Klaus Klingen Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf Motette BWV 226 von J.S. Bach 1 Inhaltsverzeichnis 1. Motette, Kantate oder Oratorium? .......................................................................3 2. Die Motetten bei Johann Sebastian Bach ...........................................................5 3. Motetten-Aufführungen zu Bachs Zeit.................................................................8 4. Die Motette BWV 226 ..........................................................................................10 5. Text der Motette BWV 226 ..................................................................................13 6. Autographe BWV 226..........................................................................................14 7. Literatur-Verzeichnis ..........................................................................................16 8. Konkordanz der biographischen Daten.............................................................17 9. Personenregister ................................................................................................18 2 1. Motette, Kantate oder Oratorium? Die Kompositionsgattungen Motette, Kantate und Oratorium sind vielleicht für Laien nicht auf Anhieb zu differenzieren. Unzweifelhaft haben diese Begriffe allesamt einen Bezug zur Musik, überwiegend – aber nicht ausschließlich – zur Kirchenmusik und offensichtlich leisten mehrstimmige Chöre in allen Werken dieser Musikgruppen einen fundamentalen Beitrag. Auch die jeweilige Aufführungsdauer der mehrsätzigen Kompositionen lässt sich relativ einfach zumindest grob kategorisieren: Während sich die der Motetten im Bereich von etwa 10 bis 20 Minuten bewegt, liegt die Aufführungszeit bei den Kantaten ungefähr zwischen 20 und 40 Minuten. Die Oratorien dagegen (und mit ihnen ihre speziellen Vertreter, nämlich die Passionen) stellen zeitlich gesehen die Schwergewichte dar mit Aufführungszeiten häufig im Bereich von 1 bis 3 Stunden. Bei den Motetten handelt es sich um die älteste Form dieser drei Musikgattungen, sie sind bereits im 13. Jahrhundert nachweisbar. Sie sind häufig a-cappella gesetzt (also ohne Instrumentalbegleitung) oder einzelne Instrumente spielen exakt die Melodiestimmen der Chöre. Die bedeutendsten Motetten stammen von Giovanni Pierluigi da Palestrina, Orlando di Lasso, Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach. Aus der Motettenform entwickelte sich deutlich später, etwa in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die mehrsätzige Kantate, häufig mit einer instrumentalen Einleitung, sowie einer Abfolge von Rezitativen, Arien und Chorälen, die gerne von einem Eingangs- und Schluss-Choral eingerahmt wurden. Ein Orchester ist dabei obligatorisch, oft in kammermusikalischer Besetzung. Inhaltlich orientieren sich die geistlichen Kantaten oftmals am Evangelientext des speziellen Sonntags. Dieser Text sollte mit Hilfe von frommen und erbaulichen Dichtungen (Arien), Erläuterungen (Rezitative) und passenden Kirchenliedern (Choräle) den Zuhörern verdeutlicht werden. Somit könnte man die geistliche Kantate als eine Art Wortverkündigung mit Hilfe der Musik sowie lyrischer, oft pietistischer Texte bezeichnen. Als wichtige Kantaten-Komponisten der Barockzeit sind zu nennen: Dietrich Buxtehude, Georg Philipp Telemann und Johann Sebastian Bach. Während die geistliche Kantate primär eine tiefer gehende Reflexion über eine bestimmte Bibelstelle bewirken sollte, behandeln Oratorien und Passionen – inhaltlich und damit verknüpft natürlich auch musikalisch gesehen – ganze Handlungsstränge mit einem oftmals dramatischen Ablauf. Typischerweise sind hier die Passionsmusiken zu nennen, aber auch die biblischen Oratorien von Felix Mendelssohn Bartholdy, wie zum Beispiel sein Oratorium Elias. Oftmals ist jetzt ein großes Orchester erforderlich. Die Musikformen von Oper und Oratorium sind eng verwandt, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Während in der Oper das zugrunde liegende Geschehen auch szenisch (quasi mit schauspielernden Sängern) dargestellt wird, verwendet das Oratorium statt dessen einen Erzähler (zum Beispiel bei biblischen Texten den Evangelisten) – häufig in Form von Rezitativen – um den Handlungsablauf zu schildern. Bedeutende Kompositionen für den Bereich der Oratorien und Passionen haben Ge- 3 org Philipp Telemann, Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach hinterlassen. In den Motetten werden fast ausschließlich geistliche und religiöse Texte vertont. Dagegen gibt es im Bereich der Kantaten und Oratorien durchaus auch prominente Vertreter der weltlichen Musik. Als Beispiele für nicht geistliche Kompositionen dieser Gattungen seinen genannt: die weltlichen Kantaten von Johann Sebastian Bach (für Geburtstage oder Namenstage verschiedener Fürsten und Könige sowie seine KaffeeKantate, Bauern-Kantate und Jagd-Kantate) oder auch mehrere Oratorien von Georg Philipp Telemann. Bach und Händel haben mehrfach mythologische oder allegorische Texte vertont, die sie als Gattungsart zum Beispiel Dramma per musica oder Musikalisches Drama bezeichneten. Diese Namen bedeuten im Grunde aber nichts anderes als Kantate, Oratorium oder eine Mischform von beiden. Als das bekannteste weltliche Oratorium darf in dieser kurzen Aufzählung Die Jahreszeiten von Joseph Haydn nicht fehlen. Der Zenit der Musikgattung Motette war eigentlich bereits vor Bach überschritten. Mit dem Ende der Barockzeit, also ungefähr nach Bachs und Händels Tod endete auch die Hochzeit der Kantaten und Oratorien. Aber unbedingt erwähnenswert sind die Verdienste, die sich Felix Mendelssohn Bartholdy mit seinen wunderbaren Kompositionen in allen diesen Bereichen erworben hat. Das heißt aber nicht, dass diese Kompositionsformen auch nach Mendelssohn Bartholdy nicht weiter entwickelt worden wären. Bis in die Neuzeit sind immer wieder Werke dieser Art entstanden. Dabei scheint besonders die Oratorienform die zeitgenössischen Komponisten zu faszinieren. So gibt es diverse Rock-Oratorien, so zum Beispiel das in den 1970er Jahren entstandene Oratorium des russisch-stämmigen Komponisten Gamma Skupinsky mit dem eher an Einsteins Relativitätstheorie erinnernden Titel e = mc². Oder das von Moritz Eggert zur Weltmeisterschaft 2006 komponierte Fußball-Oratorium mit dem Titel Die Tiefe des Raumes. 4 2. Die Motetten bei Johann Sebastian Bach Bachs Motetten entstanden in seiner Zeit als Thomaskantor in Leipzig, vermutlich im Zeitraum zwischen 1720 und 1735. Wie bereits erwähnt, war die Tradition der Musikgattung Motette zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich überholt, sie entsprach einfach nicht mehr dem damaligen Zeitgeist. Ob gerade diese Situation für Bach eine besondere Herausforderung darstellte, die bereits totgemeinte Motettenform wieder zu beleben und zu klanglichen und kompositorischen Höhen zu führen? Jedenfalls führt Bach in seinen Motetten eine alte Tradition der Komponisten Melchior Franck, Melchior Vulpius und Heinrich Schütz fort, die alle circa 100 Jahre vor Bach geboren wurden. Im Gegensatz zu Bachs Passionen und Oratorien, die nach seinem Tod zunächst für ca. 100 Jahre keine Aufführung mehr erlebten, ist für seine Motetten eine durchgehende Aufführungspraxis belegt. Besonders der Leipziger Thomanerchor hat diese Stücke in ununterbrochener Aufführungstradition im Repertoire behalten. Als Mozart 1789 auf einer Durchreise von Dresden nach Potsdam – zum preußischen König Friedrich Wilhelm II. – in Leipzig Station machte, hörte er quasi während einer Übungsstunde der Thomaner die Bach-Motette Singet dem Herrn ein neues Lied BWV 225. Danach soll er sich geäußert haben: "Das ist wieder einmal etwas, woraus sich was lernen lässt." Zu diesem Zeitpunkt waren die Motetten noch nie gedruckt worden, es existierten nur die handschriftlichenschriftlichen Kopien. Kein Wunder also, dass Mozart ihnen noch nie begegnet war. Die Anzahl der nicht als verschollen geltenden geistlichen und weltlichen Kantaten Bachs liegt bei etwa 230. Im Vergleich dazu hat die Gruppe seiner Motetten ein sehr bescheidenes Ausmaß, nämlich nur sechs, bei denen der Thomaskantor gesichert als Komponist elten kann. Daneben gibt es noch eine Anzahl von sogenannten apokryphen Motetten, die früher für Bach-Werke gehalten wurden, die aber aufgrund der neuesten Bachforschung inzwischen anderen Komponisten zugeschrieben werden, so zum Beispiel Georg Philipp Telemann sowie komponierenden Mitgliedern seiner eigenen Familie wie etwa Johann Ernst Bach, einem Sohn seines Cousins Johann Bernhard Bach, seinem Onkel Johann Christoph Bach oder auch seinem Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol. Nicht nur die exakte Entstehungszeit der Motetten ist nicht überliefert, sondern auch die Anlässe der Kompositionen, mit einer Ausnahme. Denn die Motette BWV 226 Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf wurde definitiv im Jahre 1729 komponiert und aufgeführt, nämlich zum Begräbnis des Professors der Universität Leipzig und Rektors der Thomas-Schule: Johann Heinrich Ernesti. In seiner Eigenschaft als Rektor war Ernesti ein Vorgesetzter von Johann Sebastian Bach, ebenso wie alle Ratsherren der Stadt Leipzig. Aufgrund ihrer Texte dürfte es sich auch bei den anderen Motetten um Werke handeln, die anlässlich einer Trauerfeier oder Beerdigung komponiert und aufgeführt wurden. Aber auch hier gibt es eine Ausnahme: der Text der Motette Singet dem Herrn ein neues Lied entspricht in keinster Weise einem trauer-ähnlichen oder melancholischen Anlass. 5 Es muss schon als frappant bezeichnet werden, dass sich ausgerechnet für die Motetten – von ihrem Anlass her gesehen also überwiegend kleinere Gelegenheitskompositionen für die Trauerfeierlichkeiten einiger namhafter Leipziger – zumindest bei den Thomanern eine durchgehende Aufführungspraxis erhalten hat. Das ist umso erstaunlicher, da ihr Stil schon zu ihrer Entstehungszeit veraltet war. Denn bereits zu Bachs Lebzeiten, besonders aber nach seinem Tod war der leichtere italienische Stil äußerst populär. Bach hat wohl auch deshalb nur eine überschaubare Anzahl an Motetten komponiert, weil diese Arbeit nicht zu seinen Dienstpflichten gehörte, anders also als das Komponieren und Aufführen von Kantaten und Passionen oder Oratorien. Aber dennoch kamen die Gottesdienstbesucher regelmäßig in den Genuss von Motetten. Dazu bediente sich Bach unter anderem einer in Leipzig beliebten Sammlung von 365 Motetten unterschiedlicher Komponisten, die der Theologe und Komponist Erhard Bodenschatz unter der Bezeichnung Florilegium Portense 1618 herausgegeben hatte, also ungefähr 100 Jahre vor Bachs Dienstantritt als Thomaskantor in Leipzig. Genau so gerne griff er aber auch auf eine Motetten-Sammlung zurück, die später als das altbachische Archiv bezeichnet wurde. Diese Sammlung war von Bachs Vater Johann Ambrosius angelegt worden und wurde von Johann Sebastian selbst und dann wiederum von dessen Sohn Carl Philipp Emanuel weitergeführt. Sie enthielt fast ausschließlich Motetten von Bachs Vorfahren, zum Beispiel von seinem Onkel Johann Christoph oder von seinem Schwiegervater Johann Michael Bach. Die Kantaten hatten früher üblicherweise ihren festen, prominenten Platz im sonnund feiertäglichen Gottesdienst-Ablauf. Deshalb bezog sich ihr Inhalt immer auf den jeweiligen Evangelien- oder Predigttext, ohne diesen selbst zu zitieren. Vielmehr wurde den Zuhörern der Evangelientext durch die vertonten freien Dichtungen der solistischen Arien und Rezitative näher gebracht. Vervollständigt wurde diese mehrsätzige Komposition durch zum Thema führende Chöre oder instrumentale Einleitungen sowie durch passende Kirchenlieder, die meistens vierstimmig in Form von Chorälen vertont wurden. Ob die sonntägliche Gemeinde diese ihnen bekannten Lieder mitsingen durfte, ist nicht eindeutig belegt. Ganz anders bei den Motetten: ihre Aufgabe war es lediglich, die Gemeinde zu ergötzen und die Zeit während der Austeilung des Abendmahls – also sub communio – zu überbrücken. In der Mehrzahl verfügten sie über keine frei gedichteten Texte, vielmehr werden bei ihnen Bibelstellen aus dem Alten oder Neuen Testament im Original zitiert und mit Chorälen kombiniert. Mit zwei Ausnahmen (Jesu, meine Freude BWV 227 und Lobet den Herren, alle Heiden BWV 230) sind die Motetten doppelchörig – also für acht Chorstimmen – besetzt. Die Chormusik steht im Vordergrund, manchmal handelt es sich um A-cappella-Werke oder aber die Instrumente gehen colla parte, das heißt: sie sind weitgehend mit den Chorstimmen identisch. Hier sollte kein Solist brillieren, weder gesanglich noch instrumental. Häufig begleitet nur der Basso continuo oder eine geringe Anzahl von Instrumenten die einzelnen vier bis acht Stimmen des Chors. Dessen Stimmführung gestaltete Bach allerdings äußerst komplex zu einer musikalisch höchsten Vollendung. Lediglich für die Motette Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf existiert ein eigenes Autograph für das einfach gehaltene Instrumentarium, ebenfalls in Colla-parte-Manier. Bei der Motette Lobet den Herrn, alle Heiden BWV 230 hat Bach zudem explizit con strumenti notiert, vermutlich als Anweisung, dass auch hier die Instrumente die Chorstimmen zu spielen hätten, wie es vielleicht auch bei seinen anderen Motetten geschehen sollte. Bei aller stilistischen Ähnlichkeit der Bachschen Motetten stellen doch zwei von ihnen gemessen an ihrer Komplexität, der Anzahl der Sätze und ihrer Aufführungszeit eine Besonderheit dar. Während es sich bei den vier anderen Kompositionen um Wer6 ke mit zwei oder drei Sätzen handelt, deren Aufführungsdauer zum Teil deutlich unter 10 Minuten liegt, sind die beiden Motetten Singet dem Herrn ein neues Lied und Jesu, meine Freude vom Aufbau her mit ihren fünf bzw. elf Sätzen deutlich aufwändiger konzipiert. Auch stellen sie mit ihrer Aufführungszeit von etwa 20 Minuten die anderen Motetten in den Schatten (wobei die reine Aufführungszeit noch nichts über die Komplexität der Komposition aussagt). 7 3. Motetten-Aufführungen zu Bachs Zeit Wie bereits oben erwähnt, entstand die Bach-Motette Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf anlässlich der Beerdigung des Rektors der Thomasschule, Johann Heinrich Ernesti. Das bedeutet aber, dass Bach innerhalb von drei oder vier Tagen das Werk komponiert, die Noten für die Chorstimmen und Instrumentalisten kopiert und mit seinem Thomanerchor einstudiert haben muss. Eine für uns Heutigen unvorstellbare Leistung aller Beteiligten. Manchmal musste er die Noten auch selbst handschriftlich kopieren, aber er hatte auch Helfer dafür: zum Beispiel seine Söhne sowie seine Instrumental- und Kompositionsschüler; aber auch seine Frau Anna Magdalena durfte oder musste immer wieder für diese Arbeiten einspringen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Motette mit dem ganzen Thomanerchor aufgeführt wurde, vielmehr wird er sich einige der talentiertesten Sänger ausgesucht und vielleicht mit einigen Studenten der Leipziger Universität verstärkt haben. Wir wissen nämlich, dass auch zu den sonntäglichen Motetten-Aufführungen normalerweise nur 16, manchmal auch nur acht Sänger eingesetzt wurden. Denn sicherlich waren nicht alle Thomaner begnadete Sänger, handelte es sich doch damals bei der Thomasschule nicht um eine elitäre Bildungseinrichtung. Vielmehr handelte es sich bei den Schülern meist um Kinder ärmerer Eltern, die froh waren, ihren Nachwuchs in einem Internat – man könnte sie heute durchaus als Prekariats-Anstalt bezeichnen – versorgt zu wissen. So beklagte sich bereits Johann Kuhnau, Bachs Vorgänger als Thomaskantor, in einem Brief beim Stadtrat über die Thomasschüler: "Die Alumnen halten es lieber mit der lustigen Music in der Opera und denen Caffée Häusern, alß mit unserem Choro, haben aber keine Kenntnisse vom wahren Kirchenstylo und der devoten Kirchenmusik, wozu gar ein sonderliches und langes studium gehöret." Man sollte aber auch durchaus Nachsicht für das Verhalten der Alumnen üben, da ihre Unterbringung und die hygienischen Begleitumstände nicht nur aus heutiger Sicht schlicht als katastrophal bezeichnet werden müssen und sich der Status der Thomasschüler nicht sonderlich von dem Leibeigener unterschied. Bis weit in das 19. Jahrhundert wird von Ratten- und Mäuseplagen berichtet. Aber auch zu Bachs Zeiten war die Situation nicht besser, wie einer Notiz aus dem Jahr 1702 zu entnehmen ist: "Weil nun Durst auszustehen […] unerträglich war, sich auch viele arme Kinder darunter befanden,[…]so musten solche offtmahls über den in denen Kammern stehenden Wasser-Krug gehen, und mit denen Ratten (welches Ungeziefer damahls in entsetzlicher Menge da anzutreffen war) einerley Tranck trincken; woher es denn kam, daß offt viel und grosse Kranckheiten dadurch caussiret wurden." Es erweckt den Anschein, als ob Ernesti seine Professur der Poesie an der Leipziger Universität ernster nahm als sein Rektorat an der Thomasschule. Jedenfalls wurden während seiner Amtsführung weder die üblen Zustände in der Thomasschule abgestellt noch der marode Bau saniert. Und auch der veraltete Lehrplan wurde nicht den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst. Erst Ernestis Nachfolger, der Pädagoge und Philologe Johann Matthias Gesner übernahm die gewaltige Aufgabe, die Thomasschule aus ihrem damaligen Zustand der größten Verwahrlosung zu einer 8 der fortschrittlichsten Schulen der Landes zu reformieren. Er sanierte den sanierungsbedürftigen Schulbau einschließlich der Wohnung des Thomaskantors, die sich im selben Gebäude befand. Er sorgte aber auch dafür, dass die neuesten Erkenntnisse des Zeitalters der Aufklärung in den Lehr- und Unterrichtsplan übernommen wurden. Darüber hinaus war das persönliche Verhältnis des neuen Rektors zu Bach deutlich besser als das zwischen Bach und Ernesti. Aber zurück zur Aufführungspraxis der damaligen Zeit. Die Komplexität der Chorstimmen entsprach offensichtlich nicht der zum Einstudieren erforderlichen Zeit und dem Talent der Sänger. Dass die Instrumente im Wesentlichen exakt die Stimmen des Chors übernehmen, war vermutlich weniger der musikalischen Ästhetik geschuldet, sondern als Hilfestellung für den Chor bei seinen technisch schwierigen Partien gedacht. An dieser Stelle sei deshalb die Frage erlaubt, ob bei den Motetten Bachs mit einer Colla-parte-Begleitung (instrumentale Begleitung, die nur zur Unterstützung der Gesangsstimmen dient) nicht in Wirklichkeit eine reine A-cappella-Aufführung den Intentionen des Thomaskantors eher entsprochen hätte – vorausgesetzt, ein versierter Chor hätte die technisch anspruchsvollen Partien problemlos bewältigen können. Daraus ließe sich für die heutige Aufführungspraxis der Schluss ziehen, dass auch bei der Kantate Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf mit quasi professionellen Sängern durchaus auf das Bläser- und Streicher-Ensemble ohne Minderung des musikalischen Gesamteindrucks verzichtet werden könnte. 9 4. Die Motette BWV 226 Für die Texte fast aller seiner Motetten hat Bach Bibelstellen des Alten oder Neuen Testament, mit Texten von Kirchenliedern kombiniert. Während die Vertonung der Bibelzitate auf höchst kunstvoller Art für vier-, fünf- oder achtstimmigen Chor erfolgt, so sind die Kirchenlieder durchgehend vierstimmig in Form von Chorälen komponiert, wie er sie häufig auch in seinen Kantaten eingesetzt hat. Und so verhält es sich auch bei der Motette Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf. In ihrem ersten Teil hat Bach zwei Verse aus dem achten Kapitel des Römerbriefs vertont, im zweiten Teil hören wir einen Choral über die dritte Strophe des Kirchenliedes Komm, heiliger Geist, Herre Gott, dessen Text und Melodie Martin Luther 1524 geschrieben hat. Den Anlass für seine Motette für zwei vierstimmige Chöre – nämlich die Trauerfeier und Beerdigung des Professors der Universität und Rektors der Thomasschule, Johann Heinrich Ernesti – hat Bach eigenhändig auf dem Titelblatt des Werks notiert (siehe Autograph Seite 14): Motetta Bey Beerdigung des seel. Herrn Profeßoris & Rectoris Ernesti Röm. 8.26 & 27 Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf a due Cori di Joh. Sebast. Bach. Es ist bekannt, dass sich der Rektor kurz vor seinem Tod selbst die beiden Verse aus dem Römerbrief als Predigttext für sein Begräbnis ausgesucht hatte. So lag es nahe, dass Bach in seiner Motette für die Trauerfeierlichkeiten des Rektors denselben Text vertonte und diesem Text schließlich noch einen Choral anfügte. Bach schrieb auch einen Instrumentalsatz für den ersten Teil, nicht aber für den Choral. Daraus kann man folgern, dass der erste Teil der Motette zur Totenfeier in der Leipziger Paulinerkirche (offizieller Name: Universitätskirche St. Pauli) aufgeführt worden ist, der Choral dagegen an der Grabstelle des Rektors – praktischerweise ohne Instrumente. Die Instrumentierung ist – wie häufig bei den Motetten – einfach gehalten, da sie oftmals nur als Hilfestellung für die sehr anspruchsvollen Chorstimmen fungierten. So besteht der Instrumentalsatz aus vier Streicher- und vier Bläserstimmen, ergänzt durch den Basso continuo. Die Streicher (Violine I, Violine II, Viola und Violincello) spielen die Stimmen von Sopran, Alt, Tenor und Bass des ersten Chors. Die Holzbläser (Oboe I, Oboe II, Taille und Fagott) begleiten dagegen die Stimmen des zweiten Chors. In diesem Kontext bezeichnet das Musikinstrument Taille eine Oboe in der Tenorlage. Ganz allgemein ist Taille die französische Bezeichnung für Tenor bzw. Tenorlage, sowohl für die Gesangsstimme als auch bei Instrumenten. 10 Bei den Kopien der Motette lassen sich die Handschriften von Bachs Frau Anna Magdalena, seines Sohns Carl Philipp Emanuel und seines Schülers Johann Ludwig Krebs herauslesen, aber auch die des Thomaskantors selbst. Das deutet auf den hohen Zeitdruck hin, unter dem alle Beteiligten bis zur Aufführung standen. Die Motette Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf steht in B-Dur und beginnt in einem schwungvollen, freudigen 3/8-Takt mit 16-tel Noten: von Schwachheit keine Spur und auch eine Trauerstimmung kann sich dabei eigentlich gar nicht einstellen. In dieser ersten Sequenz mit dem Text Der Geist hilft unser Schwachheit auf, denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebühret hat Bach offensichtlich den Fokus nicht auf die Schwachheit, sondern auf den Geist gelegt. Da überrascht der 3/8-Takt überhaupt nicht, denn bis weit in die Barockzeit hinein gab es einen Wertekanon bezüglich der Ton- und Taktarten. Demnach steht ein 3er-Takt für die Trinität, besonders auch für die Dritte Person der Trinität, den Heiligen Geist. Ganz ähnlich verfährt Bach bei dem Text der Geist aber ist das Leben in seiner Motette Jesu meine Freude. Man meint fast das Schwingen der Flügel des Heiligen Geistes in Gestalt einer Taube zu verspüren. Damit kommt zum Ausdruck, dass die Kraft und Vitalität Gottes über den Tod des Menschen hinaus wirkt und dass die Trauernden aus dieser Kraft Hoffnung schöpfen sollen. In der nächsten Sequenz auf den Text Sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen findet ein Wechsel in den 4er-Takt statt. Besonders markant erscheinen hier die fugenähnlichen Einsätze, mehr aber noch die vielen synkopischen Artikulationszeichen, die sonst für Bach eher untypisch sind. Ihm war offensichtlich sehr daran gelegen, die Aussage, dass der Geist hilft besonders zu betonen. Ebenso ausgeprägt sind die langgezogenen Passagen mit den kurzen innehaltenden Pausen, die das Seufzen der Betenden sehr akzentuiert unterlegen. Wie so häufig bei Bach (und auch bei anderen Komponisten) vertont er auch hier die Seufzer oder sinnverwandte Begriffe mit absteigenden Sekundenschritten, dem sogenannten Seufzermotiv. Insgesamt neunmal präsentiert der Chor das Thema, während die jeweils anderen Stimmen immer wieder mit dem Seufzermotiv antworten: wirklich eine nicht enden wollende Abfolge unaussprechlicher Seufzer. Bei der abschließenden Sequenz des ersten Teils der Motette handelt es sich um eine Doppelfuge mit dem Text Der aber die Herzen forschet, der weiß, was des Geistes Sinn sei; denn er vertritt die Heiligen nach dem, das Gott gefället. In dieser Doppelfuge vereinen sich beide Chöre, sie singen jetzt also vierstimmig und nicht mehr achtstimmig. Das erste Thema auf den Text Der aber die Herzen forschet … präsentiert der Bass. Nachdem dieses Thema den Regeln der Fugentechnik entsprechend verarbeitet wurde, beginnt der zweite Teil mit einem neuen Thema auf Denn er vertritt die Heiligen… Auch dieses Thema wird abwechselnd durch alle vier Stimmen präsentiert, wobei es dem Bass zufällt, gegen Ende der Fuge parallel zum neuen Thema im Sopran, Alt und Tenor noch einmal kurz das erste Thema einzuwerfen, bevor abschließend auch der Bass wieder das Thema des zweiten Teils der Doppelfuge aufnimmt. Wir haben es hier mit einer Fuge im stile antico zu tun. Fugen im stile antico stehen in der Tradition des Komponisten Palestrina, der mehr als 150 Jahre vor Bach gelebt hat. Der Thomaskantor griff durchaus häufig und ganz bewusst auf diesen eigentlich veralteten Fugenstil zurück, zum Beispiel in der h-Moll-Messe beim zweiten Kyrie eleison oder ebenfalls dort beim Credo in unum Deum. Dieser Stil steht für den Ursprung und Urquell des Kontrapunkts und im übertragenen Sinne – besonders bei Bach – für den Ursprung allen Seins, nämlich für Gott, den Schöpfer aller Dinge. Die Verwendung dieses Stils kann aber auch so interpretiert werden, dass die textlichen Aussagen von alters her feststehen und unumstößlich sind. Erkennbar ist der stile antico an einer linearen Stimmführung, einer relativ einfachen Harmonik, einem gleichmäßigen, ruhigen Verlauf so wie an einer einfachen instrumentalen Begleitung. 11 Die Motette schließt mit einem Choral über die dritte Strophe des Pfingstlieds Komm, Heiliger Geist, das Martin Luther 1524 komponiert und getextet hat. 12 5. Text der Motette BWV 226 Teil 1 Teil 2 Sequenz 1 Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf, denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebühret, Sequenz 2 sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen. Sequenz 3 (Fuge) Der aber die Herzen forschet, der weiß, was des Geistes Sinn sei; denn er vertritt die Heiligen nach dem, das Gott gefället. Choral Du heilige Brunst, süßer Trost Nun hilf uns, fröhlich und getrost In deinem Dienst beständig bleiben, Die Trübsal uns nicht abtreiben. O Herr, durch dein Kraft uns bereit Und stärk des Fleisches Blödigkeit, Daß wir hie ritterlich ringen, Durch Tod und Leben zu dir dringen. Halleluja, halleluja. Die drei Sequenzen des ersten Teils stehen im Römerbrief des Neuen Testaments: Kapitel 8, Verse 26 und 27. Den abschließenden Choral im zweiten Teil hat Martin Luther 1524 getextet und komponiert. Es handelt sich um die dritte Strophe des Kirchenlieds Komm heiliger Geist, Herre Gott. 13 6. Autographe BWV 226 14 Das erste Autograph zeigt das Vorsatz- bzw. Titelblatt der Motette BWV 226 Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf von Johann Sebastian Bach, die folgende Seite zeigt den Beginn der Sopranstimme des Chores I. 15 7. Literatur-Verzeichnis - Stefan Altner: Eine Jugend für die Musik? Die Thomaner in der Bach-Zeit und bis zur großen Bach-Renaissance im 19. Jahrhundert; Leipziger Blätter 36 2000 - Andreas Bomba: Die Motetten von Johann Sebastian Bach - Bach digital: http://www.bach-digital.de/content/index.xml - Brockhaus-Riemann: Musiklexikon – Verlag Schott Pieper - Reine Dahlqvist: Taille, Oboe da Caccia and Corno Inglese; The Galpin Society Journal - Martin Geck: Bach – Leben und Werk; Rowohlt Taschenbuch Verlag - Andreas Glöckner: Die Musikpflege an der Leipziger Neukirche zur Zeit Johann Sebastian Bachs; Leipzig - Konrad Klek: Von Schwachheit keine Spur; Sonntagsblatt Bayern - Klaus Klingen: Versuch einer Annäherung an die h-Moll-Messe von J.S.Bach - Hubert Meister: Theologische Implikationen Bachscher Musik; Herder Verlag (Stimmen der Zeit) - Wikipedia: http://www.wikipedia.de/ 16 8. Konkordanz der biographischen Daten Es folgen die Geburts- und Todesjahre der angeführten Personen, so weit sie bekannt sind. Nicht exakt nachweisbare Jahreszahlen sind kursiv wiedergegeben. -A- -H- Altnickol, Johann Christoph Händel, Georg Friedrich Haydn, Joseph 1719-1759 -B- -K- Bach, Anna Magdalena 1701-1760 Bach, Carl Philipp Emanuel 1714-1788 Bach, Johann Ambrosius 1645-1695 Bach, Johann Bernhard 1676-1749 Bach, Johann Christoph 1642-1703 Bach, Johann Ernst 1722-1777 Bach, Johann Michael 1648-1694 Bach, Johann Sebastian 1685-1750 Bodenschatz, Erhard 1576-1636 Buxtehude, Dietrich 1637-1707 Krebs, Johann Ludwig Kuhnau, Johann Lasso, Orlando di Luther, Martin Mendelssohn Bartholdy, Felix Mozart, Wolfgang Amadeus 19651879-1955 1652-1729 1860-1911 1756-1791 PPalestrina, Giovanni Pierluigi da 1525-1594 -S- 1580-1639 Schütz, Heinrich Skupinsky, Gamma 1744-1797 1585-1672 1946- -T- -GGesner, Johann Matthias 1532-1594 1483-1546 -M- -FFranck, Melchior Friedrich Wilhelm II. (Preußen-König) 1713-1780 1660-1722 -L- -EEggert, Moritz Einstein, Albert Ernesti, Johann Heinrich 1685-1759 1732-1809 Telemann, Georg Philipp 1691-1761 1681-1767 -VVulpius, Melchior 17 1570-1615 9. Personenregister Glöckner, Andreas ...............................16 A H Altner, Stefan ...................................... 16 Altnickol, Johann Christoph ................... 5 Händel, Georg Friedrich ........................ 4 Haydn, Joseph ...................................... 4 B K Bach, Anna Magdalena ................... 8, 11 Bach, Carl Philipp Emanuel ............. 6, 11 Bach, Johann Ambrosius ....................... 6 Bach, Johann Bernhard ......................... 5 Bach, Johann Christoph .................... 5, 6 Bach, Johann Ernst ............................... 5 Bach, Johann Michael ........................... 6 Bach, Johann Sebastian 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11 Bodenschatz, Erhard ............................. 6 Bomba, Andreas .................................. 16 Buxtehude, Dietrich ............................... 3 Klek, Konrad ........................................16 Klingen, Klaus ......................................16 Krebs, Johann Ludwig ..........................11 Kuhnau, Johann .................................... 8 L Lasso, Orlando di .................................. 3 Luther, Martin ...........................10, 12, 13 M Meister, Hubert ....................................16 Mendelssohn Bartholdy, Felix ............3, 4 Mozart, Wolfgang Amadeus .................. 5 E P Eggert, Moritz ........................................ 4 Einstein, Albert ...................................... 4 Ernesti, Johann Heinrich ......... 5, 8, 9, 10 Palestrina, Giovanni Pierluigi da .......3, 11 S Schütz, Heinrich .................................3, 5 Skupinsky, Gamma ............................... 4 F Franck, Melchior .................................... 5 Friedrich Wilhelm II. (Preußen-König) .... 5 T G Telemann, Georg Philipp ...............3, 4, 5 Geck, Martin ........................................ 16 Gesner, Johann Matthias ...................... 8 Vulpius, Melchior ................................... 5 V 18