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Gesellschaft, Politik und Handel im Spannungsfeld zwischen Preis und Qualität
100 Jahre Coop Zentrallabor, 30. September 2005, Kongresszentrum Basel
Es gilt das gesprochene Wort
Udo Pollmer
Eppinger Str. 4
D-75050 Gemmingen
Tel 0049-7267-911180
Fax 0049-7267-911181
Referat von Udo Pollmer, Europäisches Institut für Lebensmittel- und
Ernährungswissenschaften e.V.
Kann denn Messen Sünde sein?
Wie sich die Zeiten ändern! Wie groß war einst die Freude des analytischen Chemikers, wenn
es ihm gelungen war, einen bisher unbekannten Spurenstoff in Nahrung oder Umwelt
nachzuweisen. Für ihn galt: Gefahr erkannt – Gefahr gebannt. Heute zeigt sich auf dem Gesicht
der Kollegen immer seltener ein triumphierendes Lächeln, nein ihnen stehen inzwischen die
Schweißperlen auf der Stirn: Was ist, wenn Journalisten davon Wind bekommen? Wenn die
Zeitung darüber berichtet, vielleicht sogar das Fernsehen? Ein Experte, der den fraglichen Stoff
vor laufender Kamera als „möglicherweise krebserzeugend“ bezeichnet, ist schnell gefunden.
Anschließend warnt der Reporter vor „ungeklärten Restrisiken“ und fordert „strenge
Grenzwerte“. Dazu gibt's noch ein paar praktische Verbrauchertipps, was man fürderhin nicht
mehr essen sollte.
Fazit: Je fleißiger, je engagierter die Analytiker, desto sicherer die Produkte. Und desto
schlechter die Presse! Und desto größer die Angst des Konsumenten vor dem Inhalt seines
Kühlschranks. Allerdings wäre es ungerecht, allein den „sensationslüsternen“ Medien die
Schuld in die Schuhe zu schieben. Sie scheuen nichts mehr als eine Neuigkeit, die nicht ins
politisch korrekte Weltbild paßt oder zu komplex ist, als daß man sie in wenigen Sätzen erklären
könnte. Viele Skandale entstehen erst durch die Reaktion des Publikums: Klassisches Beispiel
ist die BSE-Krise. Die meisten Journalisten waren damals davon überzeugt, daß das Thema
innerhalb weniger Tage erledigt sei. Das Publikum belehrte sie eines Besseren. BSE machte in
Deutschland fast ein halbes Jahr lang Schlagzeilen – ganz gegen den Willen der
Medienmacher. Die Journalisten haben einen Stein ins Wasser geworfen – und es schlug ihnen
eine Flutwelle entgegen.
Ähnliches trug sich im Falle von Acrylamid zu. Als im Jahr 2000 die ersten eindeutigen
Ergebnisse vorlagen, daß beim Erhitzen von Lebensmitteln Acrylamid entsteht und das dieses
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im Blut der Bevölkerung nachgewiesen werden kann, interessierte sich noch niemand dafür.
Das sollte sich erst zwei Jahre später ändern, als die zuständige schwedische Behörde die
Öffentlichkeit darüber informierte, daß jetzt Gefahr im Verzug sei. Die Warnung stieß auf
fruchtbaren Boden. Einige Politiker nutzten die Chance, um sich nach dem vergeigten BSEKrisenmanagement wieder als Hort des Verbraucherschutzes darzustellen. Und jeder
Medienprofi weiß, daß ein Stoff mit einem Ypsilon drin dem Bürger akute Gefahr signalisiert.
Auch hier waren Teile der Öffentlichkeit von der Story entzückt: Acrylamid war Wasser auf die
Mühlen all jener, die schon immer ahnten, dass sich Eßsünden eines Tages rächen würden,
denen die Freude am Essen stets suspekt war. Sünde fordert Strafe, bei Eßsünden Strafe in
Form von Zivilisationskrankheiten. Endlich gab es einen „objektiven“ Grund, warum Pommes
„ungesund“ sind. Denn der sprichwörtliche Fettgehalt handelsüblicher Fritten taugte dafür nicht.
Er entspricht etwa einem Butterbrot. Endlich konnte man guten Gewissens den Zeigefinger
gegen seine Kinder erheben und ihnen eine Leibspeise vermiesen. Hatten die Wissenden nicht
jahrelang gepredigt, doch Gesundes zu mümmeln wie Knäckebrot oder Magerquark oder
Radieschen?
Doch dann sickerte durch, dass ausgerechnet Sesam-Knäcke noch stärker belastet ist als
Pommes. Aber statt konsequent vor Knäcke zu warnen, verstummten die Kassandra-Chöre der
Verbraucherschützer – nicht zuletzt weil ihr Flaggschiff einer gesunden Kost, – Knäcke mit
Magerquark und Radieschenscheiben, „gesund“ bleiben sollte. Sie meldeten sich erst wieder zu
lautstark zu Wort, als es Bratkartoffeln und Rösti erwischt hatte. Ihre Acrylamidgehalte
übertrafen sogar den bisherigen Spitzenreiter Sesam-Knäcke. Da konnte man auch noch seiner
besseren Hälfte ins Gewissen reden, endlich statt sättigender Kartoffelgerichte Salat zu essen.
Labil wurde die Lage vor Weihnachten, als in Vanillekipferln und Lebkuchen wiederum höhere
Gehalte als in Röstis entdeckt worden waren. Doch als die Not am größten, wuchs das
Rettende: Das deutsche Verbraucherministerium gab „Entwarnung“. Nicht weil die Gefahr
gebannt war, sondern weil Weihnachten vor der Tür stand. In dieser Zeit müssen sich auch die
Regierenden der Herrschaft des Marktes beugen. Deshalb wird traditionell bei
Lebensmittelskandalen Anfang Dezember entwarnt. Es wurde nur zu gern geglaubt. Wollte man
die amtliche Entwarnung wirklich ernst nehmen, so kann sie nur bedeuten, daß Acrylamid mit
steigender Dosis harmloser wird.
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Wie brisant ist Acrylamid wirklich? Unter den toxikologischen Daten stehen drei Wirkungen im
Vordergrund: Acrylamid wirkt zuallererst neurotoxisch, ein Effekt, der jedoch reversibel ist. An
zweiter Stelle steht die Gewichtsabnahme. Schlank durch Rösti? Das hat uns gerade noch
gefehlt. Da verwiesen die Aufklärer lieber darauf, daß Acrylamid im Tierversuch Krebs auslöst.
Genauer gesagt in einer Dosis, die um Zehnerpotenzen über den Gehalten in Essen liegt. Es
stimmt natürlich, dass es für viele Kanzerogene keinen unbedenklichen Schwellenwert gibt.
Aber bitte bedenken Sie dabei, daß etwa vier von zehn getesteten Stoffen in irgendeinem
Testsystem cancerogen sind. Das gilt nicht nur für die Produkte der chemischen Industrie,
sondern gleichermaßen auch für Naturstoffe. Damit ist auch jeder Apfel und jedes Salatblatt
hundertfach cancerogen.
Bruce Ames, der Erfinder des weltweit angewandten Ames-Tests zur Mutagenitätsprüfung von
Stoffen, fand bei einer systematischen Auswertung der Literatur heraus, daß von 392
cancerogenen Substanzen 96 entweder nur bei der Maus oder nur bei der Ratte cancerogen
wirkten – dabei sind diese Nagerarten untereinander viel enger verwandt als mit dem
Menschen. Insgesamt fand Ames bei Nagern Empfindlichkeitsunterschiede, die bis zu einem
Faktor 107 reichten. Das heißt, die riskante Dosis schwankte je nach Nager um das
Zehnmillionenfache. Sie sehen, welcher Spielraum zur Interpretation analytischer Daten bleibt.
So läßt sich nicht nur jede Rösti, sondern auch jedes Radieschen dämonisieren.
Deshalb müssen wir uns der Frage stellen, wie krebserregend ist Acrylamid in Rösti für den
Menschen? Dazu liegen inzwischen drei Studien vor:
Nr. 1: Wer Zeit seines Lebens reichlich Acrylamidhaltiges gespeist hatte, erkrankte seltener an
Darmkrebs als der, der sich solche Genüsse stets versagt hatte. Bei den anderen Krebsarten
des Verdauungstraktes gabs keine Unterschiede. Fazit: Ob’s wirklich vor Darmkrebs schützt,
läßt sich nicht sicher sagen, aber eine große Gefahr stellt es nicht dar.
Nr. 2: Diesmal mit 10000 Probanden (auch aus der Schweiz). Getestet wurden nur
Kartoffelprodukte wie Chips, Rösti, Pommes usw. Egal, wie man die Statistiken auch drehte und
wendete, es kam nichts Greifbares dabei heraus.
Im Mai 2005 folgte die jüngste Studie: Diesmal galt sie dem Brustkrebs. Auch hier fand sich
kein Zusammenhang.
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Warum ist ein krebserregender Stoff auf einmal harmlos? Ganz einfach deshalb, weil beim
Frittieren, Backen, Kochen eines Lebensmittels unendlich viel mehr passiert als nur die Bildung
von Acrylamid. Unter den neugebildeten Substanzen sind nicht nur krebserregende, sondern
gleichermaßen auch krebsschützende. Es ist also gar nicht so einfach, die „guten“ von den
„bösen“ zu unterscheiden. Als im Rahmen der Acrylamidangst weitere Röstprodukte auf ihre
Cancerogenität untersucht wurden, gabs ein unerwartetes Ergebnis: Die meisten der
untersuchten Maillard-Verbindungen schützten vor Krebs. Ja der Krebsschutz war umso
stärker, je dunkler die Pommes waren. Wir haben also Grund für die Befürchtung, daß die
Maßnahmen zur Senkung der Acrylamidbelastung womöglich zu einer Erhöhung des
Krebsrisikos beitragen werden.
Acrylamid ist so alt wie die Menschheit. Es entstand schon, als sich unsere Vorfahren auf ihrer
Feuerstelle ein Fladenbrot buken. Es ist also ziemlich egal, ob wir uns von heute auf morgen
entscheiden, diesen Stoff zu verteufeln – oder ob wir zunächst unsere toxikologischen
Hausaufgaben machen. Dazu gehört als Minimum, einfach einmal Pommes mit Mayo an Ratten
zu verfüttern oder Chips mit Cola an Mäuse – also die Folgen eines komplex
zusammengesetzten Lebensmittels zu testen und nicht die nur eines einzigen ausgewählten
Stoffes. Solche Versuche fehlen aber bei Lebensmitteln generell. Praktisch alle Aussagen
basieren auf Untersuchungen mit hochdosierten Einzelstoffen an Käfignagern. Was für
arbeitsplatztoxikologische Überlegungen gut ist, wird bei komplexen Lebensmitteln zur reinen
Spekulation. In Sachen Acrylamid haben wir nicht aktiven Verbraucherschutz betrieben,
sondern den Bürger ohne Not verunsichert. Wir haben ihm das Gefühl gegeben, daß ihn das
Speisenangebot krank macht, ja daß er den Verzehr eines Schweizer Grundnahrungsmittels mit
dem Krebstod büßen müsse.
Meine Damen und Herren, dies zeigt, welche Brisanz in den analytischen Daten liegt. Und wie
durch falsch verstandenen Verbraucherschutz Gefahren heraufbeschworen werden, zu deren
Vermeidung die Analytiker eigentlich angetreten waren. Die Crux liegt in der Bewertung der
Daten. Sie hängt inzwischen weniger davon ab, ob sie von Fachleuten, Journalisten oder
Konsumenten vorgenommen wird, sondern von der Angst, dem Opportunismus und vor allem
vom Zeitgeist. Und der sagt: Alle „künstlichen“ Stoffe sind giftig, während Mutter Natur es mit
ihren heilenden Salatkräutern schon richten wird, solange man nur genug davon ißt.
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Dieser Mythos ist auf dem Gebiet der Lebensmitteltoxikologie von erheblichen Risiken gesäumt.
Ein Beispiel: Als Toxikologen handelsübliche Rohkost den gleichen Toxicitätstests unterwarfen,
die auch Pflanzenschutzmittel bestehen müssen, erlebten sie eine böse Überraschung: Sie
sehen: Vor allem Soja und Brokkoli haben ausgeprägte toxische Eigenschaften, die eine
Zulassung als Pflanzenschutzmittel doch infrage stellen.
Was sind das für geheimnisvolle Stoffe? Hier im Brokkoli z.B. das Indol-3-Carbinol: es wirkt
etwa so wie TCDD, also das berüchtigte Sevesogift „Dioxin“. Oder um ein anderes Beispiel
anzuführen, das Methyleugenol. Es ist ein natürlicher Aromastoff, der vor allem in Basilikum
vorkommt. Der Stoff steht nicht im Verdacht, eventuell doch mal Krebs zu verursachen, sondern
ist definitiv ein „hartes“ Cancerogen. Es ist, um eine einschlägige Publikation zu zitieren ein
„multisite“ und „multispecies“ Cancerogen. Der (theoretische) Sicherheitsabstand ist hier viel
geringer als beim Acrylamid.
Auch das ist noch kein Grund zur Panik. Schließlich hat man sich immer wieder gewundert,
warum der aus Tierexperimenten vorhergesagte Krebs beim Menschen nicht eingetreten ist.
Beispiele dafür sind Lysinoalanin, PhIP, Trp-P-2 oder die PAK. Mit unserer Nahrung nehmen
wir beispielsweise Tag für Tag so viel Benzpyren auf, wie im Rauch von 100 Zigaretten
enthalten ist. Stellen Sie sich mal die Schlagzeile vor: Gemüse krebserregender als
Glimmstengel! Würde man die Folgen eins zu eins übertragen, dann müßte das belastete
Gemüse statt zu Lungenkrebs und Raucherbein zu Magenkrebs und „Gemüsebeinen“ führen.
Tut es aber nicht. Inzwischen wissen wir, daß eine Reihe von Lebensmittelinhaltsstoffen bzw.
Zutaten wie beispielsweise Senf zur Wurst die Schädlichkeit des Benzpyrens zumindest im
Versuch komplett aufhebt.
Meine Damen und Herren, wir haben zwar in den letzten Jahrzehnten gewaltige Fortschritte in
der Analytik zu verzeichnen, aber bei der Bewertung der Ergebnisse lassen wir uns nach wie
vor von archaischen Ängsten vor Eßsünden leiten sowie dem Zeitgeist, der die Giftigkeit überall
dort wittert, wo das Wort „synthetisch“ aufscheint. Auf der anderen Seite gilt: Wer ständig
erzählt, daß alles geprüft und damit sicher und harmlos sei, schafft gleichermaßen eine
gefährliche Erwartungshaltung.
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Wer Lebensmittel herstellt, kann diese Sicherheit aber niemals bieten, einfach deshalb, weil
unsere Nahrungsmittel überwiegend von Lebewesen – egal ob Pflanze oder Tier - gewonnen
werden. Dies sind komplexe Systeme, deren Wirkung gerade nicht aus der Summe ihrer Teile
abgeleitet werden kann. Überall wo Leben ist, gibt es Risiken – diese Unberechenbarkeit gehört
untrennbar zum Wesen alles Lebendigen. Das bedeutet aber auch, daß sich nicht nur in
Nahrungsmitteln „Restrisiken“ befinden können, sondern gleichermaßen auch in der Biologie
des Menschen selbst. Da wir Individuen sind, da sich jeder Mensch vom anderen unterscheidet
– und zwar ganz besonders in Sachen Entgiftung von Fremdstoffen -, kann es eigentlich kaum
einen Inhaltsstoff geben, der für jedermann harmlos ist. Denken Sie doch nur an die
Laktoseintoleranz oder die Fructosemalabsorption. Für die Betroffenen wird dann Milch oder
Obst zum gesundheitlichen Risiko. Alle anderen können beides mit Genuß essen. Diese
Unterschiede sind aus evolutionsbiologischen Gründen für die Menschheit überlebenswichtig
und sollten um Himmels willen nicht leichtfertig per „Gentechnik“ repariert werden.
Solange wir die Lebensmittelproduktion mit der Erfassung analytischer Kenndaten begleiten,
um Verfälschungen aufzudecken oder Rückstände ausfindig machen, sind wir auf der sicheren
Seite. Wenn wir sie aber mißbrauchen, um politisch opportune Sicherheitsversprechen für
jedermann abzugeben, oder sie als Mittel einer ideologisierten Ernährungsaufklärung einsetzen,
ist Gefahr im Verzug. Wir sollten dem Verbraucher reinen Wein einschenken und auch den Mut
haben, einzugestehen, daß es die von ihm erwartete Sicherheit nicht geben kann, sondern dass
sie Tag für Tag aufs Neue errungen werden muß – und daß diese Sicherheit auch Geld kostet.
Dann wird der Konsument auf Meldungen à la Acrylamid in Rösti nicht mehr mit Panik, sondern
mit aufmerksamen Schmunzeln regieren.
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