Die australische Realität

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T H E M E N
D E R
Z E I T
Fallpauschalen
Die australische Realität
Die deutschen DRGs entstanden nach dem Vorbild Australiens.
Dort aber wird nur ein geringer Teil der Leistungen nach Pauschalen abgerechnet. Kodieren ist keine ärztliche Aufgabe.
Nikolaus Haas*
D
as Fallpauschalensystem (Diagnosis Related Groups,DRGs) belastet
die tägliche Arbeit von Ärztinnen
und Ärzten im stationären Sektor. Die
nach „australischem System“ entwickelten DRGs entfalten eine enorme Eigendynamik und beeinflussen die Krankenhauswelt maßgeblich. DRG-Visiten, Abrechnungsmeetings oder eigens
zur Kodierung abgestellte Oberärzte
gehören zum deutschen Klinikalltag, um
eine leistungsgerechte Abbildung der
Leistungen zu ermöglichen. In Australien – dem Vorbild für das deutsche
DRG-System – sieht die Realität jedoch
anders aus: Eine direkte Einbindung der
Ärzte in die Fallpauschalen und Kodierung gibt es dort nicht.
Die Vergütung stationärer Aufenthalte erfolgt in keinem der acht australischen Bundesstaaten ausschließlich
über die Pauschalen. Es ist zwar in Australien gesetzlich vorgeschrieben, für alle Krankenhauspatienten bei Entlassung eine Diagnose zu kodieren. Allerdings läuft nur ein Teil der Finanzierung
über die DRGs, ansonsten erfolgt die
Abrechnung anhand „historischer Budgets“. Die Situation in den Staaten ist
dabei uneinheitlich. „Das australische
System“ gibt es folglich nicht.
Die Bundesstaaten unterscheiden
sich in ihren Abrechnungsmodalitäten.
Im Staat Victoria mit rund fünf Millionen Einwohnern und der Großstadt
Melbourne sowie in South Australia mit
etwa 2,5 Millionen Menschen läuft die
Abrechnung stationärer Leistungen zu
etwa 60 Prozent anhand der DRGs. Der
übrige Teil ist von den Fallpauschalen
ausgenommen. Darunter fallen die
*Der Autor
war von Ende 2002 bis Anfang 2006 Leiter einer pädiatrischen Intensivstation in Brisbane, Australien.
Krankenhausambulanzen, spezialisierte
Servicedienste, die auch krankenhausübergreifende Dienstleistungen anbieten (zum Beispiel Humangenetik) oder
auch hoch spezialisierte Programme
(beispielsweise Dialyse). Die Abrechnung komplexer Fälle, etwa der Intensivpatienten, erfolgt in South Australia
anhand eines Tagessatzmodells. Ansonsten wäre keine adäquate Finanzierung
möglich. Weiterhin sind die meisten
pädiatrischen Zentren in diesen beiden
Bundesstaaten aus den Fallpauschalen
ausgenommen, da diese im DRG-System nur unzureichend abgebildet sind.
Unterschiede in den
Bundesstaaten
In New South Wales mit der Metropole
Sydney leben etwa sieben Millionen
Menschen. Die Abrechnungssituation
stellt sich hier ganz anders dar. Die Verteilung des Gesundheitsetats funktioniert nach einem komplizierten Verteilungsmuster auf acht Verwaltungsbezirke. Berücksichtigt werden dabei unter
anderem das Alter der Population, Daten des Vorjahres und geographische
Besonderheiten. Ein ähnliches System
gilt in Western Australia (rund zwei Millionen Einwohner) und dem Australian
Capital Territory (etwa 500 000 Einwohner) mit der Hauptstadt Canberra.
Hier wird allerdings vermehrt mit den
„historischen Budgets“ gearbeitet. Die
Abrechnung medizinischer Leistungen
für die rund vier Millionen Menschen
im Bundesstaat Queensland sowie Tasmanien (etwa 300 000 Einwohner) und
den Northern Territories (Einwohnerzahl rund 400 000) wird ausschließlich
mit historischen Budgets gemeistert.
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⏐ Heft 25⏐
⏐ 23. Juni 2006
Deutsches Ärzteblatt⏐
Somit erfolgt für die Mehrheit der etwa 19 Millionen Australier die Finanzierung eines Krankenhausaufenthaltes
anhand von historischen Budgets. Die
Kosten des Vorjahres werden mit den
erbrachten Leistungen verglichen, die
Planung für das folgende Jahr eingebracht und dementsprechend ein Zuwachs des Budgets eingefordert.
Doch es gibt noch weitere Unterschiede: In deutschen Krankenhäusern
ist es die Regel, dass Ärzte für die Verschlüsselung der Diagnosen verantwortlich sind. Das ist in Australien
grundsätzlich nicht der Fall. Vielmehr
ist das Analysieren der Daten und Kodieren der Patientendiagnosen und
Therapien durchweg eine nichtärztliche
Tätigkeit. Die Kodierung der Fälle erfolgt anhand der Akten nach Entlassung der Patienten. Sie wird von professionellen Kodierern vorgenommen.
Diese verfügen entweder über eine einjährige Ausbildung in medizinischer Terminologie (Clinical Coders) oder haben
sich als „Medical Health Information
Management Officers“ qualifiziert. Die
Kodierer durchforsten die Akten und
geben die DRGs anhand der Aktenlage
in das Computersystem ein. Ein Feedback zu den behandelnen Ärzten oder
Rückfragen zur Plausibilität erfolgen
nicht. Wer einen australischen Arzt danach fragt, wird Kopfschütteln ernten
und die Frage: „Was haben wir denn damit zu tun? Das ist Verwaltungssache.“
Eine Situtation wie in Deutschland
würde vermutlich seitens der australischen Ärzteschaft nicht akzepiert.
Kodiert wird in Australien nicht nur
zu Abrechnungszwecken, sondern auch
aus statischen Gründen. Ein Beispiel: In
einem Zentrum soll eine neue Therapie
angeboten werden, durch die mehr Ko-
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besuch eine Gebühr – je nach Behandlung zwischen 40 und 60 australische
Dollar (etwa 25 bis 35 Euro). Dieser Betrag wird teilweise von Medicare übernommen, derzeit rund 28 Dollar (etwa
17 Euro). Zwar gibt es auch in Australien eine Gebührenordnung (Medicare
Schedule of Fees Book), doch viele
Ärzte verlangen von Kassenpatienten
eine höhere Bezahlung für diagnostische und therapeutische Prozeduren als
in dem Katalog ausgewiesen. Für die
Medikamente existiert eine Positivliste.
Sie ist im „Pharmaceutical Benefit
Scheme“ dokumentiert und wird regelmäßig durch ein Expertengremium
bewertet. Nicht gelistete Arzneimittel
bezahlt Medicare nicht.
Die Finanzierung der öffentlichen
Krankenhäuser erfolgt auf dualer Basis:
Einerseits wird ein Teil der Kosten durch
die australische Regierung (Medicare
und Steuern) finanziert, der zweite Teil
ist Sache der einzelnen Bundesstaaten
(Steuern). Um die Verteilung des öffentFoto: Peter Wirtz
sten entstehen. Die mittels Kodierung
erfassten Fälle liefern den Krankenhäusern eine Argumentationshilfe für die
alljährliche Verhandlung der Budgets.
In Australien existiert ein gutes öffentliches Gesundheitswesen, das einen
Großteil der Kosten übernimmt. Doch
die Politik der australischen Regierung
zielt immer mehr darauf ab, die öffentliche Versorgung einzuschränken und die
Krankenkassenleistungen zu reduzieren.
Diese Entwicklung ist nicht ohne Folge
geblieben: Etwa 30 Prozent der Australier sind privat krankenversichert.
Jeder berufstätige Australier bezahlt
1,5 Prozent seines Bruttolohns in die öffentliche Gesundheitskasse „Medicare“.
Dieser Beitragssatz erscheint zunächst
einmal sehr gering.Allerdings deckt Medicare viele Leistungen nicht ab. Finanziert werden ärztliche Leistungen und
Physiotherapie. Grundsätzlich nicht
übernommen werden zahnärztliche Leistungen. Voll abgesichert über Medicare
ist jedoch die stationäre Versorgung in
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Für australische Ärzte
unvorstellbar: In
Deutschland verbringen
Krankenhausärzte
einen großen Teil ihrer
Arbeitszeit mit dem
Kodieren.
öffentlichen Krankenhäusern. Diese
werden von den Bundesstaaten unterhalten. Die zahlreichen privaten Kliniken sind von der finanziellen Unterstützung des Medicare-Systems ausgenommen und folgen marktwirtschaftlichen
Überlegungen. Bietet aber ein privates
Krankenhaus eine Basisversorgung in
einem Gebiet an, in dem es kein öffentliches Krankenhaus gibt, erhält es Zuschüsse aus dem öffentlichen Budget.
Die ambulante ärztliche Versorgung
ist nur teilweise über Medicare abgedeckt. Der Patient zahlt bei einem Arzt-
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lichen Budgets wird alljährlich heftig gestritten, und es erfolgt prinzipiell eine
Festlegung anhand des bereits erwähnten „historischen Budgets“. Der Zuschuss der Bundesstaaten zu den Budgets ist ebenfalls stets Diskussionspunkt.
So verwundert es nicht, dass Privatpatienten für die öffentlichen Krankenhäuser willkommene Einnahmequellen
sind. Zwar muss für jeden Krankenhausaufenthalt eine Diagnose kodiert werden,die Abrechnung mit der privaten Versicherung erfolgt jedoch völlig unabhängig von den Fallpauschalen. Im privaten
Sektor kann somit frei verhandelt werden. Dazu existiert ein Katalog, der von
der Australian Medical Association jährlich erstellt wird und eine Richtschnur
darstellt. Bindend ist er jedoch nicht und
die privaten Krankenkassen finanzieren
oftmals nur einen Teil der privatärztlichen Forderungen. Den Rest muss der
Patient aus eigener Tasche bezahlen.
Lange Wartelisten
Für die Krankenhäuser sind die Privatpatienten finanziell wichtig und genießen häufig Vorrang. Dadurch erklärt
sich auch die oftmals sehr lange Wartezeit für Medicare-Patienten bei Spezialisten für elektive Therapien. Für eine
Katarakt-OP liegt sie bei etwa drei Jahren, ebenso für die operative Behandlung einer Varikosis der Beine.
Aufgrund der geographischen Besonderheit Austaliens sind die Regierungen
der Bundesstaaten dazu verpflichtet, die
zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung notwendigen Einrichtungen zur
Verfügung zu stellen. Dieser Sicherstellungsauftrag bezieht sich auch auf Krankenhäuser. So wird gewährleistet, dass
auch in entlegenen Gebieten eine Basisversorgung besteht. In der Praxis bedeutet dies: Die eigentliche Krankenhausfinanzierung erfolgt unabhängig von den
Fallpauschalen. Auch ein entlegenes
Krankenhaus wird aufgrund des Versorgungsauftrages selbstverständlich mit
den nötigen Gerätschaften und Räumlichkeiten ausgestattet, etwa mit einer
Notaufnahme, ein oder zwei Operationssälen. Auch die Möglichkeit zur Entbindung oder Erstellung einer Computertomographie mit dem entsprechenden Personal wird durch den Versorgungsauftrag
vorgeschrieben. Ein weit entlegenes
Krankenhaus anhand der DRG-Fallpauschalen zu finanzieren oder es mit einer
Klinik in einem Ballungszentrum zu vergleichen, wäre realitätsfern.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2006; 103(25): A 1729–30
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Nikolaus A. Haas
Associate Professor, University of Queensland
Oberarzt der Klinik für Angeborene Herzfehler
Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen
Georgstraße 11, 32545 Bad Oeynhausen
E-Mail: [email protected]
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