Parkinson-Syndrom und Parkinson-Krankheit

Werbung
448
ÜBERSICHTSARTIKEL AIM
Nicht heilbar, aber lange gut behandelbar
Parkinson-Syndrom und
­Parkinson-Krankheit
Dr. med. Ines Debove, Dr. med. Lenard Lachenmayer, Dr. med. Julia Müllner,
Prof. Dr. med. Mathias Sturzenegger
v ie we
d
Peer
re
a r tic le
Neurologische Universitätsklinik, Inselspital, Universitätsspital Bern
Bei Parkinson handelt es sich nicht nur um eine motorische Störung, es werden
früh auch Psyche, Kognition und das vegetative Nervensystem (sogenannte nicht
motorische Symptome) in Mitleidenschaft gezogen. Parkinson ist nicht nur eine
Störung der dopaminergen Neurone in der Substantia nigra, sondern betrifft viele
Neurotransmitter und im Verlauf Neurone des ganzen Gehirns und auch extrazerebral, so zum Beispiel gastrointestinal. Zwar beschränken sich die Therapiemöglichkeiten immer noch auf eine Symptombehandlung, aber diese besteht nicht
(mehr) nur in der Dopaminsubstitution, sondern in multiplen pharmakologischen,
physiotherapeutischen und chirurgischen Therapieoptionen.
Einführung
tinale, urologische, sexuelle, orthostatische und weitere vegetative Symptome). Diese verschiedenen Sym-
Die Parkinson-Erkrankung (PD; idiopathisches Parkin-
ptomkomplexe müssen bei der optimalen Wahl der
son-Syndrom, Morbus Parkinson) ist nach der Alzhei-
Anti-Parkinson-Therapie mitberücksichtigt werden.
mer-Demenz die zweithäufigste neurodegenerative
Einige der nicht motorischen Symptome wie Störung
­Erkrankung [1]. Sie wird heute als eine chronische, pro-
des Geruchsinns, Obstipation, Depression oder REM-
grediente, multisystemische, degenerative, neuronale
Schlaf-Verhaltensstörung treten häufig sogar als Pro-
Erkrankung verstanden, die nicht nur das dopaminerge
dromalphase vor den motorischen Symptomen auf
System, sondern auch die serotonerge, glutamaterge
(prämotorische Symptome) [3]. Sie werden dann eine
und GABAerge Neurotransmission betrifft. Daraus lei-
besondere Bedeutung für die Frühdiagnostik gewin-
ten sich motorische, aber auch vielseitige nicht moto-
nen, wenn es einmal möglich sein wird, die Krank-
rische Funktionsstörungen ab.
heitsprogression zu beeinflussen.
Die typischen und den Parkinsonismus definierenden
motorischen Leitsymptome (auch Kernsymptome) sind
eine Verlangsamung der Bewegungsabläufe (Bradyki-
Parkinsonsyndrome – Abgrenzung
nesie) zusammen mit einem erhöhten Muskeltonus
Der Begriff Parkinson-Syndrom, auch als Parkinsonis-
(Rigor) oder einem Ruhetremor oder beiden [2]. Brady-
mus bezeichnet, umfasst eine Vielzahl von Erkrankun-
kinesie und Rigor führen zu der typischen Haltung
gen, die bezüglich Pathogenese, Therapieansprechen
und dem typischen Gangbild.
und Prognose allerdings nur wenig miteinander gemein
Erst in den letzten Jahren wurde den nicht motorischen
Symptomen vermehrt Beachtung geschenkt, da sie bezüglich Behinderung und Einschränkung der Lebensqualität mindestens ebenso wichtig sind. Dazu gehören
psychiatrische Störungen (wie Depression, Angst, Apathie, Zwangsstörungen), Schlafstörungen, kognitive
Einschränkungen (dysexekutive Syndrome, Demenz),
Ines Debove
aber auch autonome Funktionsstörungen (gastrointes-
Abkürzungen:
PSParkinson-Syndrom
PD«Parkinson disease»; Parkinson-Krankheit, idiopathisches Parkinson-Syndrom (IPS), Morbus Parkinson
LB
«Lewy bodies»
NMS «non motor symptoms» (nicht motorische Symptome)
DBS «deep brain Stimulation» (Tiefenhirnstimulation)
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2017;17(20):448– 455
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.
See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
449
Übersichtsartikel AIM
haben. Parkinson-Syndrome sind definiert durch die
Darüber hinaus existieren aber auch andere neurode-
drei motorischen Kardinalsymptome Brady-/Akinese
generative Parkinson-Syndrome, die als atypische Par-
sowie Rigor oder Ruhetremor oder beides, die nicht
kinson-Syndrome zusammengefasst werden. Zu den
primär durch visuelle, vestibuläre, zerebelläre oder pro-
häufigsten atypischen Parkinson-Syndromen werden
priozeptive Störungen zu erklären sind. Gemäss den
die Multisystematrophie (MSA), die Demenz vom
«UK (United Kingdom) Brain Bank criteria» und den
Lewy-Körper-Typ (DLK), die progressive supranukleäre
2015 veröffentlichten «MDS (Movement Disorder Soci-
Blickparese (PSP) und die kortikobasale Degeneration
ety) clinical diagnostic criteria» sind für die Diagnose-
(CBD) gezählt. Die Abgrenzung dieser Entitäten sollte
stellung der Parkinson-Krankheit das Vorhandensein
durch den Neurologen erfolgen und ist nicht immer
von Brady-/Akinese und mindestens ein weiteres Kar-
einfach, aber infolge unterschiedlicher Prognosen und
dinalsymptom erforderlich. Es werden ­sogenannte Aus-
Therapieansprechen durchaus relevant. Hinweise für
schlusskriterien (alles klinische) formuliert, die nicht
das Vorliegen eines möglichen atypischen Parkinson-
vorhanden sein dürfen, sowie «red flags» (ebenfalls kli-
Syndroms finden sich in Tabelle 2.
nische), die für eine sichere Diagnosestellung auch
nicht zugelassen sind [2]. Die Diagnosestellung erfolgt
somit klinisch, kann aber in Zweifelsfällen durch eine
Zusatzdiagnostik, beispielsweise nuklearmedizinische,
bildgebende Methoden, ergänzt werden.
Abgesehen von den symptomatischen (sekundären)
Parkinson-Syndromen, die durch metabolische (z.B.
M. Wilson, Hyperparathyreoidismus, Fahr-Syndrom)
oder toxische Ursachen (z.B. Kohlenmonoxid, Mangan),
Schädel-Hirn-Traumata, vaskuläre Schäden, Raumforderungen oder auch eine entzündliche Ursache hervor-
Tabelle 2: Warnsymptome («red flags»), die auf ein atypisches
Parkinson-Syndrom hinweisen (gemäss DGN-Leitlinien).
Nichtansprechen auf hohe Dosen von L-DOPA
(bis 1000 mg, Resorptionsstörung ausgeschlossen)
Frühzeitig im Verlauf auftretende schwere Störungen des
autonomen Nervensystems (orthostatische Hypotension,
Synkopen, Impotenz oder verringerte genitale Erregbarkeit,
Urininkontinenz oder -retention, Anhidrose)
Zerebelläre Zeichen
Pyramidenbahnzeichen, soweit nicht anderweitig erklärt
(z.B. Schlaganfall)
Okulogyre Krisen
gerufen werden können, sind die Parkinson-Syndrome
Ausgeprägter Anterokollis
Folge neurodegenerativer Erkrankungen (Tab. 1) [3].
Deutliche (frühzeitige) Dysphagie oder Dysarthrie
Supranukleäre vertikale Blickparese
Tabelle 1: Parkinson-Syndrome.
Frühe posturale Instabilität mit Stürzen
(insbesondere nach hinten)
Idiopathisches Parkinson-Syndrom
Apraxie und/oder Aphasie
Genetische Formen des Parkinson-Syndroms
Atypische Parkinson-Syndrome
Innerhalb des ersten Jahres auftretende Demenz
mit Sprach- und Gedächtnisstörungen
Demenz mit Lewy-Körpern (DLK)
Stark fluktuierende Vigilanz und Müdigkeit
Multisystematrophie (MSA)
– Parkinsontyp (MSA-P)
– Zerebellärer Typ (MSA-C)
Innerhalb des ersten Jahres auftretende fluktuierende
visuelle Halluzinationen
Progressive supranukleäre Parese (PSP)
Symmetrische Symptomatik
Kortikobasale Degeneration (CBD)
Akuter Beginn
Somnolenzphasen, spontan oder nach Neuroleptikagebrauch
Symptomatische (sekundäre) Parkinson-Syndrome
Medikamenteninduziert
(u.a. klassische Neuroleptika, L
­ ithium)
Parkinsonkrankheit – Pathogenese
Tumorbedingt
Die Parkinson-Krankheit zählt zu den neurodegenera-
Posttraumatisch
Toxininduziert (z.B. durch Kohlenmonoxid, Mangan)
Entzündlich (enzephalitisch)
Metabolisch (z.B. Morbus Wilson, Hypoparathyreoidismus)
Vaskuläre Leukoenzephalopathie
Hydrozephalus
tiven Erkrankungen. Histopathologisches Kennzeichen
ist die abnorme Akkumulation und Ablagerung von
aggregiertem α-Synuclein, vorwiegend, aber keineswegs ausschliesslich, in den dopaminergen Neuronen
des zentralen Nervensystems (ZNS) in Form intrazellulärer Einschlusskörperchen, der «Lewy bodies» (LB).
Das idiopathische Parkinson-Syndrom (IPS), das auch
Dies führt zu einem Verlust dopaminerger Neurone in
als primäres Parkinson-Syndrom, Parkinson-Krank-
der Substantia nigra und sekundär zu einem Mangel
heit (PD) oder Morbus Parkinson bezeichnet wird,
an Dopamin im Putamen und Nucleus caudatus.
stellt hierbei den Hauptanteil – etwa 75% der Krank-
Die Ursachen sind in den meisten Fällen eines idiopa-
heitsfälle – von neurodegenerativen Parkinson-Syn-
thischen PS unbekannt – aufgrund des variablen klini-
dromen dar und wird daher in der vorliegenden Über-
schen Bildes geht man von einer Kombination ver-
sichtsarbeit ausführlicher beschrieben.
schiedener pathogenetischer Einflüsse aus [4]:
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2017;17(20):448– 455
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.
See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
450
Übersichtsartikel AIM
1. Genetische Faktoren: Ein deutlicher Hinweis auf ein
muss das Vorliegen eines Parkinson-Syndroms klinisch
genetisch bedingtes Parkinson-Syndrom ist typi-
nachgewiesen sein. Die Manifestation der motorischen
scherweise der Krankheitsbeginn vor dem 40. Le-
Kardinalsymptome kann hierbei allerdings von Patient
bensjahr. Familiäre, monogenetische Fälle machen
zu Patient sehr heterogen sein. Wichtig ist ein schlei-
weniger als 5% aus. Es sind mittlerweile über 15 ver-
chender Beginn und langsame Symptomprogredienz
schiedene Genmutationen mit autosomal domi-
sowie eine stets asymmetrische (einseitig betonte)
nantem oder rezessivem Erbgang bekannt. Aber
Symptomausprägung [3].
auch ausserhalb monogenetischer Fälle spielt die familiäre Belastung eine Rolle: Für Geschwister von
Bradykinesie/Akinesie
Parkinsonpatienten ist das ­Risiko 6,7-fach und für
Bei der Bradykinesie handelt es sich um eine Verlangsa-
Kinder 3,2-fach erhöht, auch an PD zu erkranken.
mung in der Initiation der Bewegung mit progressiver
2. Metabolische Faktoren, die zu ­erhöhtem oxydativem
Verlangsamung bei Ausführung repetitiver Bewegun-
Stress führen, so auch mitochondriale Funktionsstö-
gen. Die Akinese stellt eine «Extremform» der Bradyki-
rungen sowie abnorme Eliminationsmechanismen
nese dar und ist durch eine hochgradige Bewegungs­
von Endo- und Exotoxinen werden postuliert.
armut oder gar Bewegungslosigkeit gekennzeichnet.
3. Die vermehrte Exposition gegenüber bestimmten
Die Brady-/Akinese kann sich nicht nur in einer Ver-
Umwelttoxinen wie Schwermetallen (v.a. Mangan,
langsamung von Bewegungen der Extremitäten und
aber auch Kupfer, Blei oder Eisen), Pestiziden, Herbi-
damit auch des Gangbildes äussern, sondern kann sich
ziden, Schweissarbeiten und anderen ist epidemio-
auch im Gesicht in Form einer Hypomimie oder selte-
logisch ein erwiesener Risikofaktor.
nem Lidschlag, in der Sprache (Dysarthrophonie) und
auch im Schriftbild (Mikrographie) widerspiegeln.
Der frühe Nachweis von Ablagerungen des abnormen
α-Synucleins auch in extrazerebralen, gastrointestina-
Parkinsontremor
len Neuronen (Plexus und Ganglien) bei Parkinson­
Der typische Parkinsontremor ist ein Ruhetremor mit
patienten hat der exotoxischen Hypothese wieder
einer Frequenz von 4–6 Hz. Dieser tritt zu Beginn der Er-
­Auftrieb verliehen. Dies und die Beobachtung einer
krankung seitenbetont auf, wird unmittelbar nach einer
kaudokranialen Ausbreitung der LB in den ZNS-Neu­
Bewegungsinitiierung vorübergehend unterdrückt und
ronen, beginnend im Bulbus olfactorius und in den
tritt erst nach längerem statischen Vorhalten der Arme
kaudalen Vagus-Kern-Neuronen, macht aktuell den
­
erneut auf («re-emergent tremor»). Bei der klassischen
Eintritt eines kausalen Agens via Nasen- oder Darm-
distalen Lokalisation an der oberen Extremität entsteht
schleimhaut attraktiv (gastrointestinale Hypothese).
durch die Pro- und Supinationsbewegung der Hand das
Die PD könnte eine weitere Krankheit sein, die durch
Bild des sogenannten «Pillendrehertremors». Durch
ein abnorm gefaltetes Protein, das sich Prionen-ähn-
kontralaterale Aktivierung, beim Gehen oder bei men-
lich ausbreitet, verursacht wird. Vor allem weil sich im
taler Belastung (wie z.B. Rückwärtszählen) kann sich ein
extrazerebralen α-Synuclein-Nachweis möglicherweise
latenter Ruhetremor demaskieren oder ein bereits vor-
ein sehr früher Biomarker der Krankheit zeigt und
handener Ruhetremor an Amplitude zunehmen. Typisch
durch die Verhinderung der Proteinausbreitung eine
ist beim idiopathischen Parkinson-Syndrom ein dista-
Unterdrückung oder zumindest Verzögerung der Krank-
les Verteilungsmuster (Arme/Hände, Bein), jedoch kann
heitsprogression denkbar wäre, hat diese Hypothese
sich ein Ruhetremor auch im Gesicht (Kinn, Lippen und
der Parkisonforschung erst kürzlich grossen Auf-
Kiefer) manifestieren. Untypische Lokalisationen sind
schwung gegeben. Ganz neu sind Forschungsergeb-
der Kopf (Ja-Ja- oder Nein-Nein-Tremor) und auch die
nisse, die aufzeigen, dass das gastrointestinale Mikro-
Stimme (Stimmtremor), die differentialdiagnostisch
biom bei Parkinsonpatienten sich nicht nur von dem
eher auf eine Dystonie hinweisen.
gesunder Personen unterscheidet, sondern damit sogar ein Zusammenhang mit der Art der klinischen
Rigor
Symptomatik herzustellen ist.
Der Rigor ist eine Muskeltonuserhöhung, die vom
Pa­
­
tienten als Steifigkeitsgefühl, gelegentlich sogar
Parkinsonkrankheit – Klinik
und ­Diagnosestellung
schmerzhaft empfunden wird. Überprüft wird der
Motorische Symptome
Patient sich in einer entspannten Position befinden
Die Diagnosestellung eines idiopathischen Parkinson-
sollte. Hierbei zeigt sich der Rigor als ein zäher, gleich-
Syndroms sollte in vier Schritten erfolgen. Zunächst
mässiger, «bleirohrartiger» Widerstand, der im Gegen-
­Rigor durch eine passive Durchbewegung der grösseren
Gelenke (Handgelenk, Nacken, Kniegelenk), wobei der
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2017;17(20):448– 455
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.
See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
451
Übersichtsartikel AIM
satz zur Spastizität geschwindigkeitsunabhängig auftritt. Obwohl das «Zahnradphänomen» oft begleitend
auftritt, erfüllt das alleinige Vorhandensein eines «Zahnradphänomens» ohne den zähen, «bleirohrartigen» Wi-
Tabelle 3: Nicht motorische Symptome (NMS)
bei der Parkinson-Krankheit.
Vegetative
derstand nicht die notwendigen Kriterien eines Rigors.
Schlucken, Magen, Darm (~70%)
Posturale Instabilität
Schmerzen (~60%)
Die posturale Instabilität wird als Störung der reflektorischen Anpassungsbewegungen nach passiver Auslenkung aus dem Gleichgewicht / Veränderung der Körperhaltung im Raum definiert. Sie ist Ausdruck der axialen
Harnblase, Sexualfunktion (~80%)
Schlafstörungen (50–90%)
Müdigkeit (~40%)
Atmung
Herz-Kreislauf; v.a. Orthostase
Riechfunktion
Bewegungsstörung und äussert sich in einer Pro-, Retro-
Sehfunktion
und Lateropulsionstendenz, Festinationen (Propulsion
Haut
im Gang) und spontaner Stand- und Gangunsicherheit.
Psychische
Sie zeichnet sich leider durch ein schlechtes Ansprechen
Depression (40–60%)
auf dopaminerge Medikation aus und führt zu einem
Angststörung (~40%)
erhöhten Sturzrisiko und einer damit verbundenen er-
Halluzinationen
heblichen Reduktion der Lebensqualität. Bei der PD tritt
die posturale Instabilität typischerweise erst nach einigen Jahren auf, deshalb gilt sie nach den neusten Dia­
gnosekriterien auch nicht als Kernsymptom [2]. Das
frühzeitige Auftreten einer posturalen Instabilität
(<1 Jahr) gilt als «red flag» und deutet auf ein atypisches
Parkinson-Syndrom, insbesondere die progressive supranukleäre Paralyse (PSP) hin.
Psychose
Apathie
Verhaltensstörungen
Kognitive
Verwirrtheit
Demenz (20–30%)
Frühe NMS
REM-Schlaf-Verhaltensstörung
Obstipation
Orthostatische Hypotonie
In einem zweiten Schritt sollte gezielt durch eine aus-
Harndrang
führliche Anamnese, bildgebende Verfahren und labor-
Depression
chemische Untersuchungen nach einer symptomati-
Tagesschläfrigkeit
schen (sekundären) Ursache gesucht werden (Tab. 1).
Hyposmie
Darüber hinaus sollte auf Warnsymptome («red flags»),
die auf ein atypisches Parkinson-Syndrom hindeuten
können, geachtet werden (siehe Tabelle 2).
Unterstützende Kriterien, wie z.B. ein deutliches Ansprechen auf Levodopa, das Auftreten Levodopa-induzierter Dyskinesien im Krankheitsverlauf oder auch
ein einseitig vorhandener Ruhetremor bekräftigen die
Schmerzen
Therapie-assoziierte NMS
Psychose
Orthostatische Hypotonie
Tagesschläfrigkeit
Schlafattacken
Störung der Impulskontrolle
Diagnose eines idiopathischen Parkinson-Syndroms.
Nicht motorische Symptome
Verhaltensstörung (RBD) und die Hyposmie auch vor
Neben den motorischen Parkinson-Symptomen sollte
dem Beginn der motorischen Symptome manifestie-
auch den zahlreichen, nicht motorischen Symptomen
ren. Die depressive Symptomatik kann sich nach
(NMS) Aufmerksamkeit geschenkt werden, da diese mit
­Einnahme eines Dopaminagonisten/Pramipexol ver-
einer signifikanten Reduktion der Lebensqualität der
bessern. Sollte jedoch die Einnahme eines Antidepres-
betroffenen Patienten einhergehen und zumindest
sivums not­wendig sein, wird die Einnahme selek­tiver
­einige von ihnen gut behandelt werden können [3].
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und Sero-
Hierzu zählen Störungen von Verhalten und Stimmung,
tonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI)
kognitive Dysfunktion, Störungen der Schlaf-Wach-Re-
empfohlen, da diese zu keiner Verschlechterung der
gulation, Dysautonomie und Schmerzen (Tab. 3).
motorischen Symptomatik führen. Leider werden
viele depressive Parkinsonpatienten nicht adäquat be-
Depression
handelt, weil die depressive Symptomatik innerhalb
Ca. 30–40% der Parkinsonpatienten leiden an einer
der motorischen PD-Symptomatik nicht e
­rkannt /
­Depression. Diese kann sich ebenso wie die REM-Schlaf-
nicht gezielt gesucht wird.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2017;17(20):448– 455
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.
See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
452
Übersichtsartikel AIM
Halluzinationen und Psychosen
Orthostatische Hypotension
Beide Symptome können in Präsentation und Aus­
Blutdruckregulationsstörungen stellen bei vielen Par-
prägung sehr variieren (von nicht störenden visuellen
kinsonpatienten, insbesondere im Spätstadium der Er-
Halluzinationen bis hin zu psychotischen Zuständen
krankung, ein grosses Problem dar. Sie werden durch
mit ausgeprägten Halluzinationen oder auch Wahn-
die dopaminerge Medikation noch verstärkt. Konse­
vorstellungen). Hierbei empfiehlt sich in aller erster
kutive Stürze erhöhen die Morbidität beträchtlich. Bis-
­Linie eine Anpassung der dopaminergen Medikation,
her gibt es nur unzureichende Evidenz für jegliche Art
beispielsweise durch Wechsel von einem Dopamin­
der Therapie. Generell ist je nach Möglichkeit die Re-
agonisten auf L-DOPA, Dosisreduktion oder im Ex­
duktion aller Medikamente, die eine orthostatische
tremfall Stoppen sämtlicher Medikamente mit einer
­Hypotension verschlechtern können, zu empfehlen;
anticholinergen Wirkung.
­daneben sind nicht pharmakologische Massnahmen
Sollte dennoch der Einsatz einer antipsychotischen
(Stützstrümpfe, Schlafen mit erhöhtem Oberkörper,
Medikation notwendig sein, so ist die Einnahme der
Erhöhung der Salz- und Flüssigkeitszufuhr) zu empfeh-
atypischen Neuroleptika Quetiapin und Clozapin emp-
len. Je nach Bedarf können auch Alpha-Sympathomi-
fohlen, da diese die motorischen Symptome nicht be-
metika (Midodrin) oder Mineralocorticoide (Fludro-
ziehungsweise erst in sehr hohen Dosen ungünstig be-
cortison) eingesetzt werden.
einflussen.
Kognitive Einschränkungen
Parkinsonkrankheit – Zusatzdiagnostik
Die Demenz ist ein grosses Problem im fortgeschritte-
Zur Abgrenzung gegenüber einigen symptomatischen
nen Stadium, insbesondere für die pflegenden Ange-
Ursachen (z.B. Raumforderung, Normaldruckhydroze-
hörigen/Betreuenden. Die kognitive Einschränkung
phalus, ischämische Läsionen oder Manganintoxika-
ist oftmals der Hauptgrund, der schliesslich zur Insti-
tion; Tab. 1) sollte im Verlaufe der Erstdiagnose eine bild-
tutionalisierung in einem Pflegeheim führt.
gebende Untersuchung (Magnetresonanztomographie
Gemäss der längsten Follow-up-Studie wird das Ri-
[MRT]) erfolgen. Die kranielle Kernspintomographie
siko von Parkinsonpatienten, eine Demenz zu entwi-
kann auch Befunde erbringen, die auf das Vorliegen
ckeln, auf ca. 40% nach 10 Jahren und auf ca. 80%
­eines atypischen Parkinson-Syndroms hindeuten [2].
nach 20 Jahren Krankheitsdauer geschätzt. Jedoch
Das Ansprechen auf L-DOPA (mehr als 30 % Verbesse-
scheint das Alter (>70 Jahre) einen g
­ rös­seren, relevan-
rung im MDS-UPDRS-Score) als bestätigendes diagnos-
ten Risikofaktor darzustellen als die Dauer der Er-
tisches Kriterium für eine PD kann durch einen Be-
krankung. Bei fehlenden Hinweisen auf sympto­
handlungsversuch mit dopaminerger Medikation
matische, behandelbare Ursachen der kognitiven
innerhalb weniger Tage oder durch den L-DOPA-Test ge-
Beeinträchtigung ist der Einsatz von Cholinesterase­
prüft werden. Diesbezüglich bleibt aber anzumerken,
inhibitoren (z.B. Rivastigmin) empfohlen.
dass der Tremor gelegentlich erst auf höhere L-DOPADosen anspricht und ein negativer L-DOPA-Test das
Störungen des autonomen Nervensystems
Vorliegen einer PD nicht sicher ausschliesst, sodass bei
Viele der betroffenen Patienten leiden an Störungen
klinisch dringendem Verdacht ein Behandlungsver-
des autonomen Nervensystems, die sich in Form von
such mit Levodopa über mehrere Monate (L-DOPA-
Obstipation, Blasenfunktionsstörung, orthostatischer
Trial) in jedem Fall zu empfehlen ist.
Hypotension, erektiler Dysfunktion, Hyperhi­
drosis
Der Einsatz von nuklearmedizinischen Techniken, die
und Speichelfluss manifestieren können.
Informationen über die Integrität des präsynaptischen,
Alltagsrelevant sind vor allem die Obstipation und die
nigrostriatalen Systems liefern (FP-CIT-SPECT und Fluo-
orthostatische Hypotension. Bei der Obstipation soll-
rodopa-PET), kann zur Differenzierung zwischen essen-
ten zunächst alle Medikamente reduziert oder abge-
tiellem Tremor und PD oder zum Ausschluss eines me-
setzt werden, die potenziell eine Obstipation ver-
dikamenteninduzierten Parkinson-Syndroms hilfreich
schlechtern können; hierzu zählen insbesondere die
sein. Eine sichere Unterscheidung zwischen einer PD
anticholinerge Medikation und auch die Dopaminago-
und einem atypischen PS ist durch diese Untersuchung
nisten. Wichtig ist eine regelmässige und ausreichende
allerdings nicht möglich. Hierzu können Verfahren zur
Flüssigkeitszufuhr, eine ballaststoffreiche Ernährung,
Darstellung der postsynaptischen Dopaminrezeptoren
und regelmässige körperliche Betätigung. Sollte eine
(IBZM-SPECT und Raclo­prid- oder Desmethoxyfallyprid-
abführende Medikation notwendig sein, wird am ehes-
PET) von Nutzen sein. In Anbetracht der Kosten und
ten der Gebrauch von Quellstoffen wie Macrogol emp-
meist fehlender therapeutischer Konsequenz sollten
fohlen.
diese Untersuchungen nur gezielt eingesetzt werden.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2017;17(20):448– 455
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.
See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
453
Übersichtsartikel AIM
Fremdanamnestische Angaben (Sprechen und Bewe-
Die retardierten Levodopa-Präparate (Madopar DR®
gungsunruhe im Schlaf, aus dem Bett fallen, lebhafte
oder Sinemet CR®) sollten nur zur Nacht eingesetzt
Albträume), die auf eine REM-Schlaf-Verhaltensstörung
werden, da die verzögerte gastrointestinale Aufnahme
hindeuten, können ein weiterer Hinweis auf eine neu-
von Levodopa dazu führt, dass Levodopa mit Nah-
rodegenerative Genese des PS (z. B. IPS oder MSA) geben
rungseiweissen um die gastrointestinale Resorption
und durch eine Polysomnographie erhärtet werden.
konkurriert, was die Bioverfügbarkeit reduziert und
Die Durchführung eines Schellong-Tests ist bei klini-
der erreichte Plasmaspiegel erratisch wird. Bei nicht
schen Hinweisen für eine autonome Störung oder bei
retardierten Präparaten lässt sich dies einfach ver­
Verdacht auf eine MSA indiziert. Pathologisch ist hier-
meiden, indem die Medikamenteneinnahme im Ab-
bei ein systolischer Blutdruckabfall von mehr als
stand von 30 min vor oder 60 min nach der Mahlzeit
20 mm Hg im Stehen.
erfolgt.
Bei Erkrankungsbeginn vor dem 50. Lebensjahr und
Zu Beginn der Erkrankung kann, insbesondere bei
­klinischem Verdacht auf Morbus Wilson sollte die Be-
­jüngeren und kognitiv unauffälligen Patienten eine
stimmung von Kupfer und Coeruloplasmin im Serum so-
Monotherapie mit Dopaminagonisten erfolgen. Dopa-
wie von Kupfer im 24-Stunden-Sammelurin erfolgen.
minagonisten wirken direkt an den striatalen Dopa-
Eine genetische Testung ist in der Regel bei Patienten
minrezeptoren. Der Vorteil dieser dem Neurotrans-
<40 Jahren empfehlenswert. Bei einem Erkrankungs­
mitter Dopamin ähnlichen Substanzen, ist die im
alter >40 ist die Ausbeute der genetischen Testung un-
Gegensatz zum L-DOPA längere Wirkdauer, bei den
ergiebig; ausser es besteht ein eindeutiger mendeli-
­Retardpräparaten ist nur eine einmalige Einnahme am
scher Vererbungsmodus wie zum Beispiel eine positive
Tag notwendig. Zudem kann durch den Therapie­
Familienanamnese.
beginn mit Dopaminagonisten und den dadurch
­späteren Einsatz von L-DOPA das Auftreten L-DOPA-­
Parkinsonkrankheit – Therapie
induzierter Dyskinesien verzögert werden. Der
Dopamin­agonist Rotigotin ist die einzige Substanz, die
Eine kausale Therapie des Morbus Parkinson ist bislang
zur transdermalen Applikation (Patch) zur Verfügung
noch nicht möglich, auch kennen wir bislang keine
steht. Das bietet nebst der potentiell kontinuierlichen
Therapien zur Prävention der Krankheit oder ihrer
Medikamentenapplikation auch Vorteile, wenn zum
Progression. Insbesondere in den ersten Jahren der Er-
Beispiel betont nächtliche Symptome bestehen oder
krankung lassen sich deren Symptome jedoch gut
wenn eine orale Applikation nur bedingt möglich ist
durch Medikamente und Bewegungstherapie beein-
(z.B. nach gastrointestinalen Operationen, Schluckstö-
flussen, was den Patienten eine gute Lebensqualität er-
rungen).
möglicht [5]. Da die Krankheitsprogression nicht durch
Dopaminagonisten können jedoch Nebenwirkungen
Medikamente zu beeinflussen ist, hängt der Beginn
auf das Verhalten haben, über die der behandelnde Arzt
­einer medikamentösen Therapie von den individuellen
den Patienten und insbesondere auch dessen Angehö-
Bedürfnissen des Patienten ab. Sie sollte aber nicht nur
rige im Vorfeld aufklären sollte. So können Impulskon­
die motorischen, sondern auch die autonomen, kogni-
trollstörungen wie Spielsucht, vermehrtes Risikover-
tiven und psychiatrischen Symptome sowie die kom-
halten, Kaufsucht, Sexsucht und Esssucht auftreten, die
munikativen Fähigkeiten berücksichtigen.
je nach Ausprägung schwerwiegende persönliche und
An Substanzen stehen aktuell L-DOPA-Präparate in
finanzielle Konsequenzen mit sich bringen können. Zu-
Kombination mit einem Decarboxylasehemmer oder
dem können durch Dopaminagonisten eine bei der
Dopaminagonisten zur Verfügung, daneben können
Parkinson-Erkrankung vermehrt auftretende Tages­
MAO-B-Hemmer eingesetzt werden und insbesondere
schläfrigkeit verstärkt und Beinödeme begünstigt
bei Tremor auch Anticholinergika.
­werden. Daneben kann ein sogenanntes «punding»
Zur Verlängerung der L-DOPA-Wirkung im fortge-
auftreten (zwanghafte Faszination und wiederholtes
schrittenen Stadium können Levodopa-Präparate zu-
Durchführen von Tätigkeiten wie Zusammen- und wie-
sätzlich mit COMT-Hemmern (Entacapon, Tolcapon)
der Auseinanderbauen, Sammeln oder Sortieren). Das
kombiniert werden. Levodopa plus Decarboxylase-
Auftreten dieser Nebenwirkungen ist individuell unter-
hemmer plus Entacapon ist in einem Kombinations-
schiedlich und dosisabhängig und wird oft unterschätzt
präparat erhältlich (Stalevo®). Bei der zusätzlichen
respektive nicht genügend exploriert. Diese neuropsy-
Gabe von Tolcapon zu Levodopa plus Decarboxylase-
chiatrischen Nebenwirkungen können das Nutzen/Ri-
hemmer muss aufgrund einer möglichen Hepatotoxi-
siko-Verhältnis zu Ungunsten der Dopaminagonisten
zität in der Umstellungsphase eine engmaschige Kon­
kippen, sodass der frühe Einsatz von L-DOPA durchaus
trolle der Transaminasen erfolgen.
auch bei jüngeren Patienten zu bevorzugen ist.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2017;17(20):448– 455
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.
See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
454
Übersichtsartikel AIM
Bei fortgeschrittener Erkrankung ist eine alleinige
Magenentleerung. Aufgrund der hohen Therapiekos-
Therapie mit Dopaminagonisten jedoch nicht mehr
ten und des technischen Aufwands kommt diese Thera-
ausreichend, sodass eine Kombinationstherapie von
pieform vor allem bei starken Wirkungsfluktuationen
Levodopa-Decarboxylasehemmer und Dopaminago­
unter den peroralen Substanzen zum Einsatz.
nisten notwendig wird. Bei Beginn der L-DOPA-Thera-
Apomorphin ist ein subkutan via Pen oder kontinuier-
pie ist meistens ein Einnahmeintervall von 5 Stunden
lich via Pumpe applizierbarer kurz wirksamer Dopa-
und drei Einnahmedosen ausreichend. Mit zunehmen-
minagonist. Es wird angewandt bei nicht einsetzbarer
der Neurodegeneration werden jedoch kürzere Ein-
oraler Medikation oder wenn die orale Medikation die
nahmeintervalle notwendig, da die Wirkdauer der Ein-
Symptome wie schwere oder akut einsetzende und
zeldosen abnimmt. Durch die Kombination mit einen
schmerzhafte «off»-Perioden oder Dystonien nicht
COMT-Hemmer kann die Wirkdauer etwas verlängert
kontrollieren kann.
werden.
Bei abnehmender Wirkdauer von L-DOPA, sehr häufigen
Mit fortschreitender Neurodegeneration nimmt die
Einnahmefrequenzen, intolerablen Dyskinesien oder
Empfindlichkeit der verbliebenen Neuronen auf schwan-
ausgeprägten, schmerzhaften Blockaden, die medika-
kende Levodopa-Plasmaspiegel zu, sodass es vor allem
mentös nicht ausreichend zu unterdrücken sind, kann
beim Erreichen des Wirkungspeaks zu Überbewegun-
der Einsatz einer Tiefen Hirnstimulation (DBS, «deep
gen, sogenannten Dyskinesien, kommt (Peak-Dose-
brain stimulation») evaluiert werden. Hier ist die ad-
Dyskinesien). Eine günstige Massnahme kann hier
äquate Patientenselektion ein für den Erfolg ganz ent-
sein, die Einzeldosen zu reduzieren und die Einnahme-
scheidender Faktor.
frequenzen zu erhöhen.
Beim Morbus Parkinson sind hierbei drei Zielgebiete
Regelmässiges Bewegungstraining (>150 min / Woche)
etabliert. Junge (<70 Jahre), psychiatrisch unauffällige
führt auch im Langzeitverlauf und unabhängig von der
und kognitiv nicht eingeschränkte Patienten, die un-
Krankheitsdauer zu einer Verbesserung von Lebens-
ter L-DOPA keine oder nur minimale axiale Symptome
qualität, Beweglichkeit und Selbständigkeit sowie einer
zeigen, profitieren am ehesten von einer tiefen Hirn-
Verlangsamung der Krankheitsprogression und des ko-
stimulation im Nucleus subthalamicus (STN).
gnitiven Abbaus. Ein individuell angepasstes modera-
Beim tremordominantem Parkinson-Syndrom, insbe-
tes Bewegungstraining mehrmals die Woche ist daher
sondere im höheren Lebensalter ist der Nucleus ven­
in jedem Krankheitsstadium sehr zu empfehlen.
tralis intermedius (VIM) eine gute Option. Die häufig
Mit dem weiteren Fortschreiten der Erkrankung kön-
zur Tremorkontrolle nötigen hohen L-DOPA-Dosen
nen sogenannte biphasische Dyskinesien auftreten.
können postoperativ deutlich reduziert werden, wo-
Beim Über- oder Unterschreiten eines gewissen Plas-
mit auch die beim älteren Patienten häufig störenden
maspiegels kommt es zu unkontrollierten ausfahren-
Nebenwirkungen der L-DOPA-Therapie wie Blutdruck-
den, brüsken und teilweise schmerzhaften Bewegun-
regulationsstörungen und Halluzinationen ebenfalls
gen. Die sogenannten biphasischen Dyskinesien lassen
reduziert werden können.
sich unterdrücken, indem der Plasmaspiegel dauerhaft
Die Stimulation im Globus pallidus internus (GPi) hat
oberhalb des kritischen Niveaus gehalten wird (Dosis-
ebenfalls einen günstigen Effekt auf die motorischen
steigerung).
Parkinsonsymptome, dieser ist jedoch weniger ausge-
Der N-Methyl-D-Aspartat(NMDA)-Antagonist Amanta-
prägt als bei der Stimulation im STN. Daher kann bei
din ist einerseits antihypokinetisch wirksam, zusätzlich
einer GPi-Stimulation die L-DOPA-Dosis postoperativ
reduziert er für eine gewisse Zeit L-DOPA-induzierte
nur wenig reduziert werden. Die Gefahr von postope-
Dyskinesien. Bei kognitiv eingeschränkten Patienten
rativen Verhaltensauffälligkeiten und Verschlechte-
sollte jedoch auf die Gefahr von Halluzina­tionen, ins-
rung des Gangbildes ist bei der Stimulation im GPi
besondere bei abendlicher Gabe, geachtet werden.
­geringer, zudem unterdrückt die Stimulation im GPi
Ebenso ist wegen der Gefahr der QT-Zeit-Verlängerung
sehr gut die störenden Dyskinesien.
bei kardialen Patienten die entsprechende Vorsicht ge-
In den ersten Wochen nach der Operation sind regel-
boten. Amantadin ist das einzige Präparat, das intrave-
mässige Kontrollen und Anpassungen der Stimulation
nös gegeben werden kann.
wichtig, einerseits um den abklingenden Läsionseffekt
Die kontinuierliche intrajejunale Levo-DOPA-Infusion
(Symptomreduktion alleine durch das perifokale
via perkutane gastrojejunale Sonde über eine Pumpe
Ödem im Zielgebiet) abzufangen und die Therapie ent-
(«levodopa-carbidopa intestinal gel» [LCIG]) hat den
sprechend anzupassen, andererseits auch um frühzei-
Vorteil der kontinuierlichen L-DOPA-Plasmaspiegel,
tig Komplikationen wie zum Beispiel Verhaltensauffäl-
das heisst keine pulsatile Rezeptorstimulation, sowie
ligkeiten zu erkennen und entsprechende Massnahmen
der Unabhängigkeit der Medikamentenzufuhr von der
treffen zu können.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2017;17(20):448– 455
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.
See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
455
Übersichtsartikel AIM
Verschiedene NMS sind ebenfalls einer Therapie zu-
Befall extrazerebraler, gastrointestinaler Neurone
Prof. Dr. med.
gänglich, besonders sei auf die Depression hingewiesen.
nahe und haben die histopathologische Ausbreitung der
Mathias Sturzenegger
Es ist wichtig, eine Depression, die bei PD gehäuft auf-
«Lewy bodies» im Zeitverlauf korrelierend mit der kli­
tritt, als solche zu erkennen und nicht einfach der Par-
nischen Symptomatik aufgezeigt. Diese neuen Erkennt-
kinsonkrankheit zu subsummieren. Die Depression
nisse wecken Hoffnungen hinsichtlich einer ­Primär-
beim M. Parkinson kann und soll gezielt und erfolg-
oder Sekundärprävention der PD. Dass genetische
CH-3010 Bern
reich behandelt werden (z.B. mit SSRI oder SNRI, z.B.
Faktoren eine Rolle spielen, zeigen epidemiologische
matthias.sturzenegger[at]
Venlafaxin, Citalopram), da dies die Lebensqualität der
Studien klar auf; wie aber diese bei der überwiegenden
Patienten entscheidend verbessert.
Zahl (ca. 95%) der nicht monogenetischen PD-Fälle ins
Korrespondenz:
Chefarzt und Stv. Klinik­
direktor
Neurologische
Universitätsklinik
Inselspital Bern
insel.ch.
Spiel kommen und über welche (metabolischen) MeZusammenfassend ist der Morbus Parkinson heute
chanismen, muss noch geklärt werden [4]. Man geht
eine weiterhin nicht heilbare, aber doch über lange
heute von einer Vielzahl möglicher Ursachen der PD
Zeit sehr gut behandelbare Erkrankung. Da bislang
aus, die beim individuellen Patienten unterschiedlich
keine Hinweise auf eine mögliche Verzögerung der
kombiniert sein können. Daraus ist abzuleiten, dass es
Krankheitsprogression durch medikamentöse Mass-
wohl schwierig werden könnte, kausale Therapien zu
nahmen bestehen, sollte bezüglich Therapiebeginn
finden. Somit sind berechtigterweise viele Forschungs-
und Therapieanpassung immer das individuelle Be-
anstrengungen auf restorative Therapiemethoden aus-
dürfnis des Patienten im Vordergrund stehen.
gerichtet. Hier ist von Seiten der Stammzellforschung
mit dem Ziel des Ersatzes der verlorenen dopaminer-
Ausblick
gen und anderer Neurone einiges zu erwarten. Mit
dem Ziel einer krankheitsmodifizierenden Behand-
Anatomisch-pathologische Studienbefunde aus Lang-
lung werden aktuell aktive und passive Immunisie-
zeituntersuchungen der letzten Jahre legen den frühen
rung gegen α-Synuclein und Inhibitoren oder Modulatoren der α-Synuclein-Aggregation in klinischen Studien
Das Wichtigste für die Praxis
• Vor jeder Therapie steht die korrekte Diagnose. Entscheidend für Therapieerfolg und Prognose ist die Abgrenzung des idiopathischen von sekun-
evaluiert [5].
Verdankung
Wir danken Frau Dr. med. Daniela Wiest, Fachärztin für Neurologie in
Biel, für die kritische Durchsicht des Manuskripts.
dären (symptomatischen) und anderen neurodegenerativen (atypischen)
Parkinsonsyndromen.
• Die Therapie der motorischen Symptome ist in den ersten Jahren sehr
effizient («honey moon»); sie umfasst Pharmako- und Bewegungstherapie.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Die Wahl von Medikation und Dosis muss individuell erfolgen und beurteilt werden.
• Die nicht motorischen Symptome (NMS) können für die Beeinträchtigung
der Lebensqualität dominieren und sollen gezielt erfasst und auch behandelt werden. Besonders sei hier die Depression erwähnt.
• Parkinsonpatienten sollten vom Fachneurologen erstdiagnostiziert und
bezüglich Therapieerfolg mitbeurteilt werden.
• Bei ungenügendem Therapieansprechen oder Effizienzverlust im Verlauf
sowie bei Therapiekomplikationen müssen eventuell invasive Therapiemassnahmen erwogen werden. Dazu soll eine Beurteilung in einem
Zentrumsspital mit diesbezüglichem Angebot erfolgen.
Literatur
1 Lee A, Gilbert RM. Epidemiology of Parkinson Disease.
Neurol Clin. 2016;34(4):955–65.
2 Postuma RB, Berg D, Stern M, Poewe W, Olanow CW, Oertel W,
et al. MDS clinical diagnostic criteria for Parkinson’s disease.
Mov Disord. 2015;30(12):1591–601.
3 Christopher W. Hess, Michael S. Okun. Diagnosing Parkinson
Disease. Continuum (Minneap Minn) 2016;22(4):1047–63.
4 von Coelln R, Shulman LM. Clinical subtypes and genetic
heterogeneity: of lumping and splitting in Parkinson disease.
Curr Opin Neurol. 2016;29(6):727–34.
5 Oertel W, Schulz JB. Current and experimental treatments of
Parkinson disease: A guide for neuroscientists. J Neurochem.
2016;139Suppl1:325–37.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2017;17(20):448– 455
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.
See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Herunterladen