarbeitereinsatz recht bescheiden, die meisten Firmenarchive existieren nicht mehr, sei es als Folge von Luftangriffen, absichtlicher Vernichtung oder Desinteresse der Firmenleitungen. Auch grundsätzlich dürften deutsche Firmen- und Behördenakten den Alltag von Zwangsarbeitern in den Wohnlagern und an den Arbeitsstätten, also die Lebenssituation der Betroffenen, nur in begrenztem Umfang widerspiegeln. D.h., eine Beschränkung auf derartige Archivbestände würde das Augenmerk des Historikers auf die Arbeitsweise deutscher Behörden, Ämter und Unternehmen fokussieren und die Sichtweise der Betroffenen vernachlässigen. Die unzureichende Überlieferung in den Archiven zwingt also geradezu zur Erschließung neuer Quellen, wobei v.a. die Befragung von Zeitzeugen naheliegt. Unabdingbar für ein solches Vorhaben ist jedoch die Verfügbarkeit aktueller Adressen ehemaliger Zwangsarbeiter. Vor Beginn dieses Forschungsprojekts war mit dem National Fund in Kiew die Überlassung einer Adressenliste vereinbart worden. Nach Beginn der Maßnahme zeigte sich diese Institution jedoch wenig kooperativ, trotz gemachter Zusagen kam die vereinbarte Überlassung von Adressen nicht zustande; als Folge 22 18 STO à KdF 1943-1945 die Erinnerungen des Jean Baudet, Historische Notate 4 ( = Schriftenreihe des Unternehmensarchivs der Volkswagen AG), Wolfsburg 2000; Henk `t Hoen, Zwei Jahre Volkswagenwerk: als niederländischer Student im Volkswagenwerk von Mai 1943 bis Mai 1945, Historische Notate 6, Wolfsburg 2002; Abfahrt ins Ungewisse. Drei Polen berichten über ihre Zwangsarbeit im Volkswagenwerk von Herbst 1942 bis Sommer 1945, Historische Notate 9, Wolfsburg 2004. 19 Ende 1942 befanden sich 3233 Ostarbeiter im Werk, darunter 1477 Frauen. Vgl. Hans Mommsen (mit Manfred Grieger), Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996, S.568f. 20 Obwohl Erinnerungsberichte für die Beschreibung des Arbeitseinsatzes und der Existenzbedingungen eine wichtige Quelle darstellen, handelt es sich dabei immer um subjektive Erinnerungen, die nach Zeithorizont und Erinnerungsvermögen unterschiedlich aussagekräftig sind. Zur Problematik dieser Quellengattung: Ulrike Jureit / Karin Orth, Überlebensgespräche, Gespräche mit Überlebenden des KZ-Neuengamme, Hamburg 1994, S.12f.; Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 2001, S. 29 ff. und S. 432; Historische Notate 4, S.7 und S.12; Historische Notate 9, S.16ff. 21 Ziel dieser umfassenden Studie war nicht die isolierte Betrachtung bzw. deskriptive Darstellung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter, sondern in erster Linie die systematische Analyse des Gesamtkomplexes "Zwangsarbeit" auf betrieblicher Ebene – insbesondere von Entscheidungen des Managements - unter besonderer Berücksichtigung der sich laufend verändernden Situation des Unternehmens im Rahmen der deutschen Kriegswirtschaft: Vgl. Mommsen / Grieger, S.19f. und S.44. S.a. Klaus Kocks / Hans-Jürgen Uhl, "Aus der Geschichte lernen" Anmerkungen zur Auseinandersetzung von Belegschaft, Arbeitnehmervertretung, Management und Unternehmensleitung bei Volkswagen mit der Zwangsarbeit im Dritten Reich, Historische Notate 1, Schriftenreihe des Unternehmensarchivs der Volkswagen AG, Wolfsburg 1999, S.14f; Schneider-Bönninger, Geschichte der Gedenkstätten in der Stadt Wolfsburg, S.172f. Auch Siegfried hat den weiteren Forschungsbedarf in dieser Richtung verortet. Vgl. Klaus-Jörg Siegfried, Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk, Frankfurt/M. 1988, S.261. 22 Entsprechend dem Charakter dieser Quellengattung nehmen Zitate aus den Erinnerungsberichten der Befragten im Rahmen der Darstellung einen größeren Raum ein. S.a. Klaus-Jörg Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk 1939-1945, Frankfurt/M. 1986, S.7; Liedke, S.5. verzögerte sich der Beginn der Zeitzeugenbefragung um Monate. Schließlich gelang es dem Verfasser - dank Vermittlung der Heinrich-Böll-Stiftung - 600 Adressen von der Moskauer Stiftung "Memorial" zu erhalten. 270 ehemalige "Ostarbeiter" wurden schließlich angeschrieben, davon sandten bisher 72 Personen - 27 Männer und 45 Frauen - einen Fragebogen zurück. Die überwiegende Zahl der Antworten kam aus der Ukraine (69), zwei Briefe kamen aus Weißrussland, einer aus Russland. Natürlich waren mit der Befragung nicht unerhebliche Übersetzungsarbeiten verbunden, finanziert wurden diese vom "Versöhnungsfonds der Katholischen Kirche in Deutschland" bzw. der "Solidaritätsaktion Renovabis". Die Aussagekraft der Fragebögen ist sehr unterschiedlich, sie reicht vom 30-seitigen Erinnerungsbericht bis zu äußerst knapp gehaltenen Minimalauskünften mit Ja/Nein-Antworten. Die Beteiligung dürfte in einzelnen Fällen aus einem Interesse an einer Verbesserung der eigenen Position in der Entschädigungsfrage erfolgt sein, andererseits äußerten nicht wenige der Befragten ein genuines Interesse an dem Vorhaben und betonten die Notwendigkeit der historischen Aufarbeitung. Erklärungsbedürftig sind die Ursachen für die etwas niedrige Rücklaufquote, etwa im Vergleich zur Untersuchung Karl Liedkes, und die häufig knapp gehaltenen Antworten. In Polen und Westeuropa wurde der "Zwangsarbeit in Deutschland" ein anderer Stellenwert beigemessen als in den Ländern der früheren UdSSR, wo ehemalige Zwangsarbeiter pauschal unter Kollaborationsverdacht standen und nicht selten unter Diskriminierun-gen oder Schlimmerem zu leiden hatten. Entsprechend vorsichtig und zurückhaltend wird noch heute mit Informationen über das eigene Schicksal umgegangen; die Quote aussagekräftiger Lebensgeschichten lag bei einer Anfang der 90er Jahre durchgeführten Fragebogenaktion der Stiftung Memorial bzw. der Heinrich-Böll-Stiftung bei nur etwa fünf Prozent aller Antwortschreiben. 23 24 25 26 27 ZUM INHALT DES FRAGEBOGENS Der Fragebogen diente zunächst zur Erhebung der Basisdaten, außerdem wurden Fragen zu folgenden Themenbereichen gestellt: • Zeitraum vor der Deportation (Beruf der Eltern, Schulbildung), • Umstände und Dauer der Deportation, sowie Deportationsweg, • Arbeitseinsatz, • Leben im Wohnlager, • Rückkehr in die UdSSR, • Berufliche Tätigkeit in der UdSSR. Im Begleitschreiben wurde auch explizit nach individuellen oder charakteristischen Erlebnissen in der "Stadt des KdF-Wagens" und im damaligen Volkswagenwerk gefragt, so dass mit den Fragebögen auch eine Reihe von persönlichen Briefen eintrafen, die die gewünschten Angaben enthielten. Außerdem waren die Angeschriebenen um Kopien von zeitgenössischen Fotos und Dokumenten, d.h. soweit vorhanden, gebeten worden. Tatsächlich wurden privat aufgenommene Gruppen- und Porträtaufnahmen, aber auch Fotos von Werksausweisen übersandt, meist als Fotokopie, aber auch einige Originalabzüge. Generell ist aber auch hier weniger Material verfügbar als bei anderen Zwangsarbeitergruppen, da Unterlagen zum Arbeitseinsatz in Deutschland nicht selten vernichtet wurden, um sich selbst nicht zu belasten. 1.4. ARBEITSKRÄFTEMANGEL IN DER NS-KRIEGSWIRTSCHAFT Schon vor Kriegsausbruch war der Arbeitskräftemangel eines der zentralen Probleme der deutschen Wirtschaft. Im Zuge der nationalsozialistischen Aufrüstungspolitik, sowie der verschiedenen Bauprogramme 23 Diese Stiftungen verfügen über eine Datenbank mit den Namen von 400.000 ehemaligen "Ostarbeitern". Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung, Die OstarbeiterInnen, S.12. 24 25 26 27 Für die mühevolle Arbeit des Übersetzens ist an dieser Stelle Frau Rosa Reiner und Herrn Oleg Fell zu danken. Vgl. Liedke, S.17f.: Der Rücklauf lag bei 490 von 1116 angeschriebenen Personen. Nach offiziellen sowjetischen Angaben wurden bis zum März 1946 2,43 Millionen Sowjetbürger repatriiert, 800.000 dienten in den Streitkräften, 608.000 in Arbeitsbataillonen des Volkskommissariat für Verteidigung und 273.000 kamen in ein Arbeitslager des GULAG. Vgl. Bernd Bonwetsch, Sowjetische Zwangsarbeiter vor und nach 1945. Ein doppelter Leidensweg, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas (41) 1993, S.539. S.a. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.45; Mommsen / Grieger, S.598. Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung, Die OstarbeiterInnen, S.5f. und S.8f. (Autobahnen, Westwall) herrschte in Deutschland schon ab 1938 quasi Vollbeschäftigung. Entsprechend schnell wurden die Arbeitskraftreserven Österreichs und der Tschechoslowakischen Republik absorbiert. Nach Kriegsausbruch verschärfte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt durch die Einberufungen zur Wehrmacht, dementsprechend war der Zugriff auf polnische Arbeitskräfte ein wesentliches Kriegsziel und auch die Arbeitskraftreserven der besetzten westeuropäischen Länder wurden der NS-Kriegswirtschaft zugeführt. Bis zum Überfall auf die Sowjetunion wurde die Zahl der Ausländer in Deutschland bei 3 Millionen "eingefroren". Nach dem Scheitern des Russlandfeldzuges im Winter 1941/42 verschärfte sich die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt erneut: die Umstellung auf einen langen Abnutzungskrieg erzwang die Aufstellung neuer Divisionen und den Ausgleich der Verluste. Als Folge fehlten 500.000 Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, 50.000 im Bergbau, 300.000 im Metallbereich und 140.000 in der Bauindustrie. Da mit einer baldigen Rückkehr deutscher Soldaten an ihre Arbeitsplätze nicht mehr zu rechnen war, mussten andere Lösungen für das Arbeitskräfteproblem ins Auge gefasst werden. Die NS-Führung setzte auf den bereits beschrittenen Weg des "Ausländereinsatzes". Spätestens seit Herbst 1941 war dieser für die deutsche Kriegswirtschaft unverzichtbar geworden, d.h. nur der Einsatz von Millionen von "Fremdarbeitern" ermöglichte der NS-Führung die Fortsetzung des Krieges. Alle anderen Arbeitskraftreserven des "Volks ohne Raum" waren zu diesem Zeitpunkt bereits erschöpft oder sollten aus ideologischen Gründen nicht herangezogen werden. 28 29 30 Aus politischen Gründen war auch der Einsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen zunächst untersagt worden. So hatten Hitlers Kriegsziele für die UdSSR v.a. die rücksichtslose wirtschaftliche Ausbeutung des Landes und die Dezimierung der Bevölkerung vorgesehen; das einheimische Arbeitskräftepotential sollte hingegen nur in geringem Umfang genutzt werden. Auch die Pläne der Militärführung zur Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen orientierten sich an diesen politischen Vorgaben: trotz der Erwartung eines weiteren Blitzsiegs wurden zu Beginn des "Unternehmens Barbarossa" kaum Vorkehrungen hinsichtlich Unterkunft, Transport, Verpflegung der zu erwartenden 2-3 Millionen Kriegsgefangenen getroffen. Als Folge begann schon nach wenigen Wochen ein Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, dabei kamen 60 % der bis Ende des Jahres 1941 in deutsche Gefangenschaft geratenen 3.350.000 sowjetischen Soldaten um. Auch Unternehmer und Behörden wollten zunächst auf die "Bolschewisten", die man für wenig arbeitsfähig hielt, verzichten. Erst als man nicht mehr auf die Rückkehr deutscher Soldaten hoffen konnte, drängten Industrie und Wirtschaftsbehörden auf den Arbeitseinsatz der sowjetischen Gefangenen. Der Ruhrbergbau erreichte als erster die Zulassung sowjetischer Kriegsgefangener zum Arbeitseinsatz im Reichsgebiet; im Oktober/November 1941 ergingen die Genehmigungen Hitlers und Görings. Doch der endgültige Kurswechsel sollte sich noch bis zum Frühjahr 1942 hinziehen. Als dann die umfassende Reorganisation der Rüstungswirtschaft eingeleitet wurde, mussten die Behörden feststellen, dass gar nicht mehr genügend russische Kriegsgefangene vorhanden waren. Zuständig für die Gesamtorganisation des 31 32 33 34 28 29 Vgl. Fritz Blaich, Wirtschaft und Rüstung im "Dritten Reich", Düsseldorf 1987, S.36f. S.a. Homze, S.67f; Historische Notate 9, S.11. Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.27; Blaich, S.36f. 30 So war Hitler bis 1943 prinzipiell gegen alle Pläne verstärkt deutsche Frauen zur Arbeit heranzuziehen. In den ersten Kriegsjahren war die Zahl der berufstätigen Frauen sogar von 14,6 auf 14,2 Mio. zurückgegangen. Vgl. Andreas Kranig, Arbeitnehmer, Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik unter dem Nationalsozialismus, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S.135-152, hier: S.151; Rolf-Dieter Müller, Grundzüge der deutschen Kriegswirtschaft, 1939 bis 1945, in: Bracher / Funke / Jacobsen, Deutschland 1933-1945, S.357-376, hier: S.364f.; Rita R. Thalmann,: Zwischen Mutterkreuz und Rüstungsbetrieb: Zur Rolle der Frau im Dritten Reich, in: Bracher / Funke / Jacobsen, Deutschland 1933-1945, S.198-217, hier: S.210f.; Homze, S.100f.; Herbert, Europa und der "Reichseinsatz, S.8. 31 Vgl. Homze, S.70ff.; Madajczyk, Deutsche Besatzungspolitik, S.432ff.: Der "Generalplan Ost" zeigt die Zielsetzungen auf: aus einem Gebiet, bestehend aus Polen, Westukraine, Baltenstaaten sollten 30 Millionen Menschen der einheimischen Bevölkerung nach Sibirien "ausgesiedelt" werden. S.a. Długoborski, Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel, S.36ff.: Hitlers Ostkriegskonzeption beinhaltete u.a. folgende Ziele: 1. Ausrottung der "jüdisch-bolschewistischen" Führungsschicht, 2. Gewinnung von Kolonialraum für deutsche Siedler; 3. Dezimierung der "slawischen Massen" und ihre Unterwerfung unter die deutsche Herrschaft. 32 Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.26; ders., Europa und der "Reichseinsatz, S.10f.; Homze, S.67; Blaich, S.36f. 33 Vgl. Herbert, Arbeit und Vernichtung, S.398f. S.a. ders., Fremdarbeiter, S.152; Christian Streit, Sozialpolitische Aspekte der Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangene, in: Waclaw Długoborski (Hrsg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel. Achsenmächte und besetzte Länder, Göttingen 1981, S.184-196; hier: S.184; Homze, S.80ff.; Herbert, Europa und der "Reichseinsatz, S.10f.; Mommsen / Grieger, S.544f.; Blaich, S.36f. 34 Vgl. Homze, S.77; Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.27; ders., Europa und der "Reichseinsatz, S.10f.; Holger Menne / Michael Fahrenkopf, Zwangsarbeit im Ruhrbergbau während des Zweiten Weltkrieges, Bochum 2004, S.15f.; Mommsen / Grieger, S.549: Eine Genehmigung zum Einsatz in der Industrie wäre auch zu offensichtlich ein Eingeständnis der mangelnden militärischen Voraussicht des "Führers" gewesen und unterblieb darum bis zum Frühjahr 1942. Ausländereinsatzes war zu diesem Zeitpunkt die Geschäfts-gruppe Arbeitseinsatz der VierjahresplanBehörde; deren Leiter, Werner Mansfeld, Ministerialdirektor im Reichs-arbeitsministerium, schrieb im Februar 1942: "Die gegenwärtigen Schwierigkeiten im Arbeitseinsatz wären nicht entstanden, wenn man sich rechtzeitig zu einem großzügigen Einsatz russischer Kriegsgefangener entschlossen hätte. Es standen 3,9 Millionen Russen zur Verfügung, davon sind nur noch 1,1 Millionen übrig. Allein vom November 41 bis Januar 42 sind 500.000 Russen gestorben. Von den 3.350.000 sowjetischen Kriegsgefangenen des Jahres 1941 wurden insgesamt bis Ende März 1942 nur 166.881 zur Arbeit eingesetzt: fünf Prozent." Nachdem die NS-Führung erst Millionen potenzieller Arbeitskräfte hatte umkommen lassen, musste sie nun verstärkte Maßnahmen zur Rekrutierung neuer Arbeitskräfte einleiten. Reichsmarschall Göring ordnete darum Anfang 1942 die Anwerbung und den Einsatz sowjetischer Zivilarbeiter an, dazu eine Mitteilung des Chefs der Ordnungspolizei an die Höheren SS- und Polizeiführer vom 17. Januar 1942: "1) Der Reichsmarschall hat die Anwerbung von Arbeitskräften größten Umfangs aus den gesamten besetzten sowjetrussischen Gebieten und ihren Arbeitseinsatz im Reichsgebiet angeordnet. ... 2) Die Erfassung der russischen Arbeitskräfte in den besetzten Gebieten erfolgt durch Anwerbekommissionen des Reichsarbeitsministeriums, die ihre Tätigkeit bereits aufgenommen haben." DER GENERALBEVOLLMÄCHTIGTE FÜR DEN ARBEITSEINSATZ 35 36 37 Das Ende der Blitzkriegphase und die Neuorganisation der Kriegswirtschaft im Frühjahr 1942 schlug sich auch in der Errichtung einer neuen Zentralbehörde für den Arbeitseinsatz nieder: am 21. März 1942 ernannte Hitler den Gauleiter von Thüringen, Fritz Sauckel, zum "Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz" (GBA). Sauckel sollte insbesondere die Zivilarbeiter in den besetzten Gebieten Europas der NSKriegswirtschaft zuführen. Da sich die Kriegslage jedoch gegen Deutschland gewendet hatte, waren immer weniger Ausländer zum freiwilligen Einsatz bereit; Sauckel ging darum zur Zwangsrekrutierung arbeitsfähiger Personen über. Die größte Gruppe der Zwangsarbeiter bildeten die "Ostarbeiter" aus der UdSSR: bis zum 30. Juni 1944 wurden 2,8 Millionen Sowjetbürger ins Reich deportiert, im September 1944 stellten sie 38,7% aller ausländischen Arbeitskräfte. Sauckel hatte zunächst darauf gesetzt, dass eine harte Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der UdSSR den Willen zur "freiwilligen" Arbeitsaufnahme im Reich verbessern würde; bis August 1942 war die Zahl der Freiwilligen aber erschöpft. Danach griff die deutsche Verwaltung, d.h. die Reichskommissare für die besetzten Ostgebiete und die Arbeitseinsatzdienststellen der Militär- und Zivilverwaltungen, zu immer drastischeren Rekrutierungsmethoden. Vertreter anderer Behörden sprachen von regelrechten Sklavenjagden, denn mittels Razzien, Dorfumstellungen, Dienstverpflichtungen ganzer Jahrgänge etc. sollte der Arbeitskräfte-bedarf der deutschen Wirtschaft gedeckt werden. Vom 1. April bis zum 31. Dezember 1942 38 39 40 41 42 35 Zitiert nach: Herbert, "Der "Ausländereinsatz", S.27. S.a. Blaich, S.38f.; Homze, S.80ff.; Menne / Fahrenkopf, S.16; Mommsen / Grieger, S.550. 36 Vgl. Herbert, Europa und der "Reichseinsatz", S.10f.; Mommsen / Grieger, S.529. 37 38 39 40 41 42 Schnellbrief des Chef der Ordnungspolizei, betr. Anwerbung und Arbeitseinsatz sowjetrussischer Arbeitskräfte, Berlin, 17. Januar 1942, Nds. Staatsarchiv Wolfenbüttel (Im folgenden: Nds. StA WF), Bestand 12 Neu Fb. 13b, Nr. 15748. S.a. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.165f. Vgl. Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30. Juni 1942, RGBl., S.419, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783: "Begriff des Ostarbeiters - §1 – Ostarbeiter sind diejenigen Arbeitskräfte nichtdeutscher Volkszugehörigkeit, die im Reichskommissariat Ukraine, im Generalkommissariat Weißruthenien oder in Gebieten, die östlich an diese Gebiete und an den früheren Freistaaten Lettland und Estland angrenzen, erfasst und nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht in das Deutsche Reich einschließlich des Protektorats Böhmen und Mähren gebracht und hier eingesetzt werden." Vgl. Herbert, Europa und der "Reichseinsatz", S.10f.; Rolf-Dieter Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Europa und der "Reichseinsatz". Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S.234-250, hier: S.234; Blaich, S.36f.; Czeslaw Luczak, Polnische Arbeiter im nationalsozialistischen Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Entwicklung und Aufgaben der polnischen Forschung, S.90-106, hier: S.99; Historische Notate 4, S.10. – Im Generalgouvernement war es allerdings schon vor der Bestellung Sauckels zu Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften mittels Straßenrazzien, Massenaushebungen etc. gekommen. Vgl. Długoborski, deutsche Besatzungspolitik, S.575; Heider, S.71. Vgl. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.165f.; Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter, S.238f.: Den Gedanken, um sowjetische Arbeitskräfte "werben" zu müssen, empfanden überzeugte Nazis zudem als Zumutung, sie sahen in ihnen weiterhin "Untermenschen", nur mit dem Unterschied, dass man vorübergehend auf ihre Arbeitskraft angewiesen war. In einem geheimen Memorandum charakterisierte Otto Bräutigam, stellvertretender Abteilungsleiter der Politischen Abteilung des Ostministeriums, die deutschen Rekrutierungsmethoden als "regelrechte Menschenjagden". Vgl. Homze, S.155 und S.161. Der SD- und Polizeichef des Reichskommissars Ukraine hatte bereits am 18. März 1942 folgenden Befehl herausgegeben: "3. Aktivität der wurden 1.416.000 zivile Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten der UdSSR verschleppt, wöchentlich etwa 40.000, der Frauenan-teil lag bei 50 %, das Durchschnittsalter bei 20 Jahren. 1943 ordnete Sauckel zunächst die Rekrutierung der Jahrgänge 1922-1925 an, also aller 18-21jährigen. Da bis August 1943 die vorgegebenen Quoten nicht erfüllt worden waren, ordnete er auch die Rekrutierung und Deportation der Jahrgänge 1926 und 1927 an. Aber weder im Osten noch im Westen Europas konnten die "Sauckel-Aktionen" die von der Rüstungswirtschaft geforderten Stückzahlen erbringen, die zunehmende Brutalität der Aktionen forderte vielmehr den Widerstand der Bevölkerung heraus. Auch Informationen über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fremdarbeiter in Deutschland erreichten die Heimatländer sehr schnell. Da deutsche Arbeitgeber und Behörden sich nicht mit kranken und arbeitsunfähigen "Ostarbeitern" belasten wollten, wurden diese wieder zurücktrans-portiert und konnten ihre Erfahrungen mitteilen. Viele, die Sauckel entkamen, schlossen sich den nationalen Widerstandsbewegungen an. Da Sauckels Rekrutierungsmaßnahmen die Partisanenbewegung gestärkt hatten, wurde der GBA von der Armee deutlich kritisiert. Mit dem ab August 1943 beginnenden deutschen Rückzug gestaltete sich die weitere Rekrutierung sehr schwierig. Zwar griff die Wehrmacht zum Mittel der Zwangsevakuierung, um der vorrückenden Roten Armee keine potentiellen Waffenträger zu überlassen; trotzdem musste Sauckel der Zentralen Planung am 1. März 1944 mitteilen, dass von September 1943 bis Februar 1944 nur noch 112.000 neue Arbeitskräfte aus dem Osten gekommen seien. Im Juli 1944 war die Rekrutierung in Russland praktisch beendet, da die Rote Armee die von den Deutschen besetzten Gebiete der UdSSR zurückerobert hatte. 43 44 45 46 1943 - POLITISCHER KURSWECHSEL Nach der Niederlage von Stalingrad und mit dem Beginn des "totalen Krieges" versuchte man die einheimische Bevölkerung der besetzten Gebiete für den Kampf gegen den Bolschewismus zu gewinnen, nach der vorangegangenen Behandlung natürlich ohne großen Erfolg. Diese Chance, die zu Kriegsbeginn bestanden hatte, war durch den Tod von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener verspielt worden. Der politische Richtungswechsel berührte auch den Einsatz der "Ostarbeiter" im Reich. Zwar hatte man im Jahr 1942 enorme Anstrengungen unternommen, um massenhaft Ausländer zum Arbeitseinsatz ins Reich zu transportieren, gleichzeitig blieb aber der Primat des Rassismus erhalten. Als Folge wurden die Lebensumstände der "Ostarbeiter" denkbar schlecht ausgestaltet, die Lage der Polen war nur wenig besser. Der großzügige Umgang mit der Arbeitskraft der "Ostarbeiter" fußte auf der Vorstellung, dass man problemlos weitere Millionen ins Reich würde deportieren können. Die Kriegswende von Stalingrad Anfang 1943 veränderte jedoch diese Einschätzung. Da die Armeen der Ostfront verstärkt deutsche Rüstungsarbeiter einzogen, fehlten der NS-Kriegswirtschaft im ersten Halbjahr 1943 weitere 1,5 Millionen Arbeitskräfte. Mit den bisherigen Methoden war diese Lücke nicht mehr zu schließen; die Arbeitsleistung der Ausländer musste also drastisch erhöht werden – denn hier lagen die größten Produktivitätsreserven. Dies setzte aber eine gewisse politische Aufwertung der "Ostarbeiter" voraus, Goebbels startete darum Propaganda-Kampagnen wie "Europäische Arbeiter gegen den Bolschewismus". Weitere Folgen des Richtungswechsels waren eine Erhöhung der Verpflegungssätze, eine Verbesserung der Ausgangsregeln und der Arbeitsbedingungen, außerdem wurden mehr "Ostarbeiter" angelernt. Die Betriebe erhielten damit die Möglichkeit, ihre "Ostarbeiter" effektiver einzusetzen. Doch viele der diskriminierenden Vorschriften der Sicherheitsbehörden 47 Arbeitsverwaltung ist so weit wie möglich auszudehnen. Zwangsmaßnahmen können nicht immer vermieden werden. Freigelassene Gefangene werden der Arbeitsverwaltung zur Verfügung überlassen. Bei Dorfdurchsuchungen kann die ganze Dorfbevölkerung dem Chef der Arbeitsverwaltung zur Verfügung gestellt werden. ..." zitiert nach: Homze, S.155 (Übersetzung aus dem Amerikanischen); s.a. S. 160. 43 44 45 46 47 Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.30; Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter, S.238f. und S.242f.; ders., Grundzüge der deutschen Kriegswirtschaft, S. 368f.; Blaich, S.36f.; Homze, S.73f. und S.161. Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.31; ders., Europa und der "Reichseinsatz", S.14ff.; Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter, S.238ff.; Blaich, S.36ff.; Hans Werner Neulen, Deutsche Besatzungspolitik in Westeuropa – Zwischen Unterdrückung und Kollaboration, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S.404-425, hier: S.417: "Tatsächlich hat kaum eine Aktion der Besatzungsmacht den Hass der unterdrückten Bevölkerung so herausgefordert wie die Zwangsverschickung einheimischer Arbeitskräfte ins Reich." Vgl. Homze, S.156f. und S.161. Vgl. ebd., S.161ff.; Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter, S.234 und S.246f. Vgl. Madajczyk, Deutsche Besatzungspolitik, S.434f.; Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter, S.237. blieben weiter in Kraft. Parallel zu den innenpolitischen Maßnahmen wurde die Zwangsrekrutierung in Europa immer brutaler durchgeführt. Zwischen Anfang 1943 und Kriegsende gelangten noch einmal 2,5 Millionen ausländischer Zivilarbeiter ins Reich. Am 31. Mai 1944 arbeiteten 7.126.000 ausländische Arbeitskräfte in Deutschland, bis zum Herbst stieg ihre Zahl auf 7,7 Millionen an, damit war jede fünfte Arbeitskraft ein Ausländer – nicht eingerechnet die 650.000 KZ-Häftlinge. Von den 7,7 Millionen waren 1,9 Millionen Kriegsgefangene und 5,7 Millionen zivile Arbeitskräfte. 2,8 Millionen kamen aus der Sowjetunion, 1,7 Millionen aus Polen, 1,3 Millionen aus Frankreich, 600.000 aus Italien. Als Folge war Deutschland mit einem Netz von Lagern überzogen, insgesamt gab es im Reich wohl über 20.000 Ausländerlager. 48 49 48 Vgl. Homze, S. 175ff. und S.209; Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.34f.; ders., Europa und der "Reichseinsatz", S.12f.; Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter, S.234; Mommsen / Grieger, S.534 und S.595; Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.100f. und S.199f. 49 Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.13 und S.34f.; Homze, S.175; Martin Weinmann / Anne Kaiser / Ursula Schmitt-Krause (Hrsg.), Das Nationalsozialistische Lagersystem, Frankfurt/Main 1990, S.LXXXVI; Historische Notate 1, S.6; Herbert, Europa und der "Reichseinsatz", S.12f. und S.7: Weitere 300.000 kamen aus der Tschechoslowakei und je 250.000 aus Belgien und den Niederlanden, 180.000 aus Jugoslawien. Diese Zahlen beziehen sich nur auf den Herbst 1944, insgesamt waren während des Krieges wesentlich mehr Ausländer eingesetzt, ungefähr 9,5 Millionen. Tabelle 1: Zivilarbeitskräfte in Tausend50 Datum: dt. Männer dt. Frauen 31.5.1939 24.488 14.625 31.5.1940 20.449 14.386 31.5.1941 18.990 14.167 31.5.1942 16.864 14.437 31.5.1943 15.462 14.806 31.5.1944 14.175 14.808 30.9.1944 13.535 14.897 Ausländer 301 1.154 3.033 4.224 6.260 7.126 7.487 % 0,8 3,2 8,4 11,7 17,1 19,7 20,8 Gesamtzahl 39.405 35.983 36.177 35.526 36.529 36.110 35.919 Tabelle 2: Verteilung der Fremdarbeiter auf Branchen in % der Gesamtausländerzahl51 1940 1942 1944 Landwirtschaft 51 45 34 Industrie 29 36 45 Handwerk 9 7 7 Transport 4 5 6 Verteilung 2 3 3 Verwaltung 2 2 3 Privat. Haushalte 2 2 1 Gesamt 100 100 100 Tabelle 3: Verteilung der Fremdarbeiter auf Branchen in % der Gesamtbeschäftigtenzahl52 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Landwirtschaft 1 6 13 18 20 22 Industrie 1 3 9 14 26 29 Handwerk 1 3 8 9 13 16 Transport 1 2 4 8 13 17 Verteilung (Handel) 2 3 5 7 Verwaltung 1 3 3 5 6 Privat. Haushalte 1 2 5 5 5 Sonstige 1 3 9 12 17 20 Wie die Tabellen 2 und 3 deutlich machen, war die Mehrzahl der ausländischen Zivilarbeiter in Landwirtschaft und Industrie beschäftigt, bis gegen Kriegsende stieg ihre Zahl in der Industrie stetig an. Der ebenfalls hohe Anteil im Transportsektor erklärt sich u.a. durch Masseneinsätze bei der Reichsbahn. Generell waren die Bedingungen in der Landwirtschaft, speziell die Versorgung mit Nahrungsmitteln, etwas besser; entkräftete "Ostarbeiter" aus Industriebetrieben etc. konnten darum von den Behörden auch zum "Aufpäppeln" vorübergehend in die Landwirtschaft versetzt werden. Hauptproblem in den anderen Sektoren war die Versorgung mit Lebensmitteln, da die Betriebe an die vom Reichsernährungsministerium festgesetzten Verpflegungssätze gebunden waren. Besonders belastend waren Branchen mit schwerer körperlicher Arbeit, wie Bergbau und Bauindustrie. Viele Fremdarbeiter versuchten daher - trotz Verbot - durch einen Arbeitsplatzwechsel ihre Lage zu verbessern. Insgesamt wichen die Verhältnisse in den Lagern und Betrieben (ob Industrie oder Landwirtschaft) oft stark voneinander ab, was zeigt, dass lokale Instanzen doch einen größeren Spielraum hatten und dass somit die schlechte Behandlung der "Ostarbeiter" nicht allein auf die Vorschriften der Behörden zurückzuführen ist. Der Ausländeranteil an der Belegschaft von Industriebetrieben war von vielen Variablen abhängig. So hatten Rüstungsbetriebe generell einen höheren Anteil an Ausländern als der Durchschnitt. Auch in einigen Bereichen der Schwerindustrie (Bergbau, Stahlherstellung, Bau) war der Ausländeranteil überdurchschnittlich hoch, ebenso in Betrieben mit Fließbandarbeit; nach Angaben des Generalluftzeugmeisters Erhard Milch lag 53 54 50 Zitiert nach: Homze, S.232 (Quelle: Kriegswirtschaftliche Kräftebilanz für 1942, 1943 und 1944, korrigiert vom USSBS). 51 Zitiert nach: Homze, S.235 (Quelle: Kriegswirtschaftliche Kräftebilanz für 1942, 1943 und 1944, korrigiert vom USSBS), Stichtag: 31. Mai j.J. 52 Zitiert nach: Homze, S.235 (Quelle: Kriegswirtschaftliche Kräftebilanz für 1942, 1943 und 1944, korrigiert vom USSBS), Stichtag: 31. Mai j.J. 53 Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.37; ders., Europa und der "Reichseinsatz", S.12f.; Menne / Fahrenkopf, S.16. 54 Vgl. Menne / Fahrenkopf, S.17. der Ausländeranteil im Flugzeugzellenbau bei bis zu 90 % der Produktionsarbeiter. Von den Einziehungen zur Wehrmacht waren insbesondere neue Fabriken mit einer jungen Belegschaft betroffen, während ältere Firmen mit einer gewachsenen Belegschaft, die einen höheren Anteil älterer Arbeitnehmer aufwies, weniger darunter zu leiden hatten. Entsprechend war in den im Zuge der Aufrüstung neu errichteten Fabriken der Ausländeranteil höher. Wichtig für den Ausländeranteil der Firma war auch der Status und die Position der Betriebsführung im "Dritten Reich". Quasimonopole (IG Farben), Größe an sich (Hermann-Göring-Werke) und persönliche Kontakte zur Führungselite des "Dritten Reichs" sorgten für eine privilegierte Versorgung mit Arbeitskräften, insbesondere Ausländern. Alle diese Faktoren galten auch für die Volkswagenwerk GmbH. Als Folge wies die Belegschaft einen überdurchschnittlichen Ausländeranteil auf. (Tabelle 4 zeigt die Veränderungen in der Zusammensetzung der Belegschaft von 1939-1944.) 55 56 Tabelle 4: Belegschaftsentwicklung im VWW Jahr Deutsche % Ausländer % Summe 1939 2.696 100 0 0 2.696 1940 5.663 86 919 14 6.582 1941 5.997 74 2.070 26 8.067 1942 4.660 39 7.258 61 11.917 1943 5.621 33 11.401 67 17.022 1944 6.031 35 11.334 65 17.365 1.5. DAS VOLKSWAGENWERK UND DER "OSTARBEITEREINSATZ" Die detaillierte Darstellung der Zusammenhänge, die zwischen der Zwangsarbeiterbeschäftigung und den Produktionsentscheidungen des Unternehmens bestanden, war ein zentrales Anliegen der MommsenStudie. Hinsichtlich des Einsatzes von "Ostarbeitern" im Volkswagenwerk kamen die Autoren zu folgendem Ergebnis: "Die Leitung des Volkswagenwerkes ist, um den Aufstieg in die Großrüstung zu nehmen, die Verantwortung für die Ausbeutung von Zwangsarbeitern aus den besetzten Ostgebieten bewusst eingegangen. Die Methoden, die es anwandte, unterschieden sich nicht grundlegend von denjenigen anderer Betriebe ... Die Besonderheit besteht in dem Ausmaß, in dem auf Ostarbeiter zurückgegriffen wurde. Sie haben entscheidend zu der Produktionsausweitung seit dem Sommer 1942 beigetragen." Der Entwicklungsgang läßt sich wie folgt zusammenfassen: da das Unternehmen ab Sommer 1941 und verstärkt ab Jahresbeginn 1942 den Weg zum reinen Rüstungsunternehmen einschlug, stieg als Folge dieser Expansion in den Rüstungssektor bzw. durch die damit verbundene Hereinnahme von Aufträgen der Heeresund Luftrüstung der Arbeitskräftebedarf laufend an. Da die Überlassung französischer Kriegsgefangener im Herbst 1941 nicht zustande kam (erst im Frühjahr 1943 traf ein größeres Kontingent ein), wich die Betriebsleitung des Volkswagenwerks auf die Beschäftigung sowjetischer Zwangsarbeiter aus. Im April und Juni 1942 trafen die ersten Transporte mit jeweils 1.000 "Ostarbeitern" für das Volkswagenwerk ein, wobei Mommsen/Grieger für diese beiden Transporte von einer Mitwirkung von Werksvertretern bei der Rekrutierung ausgehen. Im Oktober erfolgte eine Zuweisung von weiteren 1.500 Arbeitskräften durch den GBA; insgesamt kamen ab 1942 etwa 4.000 - 5.000 Männer und Frauen aus der 57 58 59 60 55 Vgl. Homze, S.236ff.; Mommsen / Grieger, S.530. 56 Historische Notate 1, S.8 (Stichtag: 31.12. j.J.). S.a. Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.48; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.29 und S.33; Mommsen / Grieger, S.532. 57 58 59 60 Weitere Zwangsarbeitergruppen waren u.a. französische und niederländische Dienstverpflichtete, polnische Deportierte, KZHäftlinge, sowjetische und französische Kriegsgefangene sowie "Italienische Militärinternierte". Vgl. Mommsen / Grieger, S.568f. und S.714ff. (Kapitel 8.1.); Historische Notate 1, S.9. Vgl. Mommsen / Grieger, S.44. Ebd., S.598. Vgl. ebd., S.37, S.566ff., S.601ff. (Kapitel 7.1.), S.714 und S.756. UdSSR in das "Ostlager" des Volkswagenwerks. Das Eintreffen von "Ostarbeitern" ab Herbst 1942 und die bevorzugte Versorgung wichtiger Betriebe des Rüstungssektors mit Arbeitskräften bestätigen übrigens auch die Monatsberichte des Landesarbeitsamts Niedersachsen. Für den Berichtsmonat September 1942 wurde gemeldet: "5.500 Ostarbeiter neu hinzugekommen. Gleichzeitig starker Anstieg des Bedarfs im Rüstungssektor, aber Hackfruchternte und Zuckerkampagne sind demgegenüber bevorzugt abzudecken." Und für den Monat März 1943 heißt es: "Im Rüstungssektor hat die Bedarfsdeckung das in der Vorplanung festgelegte Soll nahezu erreicht. Die gemeinsam mit den betreuenden Dienststellen geplante Bedarfsdeckung musste auch im März teilweise wieder zurücktreten zugunsten zentral mit Listen und Rotzetteln angeordnete Zuweisungen für besondere Aufgaben. Die wichtigsten Fertigungen wurden mit den vorgesehenen Kräften voll versorgt. ¾ der Kräfte wurden Betrieben mit Wehrmachtsfertigung zugewiesen." 61 62 63 61 62 Vgl. ebd., S.529 und S.568; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.49; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.36. Der Präsident des Landesarbeitsamts Niedersachsen: Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes im Landesarbeitsamtsbezirk Niedersachsen im Monat September, Braunschweig, 7. Oktober 1942, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu Fb. 18, Nr.73, 1940-42. 63 Der Präsident des Landesarbeitsamts Niedersachsen: Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes im Landesarbeitsamtsbezirk Niedersachsen im Monat März, 6. April 1943, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu Fb. 18, Nr.72, 1943-45 (Berichte des Arbeitsamts Braunschweig). 2. DEPORTATION 2.1. METHODEN DER BESCHAFFUNG VON ARBEITSKRÄFTEN / RAZZIEN In den folgenden Kapiteln (2. - 6.) werden die Erlebnisberichte derjenigen Frauen und Männer aus der Ukraine ausgewertet, die im "Ostlager" des Volkswagenwerks untergebracht waren. Die Verschleppung nach Deutschland war für die meist recht jungen "Ostarbeiter" ein einschneidendes Erlebnis. Aufgrund der Begleitumstände wurde die zwangsweise Deportation auch als Akt der Gewalt und Entwürdigung empfunden. Wie die Tabellen 5 und 6 belegen, war keiner der Befragten zum Zeitpunkt der Deportation älter als 21 Jahre, die meisten waren sogar noch minderjährig. Viele der Betroffenen versuchten sich vor den jahrgangsweisen Einziehungen zu "drücken", indem sie sich versteckten oder ihre Papiere verfälschten, wie etwa Neonila S.: "Ich bin 1925 geboren, aber um nicht nach Deutschland geschickt zu werden, habe ich die Dokumente auf 1926 datiert." 64 65 Tabelle 5: Jahr der Deportation nach Deutschland Prozent 1942 40 55,6 1943 32 44,4 Zusammen 72 100,0 Tabelle 6: Zugehörigkeit zu Jahrgängen Jahrgang 1922 Jahrgang 1923 Jahrgang 1924 Jahrgang 1925 Jahrgang 1926 Jahrgang 1927 Jahrgang 1928 Jahrgang 1930 keine Angaben Zusammen Frauen 3 2 5 7 19 6 3 45 Männer 1 3 6 9 5 1 1 1 27 Prozent 4,2 4,2 11,1 18 38,9 15,3 1,4 1,4 5,5 100,0 Andere "Ostarbeiter" wurden bei Straßenkontrollen oder während der Arbeit verhaftet, wie der Erinnerungsbericht von Maria K. zeigt: "Ich habe auf dem Feld gearbeitet und vom Feld wurden wir mitgenommen und nach Deutschland deportiert." 66 Dass die Besatzungsbehörden es besonders auf junge ukrainische Frauen als Arbeitskräfte abgesehen hatten, schien sich schnell herumgesprochen zu haben, so berichtet Nina S.: "Als die Deutschen in unser Dorf kamen, haben sich alle Mädchen in meinem Alter versteckt, damit wir nicht nach Deutschland geschickt werden." Doch derartiger "Widerstand" wurde mit drastischen Methoden im Keim erstickt: "Nachdem man meinen Vater mit den Füßen an ein Auto gebunden hat und ihn durchs Dorf geschleift hat, bin ich aus meinem Versteck heraus." Die Einziehung der Geburtsjahrgänge 1925 und 1926 – also von Jugendlichen im Alter von 16 und 17 Jahren - im Gebiet der Stadt Anthrazit am 23. September 1942 wird von mehreren Betroffenen erwähnt, als Beispiel hier der Bericht von Anastasia W.: "1942 wurde der ganze Donbass und meine Stadt BokowoAnthrazit von den Italienern okkupiert. Alle Jugendlichen wurden erfasst und die Pässe weggenommen. Dann 67 68 69 64 65 66 67 68 69 Vgl. Heider, S.73ff. Erinnerungsbericht Neonila S. Vgl. Erinnerungsbericht Maria K.; Erinnerungsbericht Wladimir K. S.a. Fragebogen Jurij K.: "Bei einer Straßenkontrolle wurde ich verhaftet und am 10. Mai 1943 nach Deutschland deportiert."; Mommsen / Grieger, S.578. Vgl. Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter, S.240f. Fragebogen und Erinnerungsbericht Nina S. Insgesamt stammten nicht weniger als 32 der 72 Befragten aus dem Gebiet der Stadt Anthrazit. S.a. Fragebögen Maria W., Tatjana B. haben sie uns eine Einladung zur Vorstellung geschickt. Als wir erfahren haben, dass die Jugendlichen zur Arbeit nach Deutschland geschickt werden sollten, sind wir nicht hingegangen. Da ist die Polizei von Haus zu Haus gegangen und sie haben uns in die Stadt gebracht. Den Eltern haben sie gesagt, dass sie uns Kleider und Lebensmittel bringen sollen. Am 23. September 1942 haben sie uns zu Fuß und mit Begleitung bis nach Stschetowo geschickt.. Es waren sehr viele Jugendliche aus Krasny Lutsch, Rowenjki. Uns haben sie in einen Güterzug verladen, wir haben die Schreie unserer Eltern gehört. In der Nacht wurden Bomben abgeworfen, die Bahntrasse war zerstört, wir standen 24 Stunden, bis das Gleis fertig war, dann sind wir weiter gefahren bis Dnjepropetrowsk. Als wir in Lwow angekommen waren, mussten wir aussteigen. Da waren Baracken ohne Betten, auf dem Zementboden war nur Stroh. Wir mussten uns nackt ausziehen, Mädchen und Jungen, alle zusammen, dann haben sie uns zur Badestube begleitet. Danach haben sie eine Desinfektion durchgeführt. Drei Tage haben wir in den Baracken gelebt und das gegessen, was wir von zu Haus mitgenommen hatten. Ich und meine drei Freundinnen wollten weglaufen und sind bis zum Bahnhof gekommen, da stand eine Lokomotive. Wir haben den Lokführer angesprochen, ob er uns bis nach Kiew mitnehmen könne. Dann kam die Polizei und hat uns wieder ins Lager zurückgebracht. Den Güterwaggon haben sie auch desinfiziert. Sie haben uns in die "Stadt des KdF-Wagens" gebracht." 70 Auch die Transporte fanden unter äußerst unwürdigen Bedingungen statt, generell wurden die "Ostarbeiter" in überfüllten und ungeheizten Güter- oder Viehwaggons und unter strenger militärischer Bewachung deportiert, so schreibt Wladimir K.: "Die Deutschen haben uns bei Tag und Nacht gefangen, wie die Hasen, ob auf dem Feld oder zu Hause. Sie brachten uns zu Sammelstellen. Danach wurden wir abtransportiert, in Waggons, die von Soldaten bewacht wurden. Die Fahrt ging nach Kiew. Danach ging die Fahrt mit 60 Personen pro Waggon weiter, der letzte Waggon war mit vielen Soldaten und einem aufgestellten Maschinengewehr belegt. In Kiew war das letzte Lager, danach ging es ohne Zwischenstopp nach Deutschland, Stadt KdF." 71 Ein Teil der Befragten berichtet hingegen, dass sie bei Zwischenstopps in Durchgangslagern in Polen nach diversen Desinfektionen und medizinischen Untersuchungen zum Arbeitseinsatz für das Volkswagenwerk ausgewählt wurden. Dies entsprach auch den Anordnungen Görings vom Januar 1942, darin heißt es: die Anwerbekommissionen "erfassen die Arbeiter in besonderen Auffanglagern, wo sie überprüft, erstmalig entseucht und zu Transporten zusammengestellt werden. Von den Auffanglagern erfolgt der Transport mit der Eisenbahn zunächst in ein Übergangslager (Entseuchungslager) im Generalgouvernement oder an der Grenze des Reichsgebiets. Nach einer zweiten Entseuchung in diesen Lagern werden die Arbeitskräfte in Sammeltransporten zunächst in Durchgangslager bei den Landesarbeitsämtern übergeführt und von dort weiter zu den einzelnen Betrieben in Betriebslager. Diese Lager dürften von den Arbeitskräften nur zum Zwecke der Arbeit verlassen werden, zu der sie geschlossen (wie Kriegsgefangene) zu führen sind. Die Freizeit der Arbeiter spielt sich ausschließlich im Lager ab." 72 73 2.2. HERKUNFT DER REKRUTIERTEN / HEIMATORT / BERUF DER ELTERN Wie bereits erwähnt stammen von 72 Befragten insgesamt 70 aus der Ukraine oder aus früher zu Polen gehörenden Teilen der Ukraine. Von diesen 70 lebten 19 bei Kriegsausbruch in der Region Saporoschje und nicht weniger als 32 (!) in der Region Anthrazit, heute Teil des Oblast Lugansk. Aus den im Fragebogen gemachten Angaben zum Heimatort (Tabelle 7) und zum Beruf der Eltern (Tabelle 8) lässt sich der soziale Hintergrund der Deportierten erschließen. Vergleichsweise häufig wurden 74 70 71 72 73 74 Erinnerungsbericht Anastasia W. S.a. Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.52f.; Erinnerungsbericht Natasha S.: " Wir wurden alle von der Station Stschetowo der Stadt Anthrazit als Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht. Viele Menschen sind zum Bahnhof gekommen, um von uns Abschied zu nehmen. Das war kein Abschied, das war eine Beerdigung." Erinnerungsbericht Wladimir K. S.a. Erinnerungsbericht Eudokia K.: "Nach Deutschland sind wir 1942 im Güterzug gebracht worden. Wir fuhren sehr lange. Unterwegs war es sehr kalt und gegessen haben wir, was wir hatten." Erinnerungsbericht Maria K. Polnische Deportierte berichteten, dass Werksvertreter Arbeitskräfte im Durchgangslager Lehrte auswählten. Vgl. Mommsen / Grieger, S.572. Schnellbrief des Chef der Ordnungspolizei, betr. Anwerbung und Arbeitseinsatz sowjetrussischer Arbeitskräfte, Berlin, 17. Januar 1942, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu Fb. 13b, Nr. 15748. Von den in der Einleitung erwähnten Antworten aus Weißrussland und Russland kam eine von einer Bergarbeiterin, die nach 1945 aus der Region Anthrazit in die Bergbauregion von Tscheljabinsk wechselte. Berufe aus dem Bergbau (Bergmann, Grubenmeister, Mineningenieur, "Seilwinderin") genannt, resultierend aus der Tatsache, dass es sich bei der Stadt Anthrazit – wie der Name schon andeutet - um eine Bergbauregion handelt. Insgesamt stammte die deutliche Mehrzahl der Deportierten aus Landarbeiterfamilien bzw. Dörfern – auf die Eingliederung in den industriellen Arbeitsprozess in einem deutschen Rüstungswerk waren sie also von ihrer Arbeitserfahrung kaum vorbereitet. Tabelle 7: Heimatort Stadt Dorf keine Angaben Zusammen 13 57 2 72 Prozent 18 79,2 2,8 100,0 1 3 3 10 11 4 35 5 72 Prozent 1,4 4,2 4,2 13,9 15,3 5,5 48,6 6,9 100,0 Tabelle 8: Beruf der Eltern Ingenieur Angestellte Eisenbahnarbeiter Bergarbeiter Arbeiter Handwerker Landarbeiter / Kolchosbauern keine Angaben Zusammen 2.3. ANKUNFT IN DER "STADT DES KDF-WAGENS" Ihre Ankunft in der "Stadt des KdF-Wagens" und ihre Unterbringung im "Ostlager" des Volkswagenwerks beschreibt Eudokia P. wie folgt: "Im August 1943 wurde ich zwangsweise nach Deutschland verschleppt. Uns haben sie in einen Güterzug geladen und zur Zwangsarbeit geschickt. An der polnischen und an der deutschen Grenze gab es eine medizinische Untersuchung. Im September 1943 sind wir in einer deutschen Stadt angekommen, die 180 Kilometer von Berlin entfernt war. Auf dem Gelände des Werkes sind wir ausgestiegen. Auf dem Platz vor dem Werk haben wir uns ausgestellt und der Dolmetscher sagte: "Nun, von jetzt an habt ihr keine Namen, sondern nur Nummern." Meine Nummer habe ich leider vergessen. Das Werk war sehr schön und sehr groß, es lag am Ufer eines Kanals, über diesen Kanal gab es zwei Brücken, eine aus Eisen und eine aus Holz.. ... Dann haben sie uns ins Lager geführt. Das Lager war 10 – 15 Minuten Gehweg vom Werk entfernt. Um das Lager herum war Stacheldraht. An jeder Ecke stand ein Wachturm. Auf dem Gelände des Lagers standen Holzbaracken. In jeder Baracke gab es einige Zimmer, in jedem Zimmer wohnten ca. 20 Menschen. Im Zimmer gab es nur eiserne Etagenbetten und Nachtschränke. Wir haben Decken, Bettlaken, Kissenbezüge und Matratzenstoff bekommen. Die Kissenbezüge und den Matratzenstoff haben wir mit Stroh gefüllt. Uns hat man grau-grüne Arbeitskleidung, Schuhe mit Holzsohlen und den "Ost"Aufnäher gegeben. Den "Ost"-Aufnäher sollten wir auf die Jacke nähen. Am zweiten Tag führten sie uns unter Geleit in das Werk. ... Uns hat man auf verschiedene Abteilungen verteilt." Anastasia W. erwähnt noch die Erstellung von Fotos für Werksausweis und Arbeitsbuch sowie die Überführung in die Badestube: "Sie haben uns in die "Stadt des KdF-Wagens" gebracht. Uns haben sie in genau solche Baracken einquartiert, wie in Lwow, mit Zementboden und Stroh. Die Lebensmittel, die wir noch übrig hatten, haben sie in die Mülltonne geworfen. Sie haben uns in eine Kantine gebracht, [dort gab es] eine Schüssel mit Steckrübensuppe für 4 Personen. Dann haben sie uns in die Badestube gebracht und danach ein Foto für den "Ausweis" gemacht. Auf den linken Arm der Jacke mussten wir ein Abzeichen mit der Nummer "Ost N. 2571" aufnähen. In der Baracke haben wir ein Zimmer für 12 Personen bekommen. Die Matratzen waren mit Stroh gefüllt, dazu eine Decke mit Bettbezug. Sie haben uns in Reihen aufgestellt und zum Werk gebracht. Das Lager war vor dem Werk. Als wir ins Werk kamen, haben die Meister uns zur Arbeit eingeteilt." 75 76 75 76 Erinnerungsbericht Eudokia P. Erinnerungsbericht Anastasia W. 3. ARBEITSEINSATZ 3.1. VERTEILUNG DER ARBEITSKRÄFTE Das offizielle Verfahren der "Vermittlung" ausländischer Arbeitskräfte hatte einen formalisierten, bürokratischen Charakter. Prinzipiell hatte jede Firma das Recht auf die Zuweisung ausländischer Arbeitskräfte, voraus-gesetzt, man konnte einen Arbeitskräftebedarf nachweisen und verpflichtete sich, die "Beschaffungskosten" zu erstatten. Diese beinhalteten den Transport, Pauschalgebühren für die Verpflegung und Unterbringung während des Transports, Gebühren für die Vermittlung des Arbeitsamts, Kosten der ärztlichen Untersuchung, Desinfektion der Kleidung etc.. Die Vermittlung ausländischer Zivilarbeiter wurden per Gesetzesbeschluss den örtlichen Arbeitsämtern bzw. ihren übergeordneten Dienststellen übertragen, dazu die Anordnung Nr. 5 des GBA vom 11. Juli 1942: "Auf Grund der mir vom Führer und vom Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches erteilten Vollmacht bestimme ich daher, dass der Bedarf an Arbeitskräften nur bei den Dienststellen der Arbeitseinsatzverwaltung, in aller Regeln also bei dem für den Betrieb örtlich zuständigen Arbeitsamt anzumelden ist. Bei bestimmten zwischen dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition vereinbarten vordringlichen Aufgaben und Programmen erfolgt die Bedarfsmeldung durch direkte Übermittelung des Reichsministers für Bewaffnung und Munition an die Hauptabteilung V des Reichsarbeitsministeriums." Entsprechend wurden die ausländischen Arbeitskräfte vom Arbeitsamt registriert und auf Karteikarten erfasst, man erstellte auch Fotos für die Arbeitsbücher und –karten. Bei Arbeitsantritt wurden die "Ostarbeiter" mit einem vom GBA entworfenen "Merkblatt" über ihre Pflichten belehrt. Außerdem erhielten sie - wie zuvor bereits die Polen - ein stigmatisierendes Abzeichen, das deutlich sichtbar zu tragen war: "§ 1. Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen haben auf der rechten Brustseite eines jeden als Oberkleidung dienenden Kleidungsstückes ein mit ihrer jeweiligen Kleidung fest verbundenes Kennzeichen stets sichtbar zu tragen. – Das Kennzeichen besteht aus einem hochstehenden Rechteck von 7x7,7 cm. und zeigt bei 1 cm breiter blau-weißer Umrandung auf blauem Grund das Kennwort "Ost" in 3,7 cm hohen Buchstaben." Um die Vermittlung von Arbeitern an Rüstungsbetriebe zu verbessern, wurde 1943 das sogenannte Rotzettelverfahren eingeführt. Dazu mussten sich Rüstungsminister Speer und Sauckel zunächst auf die monatlich festzulegende Zahl von benötigten neuen Arbeitern einigen, dann wurde eine entsprechende Zahl von Rotzetteln monatlich gedruckt und dem Speer-Ministerium übergeben. Das Ministerium hatte dann diese Zettel an die diversen Rüstungsbetriebe zu verteilen, die Betriebe konnten diese Zettel wiederum beim zuständigen Landesarbeitsamt einreichen. Das Landesarbeitsamt war seinerseits verpflichtet, den Rotzettelbedarf vor allen anderen Bedarfsträgern zu bedienen. Mittels des Rotzettelverfahrens wurden 10-20 Prozent der Gesamtanforderungen im Reich vermittelt. Das Volkswagenwerk stellte seine Anträge beim Rüstungskommando Braunschweig, dieses prüfte die Dringlichkeit der Produktionsaufträge und entschied über die Anforderungen; anerkannte Forderungen wurden dem Arbeitsamt der "Stadt des KdF-Wagens" – einer Nebenstelle des Arbeitsamts Helmstedt - gemeldet, welches sie wiederum an das Landesarbeitsamt Niedersachsen weiterleitete. 77 78 79 80 81 82 83 77 78 79 80 81 82 Vgl. Liedke, S.53f. Anordnung Nr. 5 des GBA für den Arbeitseinsatz über die ausschließliche Zuständigkeit der Dienststellen der Arbeitseinsatzverwaltung zur Entgegennahme von Aufträgen auf Gestellung von Arbeitskräften, vom 11. Juli 1942, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. Vgl. Liedke, S.53f. S.a. Verordnung des GBA über das Arbeitsbuch für ausländische Arbeitskräfte vom 1. Mai 1943, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 782. Vgl. Merkblatt Nr. 1 für Ostarbeiter, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. S.a. Liedke, S.53f. Geheime Staatspolizei, Dr. Kaltenbrunner, an alle Staatspolizei-leit-stellen, Betr. Kennzeichnung der Ostarbeiter, Berlin, 29. Juni 1943, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu Fb. 13b, Nr. 15748. Vgl. Homze, S.222f.; Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.27; D. Creydt / A. Meyer, Zwangsarbeit für die ”Wunderwaffen” in Südniedersachsen 1943-1945, Braunschweig 1993, S.72: Die Betriebe wirkten an der Bedarfsermittlung mit, da sie ihre Anträge bei der zuständigen Dienststelle des Rüstungsministeriums (Rüstungskommandos, aber auch Ausschüsse des Speerministeriums) stellten, die ihrerseits die Dringlichkeit der Anforderung bzw. des Rüstungsprogramms überprüfte. 83 Vgl. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.37. 3.2. POLITISCHE VORGABEN ZUM ARBEITSEINSATZ Grundsätzlich sollte auch der Arbeitseinsatz entsprechend der NS-Rassenhierarchie organisiert werden, quasi als Vorwegnahme einer an nationalsozialistischen Grundsätzen orientierten Nachkriegsordnung. An der Zuordnung zu Kategorien wie "Rasse" und "Volkstum" orientierten sich darum Verpflegung, Unterbringung, Löhne sowie die Qualifikation der Arbeitsplätze. Nord- und Westeuropäer rangierten vor Franzosen, darunter standen die Zivilarbeiter, die aus mit Deutschland verbündeten Staaten kamen, wie Ungarn, Rumänen und Kroaten, darunter die Tschechen, unter diesen die Polen und am untersten Ende die "Ostarbeiter" und ab Herbst 1943 die sogenannten "Italienischen Militärinternierten". 84 Mittels gesetzlicher Bestimmungen sollte diese Hierarchie zementiert werden, insbesondere die "Ostarbeiter" wurden in ihren Arbeitnehmerrechten beschnitten und auch für gesundheitsgefährdende Arbeiten freigegeben: "Die im Reich eingesetzten Ostarbeiter stehen in einem Beschäftigungsverhältnis eigner Art. Die deutschen arbeitsrechtlichen und arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften finden auf sie nur insoweit Anwendung, als dies besonders bestimmt wird." So galten z.B. die deutschen Schutzbestimmungen für Frauen und Jugendliche für "Ostarbeiter" nicht. Als Folge mussten diese Ausländergruppe meist niedrige, schmutzige und auch gefährliche Arbeiten übernehmen. Letztendlich veränderte sich durch diese Regelungen die Sozialstruktur der deutschen Arbeiterschaft, die Erfahrung der eigenen Besserstellung und eigener Vorrechte wurden nun für jeden einzelnen Deutschen spürbar, dies steigerte die Zustimmung zum Regime und zu dessen Ausländerpolitik. Andererseits bestimmten in den Betrieben aber auch fachliche Qualifikation und Arbeitsleistung das Verhältnis zwischen deutschen und ausländischen Arbeitern. Nicht selten führten aber hohe Arbeitsleistung und persönlicher Kontakt auch zu einer Aufweichung des Bildes, welches von Russland und "den Russen" propagiert worden war. Diese Entwicklung – in Verbindung mit der ständig steigenden Ausländerzahl gefährdete die rassistische Hierarchisierung der Arbeitswelt, entsprechend musste von "oben" mit neuen Anordnungen darauf reagiert werden, dazu eine Mitteilung des GBA vom 13. November 1943: "Unter allen Umständen muss eine Entwicklung verhindert werden, dass ausländische Kräfte in Führungsstellen aufrücken und zu Vorgesetzten deutscher Arbeitskräfte werden." Generell sollte der Kontakt zwischen deutschen Arbeitskräften und "Ostarbeitern" auf das absolut notwendige Minimum beschränkt werden, so legte das "GBA-Merkblatt Nr. 1 für Betriebsführer über den Einsatz von Ostarbeitern" fest: "Beim Einsatz im Betrieb sind die Ostarbeiter grundsätzlich von den deutschen und ausländischen Arbeitern sowie von den Kriegsgefangenen getrennt ... einzusetzen." 85 86 87 88 89 90 Überhaupt sollten die "Ostarbeiter" von der deutschen Bevölkerung, aber auch von anderen Ausländergruppen in den Betrieben, weitgehend abgeschottet werden. Der Kontakt beschränkte sich darum meist auf direkte Vorgesetzte, Werkschutz, Wachpersonal, Lagerpersonal und deutsche Arbeitskollegen. Aber schon im April 1942 mussten die Sicherheitsbehörden einige der strengsten Einschränkungen zurücknehmen, da diese dem Sinn und Zweck des Arbeitseinsatz zuwiderliefen: "Arbeitseinsatz. Die inzwischen aufgestellten Pläne über den gesamten Arbeitseinsatz lassen eine strengste Absonderung der Arbeitskräfte aus den altsowjetischen Gebieten von der deutschen Zivilbevölkerung, ausländischen Zivilarbeitern und allen Kriegsgefangenen nicht geboten erscheinen, da sonst die Möglichkeiten des Einsatzes dieser Arbeitskräfte zu beschränkt werden. Bei Aufrechterhaltung des Grundsatzes einer möglichsten 91 84 Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.36; Mommsen / Grieger, S.582; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.119f.; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.86; Historische Notate 9, S.9. 85 86 87 Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30. Juni 1942, § 2, RGBl., S.419, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. S.a. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.56f.; Liedke, S.53f.: Osteuropäer standen außerhalb der Betriebsgemeinschaft, für sie galt die Treue- und Fürsorgepflicht des deutschen Arbeitgebers nicht. Außerdem wurden die Frauen, ihr Anteil lag bei den "Ostarbeitern" immerhin bei 50 %, schlechter bezahlt. Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.36f.; Heider, S.79f.; Liedke, S.79. 88 Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.45f.; Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.53: So bemühte sich das Volkswagenwerk aufgrund der Einziehung von Facharbeitern um die Qualifikation ungelernter deutscher Arbeiter, um diese dann in Leitungsfunktion bei den Ausländern einsetzen zu können. 89 90 91 GBA-Mitteilung vom 13. November 1943, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 782. GBA-Merkblatt Nr. 1 für Betriebsführer über den Einsatz von Ostarbeitern, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. Vgl. Heider, S.81. Absonderung gilt daher folgendes. Dem Grundsatz des kolonnenweisen Einsatz steht es nicht entgegen, wenn in den Betrieben die Kolonnen in kleinere Gruppen aufgeteilt werden, wenn es – wie etwa bei Facharbeitern – darauf ankommt, die Arbeitskräfte an die nur von ihnen auszufüllenden Arbeitsplätze zu bringen. Es läßt sich dabei nicht vermeiden, dass die Arbeitskräfte aus dem altsowjetischen Gebiet zwischen deutschen oder ausländischen Arbeitern eingesetzt werden. ... Wo es möglich ist, die Arbeitskräfte aus dem altsowjetischen Gebiet abgeschlossen in besonderen Betriebsabteilungen einzusetzen, ist dies selbstverständlich durchzuführen." Da der "Ostarbeitereinsatz" als befristet angesehen wurde, sollte er auf primitive Arbeiten beschränkt bleiben und die Form extensiver Ausbeutung annehmen. Doch dem standen zwei Probleme entgegen: erstens war der nicht unerhebliche Anteil von Facharbeitern für die Betriebe attraktiv und zweitens standen "Primitivarbeiten" für die Menge an "Ostarbeitern" gar nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Aus diesen Gründen entwickelte sich ein allmählicher Übergang zum qualifizierten Arbeitseinsatz: zunächst kam es zur Umsetzung von Facharbeitern, dann zu Anlernmaßnahmen für Ungelernte. Alle Maßnahmen zielten auf die vollwertige Eingliederung in den Arbeitsprozess und in die betrieblichen Abläufe. Die den Arbeitseinsatz beschränkenden Richtlinien Görings vom November 1941 verschwanden nach und nach. Da auch von amtlicher Seite dem "Ostarbeitereinsatz" immer weniger Hemmungen entgegen standen, wurde auch aus diesem Grund ihr Einsatz für die Betriebe immer attraktiver, entsprechend stiegen die Anforderungszahlen an. 92 93 3.3. ARBEITSBEDINGUNGEN UND ARBEITSPLÄTZE IM VOLKSWAGENWERK Die politischen Vorgaben zum Arbeitseinsatz sowie ihre Veränderung spiegeln sich auch in der Situation der "Ostarbeiter" im Volkswagenwerk wider. Wie die folgenden ausgewählten Angaben aus den 72 Fragebögen belegen, wurden sie in allen Produktionsbereichen des Werks eingesetzt: "Pressen und Lackieren von Autoteilen", "Kontaktschweißen", "Transformatorspulen aufwickeln", "Metallplatten zuschneiden", "Entladen von Waggons für das Kraftwerk", "Arbeiten an Werkbänken und Pressen", "als Schlosser", "in der Flugzeugreparatur" (Ju 88), "beim Bau von Amphibienfahrzeugen", "bei der Minenherstellung", "bei Näharbeiten", etc. 94 Auch Frauen wurden in allen Fertigungsbereichen eingesetzt, etwa als Dreherinnen und Schweißerinnen, so berichtet Maria G.: "Ich arbeitete als Schweißerin in einer Abteilung, die Autos produziert hat. Nach den Bombenangriffen habe ich den Arbeitsplatz oft gewechselt, blieb aber immer auf dem Gelände des Werkes. Das Letzte, was ich gemacht habe, war den Bunker neben der Schweißerabteilung zu verstärken." Und Tatjana P. schreibt. "Ich arbeitete in der mechanischen Abteilung, habe Teile produziert. Ich arbeitete an einer Drehbank, einer Bohrwerkbank und einer Schleifwerkbank." 95 96 Nicht selten wurden Frauen aber auch zu körperlich schweren Transportarbeiten herangezogen, wie etwa Eugenia P.: "Ich musste mit der Schubkarre Eisenabfälle am anderen Ende der Halle auf das Band werfen. Ab und zu mussten wir den Fußboden waschen, der Ort wurde "Kraftwerk" genannt. Da standen große Kessel, die Hitze war 50 Grad und mehr. Den ganzen Tag mussten wir dann den heißen Fußboden waschen. Die Luft im Raum war schwül, selbst die Sohlen der Holzschuhe wurden heiß." Minderjährige "Ostarbeiterinnen" wurden häufig als Putzfrauen eingesetzt, so Nadeshda S., die als 97 92 Mitteilung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, an die höheren Verwaltungsbehörden, Betr. Behandlung der Arbeitskräfte aus dem altsowjetischen Gebiet, Berlin, 9. 4. 1942, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu Fb. 13b, Nr. 15748. (Unterstreichungen im Original.) 93 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S.174; Mommsen / Grieger, S.530 und S.585f.; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.48 und S.78f.; Heider, S.80: Viele, der meist aus kleinen Dörfern kommenden Ukrainer, hatten mit der Fabrikarbeit aber auch Probleme. Dies ist aber ein generelles Problem beim Übergang von Arbeitskräften aus dem ersten (Landwirtschaft) in den zweiten (Industrie) Sektor. 94 Angaben aus den 72 Fragebögen. S.a. Mommsen / Grieger, S.586: "In vielen Fällen nahmen Ostarbeiter qualifizierte Tätigkeiten in der Produktion wahr und erwiesen sich als unentbehrliche Fachkräfte." 95 96 97 Fragebogen Maria G. Fragebogen Tatjana P. Fragebogen und Erinnerungsbericht Eugenia P. S.a. Fragebogen Eudokia K.: "Ich habe alle schmutzigen Arbeiten gemacht." Kellnerin und Putzfrau in der Zentralküche eingesetzt war. Und Neonila S. berichtet: "Ich habe das Gelände der Flugzeughalle und den Keller saubergemacht." 98 99 Nur in wenigen Fällen war ein gewisser beruflicher Aufstieg, d.h. die Übernahme verantwortungsvollerer Positionen, möglich. So berichtet Wladimir M., der zunächst als einfacher Arbeiter beim Bau von Amphibienfahrzeugen eingesetzt worden war, dass er dort später als Kontrolleur gearbeitet habe. 100 Für die meisten "Ostarbeiter" war der Arbeitseinsatz aufgrund von Wechselschichten, körperlich schwerer Arbeit in Zusammenhang mit 12-Stunden-Schichten bei schlechter Ernährung, äußerst belastend. Manchmal ließ darum die Aufmerksamkeit bei der Arbeit nach, was zu Arbeitsunfällen führen konnte, wie Nadeshda A. berichtet: "Gearbeitet haben wir eine Woche am Tage und die zweite Woche nachts. Wir waren sehr müde. Ein Mädchen ist am Fließband eingeschlafen und ihr wurde der Arm abgerissen." 101 Generell war die Unfallgefahr für "Ostarbeiter" höher, da sie bei gefährlichen oder gesundheitsgefährdenden Arbeiten eingesetzt wurden, so berichtet Tatjana B., dass sie Flugzeugteile in einem mit Azeton gefüllten Fass waschen musste. Hierzu auch der Erinnerungsbericht von Luba B.: "Ich erinnere mich sehr gut, dass es im November 1943 in einer Halle des KdF-Werks, wo ich gearbeitet habe, eine Explosion gegeben hat. Die Halle war voller Rauch und ich erlitt eine Rauchvergiftung. Ich verlor die Orientierung, zwei polnische Mädchen haben mir das Leben gerettet." 102 103 104 ARBEIT IN DER "STADT DES KDF-WAGENS" Die Masse der Zwangsarbeiter war im Volkswagenwerk eingesetzt, jedoch war in Einzelfällen auch Schwarzarbeit/Leiharbeit außerhalb des Werkes möglich. Deutsche Vorgesetzte nutzten die Arbeitskraft der ihnen unterstellten "Ostarbeiter" selbst oder "vermieteten" sie an Landwirte, Gastwirte, Bauherren etc.. Auch für die "Ostarbeiter" konnten solche Tätigkeiten Vorteile mit sich bringen, so erinnert sich Nadeshda S.: "Ein paar Mal habe ich beim Meister zu Hause gearbeitet, ich habe da die Kartoffeln sortiert und zum Setzen vorbereitet. Die Frau des Meisters war sehr freundlich zu mir. Sie hat mir Kleidung und Schuhe gegeben, dreimal am Tag gab sie mir Essen, ein paar Mal sogar von der selbstgebackenen Torte. Immer, wenn ich ins Lager zurück musste, hat sie mir ein Brot und ein Stückchen Speck mitgegeben." 105 106 Allerdings konnten die "Ostarbeiter" bei solchen Arbeitseinsätzen auch übervorteilt werden, als Beispiel hierfür der Bericht von Nadeshda K.: "Zum Kommandanten kam ein Bekannter und bat um 10 Personen. Ich hatte wieder das Glück dabei zu sein. Am Morgen hat uns der Wirt abgeholt: "Wenn ihr gut arbeitet, kriegt ihr am Abend Kartoffeln und Kaffee." Wir haben dann Bretter vom Sägewerk zu seinem Bau gebracht. Wir haben gut gearbeitet. Wir wollten, dass ihm die Arbeit gefällt. Es kam die Zeit nach Hause zu gehen. Als wir zur Kreuzung kamen, sagte er: "Geht ins Lager !" – Wir fragten: "Sie haben uns Kartoffeln und Kaffee versprochen." – Er schrie: "Macht das ihr ins Lager kommt !" 107 Vgl. Erinnerungsbericht Nadeshda S. 98 99 Fragebogen Neonila S. S.a. Fragebogen Darja R.: "Weil ich minderjährig war, habe ich als Putzfrau gearbeitet." 100 Vgl. Fragebogen Wladimir M. S.a. Fragebogen Eudokia K. und Fragebogen Luba B.: "Ich habe verschiedene Teile mit der Schubkarre aus dem I. in den II. Stock gebracht. Später habe ich den Durchmesser der Teile geprüft, wenn es nicht passte, musste ich es auf der Werkbank selbst nacharbeiten." 101 Erinnerungsbericht Nadeshda A. 102 Vgl. Mommsen / Grieger, S.588: "[So] waren auf Grund unzureichender Arbeitsschutzvorrichtungen, mangelnder Einweisung der ungelernten Arbeitskräfte und der infolge Unterernährung rasch schwindenden Konzentration ungewöhnlich viele Arbeitsunfälle, darunter Verluste von Gliedmaßen und andere schwere Verletzungen durch unsachgemäße Maschinenbedienung, zu verzeichnen. Auch in diesen Fällen ließ die medizinische Betreuung meistens zu wünschen übrig. Das Werk nutzte die Möglichkeit, kranke und arbeitsunfähige Ostarbeiter in ihre Herkunftsgebiete zurückzuschicken, so dass Arbeitsinvalidität aus dem öffentlichen Gesichtsfeld zurücktrat." 103 Fragebogen Tatjana B. S.a. Erinnerungsbericht Ekaterina P. 104 105 106 107 Erinnerungsbericht von Luba B. Vgl. Heider, S.81. Erinnerungsbericht Nadeshda S. S.a. Fragebogen Dimitri K. Erinnerungsbericht Nadeshda K. Ein Teil der "Ostarbeiterinnen" arbeitete aber auch regulär in deutschen Haushalten und Lagerteilen der Barackenstadt; so berichtet Dimitri K., dass seine Mutter als Putzfrau im "Deutschen Lager" in der Reislinger Str. gearbeitet habe, wofür sie mit 2 - 3 kg Brot oder Zwieback entlohnt worden sei. Ekaterina P. schreibt, dass sie als Haushälterin beim Lagerkommandanten gearbeitet habe, zum Schlafen musste sie jedoch ins Lager zurückkehren. Auch für den Einsatz dieser "Hauswirtschaftlichen Ostarbeiterinnen", die quasi als Dienstmädchen in deutschen Haushalten eingesetzt waren, gab es detaillierte Bestimmungen der Sicherheitsbehörden: "Ein Anspruch auf Freizeit besteht nicht. Die Ostarbeiterinnen dürfen sich grundsätzlich außerhalb des Hauses nur bewegen, um Angelegenheiten des Haushalts zu erledigen. Es kann ihnen aber bei Bewährung wöchentlich einmal die Möglichkeit gegeben werden, sich drei Stunden ohne Beschäftigung außerhalb des Haushalts aufzuhalten. Dieser Ausgang muss bei Einbruch der Dunkelheit, spätestens 20 Uhr, beendet sein. Der Besuch von Gaststätten, Lichtspiel- oder sonstigen Theatern und ähnlicher für Deutsche und ausländische Arbeiter vorgesehenen Einrichtungen oder Veranstaltungen ist verboten. Desgleichen ist der Kirchenbesuch untersagt." 108 109 110 3.4. ENTLOHNUNG Im Bereich der Industriearbeit war der Bruttolohn für Ausländer und Deutsche gleich, über die im Januar 1942 eingeführte "Ostarbeitersteuer" wurde jedoch der Nettolohn der osteuropäischen Arbeiter drastisch reduziert. Außerdem wurden sie grundsätzlich in die niedrigsten Lohnstufen eingruppiert und erhielten auch keinerlei Zuschläge für Überstunden, Samstagsarbeit etc.. Begründet wurde dies damit, dass sie keine Parteibeiträge, keine Spenden für das Winterhilfswerk und keine Beiträge zur DAF leisten würden. Die Bruttolöhne wurden so stark besteuert, dass nur etwa 50 RM netto im Monat verdient werden konnte; wovon aber noch Unterkunft, Verpflegung und Bekleidung zu bestreiten waren, so dass den "Ostarbeitern" praktisch nichts übrig blieb. Je höher die Leistung der Arbeiter war, desto höher wurden sie besteuert, alles über 17 RM Wochenlohn wurde vollständig weggesteuert. Damit entsprachen die Entlohnungsrichtlinien zwar voll und ganz den nationalsozialistischen Prinzipien, aber nicht der betrieblichen Praxis, denn es fehlte jeglicher Leistungsanreiz; beispielsweise lag für "Ostarbeiter" der Netto-Unterschied von Akkordlöhnen mit Spitzenleistung zu Normallöhnen bei 25 Pfennig wöchentlich. Die Steuertabellen vermitteln somit den Eindruck einer beispiellosen Ausbeutung auch durch den Staat. Nach den ersten Erfahrungen mit den "Ostarbeitern" wurde diese Steuerregelung darum auch vom Ostministerium und den Wehrmachtsstellen kritisiert und die Betriebe klagten, dass dieses Lohnsystem die Stimmung unter den meist arbeitswilligen "Ostarbeitern" stark beeinträchtige. Um Leistungsanreize zu schaffen und um den Einsatz in Deutschland in den besetzten Gebieten wieder attraktiver zu machen, erfolgte am 30. Juni 1942 eine Neuregelung der Löhne durch den GBA. Aufgrund der kriegsbedingten Beschränkung der Konsumgüterindustrie standen jedoch kaum Waren für die osteuropäischen Arbeitskräfte zur Verfügung. Um die entstehende Kaufkraft abzuschöpfen, wurde daher das sogenannte Ostarbeitersparen angepriesen, z.B. im "Merkblatt für Ostarbeiter": "Euer Arbeitsentgelt könnt ihr verzinslich sparen. Die ersparten Beträge stehen Euch oder Euren Familienangehörigen in Eurer Heimat zur Verfügung. Gespart wird durch Aufkleben von verzinslichen Sparmarken auf besonderen Sparkarten, die auf Euren Namen lauten und die Euch in Deutschland ausgehändigt werden." 111 112 113 108 109 Vgl. Fragebogen Dimitri K. Vgl. Erinnerungsbericht Ekaterina P. 110 Mitteilung des Chefs der Gestapo und des SD, Betr. Einsatz weiblicher Arbeitskräfte aus dem altsowjetischen Gebiet (Ostarbeiterinnen), Berlin, 10. September 1942, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu Fb. 13b, Nr. 15748. S.a. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.90. 111 Vgl. Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30. Juni 1942, § 5, RGBl., S.419, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783: "§ 5 Sachleistungen. Das dem einzelnen Ostarbeiter nach dieser Verordnung beigefügte Arbeitsentgelt ist am Ende des im Betriebe üblichen Lohnabrechnungsraumes nach Abzug des Gegenwertes für gewährte Sachleistungen in bar auszuzahlen. Die vom Unternehmer gewährte Unterkunft und Verpflegung sind nach den Sätzen in Rechnung zu stellen, die sich aus der dieser Verordnung beigefügten Tabelle ergeben. Sonstige Sachleistungen, wie Bekleidung, Schuhwerk, usw. sind zu angemessenen Preisen zu verrechnen." S.a. Historische Notate 1, S.7. 112 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S.172; Heider, S.80f.; Liedke, S.72f.; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.78f.; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.56f.; Mommsen / Grieger, S.517f. und S.584; Homze, S.170: Die Ostarbeiterabgabe reduzierte den Lohn auf 7 - 22,5 % des Bruttolohns. 113 Merkblatt Nr. 1 für Ostarbeiter, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. S.a. Mommsen / Grieger, S.597. Grundsätzlich bestand für alle ausländischen Zivilarbeiter die Möglichkeit, einen Teil des Gehalts an die Familien in den Heimatländern zu überweisen. Doch die folgende Tabelle der Überweisungszahlen weist ein krasses Missverhältnis auf und zeigt deutlich, dass "Ostarbeiter" praktisch keinen Gebrauch davon machen konnten. Die Berliner Bank schätzte, dass 1943 1 Milliarde Reichsmark (RM) in die Heimatländer abflossen, davon: 114 nach Frankreich nach Belgien nach Italien nach Polen nach Russland 277.046.200 RM 271.376.100 RM 215.729.400 RM 29.750.600 RM 6.077.000 RM Die "Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter" vom 30. Juni 1942 hatte zudem in § 8 noch festgelegt: "Entgeltabrechnungen sind den Ostarbeitern nicht zu erteilen." Im Rahmen des politischen Richtungswechsels nach Stalingrad wurde diese Bestimmung durch eine Verordnung vom 5. April 1943 zwar geändert, in der betrieblichen Praxis des Volkswagenwerks scheint sich diese Anordnung jedoch nicht durchgesetzt zu haben. Vielmehr wurden die "Ostarbeiter" mit Versprechungen hingehalten, so berichtet Wladimir K.: "Lohn gab es nicht, es wurde uns versprochen, dass im Urlaub alles zusammen ausbezahlt werden würde – dazu ist es aber nie gekommen." 115 116 117 Bezeichnenderweise sprechen einige der Befragten auch nicht von "Lohn", sondern von "Taschengeld". Und Maria G. schreibt zur Kaufkraft eines Monatslohns: "Ja, 15 RM im Monat. Genauso viel kostete eine Portion Brot auf unserem Lagerbazar." Übrigens bezog sich der Vorwurf der "Sklavenarbeit" in den Nürnberger Prozessen – neben dem Einsatz von KZ-Häftlingen - auf eben diese Taschengeldlöhne für Polen und "Ostarbeiter". 118 119 120 Tabelle 9: Angaben zu Lohnzahlungen des VWW Frauen Männer 28-50 Reichsmark 1 15-20 Reichsmark 3 2 10-14 Reichsmark 2 1 1-10 Reichsmark / wenig 11 3 Ja 3 3 unregelmäßig /anfänglich 2 Nein 21 11 Keine Angaben / Erinnerung 3 7 Zusammen 45 27 ARBEITSZEIT Im Frühjahr 1942 wurde die Wochenarbeitszeit für "Ostarbeiter" auf 54 Stunden festgelegt, ab März 1944 galt die 60-Stunden-Woche. Tatsächlich wurde in Industriebetrieben aber meist 5 Tage à 12 Stunden sowie mindestens 6 Stunden am Samstag gearbeitet, diese Arbeitszeiten galten auch für Jugendliche. Nur der Sonntag war arbeitsfrei. Für das Volkswagenwerk nannten die meisten der Befragten als Arbeitszeit 12 Stunden an Werktagen 121 114 Deutsche Verrechnungskasse, Hauptabteilung, 19. Januar 1944, zitiert nach: Homze, S.246. 115 Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30. Juni 1942, § 8, RGBl., S.419, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. Vgl. Verordnung zur Durchführung und Änderung der Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 5. April 1943, § 2, RGBl., S.419, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 782: "Dem Ostarbeiter sind von dem Lohnabrechnungszeitraum ab, der nach dem 1. Mai 1943 endet, Entgeltabrechnungen zu erteilen, aus denen sich neben den Berechnungsgrundlagen (Vergleichslohn ... das Gesamtentgelt des Ostarbeiters, die Abzüge für Unterkunft und Verpflegung und die Abzüge für sonstige Sachleistungen ergeben." Erinnerungsbericht Wladimir K. 116 117 118 119 120 121 Vgl. Fragebogen Anna M. und Fragebogen Nina P.: "Wir haben Taschengeld bekommen, 3-5 Mark." S.a. Mommsen / Grieger, S.584. Fragebogen Maria G. Vgl. Homze, S.170. Vgl. Liedke, S.79; Heider, S.79ff.; Herbert, Fremdarbeiter, S.174; Homze, S.257. bzw. Samstags bis 12 oder 14 Uhr. Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 66 Stunden, allerdings konnte es in Einzelfällen auch mehr sein; so berichtet Nadeshda G. von Wochenarbeitszeiten von bis zu 75 Stunden: "12 Stunden, in zwei Schichten, ab 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends, Samstags bis 5 Uhr, Sonntags bis 12 Uhr." Wie oben beschrieben, arbeiteten einige der "Ostarbeiter" auch in Wechselschichten und einige sogar nur nachts. 122 123 Tabelle 10: Arbeitszeit an Werktagen Frauen 8-10 Stunden 5 10-12 Stunden 33 über 12 Stunden 3 "den ganzen Tag" 3 keine Angaben 1 Zusammen 45 Männer 2 19 2 1 3 27 3.5. BEHANDLUNG AM ARBEITSPLATZ Mittels gesetzlicher Bestimmungen, wie z.B. der vom SS-Reichssicherheitshauptamt erarbeiteten "Ostarbeitererlasse", sollten die Beziehungen am Arbeitsplatz geregelt werden: der Kontakt zwischen Deutschen und "Ostarbeitern" sollte sich auf Arbeitsanweisungen und Befehle beschränken, denn deutsche Arbeiter hatten gegenüber "Ostarbeitern" grundsätzlich als Vorgesetzte aufzutreten. Andererseits sollte durch die Hierarchisierung der Arbeitsbeziehungen die deutsche Arbeiterschaft vor "bolschewistischer" Indoktrination geschützt werden. Lagerleitung und Werkschutzleiter hatten Disziplinargewalt gegenüber den sowjetischen Arbeitskräften, der Umfang der Disziplinargewalt wurde von der zuständigen Stapoleitstelle festgelegt. Das Verhalten der deutschen Vorgesetzten und "Kollegen" ist hier von besonderem Interesse, da sie vom Regime nicht nur als passive Zuschauer, sondern als aktive Faktoren zur Umsetzung von NS-Politik eingeplant wurden. Vom Verhalten der einzelnen Deutschen im Lager und am Arbeitsplatz hingen also die Lebensumstände der Zwangsarbeiter nicht unwesentlich ab. Die Einstellung bei der Behandlung von "Ostarbeitern" wurde im wesentlichen von drei Faktoren beeinflusst: • der historischen Einstellung zu Polen und "Ostarbeitern" • der persönlichen Einstellung • und der NS-Propaganda 124 125 126 Schon vor 1942 kamen Anregungen zur Schlechterstellung der ausländischen Arbeitskräfte nicht selten aus der deutschen Arbeiterschaft, da diese dem Regime die Erfahrung der eigenen Besserstellung und eigener Vorrechte verdankte. Auch erleichterten rassistischer Russenhass und die Ablehnung des Bolschewismus die Akzeptanz des "Ostarbeitereinsatzes". Rassistische Einstellungen beschränkten sich also nicht nur auf die Betriebsführungen und ließen auch mit der sich verschlechternden Kriegslage keineswegs nach. Vielmehr kam es gegen Kriegsende zu einer nochmaligen Radikalisierung, da aufgrund der eigenen zunehmenden Arbeitsbelastung und der alliierten Bombenangriffe Ausländer zu "Blitzableitern" wurden. Mommsen/Grieger kommen hinsichtlich des Verhaltens von Belegschaftsangehörigen des Volkswagenwerks zu dem Ergebnis, dass eine diskriminierende Behandlung der "Ostarbeiter" an der Tagesordnung gewesen sei. Sie verweisen zudem auf häufige und willkürliche Mißhandlungen durch Werkschutz und Werkspolizei; teilweise hätten Meister und Vorarbeiter körperliche Züchtigungen aber auch 127 122 123 124 125 126 Fragebogen Nadeshda G. Vgl. Fragebogen Maria S.; Fragebogen Nikolai S.; Erinnerungsbericht Nadeshda A.; Fragebogen Nikolai B. Vgl. Heider, S.81. Vgl. Erlass des RFSS und Chef der deutschen Polizei, Berlin, 22. Juni 1942, NdS. StA WF, Bestand 12 A Neu 13 Nr. 15747. S.a. Mommsen / Grieger, S.539. Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.37; Liedke, S.83f.; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.92; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.82. 127 Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.45ff., Menne / Fahrenkopf, S.17f.; Mommsen / Grieger, S.738f.; Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.84. selbst vorgenommen. Dies wird durch die Erinnerungen der Betroffenen bestätigt: 128 Alexander S. wurde von seinem Meister wegen Diebstahls angezeigt und dem Werkschutz übergeben, dann im Büro bis zur Bewusstlosigkeit zusammengeschlagen und anschließend zu zwei Monaten Straflager verurteilt. Auch Fehler und Nachlässigkeiten bei der Arbeit wurden physisch bestraft, Eudokia K. die in der Nachtschicht als Kontrolleurin eingesetzt war, schlief wegen Übermüdung ein und wurde deswegen geschlagen. Tatjana K. berichtet von den drastischen Methoden ihres Meisters: "Wir arbeiteten 12 Stunden täglich und wurden die ganze Zeit von Polizisten bewacht. Wir durften nicht miteinander reden. Unser Meister, Herr A., hat die Burschen immer geschlagen, uns, die Mädchen, aber nicht. Einmal hat er mir das Gesicht mit Maschinenöl beschmiert, weil eine Maschine nicht ganz sauber war." Andere Frauen wurden bei der Arbeit ständig angetrieben, so schreibt Neonila S.: "Als ich in der Flugzeughalle geputzt habe, durfte man keine Pause mache. Wenn ich stehenblieb, bekam ich sofort mit der Peitsche Schläge auf den Rücken. Da haben wir uns gefreut, wenn wir ins Lager zurückgehen konnten." Einige der Frauen berichten auch von Belästigungen durch SS-Leute. Tatjana K., die von der Gestapo verhaftet und zur Strafarbeit eingeteilt worden war, schreibt: "Dann haben wir Ziegelsteine aus einem Lastschiff ausgeladen. Wir wurden von SS-Soldaten bewacht. Der Hauptoffizier hat mich angemacht. Er sagte, dass ich gleich "Gymnastik" machen werde. Aber Gott hat mich gerettet – es gab Alarm. Am nächsten Tag waren dort dieselben Soldaten, aber mit einem anderen Hauptoffizier. Die Soldaten haben dem Offizier sicher erzählt, was am Tag zuvor passiert war. Er hat mich gefragt, wie alt ich bin und warum ich hier sei. Er sagte, dass ich noch heute zurückkommen würde. Der Offizier hat meinen Meister angerufen, und der hat mich nach Neindorf mitgenommen. Dort habe ich weiter gearbeitet." 129 130 131 132 133 134 Auch der Bericht von Anastasia W. illustriert die enorme Bandbreite der Verhaltensweisen deutscher Vorgesetzter und belegt ebenfalls die Existenz individueller Spielräume: "Im Winter 1943 konnte ich nicht zur Arbeit gehen, weil meine Schuhe kaputt waren. Ich war krank. Am Montag kamen wir zu unserem Arbeitsplatz, da kam Meister K., hat mich in die Ecke im Flur geschubst und mit einem Schlauch geschlagen. Mein Auge war geschwollen und die Nase blutete. Ein Mann hat das beobachtet.. Sie haben miteinander gestritten. Der Mann war ein Kurierfahrer. Er hat mich zu sich genommen und ich musste sein Büro sauber halten. Da arbeiteten auch zwei deutsche Frauen. Aber sprechen durfte ich mit den Frauen nicht. Ich musste jeden Morgen um 9 Uhr in der Zentralküche Kaffee holen und dem Meister Kl. geben. Der hat mich gut behandelt, hat für mich immer ein paar Butterbrote und Kaffee dort gelassen." 135 Tabelle 11: Bewachung am Arbeitsplatz Frauen Männer Ja 29 15 durch Meister / Aufseher 5 5 Werkschutz 8 2 keine Bewachung 2 4 keine Angaben 1 1 Zusammen 45 27 4. Leben im Wohnlager 4.1.GEMEINSCHAFTSLAGER / BETRIEBSLAGER / BOMBENANGRIFFE Das "GBA-Merkblatt Nr. 1 für Betriebsführer über den Einsatz von Ostarbeitern" hatte zur Unterbringung 128 129 130 131 132 Vgl. Mommsen / Grieger, S.541 und S.586ff. Zur Geschichte des Werkschutzes s.a. Historische Notate 4, S.68, Fußnote 22. Vgl. Erinnerungsbericht Nadeschda K. Vgl. Erinnerungsbericht Eudokia K. Erinnerungsbericht Tatjana K. Erinnerungsbericht Neonila S. 133 Vgl. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.71: Seit dem 10. März 1938 befand sich eine Außenstelle der Gestapo Lüneburg in Fallersleben, diese wurde am 13. November 1939 auf das Werksgelände verlegt; ab dem 11. November 1943 war sie der Stapoleitstelle Braunschweig unterstellt. 134 135 Erinnerungsbericht Tatjana K. S.a. Erinnerungsbericht Nadeschda K. Zur Produktion in Neindorf siehe: Mommsen / Grieger, S.878 und S.880; Historische Notate 4, S.45ff. Erinnerungsbericht Anastasia W. folgendes festgelegt: "Die gewerblichen Ostarbeiter werden grundsätzlich in Gemeinschaftslagern untergebracht, wobei die einzelnen Volksgruppen (Ukrainer, Weißruthenen, Russen) - soweit erforderlich - zu trennen sind." Weiter heißt es: "Die Unterkünfte sind ständig unter Bewachung zu halten." Die Bewachung sollte – soweit vorhanden – durch den betrieblichen Werkschutz erfolgen. 136 Die Unterbringung in Wohnlagern mit ständiger Bewachung ist ein Kennzeichen der Zwangsarbeit, denn andere Ausländergruppen waren in unbewachten Gemeinschaftslagern oder im Falle von Westeuropäern auch privat untergebracht. Die geschlossene Unterbringung diente der Kontrolle und Überwachung der "Ostarbeiter" und hatte ihre Ursache in der NS-Weltanschauung, die in den Kommunisten die härtesten Gegner des National-sozialismus erwartete. Als "Betriebslager" galten Barackenlager auf dem Betriebsgelände oder in der Nähe des Betriebsgeländes. Zuständig für die Ausgestaltung der Lebens- und Wohnverhältnisse waren die Betriebe. Dies bestätigen auch Mommsen/Grieger in ihrem Kapitel über die "Lagerstadt des Volkswagenwerkes". Das "Ostlager" bestand aus 37 Wohnbaracken, sowie einer Anzahl Wasch-, Toiletten- und Verwaltungsbaracken und war ursprünglich Teil des Gemeinschaftslagers gewesen. Von diesem war das "Ostlager" durch hohe Maschendrahtzäune getrennt, das Lager selbst war in sechs Unterlager gegliedert, für jeden Unterabschnitt gab es einen eigenen Lagerführer. Außerdem wurde das Lager ständig von ukrainischen Hilfspolizisten bewacht. Von diesen wurden die "Ostarbeiter" auch zur Arbeit - bzw. zum Lager zurück eskortiert. Eudokia K. beschreibt das Lager wie folgt: "Das Lager war 10 – 15 Minuten Gehweg vom Werk entfernt. Um das Lager herum war Stacheldraht. An jeder Ecke stand ein Wachturm. Auf dem Gelände des Lagers standen die Holzbaracken. In jeder Baracke gab es einige Zimmer; in jedem Zimmer wohnten ca. 20 Menschen." Diese Art der Unterbringung gehörte für die Insassen zu den größten Belastungen, denn nach 10-12 Stunden harter Arbeit konnte man in einer solchen Gemeinschaftsunterkunft kaum die notwendige Ruhe und Erholung finden. Überbelegte Räume mit Etagenbetten waren für Jahre die Unterkunft der Arbeiter. Außerdem hatte die Sicherheitspolizei ein Ausgehverbot für die Mehrzahl der "Ostarbeiter" festgelegt: "Die Arbeitskräfte aus dem altsowjetischen Gebiet dürfen nach wie vor ihre Unterkünfte nur zur Verrichtung der Arbeit verlassen. Das absolute Ausgehverbot wird jedoch dahin gelockert, dass bewährten Arbeitskräften gewissermaßen als Belohnung - in geschlossenen Gruppen unter hinreichender deutscher Aufsicht Ausgang gewährt werden darf. Die Aufsicht ist von den Wachmannschaften oder dem Betriebspersonal zu stellen. ... Im übrigen spielt sich die gesamte Freizeit der Arbeitskräfte aus dem Osten wie bisher in den Unterkünften ab." Dass diese Form der Unterbringung in Verbindung mit der unzureichenden Ernährung sich negativ auf die Arbeitsleistung der "Ostarbeiter" auswirkte, mussten die Arbeitsverwaltungsbehörden schon bald feststellen, hierzu der Monatsbericht des Landesarbeitsamts Niedersachsen für Juni 1942: "Die anfangs gute Arbeitsleistung der Ostarbeiter hat sich teilweise verschlechtert. Das muss weitgehend auf unzureichende Verpflegung und mangelnde Freizeitgestaltung (bei beengten Unterkünften Gefahr des Lagerkollers !) zurückgeführt werden." 137 138 139 140 141 142 143 144 145 136 137 GBA-Merkblatt Nr. 1 für Betriebsführer über den Einsatz von Ostarbeitern, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18. Nr. 783. Vgl. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.168; Historische Notate 1, S.7. 138 Vgl. Liedke, S.89; Weinmann, S.LXXXVI. 139 Vgl. Mommsen / Grieger, S.740ff. [Kapitel 8.2.] S.a. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.93f. 140 Vgl. Fragebogen Iwan L.; Andrej T.; Vera P.; Luba B.; Darja R.; Erinnerungsbericht Wladimir K. S.a. Mommsen / Grieger, S.574f.; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.112; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.171. 141 Vgl. Erinnerungsberichte Wladimir K., Maria K. und Nadeshda K.; Fragebögen Nikolai B.; Maria S.; Anna K., Maria K.; Anastasia W.;. Eudokia K.: "Wir wurden ständig beaufsichtigt. Ins Lager und ins Werk gingen wir immer in der Kolonne." S.a. Mommsen / Grieger, S.538 und S.575: "Ein Teil der Ukrainer, die von den rassischen Diskriminierungsmaßnahmen ausgenommen waren, wurde als Bewachungspersonal im Polen- und im Ostlager eingesetzt; sie galten als ungewöhnlich brutal und wurden besonders gefürchtet." 142 Erinnerungsbericht Eudokia K. 143 Vgl. Liedke, S.89; Mommsen / Grieger, S.575f.; Historische Notate 1, S.7. 144 Mitteilung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, an die höheren Verwaltungsbehörden, Betr. Behandlung der Arbeitskräfte aus dem altsowjetischen Gebiet, Berlin, 9. April 1942, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu Fb. 13b, Nr. 15748. 145 Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes im Landesarbeitsamtsbezirk Niedersachsen im Monat Juni, 7. Juli 1942, Nds. Sta WF, Bestand 12 Neu Fb. 18, Nr.783, 1940-42 (Berichte des Arbeitsamts Braunschweig). Ab Oktober 1943 enthalten die Berichte nur noch Angaben zum Bezirk Da sich die Barackenlager in der Nähe von Rüstungsbetrieben befanden, waren auch die Zwangsarbeiter ab 1943 der Gefahr von Luftangriffen ausgesetzt. Meist wurden die Ausländerlager erst nach den beschädigten Fabrikanlagen und den Wohnbereichen der Deutschen wieder instandgesetzt; entsprechend verschlechterten sich die Lebensbedingungen in diesen Lagern nach einem Angriff meist auf lange Zeit. Hierzu der Erinnerungsbericht von Tatjana K. über ihre Situation im Volkswagenwerk:: "Später begannen die Bombenangriffe auf das Werk. Das war wie der Weltuntergang. Ich habe mich erkältet, weil es keine Fenster mehr gab." Dass beschädigte Betriebsteile hingegen sehr schnell wieder instandgesetzt wurden, bestätigt Eudokia P.: "Nach dem Bombenangriff im Jahr 1944 (es war Ostern) sind zwei Baracken verbrannt. Das Werk wurde zweimal bombardiert, aber alles wurde sehr schnell wieder aufgebaut." 146 147 148 Andere der Befragten berichten von der Verlegung der Unterkünfte, so ergänzt Tatjana B. ihre Angaben zur Unterbringung wie folgt: "Stadt des KdF-Wagens, Ostlager 6, Stube 199, mehrmals wurden wir verlegt, weil das Lager bombardiert worden war und die Baracken brannten." 149 Insbesondere an die Bombenangriffe erinnern sich viele der Befragten. Im Unterschied zur Praxis in anderen Städten durften die "Ostarbeiter" die Luftschutzkeller und Bunker des Volkswagenwerks aufsuchen, dazu schreibt Eugenia P.: "Vor der Befreiung wurde unser Lager bombardiert, die Baracken waren zerstört. Zu dieser Zeit waren wir im Werk im Luftschutzkeller. Nach dem Luftangriff haben wir gesehen, dass das Werk stark zerstört war." 150 151 152 4.2. UNTERBRINGUNG Die Lage des "Ostlagers" und die lagerinternen Strukturen sind von Siegfried ausführlich beschrieben worden, darum hier nur eine kurze Zusammenfassung: Die sowjetischen Zivilarbeiter wurden – abgesondert von anderen Ausländergruppen – im östlichen Teil des im Zuge des Werkaufbaus errichteten Gemeinschaftslagers untergebracht (d.h. südlich der Rothenfelder- und östlich Porschestraße). Die Unterbringung der verschiedenen Ausländergruppen in unterschiedlichen Lagerteilen sollte der rassistischen Differenzierung sichtbaren Ausdruck verleihen. Allerdings ließ sich diese Trennung aufgrund der ständig steigenden Zahlen nicht immer durchhalten. Siegfried beschrieb auch die Binnenstruktur der Lagerorganisation: "Die Leitung der Lagerkomplexe war hierarchisch organisiert. Eine "Baracke" wurden von einem "Hauswart" geführt, 4 bis 5 Baracken bildeten ein "Lager", das einem "Lagerführer" (oder "Hilfslagerführer") der DAF unterstellt war, 5 bis 7 Lager waren zu einem "Lagerabschnitt" zusammengefasst, der jeweils von einem "Oberlagerführer" geleitet wurde. Solche Abschnitte waren im Gemeinschaftslager die Lager 1 bis 7 (heute: zwischen Schachtweg und Porschestraße), die Lager 8 bis 15 (das "Ostlager", östlich der heutigen Porschestraße) und die Lager 16 bis 21 (heute: zwischen Schacht-weg und Lessingstraße). Alle "Lagerabschnitte" waren dem "Hauptlagerführer" unterstellt, über dem die "Lagerleitung" rangiert, die reine Verwaltungsaufgaben (Finanzen u.ä.) zu erledigen hatte." 153 154 Braunschweig. S.a. Herbert, Fremdarbeiter, S.161f.; Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.100f. und S.169. 146 Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.38f.; Heider, S.76f.; Mommsen / Grieger, S.748f. 147 Erinnerungsbericht Tatjana K. 148 Fragebogen Eudokia P. S.a. Erinnerungsbericht Eudokia P.: "Über den Kanal gab es zwei Brücken, eine aus Eisen, eine aus Holz. Über die Eisenbrücke führten sie uns zur Arbeit und zurück. Die Holzbrücke befand sich gegenüber der Hauptwache. 1944 ist die Holzbrücke wegen Überlastung umgefallen. Über Nacht wurde die Brücke wieder aufgebaut." 149 150 Fragebogen Tatjana B. S.a. Fragebogen Petro D.: 1944 wurde Petro D. in Baracken am Waldrand verlegt. Zu den Bombenangriffen siehe: Mommsen / Grieger, S. 632ff; Historische Notate 9, S.108 Fußnote 74. 151 Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.38; Liedke, S.160: Der Anteil der ausländischen Arbeiter an den Luftkriegsopfern lag in Braunschweig bei 38 Prozent. Polen, "Ostarbeiter" und Kriegsgefangene durften die großen öffentlichen Luftschutzbunker nicht betreten. 152 Erinnerungsbericht Eugenia P. S.a. Erinnerungsbericht Nadeshda K.: "Nachts gab es oft Alarm und wir mussten in die Bunker laufen, ich blieb aber im Zimmer. Aber einmal wurde das Lager so stark bombardiert, dass ich aus dem Fenster springen musste. Der Bunker war ganz in der Nähe und ich suchte dort Schutz. Die anderen Mädchen sagten: "Wenn Nadja in den Bunker kommt, dann muss es oben ganz schlimm sein." Vieles ist abgebrannt, aber unsere Baracke ist stehengeblieben." 153 Vgl. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.91f. S.a. Heider, S.76f. 154 Vgl. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.95. S.a. Mommsen / Grieger, S.742. Die Beschreibung der Unterkünfte und des Barackenlagers seitens der 72 Befragten ist relativ einheitlich. Fast alle berichten, dass das Lagergelände mit Stachel- bzw. Maschendraht umzäunt war, von der Unterbringung in Holzbaracken, die über Öfen verfügten, aber schlecht geheizt wurden, von zwei- oder dreistöckigen Etagen-betten, von strohgefüllten Matratzen und Kopfkissen, von zu dünnen Decken, gesonderten Sanitärbaracken, von zu wenig Mobiliar im Verhältnis zur Zahl der Bewohner sowie von der generellen Überfüllung der Räume. Die Angaben zur Belegung reichen von 8-40 Personen pro Raum, abhängig von der Größe des Raumes. Als Beispiel hier der Bericht von Maria G.: "24 Personen im Zimmer, metallene Etagenbetten, Matratzen und Kissen, die mit Stroh gefüllt waren, kleine Nachtschränke. Eine sehr dünne Decke, zwei Tische, 6 Stühle. In der Mitte ein kleiner Ofen." Ganz ähnlich lauten die Angaben von Luba B.: "Holzbaracken, umzäunt mit Stacheldraht, etwa 1,5 bis 2 Kilometer vom Werk entfernt. 24 Mädchen im Zimmer, zweistöckige Pritschen, grasgefüllte Matratzen, eine Wolldecke, ein eiserner Ofen. 1 Eimer, 1 Becher und 1 Krug." Anastasia W. erinnert sich, dass es im Winter in den Unterkünften sehr kalt gewesen sei und darum ebenfalls an die dünnen Decken. Valentin G. berichtet von Ungeziefer in den Baracken; Raissa S., dass ihr Lager Nr. 4, Zimmer 155, nicht weit vom Kanal entfernt lag. Aufgrund der unzureichenden hygienischen Bedingungen im "Ostlager" mussten die Baracken monatlich desinfiziert werden; die Bewohner wurden aus dem gleichen Grund zweimal im Monat in die Zentralwaschstube geführt. 155 156 157 158 4.3. ERNÄHRUNG Görings Richtlinien zum "Ostarbeitereinsatz" enthielten von den Arbeits- und Ernährungsbehörden angereg-te Vorschriften, die zu einer katastrophalen Ernährungs- und Unterbringungslage führen sollten. Die Existenzbe-dingungen der "Ostarbeiter" im Reich wurden bewusst primitiv gestaltet, um die deutsche Wirtschaft nicht zu stark zu belasten. Dies bedeutete für die Betroffenen reduzierte Ernährungssätze und entsprach auch den rasse-politischen Vorstellungen der Regimeführung, die den Ausländern je nach Stellung in der NS-Rassenhierarchie unterschiedliche Mengen zuerkannte. Als Folge wurden Polen und "Ostarbeiter" gegenüber Westeuropäern und Deutschen besonders benachteiligt. Die "Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30. Juni 1942" legte für "Normalarbeiter in der gewerblichen Wirtschaft" folgende Wochensätze fest: 159 Brot Fleisch Fett (vorzugsweise Margarine) Kartoffeln Nährmittel Zucker Tee-Ersatz Gemüse 2600 g. 250 g. 130 g. 5250 g. 150 g. 110 g. 14 g. nach Aufkommen (Kohlrüben) Hinsichtlich der Brotversorgung ist noch zu ergänzen, dass ein spezielles "Russenbrot" mit einem hohen Anteil an Rübenschnitzeln ausgegeben werden sollte: "Brot soll grundsätzlich in der Zusammensetzung 72 % Roggenschrot und 28 % vollwertigen Zuckerschnitzeln hergestellt werden. Solange Brot mit Zuckerschnitzeln 155 156 157 Fragebogen Maria G. S.a. Mommsen / Grieger, S.575f. Fragebogen Luba B. Vgl. Fragebogen Anastasia W.; Fragebogen Valentin G. und Fragebogen Raissa S. 158 Anastasia W. berichtet, dass alle "Ostarbeiter" dort von Ärzten auf Läuse untersucht wurden. Erinnerungsbericht Anastasia W. S.a. Mommsen / Grieger, S.576 sowie den Erinnerungsbericht von Nadeshda K: "Alle zwei Wochen mussten wir gemeinsam zum Baden in die Stadt gehen. Dass uns die Polizei schlug, durften wir niemand sagen. Die Mädchen in der Badestube haben gefragt, wer hat euch so geschlagen, denn die blaugelben Streifen waren noch zu sehen. Als wir ins Zimmer kamen, haben die Mädchen uns bedauert, da habe ich geweint." 159 Vgl. Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30. Juni 1942, RGBl., S.419, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. S.a. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.99; Mommsen / Grieger, S.554f. nicht geliefert wird, kann normales Brot gewährt werden." Da die Ernährung neu eingetroffener Arbeitskräfte zu Lasten der Alteingesessenen ging, litt deren Leistungs-fähigkeit. Insgesamt brachte die Anlieferung immer neuer Arbeitskräfte also keinen Leistungs- und Produktions-gewinn. Viele Betriebe beschwerten sich bei den Militärbehörden über die unzureichende Arbeitsleistung und nannten als Hauptgrund die unzureichende Ernährung. Hierzu das Protokoll des Rüstungskommandos Braunschweig über die Ernährungslage der sowjetischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen im Volkswagenwerk vom 8. Mai 1942 :"Im Werk sind zunächst ca. 1800 sowj. Russen (1000 Zivilisten und 800 KG) beschäftigt. Der Wirkungsgrad des gesamten Russenarbeitseinsatzes hängt nur von der Verpflegung ab. Die vom RM für Ernährung u. Landwirtschaft durch Schnellbrief vom 17.4.42 zugelassenen Sätze sind zu niedrig, so dass die im VWW eingesetzten Russen in ihrer Leistung nachlassen. Ihr Ernährungszustand ist erschreckend. Abmagerung bis auf 60 u. 70 Pfund. Todesfälle wegen Entkräftung. Täglich brechen Leute an den Maschinen ermattet zusammen. Bei den seit 20 Tagen eingesetzten, an sich in gutem Zustand befindlichen Zivilarbeitern zeigt sich schon jetzt die schwache Ernährung. Deswegen flüchteten verschiedene auch und suchten sich bei anliegenden Bauern Arbeit." Wie unzureichend das Reich auf den Einsatz hunderttausender "Ostarbeiter" vorbereitet war und mit welch bizarren Methoden ihr Unterhalt gewährleistet werden sollte, illustriert auch folgende GBA-Anordnung vom 15. Juli 1942: "In allen Lagern und Unterkünften, in denen es nur immer möglich ist, soll noch in diesem Jahre Spätgemüse angepflanzt werden (natürlich durch die fremden Arbeiter selbst). Für das nächste Jahr ist dieser Anbau grundsätzlich und systematisch durchzuführen, u.a. Sonnenblumen. Bei gemeinsamen Ausgängen soll unter Anleitung und unter Aufsicht Wildgemüse gesammelt werden." 160 161 162 163 164 Wenden wir uns nun wieder der Situation im Volkswagenwerk zu: fast alle der 72 Befragten bezeichneten die Ernährung dort als schlecht oder sehr schlecht, sie berichten von 200-300 Gramm Brot pro Tag, dazu 5-15 Gramm Margarine, Wurst, Sülze oder Zucker und zweimal täglich Steckrübensuppe, gelegentlich Kartoffeln bzw. Pellkartoffeln oder Spinat. . Andere berichten von Resten aus der deutschen Küche und Suppe aus Rüben- oder Kartoffelschalen. Dazu der Bericht von Maria G.: "Das Schlimmste im Lager war das Essen. Morgens einen halben Liter Suppe aus Kartoffelschalen, Mittags einen Liter Suppe aus Steckrüben, Abends ein Stück Brot (ca. 200 g.) mit einer Portion Margarine (ca. 15 g.) oder ein Stückchen Wurst." 165 166 167 Gegessen wurde in den Werkskantinen, dazu der Erinnerungsbericht von Anna K.: "Morgens haben wir nur schwarzen Kaffee bekommen – ohne Zucker und ohne Brot. Zum Mittag gab es einen halben Liter Suppe, auch ohne Brot. Nur abends bekamen wir 150 g. Brot und 2 Kartoffeln. Wir haben im Werk gegessen, im Lager gab es keine Speisehalle." Am Sonntag wurde nur einmal Essen ausgegeben, dazu der Erinnerungsbericht Anastasia W.: "Am Sonntag mussten wir einmal zum Werk gehen, da haben wir 2-3 168 160 Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30. Juni 1942, RGBl., S.419, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. S.a. Homze, S.78; Herbert, Fremdarbeiter, S.148: Im Reichsernährungsministerium überlegte man, wie Görings Ernährungsvorschläge in die Praxis umgesetzt werden konnten, Ergebnis war ein spezielles "Russenbrot" aus Roggenschrot, Zuckerrübenschnitzeln, Zellmehl sowie Strohmehl oder Laub. 161 Vgl. Homze, S.216. S.a. Fragebogen Luba B., Frau B. berichtet, dass das Essen im Volkswagenwerk anfänglich besser gewesen sei. 162 Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.31; Mommsen / Grieger, S.555. S.a. Die Entwicklung des Arbeitseinsatzes im Landesarbeitsamtsbezirk Niedersachsen im Monat Juni, 7. Juli 1942, Nds. Sta WF, Bestand 12 Neu Fb. 18 Nr.783: "Die anfangs gute Arbeitsleistung der Ostarbeiter hat sich teilweise verschlechtert. Das muss weitgehend auf unzureichende Verpflegung ... zurückgeführt werden." 163 Protokoll des Rüstungskommandos Braunschweig über die Ernährungslage sowjetischer Zivilarbeiter und Kriegsgefangener im Volkswagenwerk, 8.5.1942 (Bundesarchiv-Militärarchiv, Bestand RW 21-8/5, Bl. 86), zitiert nach Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.145. S.a. Mommsen / Grieger, S.551f. und S.579. 164 GBA-Anordnung Nr. 9, 15. Juli 1942, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. 165 Vgl. Fragebogen Jurij K.; Alexej K.; Nadeshda S.; Nadeshda S.; Nadeshda A. Klawdia B.; Leonid T. (Dazu auch folgendes Gedicht von Leonid T.: "Steckrübe, Steckrübe, prima Essen, Steckrübe, Steckrübe, kann ich nicht vergessen."); Raissa S.; Anastasia W.; Wassilij S.; Antonina D.; Tatjana B.; Nikolai B. S.a. Mommsen / Grieger, S.580. 166 167 168 Vgl. Fragebogen Maria S.; Valentin G.; Eudokia P.; Iwan L.; Luba B.; Vera J.; Nina S. Fragebogen Maria G. S.a. Fragebogen Nadeshda T.: "Essen gab es dreimal pro Tag, morgens ein warmes Getränk ohne Zucker, Mittags eine Suppe aus Kartoffelschalen, Weißkohl mit Würmern und Spinat, abends 150 g. Brot und 5 g. Margarine." Erinnerungsbericht Anna K. S.a. Fragebogen Sergej S.; Fragebogen Eudokia P.; Erinnerungsbericht Maria K.: "Jeden Tag vor der Arbeit mussten wir an der Wache unsere Ausweise vorzeigen und wurden durchsucht. Anschließend ging es in die Kantine zum Essen. Das Essen war sehr schlecht." S.a. Mommsen / Grieger, S.576. Kartoffeln mit Soße und 200 g. Brot bekommen." 169 Industriearbeiter, die in Werkskantinen und -küchen aßen, bekamen für jede Woche eine Lebensmittelkarte. Um sein Essen zu bekommen, musste man die Abschnitte für Fett, Fleisch, Brot und Nährmittel wöchentlich an die Küche abgeben. Vom Volkswagenwerk wurden diese Karten nach dem Besuch der Badeanstalt der "Stadt des KdF-Wagens" ausgegeben, dazu Eudokia P.: "Jeden Samstag führten sie uns in das Waschhaus. Nach der "Bearbeitung" bekamen wir Coupons. Die Coupons brauchten wir für das Essen, für die ganze Woche." Aufgrund dieser Mangelsituation blieben den "Ostarbeitern" Ausnahmen vom täglichen Einerlei besonders gut in Erinnerung, dazu der Bericht von Luba B.: "Zu Weihnachten 1944 haben wir in Deutschland Lebensmittel-karten bekommen, dafür haben wir Brot und Süßigkeiten bekommen. Das war unsere einzige Freude." 170 171 172 Aufgrund von 12-Stunden-Schichten an Werktagen, harter Arbeit und vollkommen unzureichender Ernährung sahen sich viele "Ostarbeiter" mit Krankheit und Tod bedroht. Wie katastrophal die Ernährungslage der "Ostarbeiter" war, illustriert der Erinnerungsbericht von Nadeshda K.: "Ich habe im Lager in der Küche gearbeitet, das war mein Glück. Nachdem die deutschen Angestellten und Offiziere gegessen hatten, kamen die Reste in ein Fass. Das war nicht die Suppe aus Kartoffelschalen, die für die Russen gekocht wurde, das war schon gutes Essen (Kartoffeln, Suppe, Soße) und diese Fässer mussten wir waschen. Vorher haben wir uns satt gegessen. Es war für uns eine Delikatesse. Dann haben wir unsere Henkelmänner gefüllt, um sie bei Gelegenheit hinaus zu tragen, für die anderen. Darauf haben unsere Freunde schon gewartet. Das waren Freunde aus meiner Stadt, meiner Jugendzeit. Jetzt sehen sie aus, ängstlich wie Tiere, traurig vor Hunger, .... Es machte mich sehr traurig, sie anzusehen. Ich bemühte mich trotz des großen Risikos weiterhin, sie mit dem Henkelmann aus der Küche zu versorgen. Während der Hauptmahlzeit wurde nicht jeder kontrolliert und ich hoffte auf mein Glück. Ich versuchte immer mich in eine große Menschenmenge hinein zu drängen. Ich war immer froh, wenn ich sagen konnte: "Gott sei Dank, sie haben mich nicht gefasst." Im Zimmer wurde ich schon sehnlichst erwartet. Wenn sie das hätten sehen können, wie die hungrigen Menschen die Kartoffeln geteilt haben und jedes Krümelchen aufgesammelt und verbraucht haben. Wenn es Suppe war, wurde es Löffelweise gerecht aufgeteilt. Ich schreibe und weine dabei, weil ich mir die Gesichter vorstelle. Wenn ich nichts bringen konnte, wurden die Gesichter noch unglücklicher, denn sie warteten schon. Es kamen auch viele aus anderen Zimmern und sie mussten traurig und unglücklich wieder weggehen. Ich beruhigte sie und versprach, dass ich mich bemühen würde, beim nächsten Mal etwas mitzubringen. ..." Ähnliche Angaben macht auch Darja R.: "Weil ich minderjährig war, habe ich als Putzfrau gearbeitet, in der Flugzeugabteilung und in der italienischen Speisehalle. Wir haben die Teller der Italiener abgeleckt, deswegen haben wir überlebt." Nadeshda S. berichtet, dass die schlechte Ernährungslage die "Ostarbeiter" zur Revolte trieb: "Einmal, vor der Speisehalle, haben wir einen Aufstand gemacht. Wir haben das Essen auf die Tische gekippt und nicht gegessen. Dafür hat man uns mit Peitschen geschlagen und man führte uns zur Arbeit ohne Essen. Aber nach diesem Tag wurde das Essen besser. Statt Steckrüben bekamen wir Kartoffeln und sogar ein bisschen Brei zu essen." 173 174 175 176 169 Erinnerungsbericht Anastasia W. S.a. Erinnerungsbericht Tatjana B.: "Das Essen im Lager war sehr schlecht. Morgens ein halber Liter Suppe aus Kartoffeln (schon mit weißen Keimen und manchmal sogar mit Sand), Mittags 1 Liter Suppe mit Steckrüben oder Möhren. Am Abend ein Stück Brot (ca. 150 –200 Gramm, so wie die Schneidemaschine es schnitt). Das war meine Ernährung als ich 17 Jahre alt war. Am Sonntag haben wir nicht gearbeitet (genauer: nicht alle haben gearbeitet !) An diesem Tag haben wir nur einmal Essen bekommen: 3 Kartoffeln und eine Portion Brot." 170 Vgl. Liedke, S.89. 171 Erinnerungsbericht Eudokia P. S.a. Mommsen / Grieger, S.576. 172 173 174 175 176 Erinnerungsbericht Luba B. Vgl. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.98. Erinnerungsbericht Nadeshda K. S.a. Mommsen / Grieger, S.582. Fragebogen Darja R. Erinnerungsbericht Nadeshda S. SOLIDARITÄT Aufgrund der schlechten Ernährungslage blieben den "Ostarbeitern" solidarische Hilfeleistungen von anderen Fremdarbeitern, aber auch von deutschen Vorgesetzten deutlich im Gedächtnis. Nadeshda K., die, wie bereits beschrieben, für ihre Landsleute Essensreste aus der Küche ins "Ostlager" schmuggelte, berichtet, dass sie die Kontrollen an der Wache mit Hilfe eines französischen Arbeiters umging: "Es ergab sich, dass ich meinen Henkelmann an einen Franzosen abgab, weil ich kontrolliert wurde, dann musste ich ihm schnell nachgehen, um meine Tasche wieder zu bekommen. Ich war Gott und dem Franzosen sehr dankbar." Aber auch einige der deutschen Vorgesetzten unterstützten die "Ostarbeiter", dazu der Erinnerungsbericht von Wassilij P.: "Ich habe einen guten Meister gehabt. Das Essen, das wir bekommen haben, hat nicht gereicht. Der Meister hat das Essen, das er für sich mitgebracht hat, uns gegeben. Aber wir sollten es selbst nehmen, weil keiner wissen durfte, dass er uns Essen gab. Wir haben das Essen unter uns aufgeteilt und auf der Toilette gegessen." 177 178 179 Ein anderes Beispiel aus dem Erinnerungsbericht von Nadeshda K. zeigt, dass derartige Hilfeleistungen nicht ganz ungefährlich waren: "In der Küche arbeitete eine ältere Frau. Sie hatte dort ein Zimmer, wir brachten ihr Kittel, Handtücher, Schürzen für die Meister und die Schlachter zum Wechseln. Manchmal gab sie uns Geschenke. Diesmal hatte sie uns Butterbrote gegeben. Die Geschenke verstecken wir unter den Schürzen. Uns kam ein Polizist entgegen, er hat uns durchsucht und natürlich die Butterbrote gefunden. Sofort wurden wir ins Polizeirevier gebracht. Ich saß im Korridor, neben mir ein Schäferhund. Meine Freundin Maria war schon im Zimmer. Sie wurde geschlagen und ich hörte, wie sie schrie. In dieser Zeit gab ich mein Butterbrot dem Schäferhund. Maria kam heraus, dann musste ich hinein. Ich dachte, ich werde nicht schreien, wie schmerzhaft es auch sein mag. Ich bin hinein, habe mich gleich mit dem Bauch auf den Hocker gelegt, er hat mich geschlagen, .... Aber ich habe nicht geschrien. Die Frau haben wir nicht wiedergesehen." 180 BEKLEIDUNG Aus der "Anordnung Nr. 4 des GBA über die Anwerbung, Betreuung, Unterbringung, Ernährung und Behandlung ausländischer Arbeiter vom 7. Mai 1942" geht hervor, dass das Reich zwar die Arbeitskraft der "Ostarbeiter" nutzen wollte, aber nicht willens war, für eine entsprechende Arbeitsausstattung zu sorgen: "Die kriegsbedingten Verhältnisse im Deutschen Reich erfordern, dass die ausländischen Arbeiter die ihrer Arbeit entsprechende Arbeitskleidung einschließlich Schuhwerk mitbringen. ... Auch sonstige Bekleidung, Wäsche und Schuhwerk müssen die Arbeiter aus der Heimat mitbringen, weil die Beschaffung derartiger Sachen im Reich für sie zur Zeit nicht möglich ist." 181 Auch das "Merkblatt für Ostarbeiter" belegt, dass das Deutsche Reich seine kriegsbedingten Versorgungs-probleme auf die Betroffenen abwälzte: "Die Eurer Arbeit entsprechende Kleidung für Sommer und Winter einschl. Schuhzeug und Wäsche – möglichst auch Decken – müsst Ihr mitbringen. Die Beschaffungsmög-lichkeiten in Deutschland sind wegen des Krieges wie in allen anderen Ländern beschränkt." 182 Problematisch war die Versorgungslage insbesondere für die "Ostarbeiter", die einfach von der Straße oder vom Feld weg verhaftet worden waren und ohne entsprechende Ausrüstung in Deutschland eintrafen. Aber auch bei den übrigen verschlechterte sich die Situation während des Krieges durch Abnutzung und 183 177 178 179 180 Vgl. Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.92; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.80f.; Heider, S.82. Erinnerungsbericht Nadeshda K. Erinnerungsbericht von Wassilij P. Erinnerungsbericht Nadeschda K. 181 Anordnung Nr. 4 des GBA über die Anwerbung, Betreuung, Unterbringung, Ernährung und Behandlung ausländischer Arbeiter vom 7. Mai 1942, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. 182 183 Merkblatt Nr. 1 für Ostarbeiter, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. Vgl. Fragebogen Jurij K.; Erinnerungsbericht Maria K. S.a. Mommsen / Grieger, S.578. Verluste, z.B. bei Luftangriffen. Auch zur Versorgungslage im Volkswagenwerk gibt es detaillierte Angaben; mehrere der Befragten berich-ten, dass sie zunächst nur über mitgebrachte Bekleidung und Schuhe verfügten. Nur wer keine tragbare Klei-dung mehr hatte, bekam Arbeitskleidung und Schuhe mit Holzsohlen. Insbesondere die Schuhe verschlissen recht schnell. Da dies - v.a. im Winter - den Arbeitseinsatz grundsätzlich gefährdete, bekamen die Betroffenen doch noch Ersatz, so berichtet Maria G.: "Die Schuhe haben wir vom Lager bekommen, mit Holzsohlen. Von den metallenen Verschlüssen bekamen wir wunde Füße. Am Ende haben wir andere Schuhe bekommen. Die hatten auch Holzsohlen, aber waren schon viel besser. Und wir bekamen noch einen Regenumhang." Die Versorgungslücken wurden grundsätzlich mit gebrauchter Kleidung geschlossen, so schreibt Jurij K.: "Die Kleider waren aus zweiter Hand, sauber, gebügelt und gestopft, einmal im Jahr habe ich einen Regenmantel bekommen." Offensichtlich wurden auch Kleidersammlungen veranstaltet, denn Raissa G. berichtet, dass deutsche Frauen Kleider abgaben. Tatjana B. erinnert sich jedoch auch an einen makabren Fall gebrauchter Kleidung: "Dies war Kleidung von erschossenen Bürgern, denn die Kleidung hatte Einschusslöcher und war mit Blut befleckt." Als Grundausstattung verfügten die Frauen dann im Laufe der Zeit über einen Rock und eine Jacke, bzw. über einen Arbeitsanzug - bestehend aus Hose und Jacke - sowie Holzschuhe und einen Regenumgang. Allerdings hing die Arbeitskleidung auch von der Arbeitsstelle ab, Nadeshda K. berichtet, dass die in der Küche eingesetzten Frauen Kittel trugen. Auch auf der Arbeitskleidung musste das "Ost-Abzeichen" angebracht sein. Da sich die Versorgung im Jahresverlauf 1943 offensichtlich etwas verbesserte, konnten die Frauen in der freien Zeit, d.h.. am Sonntag, ihre eigene bzw. die ihnen überlassene zivile Kleidung tragen. 4.4. GESUNDHEITSFÜRSORGE 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 Da sich Arbeitgeber und Behörden anfänglich nicht mit kranken und arbeitsunfähigen "Ostarbeitern" belas-ten wollten, wurden diese wieder zurück in ihre Heimatländer transportiert. Einerseits trafen viele Zwangsarbeiter schon krank in Deutschland ein, andererseits verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand aufgrund unzureichender Unterbringung und Ernährung rapide. Als Folge wurden Kranke, von den man nicht erwartete, dass sie sich innerhalb von zwei Wochen erholen würden, sobald sie reisefähig waren, zurückgeschickt. Hierzu heißt es im GBA-Merkblatt Nr. 1 für Betriebsführer: "Tatsächlich nicht einsatzfähige oder kranke Ostarbeiter, die unbedingt zurückbefördert werden müssen, sind dem zuständigen Arbeitsamt zur Rückführung zu melden." 195 Im Zuge des politischen Richtungswechsels nach Stalingrad wurde diese Bestimmung im März 1943 aufgehoben. Allerdings blieben viele diskriminierende Regelungen weiter in Kraft, denn grundsätzlich sollten die mit dem "Ostarbeitereinsatz" verbundenen Unkosten so niedrig wie möglich gehalten werden. Dies bestätigt auch § 6 (Entgeltzahlung im Krankheitsfalle) der "Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter": "Für die Tage, an denen der Ostarbeiter wegen Krankheit oder Unfall nicht arbeiten kann, ist, 196 184 Vgl. Liedke, S.109ff. 185 Vgl. Fragebogen Eugenia P.; Maria S., Antonina P.; Neonila S. 186 Fragebogen Alexandra K.; Maria K.; Neonila S. S.a. Mommsen / Grieger, S.578f. Vgl. Erinnerungsbericht Anastasia W.: "Im Winter 1943 konnte ich nicht zur Arbeit gehen, weil meine Schuhe kaputt waren." Erinnerungsbericht Maria G. Fragebogen Jurij K. S.a. Fragebogen Maria K. Vgl. Fragebogen Raissa G.; Fragebogen Darja S. S.a. Mommsen / Grieger, S.578: "Die Gefolgschaftsleitung ging schließlich dazu über, Kleidung und Schuhwerk in den Niederlanden einzukaufen, und veranstaltete, sofern diese fabrikneu waren, bei der deutschen Einwohnerschaft der Stadt des KdF-Wagens eine Umtauschaktion, um die Ostarbeiter nicht in den Besitz neuwertiger Ausrüstung kommen zu lassen und damit den Neid der Bevölkerung zu erregen. Selbst die dafür bestimmten begrenzten Aufwendungen ließ sich die Gefolgschaftsleitung durch Einbehaltungen vom ohnehin kargen Lohn der Ostarbeiter vergüten." Fragebogen Tatjana B. Vgl. Erinnerungsbericht Nadeshda K. Vgl. Fragebogen Nadeshda S.; Raissa S.; Ekaterina P.; Nikolaij B.; Eudokia P., Anna R.; Tatjana K.; Nina S.; Maria G. Vgl. Fragebogen Ekaterina P.; Fragebogen Luba B. 187 188 189 190 191 192 193 194 195 Vgl. GBA-Merkblatt Nr. 1 für Betriebsführer über den Einsatz von Ostarbeitern, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. S.a. Herbert, Fremdarbeiter, S.164; Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.228; Mommsen / Grieger, S.588. 196 Vgl. Homze, S.280ff. soweit nicht Krankenhauspflege gegeben wird, lediglich frei Unterkunft und Verpflegung vom Unternehmer zu stellen." 197 Vom Volkswagenwerk wurden wieder einsatzfähigen "Ostarbeitern" hingegen die Kosten für Unterkunft und Verpflegung vom Folgelohn abgezogen. 198 Erst durch einen Erlass vom 25. März 1944 wurden derartige Sonderregelungen für "Ostarbeiter" aufgeho-ben, zum 1. April wurden sie in das deutsche Sozialversicherungswesen einbezogen und hatten die üblichen Abgaben zu zahlen. Dass sich die veränderte Kriegslage auch auf die Situation der "Ostarbeiter" im Volkswagenwerk auswirkte, illustriert der Erinnerungsbericht Anastasia W.: "Anfang 1944, als sich die Deutschen zurückziehen mussten, kam ein Arzt mit einem Dolmetscher in unser Lager, er interessierte sich dafür, wie es uns ging, wie sie uns ernähren. Danach haben wir schöne Arbeitskleider bekommen, Regenmäntel, Unterwäsche, Kleider, es wurde uns erlaubt, am Sonntag in der Stadt spazierenzugehen." 199 200 Die unzureichende medizinische Versorgung von Polen und "Ostarbeitern" in Verbindung mit diskriminieren-den Maßnahmen ist von Siegfried und Mommsen/Grieger ausreichend dokumentiert worden. So wurde Polen und "Ostarbeitern" eine normale Krankenhausbehandlung meist verweigert. Die stationäre Behandlung von "Ostarbeitern" erfolgte darum in sogenannten Krankenbaracken auf dem Lagergelände, in leichteren Fällen erfolgte eine ambulante Behandlung durch Sanitäter am Arbeitsort. Sehr schwierig war es, überhaupt eine Genehmigung für einen Arztbesuch zu erhalten. Hier kam es auf das Verhalten deutscher Vorgesetzter an, so wurde Ekaterina P., die offensichtlich aufgrund gesundheitsgefährdender Arbeiten erkrankt war, von ihrem Meister zum Arzt geschickt: "Ich kam zur Flugzeugabteilung, wo ich Metallflaschen aufschrauben musste. Nach einiger Zeit bekam ich Brustschmerzen und meldete es dem Meister, der mich zum Arzt schickte. Anschließend wurde ich im Werk operiert und zur weiteren Behandlung in die Stadt gebracht, bis es abgeheilt war." Grundsätzlich gab es überdurchschnittlich viele Todesfälle unter den "Ostarbeitern"; Tatjana B. berichtet von ihrem Bruder Iwan: "Wir wurden beide als Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht. Er war 16 Jahre alt und hat auch in dem Werk gearbeitet. Da wurde er krank und ist am 28. August 1945 im Hospital in Deutschland gestorben. Ich bin ohne meinen Bruder nach Hause gekommen." "Ostarbeiter" gehörten übrigens auch zu den Opfern alliierter Luftangriffe, dazu schreibt Eugenia P.: "Vor der Befreiung wurde unser Lager bombardiert, die Baracken waren zerstört. ... Es gab viele Verletzte, Deutsche und auch Russen. Herr Th. hat gesagt, dass ich zum Lagerkrankenhaus gehen müsse. Ich habe mit den Chirurgen S. und Körbel gearbeitet. Es gab viele Verletzte. Vielen wurden die Arme und Füße amputiert, wir mussten sie hinaus tragen. So musste ich bis zum Ende des Krieges im Krankenhaus arbeiten." 201 202 203 204 205 4.5. FREIZEIT / KONTAKTE ZUR DEUTSCHEN BEVÖLKERUNG Das "GBA-Merkblatt Nr. 1 für Betriebsführer über den Einsatz von Ostarbeitern" enthält auch diverse 197 Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30. Juni 1942, § 6, RGBl., S.419, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. S.a. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.232f. 198 199 200 201 Vgl. Mommsen / Grieger, S.585; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.164; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.231. Vgl. Homze, S.281. Erinnerungsbericht Anastasia W. Vgl. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.229ff.; Mommsen / Grieger, S.760ff. 202 Vgl. Mommsen / Grieger, S.585; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.163. S.a. Liedke, S.116f.f.; Heider, S.76f.; Homze, S.280ff. 203 Erinnerungsbericht Ekaterina P. S.a. Erinnerungsbericht Galina K., Frau K. lag nach dem Einsturz der Kanalbrücke monatelang mit einer Wirbel-säulenverletzung im Krankenhaus. 204 Erinnerungsbericht Tatjana B. Zu den Todesfällen s.a. Mommsen / Grieger, S.598; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.165f.; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.232f.: "Von 110 "Ostarbeitern", die sicher für das Volkswagenwerk nachgewiesen werden konnten, starben 73, d.h. 60 % erst im Kriegsjahr 1944, nachdem sie also mindestens 1 Jahr im Volkswagenwerk gearbeitet und im "Ostlager" des Werkes gelebt hatten. Aber auch der quantitative Aspekt spricht eine deutliche Sprache. Auf dem sogenannten "Russenfriedhof" wurden bis Kriegsende 110 "Ostarbeiter" begraben, dagegen nur 2 französische Zivilarbeiter." 205 Erinnerungsbericht Eugenia P. Bestimmungen zur Freizeitgestaltung der Lagerinsassen, unter Punkt 9 heißt es: "Da die Ostarbeiter ihre Freizeit ausschließlich im Lager verbringen, wird es sich in der Hauptsache um eine lagereigene Freizeitgestaltung handeln müssen." Für die große Masse der "Ostarbeiter" bedeutete dies de facto eine dauerhafte Kasernierung im Lager. 206 Ausgang erhielt nur eine Minderheit unter den "Ostarbeitern" und auch diesen war das Verlassen des Lagers nur unter Aufsicht gestattet: "Bewährten Arbeitskräften kann als Belohnung Ausgang in geschlossenen Gruppen unter deutscher Aufsicht gewährt werden. Jedoch darf der Ausgang nicht zur Berührung mit der deutschen Bevölkerung führen; es dürfen also keine öffentlichen Veranstaltungen, Filme, Varietés usw. besucht werden. Verantwortlich für die Gewährung des Ausgangs ist der Betriebsführer, der sowohl die Arbeitsleistung als auch das Verhalten im Betrieb und Lager (Beteiligung des Lagerführers) berücksichtigen muss." Diese Ausgeherlaubnis galt auch nur für Sonntage, für Gruppen und war auf wenige Stunden befristet. 207 208 Selbst nach dem Richtungswechsel im Jahr 1943 blieben diverse Beschränkungen der Lebensführung bestehen, diese umfassten u.a. ein Ausgangsverbot bei Verdunkelung und das Verbot Gaststätten zu besuchen. Insbesondere Kontakte mit der deutschen Bevölkerung und anderen Ausländergruppen sollten weiterhin vermieden werden; Freizeitveranstaltungen waren darum immer geschlossene Veranstaltungen, dies belegen auch die Bestimmungen der Gestapo vom Mai 1943: "Der Besuch von Veranstaltungen kultureller, kirchlicher, unterhaltender und geselliger Art, die für Deutsche oder andere ausländische Arbeiter vorgesehen sind, ist den Ostarbeitern zu verbieten, soweit diese Veranstaltungen nicht von der Deutschen Arbeitsfront bzw. dem Reichsnährstand im Rahmen der Ausländerbetreuung durchgeführt werden." 209 Aus diesem Grund wurde den "Ostarbeitern" auch der Kirchenbesuch untersagt: "Eine seelsorgerische Betreuung durch ausländische oder deutsche Geistliche kommt nicht in Frage. Soweit Ostarbeiter im Lager eine religiöse Betätigung ausüben oder leiten wollen, ist hiergegen nichts einzuwenden, solange dies nicht zu Störungen des Lagerlebens oder des Betriebsfriedens führt. Der Kirchenbesuch außerhalb des Lagers ist auch unter deutscher Führung nicht möglich." 210 Betrachten wir nun die Verhältnisse im "Ostlager" des Volkswagenwerks: die große Mehrheit der Befragten gibt an, dass sie das Lager nie verlassen hätten (vgl. Tabelle 12). Andere kamen nur einmal im Monat hinaus, bzw. nur an Feiertagen. Einigen wenigen gelang es, das Lager heimlich zu verlassen, doch wurde dies bald abgestellt, dazu der Erinnerungsbericht von Nadeshda K.: "Einmal bin ich mit meinen Freundinnen, Anna R. und Lydia K., an einem Sonntag durch ein Schlupfloch im Zaun aus dem Lager weggelaufen, ohne Erlaubnis. Wir sind nach Fallersleben gegangen, um uns fotografieren zu lassen. Das war nicht weit von der KdF-Stadt. ... Als wir zum Lager zurückkamen, war das Schlupfloch zu, wir mussten durch die Wache gehen. Wir wurden von der russischen Polizei angehalten, man hat uns dem Kommandanten übergeben." 211 212 Inhaltlich beschränkten sich die Freizeitaktivitäten der "Ostarbeiter" meist auf Spazierengehen, eigene Sport- und Musikveranstaltungen sowie (illegale) Kinobesuche. Insbesondere durch die Musik ergaben sich jedoch nicht selten die von den Behörden unerwünschten Kontakte zur deutschen Bevölkerung; so erhielt 213 206 GBA-Merkblatt Nr. 1 für Betriebsführer über den Einsatz von Ostarbeitern, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. S.a. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.109. 207 GBA-Merkblatt Nr. 1 für Betriebsführer über den Einsatz von Ostarbeitern, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18 Nr. 783. S.a. Mommsen / Grieger, S.577; Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.171. 208 Vgl. Fragebogen Jurij K.; Erinnerungsbericht Anastasia W.; Fragebogen Maria K. "Einmal in der Woche für zwei Stunden, ein Ausweis für 20 Menschen. In die Stadt sind wir nicht gegangen." 209 Mitteilung des Chefs der Gestapo und des SD, Dr. Kaltenbrunner, an die höheren Verwaltungsbehörden, Betr. Ostarbeitereinsatz, Berlin, 8. Mai 1943, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu Fb. 13b, Nr. 15748. S.a. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.109; Historische Notate 9, S.13. 210 GBA-Merkblatt Nr. 1 für Betriebsführer über den Einsatz von Ostarbeitern, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu 18. Nr. 783. Die religiöse Betätigung wurde von den Behörden unter Freizeitaktivitäten subsumiert. 211 212 213 Vgl. Fragebogen Nadeshda T., Fragebogen Luba B. Erinnerungsbericht Nadeshda K. S.a. Fragebogen Sergej S. Vgl. Erinnerungsbericht Nadeshda S.; Erinnerungsbericht Anastasia W.; Fragebogen Nikolaij S. S.a. Mommsen / Grieger, S.577 und S.596. Vgl. Heider, S.83; Liedke, S.120ff. Wladimir W. von seinem Meister etwas Akkordeonunterricht; Nadeshda S. berichtet, dass das "Ostlager" zum Ziel von Sonntagsspaziergängen wurde: "Am Wochenende haben die Bewohner der Stadt sich am russischen Lager versammelt. Die Leute im Lager haben Balalaika gespielt und gesungen. Die Deutschen, mit Kindern und Kinderwagen, haben sich mit denen unterhalten." 214 215 Tabelle 12: Ausgang Frauen Männer Lager nie verlassen 37 17 Ausgang am Wochenende / 5 4 heimlich das Lager verlassen 1 1 keine Angaben 2 5 Zusammen 45 27 an Feiertagen / einmalig 214 215 Vgl. Begleitschreiben zum Fragebogen von Wladimir W. Erinnerungsbericht Nadeshda S. S.a. Erinnerungsbericht Nadeshda K.: "Als ich in Deutschland im Lager war, haben wir am Sonntag im Gras gesessen. ... Die deutschen Frauen sind mit ihren Kindern vorbeigegangen und haben uns ... betrachtet, [wie die Affen im Zoo]." 5. VERFOLGUNG UND WIDERSTAND 5.1. "OSTARBEITERERLASSE" Die Genehmigung zum Einsatz sowjetischer Zivilarbeiter im Reichsgebiet vom Frühjahr 1942 an war von den gleichen ideologischen Bedenken begleitet, die 1941 bereits zu den Polenerlassen geführt hatten. An diesem Vorbild orientierten sich darum auch die am 2. Februar 1942 vom SS-Reichssicherheitshauptamt herausgege-benen "Ostarbeitererlasse". Ziel war die Errichtung eines umfassenden Systems zur Kontrolle und Überwachung, aber auch zur Repression und Diskriminierung der "Ostarbeiter". Die Bestimmungen sahen die Unterbringung in Barackenlagern, den Arbeitseinsatz nur in Kolonnen, ein Ausgehverbot, ein Züchtigungsrecht für das Wachper-sonal und die Kennzeichnung mittels des "Ost"-Abzeichens zwingend vor. Als Strafen waren "Sonderbehandlung" (= Hinrichtung ohne formelles Urteil) oder Einweisung in ein "Arbeits-erziehungslager" oder Konzentrationslager vorgesehen. Strafanlässe waren Disziplinlosigkeit, "reichsfeindliche Bestrebungen", "kriminelle Verfehlungen", Geschlechtsverkehr mit Deutschen. Bei gleichen Delikten gab es ein unterschiedliches Strafmaß für Polen und "Ostarbeiter" gegenüber anderen Ausländern oder Deutschen, d.h. Osteuropäer und Polen wurden härter bestraft. Ulrich Herberts Resümee lautet daher auch wie folgt: "Insgesamt sind die Ostarbeitererlasse der vollständige Ausdruck der Umsetzung des rassistischen Prinzips der Unterteilung in "Herrenmenschen" und "Untermenschen" in die Praxis des Arbeitseinsatzes." Ein weiteres Element der "rechtlichen" Ausnahmestellung von Polen und "Ostarbeitern" war die Zuständig-keit der Staatspolizei. Da Reichsjustizminister Otto-Georg Thierack eine enge Kooperation mit dem Reichs-sicherheitshauptamt anstrebte, überließ er die Strafverfolgung der Delikte von Polen und "Ostarbeitern" sowie die Festsetzung des Strafmaßes der Staatspolizei. Bereits am 20. Februar 1942 hatte der Chef der Sicherheits-polizei und des SD, Reinhard Heydrich, die alleinige Zuständigkeit der Gestapo in derartigen Fällen unterstrichen: "4. Einleitung von Strafverfahren. Jedes unbotmäßige Verhalten der Arbeitskräfte aus dem altsowjetischen Gebiet – Arbeitsverweigerung, unerlaubtes Verlassen der Arbeitsstelle sowie Gewalt- und Sabotageakte – werden [sic] durch staatspolizeiliche Maßnahmen geahndet. Strafverfahren sind aus diesen Gründen nicht einzuleiten." Die meisten Straftaten der Osteuropäer standen in Zusammenhang mit der schwierigen Versorgungslage, dabei ging es um den Handel mit Lebensmitteln und Lebensmittelkarten, den Verkauf und Kauf gestohlener oder selbst hergestellter Waren, die Beteiligung an Schwarzmarktgeschäften sowie den Diebstahl von Schuhen und Kleidung am Arbeitsplatz. Weitere Delikte waren das Nichttragen des Abzeichens, "Arbeitsvertragsbruch" sowie der (illegale) Besuch von Gaststätten. 216 217 218 219 220 5.2. WIDERSTAND / FLUCHT / SABOTAGE Flucht war die am weitesten verbreitete Form des Widerstandes und beinhaltete v.a. die Aufgabe der aufgezwungenen Arbeitsstelle. Dieses Delikt wurde als "Arbeitsvertragsbruch" bezeichnet, da Behörden und Arbeitgeber gegenüber den Deportierten von der Fiktion eines "Arbeitsvertrages" ausgingen. Inhaltlich war "Arbeitsvertragsbruch" zudem ein Gummiparagraph, der unterschiedlichste Delikte umfasste, wie Widersetzlich-keit, "Arbeitsbummelei", Zuspätkommen, unerlaubtes Entfernen oder Fernbleiben vom Arbeitsplatz. Eine Flucht zielte auch nicht unbedingt auf eine Rückkehr in die Heimat, sondern auf die Verbesserung der Lebensum-stände, entsprechend wurden häufig nur Fabrik und Stadt gewechselt und nicht 221 216 Vgl. Ralph Angermund, "Recht ist, was dem Volk nutzt.” Zum Niedergang von Recht und Justiz im Dritten Reich, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S.57-75, hier: S.72f.: Am 4.Dezember 1941 wurde ein Sonderrecht "über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten" (RGBl. 1940/I, S.759) erlassen, die Polenstrafrechtsverordnung galt auch für die Zwangsarbeiter im Altreich. S.a. Historische Notate 1, S.7; Historische Notate 9, S.9ff. 217 Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.13f. und S.28; ders., Europa und der "Reichseinsatz", S.10f.; Heider, S.72; Liedke, S.151; Mommsen / Grieger, S.566f. 218 Vgl. Angermund, S.72f. 219 Mitteilung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, an die höheren Verwaltungsbehörden, Betr. Einsatz von Arbeitskräften aus dem Osten, Berlin, 20. Februar 1942, Nds. StA WF, Bestand 12 Neu Fb. 13b, Nr. 15748. 220 Vgl. Liedke, S.160; Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.40; Mommsen / Grieger, S.751. wenige der "Ostarbeiter" zogen die Arbeit in der Landwirtschaft der Fabrikarbeit vor. 222 Dass dies auch für "Ostarbeiter" des Volkwagenwerks galt, bestätigt der Bericht von Nadeshda T., die als Putzfrau eingesetzt worden war und nach ihrer Flucht aus dem Lager bei einem Bauern in der Nähe von Oebisfelde arbeitete. Neonila S. führte ihre Flucht in verschiedene deutsche Städte und schließlich nach Ostpreußen: "In Deutschland habe ich im KdF-Werk gearbeitet. Als das Werk bombardiert wurde, bin ich mit dem Zug weggefahren, aber wohin, das weiß ich nicht. Ich wurde gefangen und in ein Gefängnis in Hamm gebracht. Ich weiß nicht, was für ein Lager das war. Das Zimmer war sehr klein, aber viele Menschen waren darin. Wir haben stehend geschlafen und gegessen. Einen ganzen Monat. Hinaus konnten wir nicht gehen. Später haben mich Kosaken geholt, zum Waschen. Von ihnen bin ich auch weggelaufen und wurde in Hamburg gefangengenommen. Dort in Hamburg war ich fast einen Monat. Es war schon Herbst. Wir wurden alle nach Ostpreußen gebracht, um die Ernte einzuholen." 223 224 Arbeitsflucht war kein ungefährliches Delikt, denn als Folge der Vereinbarung mit dem Reichsjustizministerium überstellte das RSHA "straffällig" gewordene "Ostarbeiter" nicht mehr der Justiz, sondern wies sie direkt in ein Konzentrationslager ein. Von der SS-Führung wurde sogar die Zahl der neu zu "beschaffenden" KZ-Häftlinge vorgegeben, so erging am 17. Dezember 1942 ein Geheimbefehl Himmlers, wonach bis Ende Januar 1943 "aus kriegswichtigen Gründen" 35.000 Häftlinge in die Konzentrationslager einzuliefern seien. Um diese Zahl zu erreichen, sollten vor allem "Ostarbeiter" verhaftet und in das nächstgelegene KZ gebracht werden. Dieser Befehl wurde anscheinend verlängert, so dass ab Frühjahr 1943 monatlich 30.000 - 40.000 ausländische Arbeiter, überwiegend "Ostarbeiter" und Polen, verhaftet wurden. Um dem damit verbundenen Verlust an Arbeitskräften vorzubeugen, gingen viele Betriebe dazu über eigene Straflager einzurichten. Im Unterschied zum Konzentrationslager war die Haftzeit befristet, nach Ablauf der Strafe sollten die Verurteilten an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren, denn die Maßnahme diente auch der Abschreckung. Auch das Volkswagenwerk verfügte über ein solches "Arbeitserziehungslager": das "Lager 18" befand sich in Nähe des Werkes, unterstand der örtlichen Gestapo-Außenstelle und wurde vom Werkschutz sowie durch Hilfswerkschutzmänner bewacht. Dort gab es je eine Baracke für Männer und Frauen. In dieses Lager kamen auch Maria S. und Nadeshda S., anderen "Ostarbeitern" war die Existenz dieses Lagers bekannt. Nadeshda K. berichtet von den Erlebnissen ihres Mannes, Alexander S., der wegen eines Diebstahls verurteilt worden war: "Dann wurde er zu zwei Monaten Straflager verurteilt. Geschlafen haben sie in Baracken, auf Stroh. Das Essen war schlecht und wenig, nach zwei Monaten kam er wieder zum Meister in die Flugzeughalle. Alle waren erstaunt, er war sehr abgemagert, abgespannt und schmutzig. Er war übermüdet und bat seine Kameraden ihn bei Alarm nicht zu wecken. Am zweiten Tag ging er wieder zur Arbeit." Die häufigste durch den Werkschutz verhängte Strafe war jedoch die Einweisung in den Strafbunker; der 225 226 227 228 229 230 221 Hierzu der Erinnerungsbericht von Tatjana K., die wegen Krankheit nicht zur Arbeit erschienen war: "Der Meister hatte mir gesagt, dass die Gestapo das Lager durchsuchen würde. So geschah es auch. Alle, die keinen "Nachtschein" hatten, wurden von der Gestapo mitgenommen. Sie haben uns im Bunker eingesperrt. Ein Stück Brot, Wasser und Zementfußboden – das war alles." S.a. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.65f. und S.75; Mommsen / Grieger, S.539: Der Sabotagebegriff war umfassend: jegliche Produktionsstörung konnte als Sabotage ausgelegt werden, auch langsames Arbeiten, Unpünktlichkeit, Ungehorsam gegenüber Vorgesetzten. 222 Arbeitsflucht wurde zu einem Massenphänomen, 1943 gab es durchschnittlich 33.000 Fluchten monatlich. Seitens der neuen Arbeitgeber erfolgte auch keine Anzeige, da man sich aufgrund des allgemeinen Arbeitskräftemangels über den Zuwachs freute. Vgl. Herbert, Der "Ausländereinsatz", S.41; Liedke, S.176; Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.75. 223 Vgl. Fragebogen Nadeshda T. S.a. Mommsen / Grieger, S.585. 224 Erinnerungsbericht Neonila S. 225 Vgl. Herbert, Arbeit und Vernichtung, S.408f.; Hermann Kaienburg, Das Konzentrationslager Neuengamme 1938-1945, Bonn 1997, S.30. 226 Vgl. Seeber, S.200ff.; Albert Speer, Der Sklavenstaat. Meine Auseinandersetzungen mit der SS, Stuttgart 1981, S.79; Martin Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in: Hans Buchheim (u.a.), Anatomie des SS-Staates, München 1994, S.323-445, hier: S.437f.; Homze, S.255f.; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.92. 227 Vgl. Liedke, S.142ff.; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.93f.; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.75f.; Mommsen / Grieger, S.542. 228 Vgl. Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.94; ders., Leben der Zwangsarbeiter, S.76f.; Mommsen/Grieger, S. 542. 229 230 Vgl. Fragebogen Maria S., Nadeshda S.; Anna K.; Eudokia P.; Luba B. Erinnerungsbericht Nadeshda K. zudem auch als Prügelstätte bei vorläufigen Festnahmen diente. "Ostarbeiter", die dem Werkschutz auffielen, konnte es dann ergehen wie Nadeshda K.: "Wir arbeiteten in der "Wursthalle", bis spät abends. Ich und meine Kollegin hatten kein Abendessen bekommen. Der Meister hat uns dann ein schönes Stück Wurst gegeben. Als wir an der Wache vorbeigingen, wurden wir angehalten. In der Tasche lag das Stück Wurst. Ich erklärte, dass ich es nicht gestohlen hatte, sondern dass der Meister, er hieß Kurt, es uns anstelle des Abendessen gegeben hatte. Geschlagen haben sie mich nicht, aber ich musste bis zum Morgen im Bunker bleiben. Am nächsten Morgen haben sie mich aus dem Bunker heraus gelassen. Ich musste im Schlafzimmer der Polizei den Ofen heizen, währenddessen ist ein Polizist in die Küche gefahren und hat den Meister Kurt gefragt, ob er mir wirklich die Wurst gegeben hat. Gott sei Dank hat dieser die Wahrheit gesagt. Ich durfte dann zur Arbeit gehen." 231 232 "Ostarbeiter" standen auch prinzipiell unter Sabotageverdacht, wie der Fall von Alexander S. zeigt. Nadeshda K. beschreibt ein weiteres Erlebnis ihres Mannes: "Er hat auch in dem Volkswagenwerk der Stadt des KdF-Wagens gearbeitet, in der Flugzeughalle. Er hat die Flügel repariert. Nach der Reparatur gab es eine Kontrolle. Es wurde entdeckt, dass ein Rohr mit einem Lappen zugestopft worden war. Er wurde festgenommen, zu dem Flügel gebracht und beschuldigt. Aber er hatte es nicht getan. Er dachte, dass man ihn zum Tode verurteilen würde. Einem Deutschen ist dann eingefallen, dass der Pilot vielleicht das Herauslaufen des Benzin verhindern wollte. Dann wurde der Lappen untersucht. Es stellte sich heraus, dass mein Mann an so einen Lappen nicht herankommen konnte. Der Lappen hat ihm das Leben gerettet." Eudokia K. berichtet von Fällen, in denen auch Frauen wegen Diebstahls oder Sabotage verhaftet wurden: "Mir sind zwei Fälle in Erinnerung geblieben, von diesen möchte ich erzählen. Im Lager waren wir zusammen mit meiner Bekannten Maria S., wegen Diebstahls ist sie ins Arbeitslager gebracht worden. Aus dem Arbeitslager ist sie weggelaufen, sie haben sie zurückgeholt und bestraft. Danach haben wir sie nicht mehr gesehen. Die andere Bekannte, Marina I., hat als Kranführerin gearbeitet, sie hat absichtlich schlecht gearbeitet. Sie wurde ins Arbeitslager gebracht, dort wurde sie geschlagen, danach habe ich sie auch nicht mehr gesehen." 233 234 231 232 233 234 Vgl. Mommsen / Grieger, S.542. Erinnerungsbericht Nadeshda K. Erinnerungsbericht Nadeshda K. Erinnerungsbericht Eudokia K. 6. KRIEGSENDE 6.1. BETRIEBSVERLAGERUNGEN Als Folge der alliierten Bombenangriffe im letzten Kriegsjahr wurden einzelne Betriebsteile des Volkwagenwerks verlegt; von Bombenangriffen und anschließender Verlagerung berichteten auch viele der Befragten. Als Beispiel hier der Erinnerungsbericht von Nadeshda S.: "Am Ende gab es viele Bombenangriffe auf das Lager. Viele Baracken sind verbrannt, viele Menschen (auch Kinder) sind umgekommen. Eines Tages, nach einem Bombenangriff, war das Werk zerstört und wir sind jeden Tag mit dem Zug zur Arbeit gefahren. Irgendwo im Wald haben wir eine Baugrube gegraben und ein Fundament gelegt. Es wurde gesagt, dass ein neues unterirdisches Werk gebaut wird." 235 Anastasia W. wurde hingegen in einer unterirdischen Fertigungsstätte in Frankreich eingesetzt: "Im Jahr 1944 haben sie die Stadt bombardiert und das Werk auch. Uns haben sie nach Elsass-Lothringen überführt, in die Stadt Lil oder Til (das weiß ich schon nicht mehr genau), wo ich in einer Erzgrube gearbeitet habe." Eine größere Gruppe von "Ostarbeitern" kam auch ins tschechische Neudek, dazu der Erinnerungsbericht von Wladimir K.: "Im Jahr 1944 begannen die Fliegerangriffe, das Werk wurde bombardiert, 300 Menschen versteckten sich in dieser Zeit im Keller des Werkes. ... Nach drei Angriffen war das Werk zerstört. Die Teile, die nach der Bombardierung noch in Ordnung waren, wurden in Waggons verladen und ins Sudetenland, in die Stadt Neudek, gebracht. Wir wurden ebenfalls dorthin gebracht. Wir bauten alle Teile in dieser Fabrik wieder ein und verrichteten die gleiche Arbeit wie in Deutschland." 236 237 238 Nach einem kurzem Aufenthalt in Halberstadt wurde auch Maria K. dort eingesetzt: "Im Frühling 1944 wurde das Werk bombardiert und dabei verbrannte unser Lager. Danach wurden wir nach Halberstadt verlegt, wo wir nicht gebraucht wurden, deshalb wurden wir nach Neudek verlegt." 239 6.2. REPATRIIERUNG Auf der Konferenz von Jalta war die Rückkehr der sowjetischen Staatsangehörigen zwischen den Alliierten vereinbart worden. Bis zum März 1946 wurden insgesamt 4,2 Millionen sowjetische Staatsbürger repatriiert, nicht selten gegen ihren Willen. Die meisten der jüngeren "Ostarbeiter" wollten jedoch schnell wieder zurück. Bis auf einige Zehntausende, die in West-Deutschland blieben oder - wie auch viele Polen nach Nordamerika emigrierten, wurden alle repatriiert. Die Zurückkehrenden wurden in "Filtrierlagern" von den Sicherheitsorganen des NKWD oder der militärischen Spionageabwehr SMERSCH überprüft. Frauen und ältere Männer wurden meist schnell geprüft und dann weitertransportiert. Einen Teil der Männer erwartete der Militärdienst (häufig in der SBZ) oder erneute Zwangsarbeit im GULAG. So etwa Kyril N., der nach dem 240 241 242 235 Erinnerungsbericht Nadeshda S. S.a. Erinnerungsbericht Tatjana K.; Mommsen / Grieger, S. 876ff. 236 Erinnerungsbericht Anastasia W. S.a. Erinnerungsbericht Maria S.; Siegfried, Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit, S.28; Mommsen / Grieger, S.703 und S.806: "Das Herzstück des von der Luftwaffe entwickelten Verlagerungsprogramms stellte die Eisenerzgrube Tiercelet unweit des Ortes Thil in dem bei Frankreich verbliebenen Teil Lothringens dar." 237 238 239 240 241 Vgl. Mommsen / Grieger, S.855. Erinnerungsbericht Wladimir K. S.a. Fragebogen Maria K.; Maria K.-T.; Alexandra K.; Anna K.; Vera P.; Wladimir W.; Tatjana Ch.; Vera J. Erinnerungsbericht Maria K. Dies betraf "Hilfswillige", Angehörige der Wlassow-Armee und Menschen, die im Besatzungsgebiet für die Deutschen gearbeitet hatten. 1934 gebildetes sowjetisches Unionsministerium, dem als wichtigstes Ressort die GPU eingegliedert war. Die GPU - zuständig für politische Überwachung, Nachrichtendienst, politische Strafjustiz, Verwaltung der Straf- und Verbannungslager - war das zentrale Instrument des stalinistischen Terrors. 1943 erfolgte die Herauslösung der politischen Geheimpolizei aus dem NKWD und die Umbenennung zum NKGB (Narodny Komissariat Gossudarstwennoi Besopasnosti / Volkskommissariat für Staatssicherheit). Der NKGB wurde 1946 mit der Spionageorganisation »Smersch« ("Tod den Spionen") zum MGB (Ministerstwo Gossudarstwennoi Besopasnosti / Ministerium für Staatssicherheit) zusammengefasst. Aus dem MGB ging 1954 der KGB hervor. 242 Vgl. Heider, S.79 und S.84; Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985, S.123-152; Herbert, "Ausländereinsatz", S.44f. "Arbeitserziehungslager 21" in Salzgitter, den Konzentrationslagern Neuengamme und Bergen-Belsen noch zwei Jahre in einem Lager hinter dem Ural zubrachte; aufgrund einer Erkrankung wurde er 1947 entlassen und konnte in die Ukraine zurückkehren. 243 Vom Militärdienst in Ostdeutschland berichteten mehrere der befragten Männer, so auch Jurij K.: "Nachdem ich von den Amerikanern befreit worden war, wurde ich am 15. Mai 1945 in die sowjetische Zone abgeschoben und diente in der Roten Armee. 1948 kehrte ich in die Heimat zurück." 244 Aber auch Frauen arbeiteten einige Monate für die Rote Armee in der SBZ, meist als Küchenhilfen, Kellnerinnen oder Verkäuferinnen in den Kasernen. So berichtet Eugenia P.: "Die Amerikaner haben uns befreit und nach Brandenburg überführt. Dann kamen wir ins Filtrierlager PFP 226, wo ich überprüft wurde. Vor der Rückkehr in die Heimat haben sie uns vorgeschlagen, dass wir noch fünf Monate im russischen Militärbezirk arbeiten sollten, im Dorf Bertikow. Ich habe Kühe gemolken und fünf Monate für die Soldaten gekocht. .... Im Oktober 1945 haben sie mich nach Hause entlassen." Andere Frauen berichten von einer Überprüfung durch den KGB in ihren Heimatgebieten, dazu Ekaterina P.: "Von den Amerikanern sind wir sehr gut behandelt und versorgt worden. In der Heimat musste ich zum KGB, um einen Ausweis zu bekommen, den mir die Behörden ohne Probleme aushändigten, da sie meine Geschichte kannten." 245 246 Doch grundsätzlich waren die Behörden gegenüber den ehemaligen Zwangsarbeitern misstrauisch eingestellt und mehrere der Befragten berichteten darum auch von andauernder beruflicher Benachteiligung, so etwa Wladimir K.: "Im Juni 1945 kamen wir in ein Filtrationslager der Stadt Chirowa, Dragobytsch, Ukraine. Nach der "Durchleuchtung" durch den KGB wurden wir zum Militärdienst verpflichtet. Nach dem Militärdienst wurden wir in der Heimat wie Menschen 2.. Klasse behandelt, weil wir in Deutschland gewesen waren. Bei Bewerbungen mussten wir ausfüllen, was wir während des Krieges gemacht hatten und wo wir gewesen waren. Danach haben wir keine Anstellung erhalten .... Erlaubt waren nur niedrige Arbeiten im Werk, im Schacht oder auf dem Bau." 247 248 Auch Nadeshda K., die bei ihrer Befragung den Fehler machte, die Verhörmethoden von Gestapo und KGB miteinander zu vergleichen, berichtet von beruflichen Nachteilen: "Auf Arbeit hatten wir, die wir in Deutschland gewesen waren, auch keine Chance. Wir durften nur im Bergwerk oder auf der Kolchose arbeiten." Andere wiederum verschwiegen erfolgreich ihren Aufenthalt in Deutschland und konnten darum z.B. die Abendschule besuchen oder ein Fernstudium absolvieren. 249 250 243 244 245 Fragebogen Kyril N. Fragebogen Jurij K. S.a. Fragebogen Sergej S.; Nikolaij B.; Alexander S.; Nikolaij S.; Walentin W. sowie Wassilij P., dessen Witwe schreibt: "Ab dem 19. Mai 1945 hat er als Fahrer und Melder beim "Helden der Sowjetunion", Oberst Michail Mischerjakow, gedient." Fragebogen Eugenia P. S.a. Fragebogen Klawdia B.; Erinnerungsbericht Anastasia W.; Erinnerungsbericht Maria K. 246 Erinnerungsbericht Ekaterina P. S.a. Kopie einer Bescheinigung, Olga B., Erinnerungsbericht Nadeshda K.: "Als wir nach Hause kamen, mussten wir alle zuerst zum KGB. Das war ein Befehl. Ich ging zum KGB, da hat eine junge Frau Fragen gestellt." 247 Vgl. Heider, S.85; Heinrich-Böll-Stiftung, Die OstarbeiterInnen S.9; Herbert, "Ausländereinsatz", S.44f. 248 Erinnerungsbericht Wladimir K. S.a. Erinnerungsbericht Maria K., Fragebogen Luba B.: "Nach dem Krieg konnte ich nicht studieren, keinen Beruf erlernen, weil wir in der Heimat als Verräter galten." 249 250 Erinnerungsbericht Nadeshda K. Vgl. Erinnerungsbericht Natalia S.; Fragebogen Antonina D.; Fragebogen Wladimir M. 7. ABSCHLUSSBETRACHTUNG Die vorliegende Arbeit ist ihrer Zielsetzung nach als Ergänzung des Ansatzes Siegfrieds - aber auch der "Historischen Notate" - zu sehen, d.h. es geht um die Dokumentation und Analyse der Lebenssituation der Zwangsarbeiter aus der UdSSR. Inhaltlich werden sowohl die von Siegfried als auch von Mommsen/Grieger herausgearbeiteten Ergebnisse im wesentlichen bestätigt. Doch während die Ergebnisse der bisherigen Forschungen zur Lage der "Ostarbeiter" überwiegend auf Aussagen und Angaben von Angehörigen anderer Fremdarbeitergruppen beruhen, hat die vorliegende Arbeit den Vorteil, dass erstmalig ausschließlich Angaben der Betroffenen verwendet wurden. Damit war es möglich, auch Angaben zu den Umständen der Deportation, zur Alters- und Sozialstruktur sowie zum Nachkriegsschicksal der betroffenen Zwangsarbeitergruppe zu machen. 251 5 Fotos/Legende: Titelblatt: Drei "Ostarbeiterinnen" nach der Befreiung, 19.4.1945. Text auf der Rückseite: "Zum ewigen Andenken - für Eudokia K. von Nadeshda T., mit der sie zusammen in der KdF-Stadt gelebt hat." • Nadeshda S., im Alter von 18 Jahren. 1942, kurz nach der Ankunft im "Ostlager" aufgenommen • Wladimir W., im Alter von 16 Jahren, 1942. • Vera J.; im Alter von 15 Jahren, 1942. • Eudokia K. mit ihrer Nichte Lena S., Text auf der Rückseite: "Sei nicht traurig, dass die Blumen schon verblüht sind. Sie blühen wieder. Sei traurig wegen der vergangenen Jahre, sie kommen nicht wieder. Deutschland, Stadt des KdF-Wagens, 3.10.44" • 251 Vgl. Siegfried, Leben der Zwangsarbeiter, S.169ff.; Mommsen / Grieger, S.566ff. [Kapitel 6.6.] 8.1. Rede von Prälat Heinrich Günther zum Gedenken der Opfer des Nazi-Regimes (8. Mai 2002 / Wolfsburg / Friedhof Werderstraße) 1. Wir sind an die Gräber derer getreten, die aus ihrer Heimat verschleppt wurden und die in unserer Stadt, als sie noch „Stadt des KdF-Wagens“ hieß, in Lager eingesperrt wurden und zwangsweise arbeiten mussten. Manche sind an Entkräftung gestorben, andere wurden erschossen oder erschlagen. Deutsche Truppen hatten ihre Heimatländer überfallen. Jetzt mussten die Besiegten für die Sieger schuften, damit noch mehr Menschen unterjocht werden könnten. Sie trennten die Menschen in verschiedene Rassen, um sie durch unterschiedliche vermeintliche Gunst-Erweise möglichst gegeneinander aufzubringen und so das System der Versklavung zu perfektionieren. Es bedurfte einer großen gemeinsamen Anstrengung praktisch der ganzen Welt, um die größenwahnsinnige und Menschen verachtende Herrschaft der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten zu beenden. Etwa 60 Millionen Menschen sind durch die Faschisten ermordet oder im Zweiten Weltkrieg getötet worden. Große Teile Europas und Asiens lagen in Trümmern. Millionen Menschen waren aus ihrer Heimat vertrieben und von ihren Familien getrennt. Ungezählte an Leib und Seele verletzt. 2. Wir stehen hier an den Gräbern von Menschen, die hier in der "Stadt des KdF-Wagens" ihr Leben lassen mussten. Es haben längst nicht alle hier ein Grab gefunden. Nicht alle Schicksale wurden geklärt ! An diesen Gräbern wollen wir heute all derer gedenken, die hier im heutigen Wolfsburg Opfer der Zwangsherrschaft geworden sind, auch der Kinder, die in Rühen sterben mussten. Ich stehe hier vor dem Grab eines Kindes, das hier geboren wurde und das man nur wenige Wochen alt werden ließ. Es wäre heute eine Frau von 58 Jahren. Die Namen und Lebensdaten der Toten hier lassen vor meinen Augen junge Menschen und Männer und Frauen in den besten Lebensjahren stehen. Auch sie wollten leben und glücklich sein. Sie waren voller Hoffnung und Ideale: Man hat sie erniedrigt und gequält. Man hat sie den Launen ihrer Bewacher ausgeliefert. Man hat sie ihren Familien und Freunden genommen. Man hat sie um ihr Leben betrogen. Ein Mann hat mir auf seinem Sterbebett unter Tränen gesagt, er habe immer noch den Raum vor Augen, in dem die Gefangenen geschlagen und misshandelt worden seien: Blutlachen hätten den Boden bedeckt. Wer könnte jemals das wieder gut machen, was diese Menschen erlitten ? 3. Heute sind einige von denen bei uns, die als „Ostarbeiter“ damals hier waren und die gleichen Erniedrigungen und Qualen ertragen mussten. Wir haben einander die Hand gereicht. Zusammen stehen wir heute hier und gedenken dieser Toten. Wenn uns doch diese Toten die Hand reichen könnten, wir ihr sie uns heute reicht ! 4. Als Europa von den Nazis befreit war, wollten viele Täter sich aus ihren Verbrechen herausreden: • ihre Un-Taten seien die logische Konsequenz aus der Verschiedenheit der und Völker, • sie selbst seien eigentlich gar nicht verantwortlich, weil sie Befehlen hätten gehorchen müssen, • und es sei schließlich einfach alles unvermeidbar gewesen. Aber ich weiß mich mit Ihnen sicher einig in der Überzeugung, dass jeder Mensch ganz persönlich verantwortlich ist, für das was er tut oder lässt. Gelegentlich wird Mut gefordert sein und die Bereitschaft, persönliche Nachteile hinzunehmen. Die Völkergemeinschaft hat mit dem Nürnberger Prozess deutlich gemacht, dass sich dabei niemand hinter irgendetwas verstecken kann. Es gilt, auch im internationalen Recht zu verankern, dass Angelegenheiten, die den Staat betreffen, den Einzelnen nicht aus seiner Verantwortung entlassen. Darum geht es auch bei den Prozessen gegen Milosevic und Konsorten in Den Haag. Und wenn wir Menschen noch so verschieden sind … Wir müssen lernen: Verschiedenheit und Vielfalt an sich sind keine Bedrohungen; sie machen unsere Welt farbig und interessant. Wir sind dazu bestimmt, dass wir für einander leben und einander helfen zu leben. Das setzt Dialog voraus: respektvolle Kommunikation und gegenseitiges Verständnis. Dann können Gerechtigkeit und Solidarität konkret werden zum Nutzen aller. Ich wende mich an euch, ihr lieben Toten, an deren Gräbern wir jetzt stehen, und lade alle Anwesenden ein, mit großem Ernst zu versprechen: Ich will alles tun, dass wir einander mit neuen Augen sehen als Glieder einer einzigen menschlichen Familie, in der jeder Mensch guten Willens willkommen ist. Prälat Heinrich Günther, 08-05-2002 8.2. Begegnung mit ehemaligen Zwangsarbeitern (2002) Im Mai 2002 waren zwei Gäste aus der Ukraine in Wolfsburg. Sie waren im Krieg als Zwangsarbeiter im Volkswagenwek. Der Historiker Björn Kooger hatte den Kontakt im Rahmen einer von der St. ChristophorusGemeinde veranlassten Forschungsarbeit hergestellt. Es war der große Wunsch der Gäste, jene Stätte zu besuchen, in der sie vor rund 60 Jahren zwangsweise arbeiten mussten. Die Volkswagen AG nahm sich vorbildlich der Gäste an. Wo sie einst gedemütigt wurden und schlechtes Essen erhielten, waren sie nun Ehrengäste. Bei der Feier auf der Gedenkstätte am 8. Mai suchten sie unter den hunderten Grabsteinen bekannte Namen – und fanden sie. Jugendliche verteilten rote Nelken, die auf die Grabsteine gelegt wurden. Prälat Günther erinnerte in seiner Ansprache an die Menschen, die in der "Stadt des KdF-Wagens" ihr Leben lassen mussten: "Ich stehe hier vor dem Grab eines Kindes, das hier geboren wurde und das man nur wenige Wochen alt werden ließ. Es wäre heute eine Frau von 58 Jahren. Man hat sie um ihr Leben betrogen! Heute sind einige von denen bei uns, die als "Ostarbeiter" damals hier waren. Wir haben einander die Hand gereicht. Zusammen stehen wir heute hier und gedenken dieser Toten. Wenn uns doch diese Toten die Hand reichen könnten, wir ihr sie uns heute reicht ! Und wenn wir Menschen noch so verschieden sind – wir müssen lernen: Verschiedenheit und Vielfalt sind keine Bedrohung; sie machen unsere Welt farbig und interessant." Nach Prälat Günther ergriffen die Gäste das Wort. In bewegten und bewegenden Worten sprachen die ehemaligen Zwangsarbeiter. Im Stadtmuseum und in der Gedenkstätte im Volkswagenwerk besichtigte man eingehend die Dokumentation der Zwangsarbeit. Herr Schewschtenko war beim Besuch der Gedenkstätte im Volkswagenwerk so ergriffen, dass er ins Freie eilen musste. In einem solchen Bunker war er blutig geschlagen worden, nachdem er versucht hatte, einige Nudeln – die man ihm zugesteckt hatte – heimlich auf der Toilette zu essen. In der Autostadt wurden die Gäste bewirtet. Immer war es das Ziel, ihnen ihre Würde wiederzugeben. Sie verließen Wolfsburg als Freunde in dem Bewusstein, dass von Deutschland aus nie wieder ein solches Verbrechen ausgehen wird. 8.3. Im Dienst der Versöhnung (2004) Die Kirchengemeinde St. Christophorus pflegt seit rund 10 Jahren freundschaftliche Beziehungen zur Ukraine, zur Partnergemeinde St. Alexander in Kiew, zum Priesterseminar in Worsel, zur russisch-orthodoxen Gemeinde in Brovary und zu vielen Einzelpersonen. Aufgrund dieser Beziehungen konnte die Gemeinde bei der Aufarbeitung der Geschichte der Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg Hilfe leisten. Prälat Günther hat einen Historiker beauftragt, Menschen ausfindig zu machen, die im Kriege als Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk gearbeitet hatten, und aus ihren Berichten eine Dokumentation zu erstellen, die demnächst als Buch herausgegeben wird. Sie enthält erschütternde Berichte über das, was diese Menschen im Kriege und auch nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion erleiden mussten. Schon mehrmals hat die Gemeinde Personen aus diesem Kreis eingeladen, Wolfsburg zu besuchen und an der Gedenkfeier teilzunehmen, die an jedem 8. Mai auf der Gedenkstätte in der Nähe des Waldfriedhofs gehalten wird. Die Volkswagen AG trägt die Reisekosten und lädt die ehemaligen Zwangsarbeiter zu einem Tag im Werk ein, wobei sie nicht nur die dortige Gedenkstätte in einem Bunker besichtigen, sondern als Ehrengast behandelt werden. In diesem Jahr war Frau Maria Ribaitschuk aus Anthrazit im Gebiet Lugansk zu Gast in Wolfsburg. Auf der Gedenkstätte am Waldfriedhof sind viele ehemalige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen begraben; dabei werden die aus der Ukraine stammenden als „Russe“ oder „Russin“ bezeichnet. Frau Ribaitschuk konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, als sie das Grab eines Freundes fand, der im Krieg in Wolfsburg (damals Stadt des KdF-Wagens) verstorben war. Sie hatte ihm aus der Zentralküche, wo sie tätig war, heimlich etwas Brot mitgebracht. Aber er sagte ihr eines Tages: „Bing mir nichts mehr mit. Ich werde sterben.“ Kurze Zeit später starb er. Mit einer solchen Hilfe hatte sie sich jedesmal in höchste Gefahr begeben. Bei einem Besuch im Stadtmuseum zeigte Frau Ribaitschuk, wo sie damals das Zeichen der „OstArbeiter“ tragen musste, die in der Rangordnung der Nationalsozialisten an unterster Stelle rangierten. Neben ihr steht Frau Rosa Reiner, bei der Frau Ribaitschuk gewohnt hat und die als Dolmetscherin half und selbst aus der Ukraine stammt, von wo sie als Deutsche 1941 nach Sibirien verschleppt wurde. Frau Ribaitschuk berichtete nicht nur von schlimmen Erfahrungen. Sie beschrieb auch Begebenheiten, bei denen Deutsche den Mut hatten, gegen alle Verbote den Zwangsarbeitern menschlich zu begegnen. Die Erinnerung an diesen Zeiten soll dazu beitragen, dass menschverachtende Ideologien und Völkerhass nie wieder an die Macht kommen. Die Menschen, die Grund hätten, uns feindlich zu begegnen, schieden als Freunde und werden zu Boten eines gewandelten Deutschlands. Der Autor: Björn Kooger, Studium der Neueren Geschichte an der TU Braunschweig, Promotion an der TU Berlin. 1993-1997: Leiter der Gedenkstätte Beendorf. 1997-1999: Wiss. Mitarbeiter am Institut für Museen und Stadtgeschichte, Wolfsburg. 2000-2001: Wiss. Angestellter beim Gesamtverband der Kath. Kirchengemeinden Wolfsburg. Letzte Veröffentlichung: Rüstung unter Tage. Die Untertageverlagerung von Rüstungsbetrieben und der Einsatz von KZ-Häftlingen in Beendorf und Morsleben, Reihe: Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945, Band 4, Berlin 2004 (Metropol-Verlag)