Suizidgefährdete fallen durch das Gesundheitsnetz

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P O L I T I K
MEDIZINREPORT
ärzten in Deutschland nur in einem
Prozent der Fälle gesehen, zitierte
Prof. Dr. med. Josef B. Aldenhoff
(Kiel) Daten aus der von der WHO
initiierten „Allgemeinarztstudie“.
Aldenhoff nimmt an, daß in
der Hausarztpraxis psychische Störungen vielfach gar nicht erkannt werden. Diagnostische und therapeutische Kompetenz der Allgemeinärzte
würde aber dringend gebraucht, ergänzte Prof. Dr. med. Mathias Berger
(Freiburg), um als „Filter“ zum einen
den Teil von Patienten mit leichten
Depressionen oder Angststörungen,
der nicht einer spezifischen nervenärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung bedarf, selbst adäquat zu betreuen und zum anderen
innerhalb eines Netzwerks die schwerergradig Erkrankten zum Facharzt zu
überweisen.
Doch nicht nur Hausärzte sind
nicht auf dem neuesten Wissensstand,
sondern auch ein Teil der Fachärzte,
hieß es auf dem Workshop. Anhand
der Verordungszahlen lasse sich deutlich erkennen, daß an alten Verordnungsgewohnheiten festgehalten wird
und moderne, zwar nicht besser wirksame, aber besser verträgliche Therapeutika sich nur schleppend im klinischen Alltag durchsetzen, machte
Prof. Dr. med. Jürgen Fritze (Pulheim) auf das Manko aufmerksam.
Verzögerter Fortschritt
Dabei sei inzwischen durch
zahlreiche Studien eindeutig wissenschaftlich belegt, daß beispielsweise
die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder die sogenannten
atypischen Neuroleptika die langfristige Prognose der Patienten deutlich
verbesserten. Darüber hinaus könnten Folgekosten eingespart werden,
so daß es sich auch volkswirtschaftlich
rechne.
Eine wesentliche Aufgabe in der
Grundversorgung besteht auch darin,
betroffenen Patienten und ihren Angehörigen, aber auch den (noch)
psychisch Gesunden ein realistisches
Bild zu den Behandlungsmöglichkeiten zu vermitteln. In einer von Prof.
Dr. med. Otto Benkert (Mainz) initiierten repräsentativen Befragung reduzierte sich die Einschätzung psychi-
Suizidgefährdete fallen durch das Gesundheitsnetz
Ein noch immer unterschätztes Problem in der Gesundheitsversorgung ist
die Suizidalität. Es sterben wahrscheinlich mehr Menschen durch eigene Hand als
bei einem Verkehrsunfall. Nach WHO-Schätzungen liegt die Zahl der jährlichen
Suizide weltweit bei einer Million. Dazu kommen noch etwa zehn bis 20 Millionen
Suizidversuche. Das Risiko ist über alle Altersstufen verteilt. Eine Umfrage bei
rund 10 000 Jugendlichen in der Schweiz ergab, daß bei etwa einem Viertel Suizidgedanken und bei 15 Prozent konkrete Pläne bestanden. Drei Prozent hatten
bereits einen konkreten Versuch gemacht. Das Risiko steigt mit dem Alter. Auslöser sind neben Lebenskrisen und Alkoholmißbrauch vor allem – nicht oder unzureichend behandelte – psychische Erkrankungen.
Man muß nach Ansicht von Prof. Dr. med. Josef B. Aldenhoff (Kiel) davon
ausgehen, daß die diagnostischen und therapeutischen Fortschritte in der Psychiatrie suizidgefährdete Personen nur zum Teil erreichen. Darüber täuscht auch der
seit etwa 20 Jahren in den alten und neuen Bundesländern gleichermaßen zu beobachtende Abwärtstrend der Suizidzahlen in Deutschland nicht hinweg. Als ein
interessantes Phänomen bezeichnete es Prof. Dr. med. Heinz Häfner (Mannheim), daß heute in Deutschland steigende Arbeitslosigkeit im Gegensatz zur Zeit
zwischen den beiden Weltkriegen nicht mehr mit einer Zunahme des Suizidrisikos
assoziiert ist wie beispielsweise in Ländern, in denen der Verlust des Arbeitsplatzes existentielle Not für die Familien bedeutet. Ein funktionierendes Sozialsystem
stellt demnach einen ganz wesentlichen Präventionsfaktor dar.
bl-ki
scher Erkrankungen auf die beiden
Extremgruppen „Wahnsinn“ und „Befindlichkeitsstörung“. Dementsprechend wurden auch Psychopharmaka –
meist mit Beruhigungsmitteln gleichgesetzt – vorrangig akzeptiert bei
Wahnsymptomen und als Schutz der
Allgemeinheit. Für seelische Erkrankungen werden sie als „süchtigmachend“ und „wesensverändernd“ weitgehend abgelehnt. Für sinnvoller werden Psychotherapie, Entspannungsübungen, Naturheilverfahren oder alternative Methoden angesehen.
Die Präferenz des Normalbürgers für die Psychotherapie entspricht
einer tiefsitzenden dualistischen Vorstellung. Seele und Leib werden noch
immer als etwas Getrenntes angesehen. Das habe sich auch in der Berufspolitik widergespiegelt – biologische
Psychiater und analytische Psychiater
hätten sich lange Zeit nicht besonders
gemocht, konstatierte Berger. Dies sei
heute vorbei und dokumentiere sich
auch darin, daß es seit 1992 nur Ärzte
für Psychiatrie und Psychotherapie
gebe.
Daß die beiden klassischen Behandlungsmethoden Psychopharmaka und Psychotherapie eng miteinander verzahnt sind, ist wissenschaftlich
schon lange belegt. Besonders bei
schweren Störungen reiche es keines-
falls aus, nur die neurobiologische Imbalance zu korrigieren oder nur die
zwischenmenschlichen/sozialen Korrelate, sondern man müsse multimodal vorgehen, betonte Berger. Wenn
ein Patient Medikamente nicht akzeptiert, sollte man ihn auch darauf hinweisen, welche Chance er vergibt: Die
Medikamentenwirkung tritt bereits
nach vier bis sechs Wochen ein, der
Effekt einer Psychotherapie dagegen
erst nach etwa vier Monaten.
Spezialisierung anstreben
Für unerläßlich hält Berger eine
Spezialisierung der Psychotherapeuten. Damit meinte er nicht hinsichtlich
der Methode (Psychotherapie-Schulen hält er für relativ unsinnig), sondern in Hinblick auf die psychische
Störung. Ein Arzt für Psychotherapie
sollte seiner Meinung nach die Kompetenz erwerben, eines oder verschiedene der Hauptstörungsbilder wie
Angst, Depression, Schizophrenie,
Eßstörung, posttraumatisches Streßsyndrom, Abhängigkeitserkrankungen spezifisch behandeln zu können,
und dabei die notwendigen Bausteine
der anerkannten Verfahren – Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie –
nutzen.
Gabriele Blaeser-Kiel
Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 33, 20. August 1999 (23) A-2071
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