Von Gesunden stigmatisiert – von Ärzten zum Teil vernachlässigt

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MEDIZINREPORT
Psychisch Kranke
Von Gesunden stigmatisiert –
von Ärzten zum Teil vernachlässigt
Workshop „Psychiatrie auf der Schwelle zum nächsten Jahrtausend“ in
Hamburg beklagt Mängel bei der Betreuung psychisch kranker Patienten.
führte repräsentative Erhebung an
rund 80 000 Bürgern verschiedener
europäischer Länder. Unter anderem
kam heraus, daß in Deutschland nur
weniger als ein Fünftel der depressiven Patienten unter einer Medikation
mit einem Antidepressivum standen.
© Tagesklinik der Abteilung für Sozialpsychiatrie, Nov. 1998
P
sychisch krank und somatisch
krank ist für den gesunden
Normalbürger noch immer
zweierlei. Aber auch beim Hausarzt
werden psychische Störungen häufig
ignoriert oder bagatellisiert. Dabei
sind die Neurowissenschaften die medizinischen Fächer mit dem größten
Wissenszuwachs in den letzten Jahren; ihre Behandlungserfolge bei psychischen Störungen können sich sehr
wohl mit denen bei somatischen Erkrankungen messen.
Doch es klafft eine Lücke zwischen dem potentiell Machbaren und
der Realität. Das war der einstimmige
Tenor der Experten beim Workshop
„Psychiatrie auf der Schwelle zum
nächsten Jahrtausend“, zu dem Prof.
Dr. med. Dieter Naber in die psychiatrische Universitätsklinik HamburgEppendorf eingeladen hatte.
Hohe Schwellenangst
Zur Realität im klinischen Alltag
liegen eine Reihe von Daten vor. Bei
DEPRES (Depression Patient Research in European Society) handelt
es sich um eine vor Jahren durchge-
„Das andere Ich“ malten mehrere Patienten der Tagesklinik für Sozialpsychiatrie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin in Berlin.
In einer anderen Untersuchung bei
Hausärzten lagen die Verordnungsraten für Antidepressiva nur bei elf
Prozent und für eine systematische
Psychotherapie unter fünf Prozent.
Die Gründe für diese massive
Unterversorgung liegen wahrscheinlich in dem ungünstigen Zusammentreffen von Unkenntnis und Vorurteilen bei der Allgemeinbevölkerung
und Versäumnissen in der nichtpsychiatrischen Praxis. Psychische
Störungen werden von den Betroffenen häufig gar nicht mit Krankheit assoziiert, lange verdrängt oder schamhaft verschwiegen. Denn auch das
ergab DEPRES: Europaweit hatten
nur knapp 70 Prozent der behandlungsbedürftigen Personen ärztliche
Hilfe gesucht – obwohl in etwa der
Hälfte der Fälle die richtungweisenden Symptome bereits länger als zwei
Jahre bestanden hatten.
Höher noch als die Schwelle, sich
ihrem Hausarzt zu offenbaren, ist die
Barriere, einen Psychiater zu kontaktieren, der häufig immer noch als „Irrenarzt“ eingeschätzt wird. Aber auch
Hausärzte meiden den Kontakt mit
dem Psychiater. Eine Überweisungsnotwendigkeit werde von Allgemein-
Mythos vom gewalttätigen psychisch Kranken entkräftet
Die Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch
Kranker in der Allgemeinbevölkerung hängt auch mit der
Vorstellung zusammen, daß diese Menschen unberechenbar
und gewalttätig sind. Genährt werden diese Vorurteile unter
anderem durch tendenziöse Berichte in den Medien. Beispiele aus der Vergangenheit sind die Attentate auf die Politiker
Lafontaine und Schäuble. Eine Dokumentation und Analyse
aller Gewalttaten psychisch Kranker zwischen den Jahren
1956 und 1965 durch Prof. Dr. med. Heinz Häfner (Mannheim) und Mitarbeiter ergab keinen wesentlichen Unter-
A-2070 (22) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 33, 20. August 1999
schied zur geschlechts- und alterskorrelierten Allgemeinbevölkerung. Innerhalb der Gruppe psychisch Kranker war das
Gewaltpotential bei paranoiden Schizophrenen am höchsten und bei den affektiv Erkrankten am niedrigsten. Opfer
waren in rund 80 Prozent der Fälle Familienmitglieder und
Intimpartner und in zweiter Linie Personen mit hohem öffentlichen Ansehen wie Politiker, aber auch Ärzte und Richter. Begünstigende Faktoren waren aggressives Verhalten vor
Krankheitsausbruch, Alkoholmißbrauch während der Krankheit, Abbruch oder Fehlen einer Behandlung.
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ärzten in Deutschland nur in einem
Prozent der Fälle gesehen, zitierte
Prof. Dr. med. Josef B. Aldenhoff
(Kiel) Daten aus der von der WHO
initiierten „Allgemeinarztstudie“.
Aldenhoff nimmt an, daß in
der Hausarztpraxis psychische Störungen vielfach gar nicht erkannt werden. Diagnostische und therapeutische Kompetenz der Allgemeinärzte
würde aber dringend gebraucht, ergänzte Prof. Dr. med. Mathias Berger
(Freiburg), um als „Filter“ zum einen
den Teil von Patienten mit leichten
Depressionen oder Angststörungen,
der nicht einer spezifischen nervenärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung bedarf, selbst adäquat zu betreuen und zum anderen
innerhalb eines Netzwerks die schwerergradig Erkrankten zum Facharzt zu
überweisen.
Doch nicht nur Hausärzte sind
nicht auf dem neuesten Wissensstand,
sondern auch ein Teil der Fachärzte,
hieß es auf dem Workshop. Anhand
der Verordungszahlen lasse sich deutlich erkennen, daß an alten Verordnungsgewohnheiten festgehalten wird
und moderne, zwar nicht besser wirksame, aber besser verträgliche Therapeutika sich nur schleppend im klinischen Alltag durchsetzen, machte
Prof. Dr. med. Jürgen Fritze (Pulheim) auf das Manko aufmerksam.
Verzögerter Fortschritt
Dabei sei inzwischen durch
zahlreiche Studien eindeutig wissenschaftlich belegt, daß beispielsweise
die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder die sogenannten
atypischen Neuroleptika die langfristige Prognose der Patienten deutlich
verbesserten. Darüber hinaus könnten Folgekosten eingespart werden,
so daß es sich auch volkswirtschaftlich
rechne.
Eine wesentliche Aufgabe in der
Grundversorgung besteht auch darin,
betroffenen Patienten und ihren Angehörigen, aber auch den (noch)
psychisch Gesunden ein realistisches
Bild zu den Behandlungsmöglichkeiten zu vermitteln. In einer von Prof.
Dr. med. Otto Benkert (Mainz) initiierten repräsentativen Befragung reduzierte sich die Einschätzung psychi-
Suizidgefährdete fallen durch das Gesundheitsnetz
Ein noch immer unterschätztes Problem in der Gesundheitsversorgung ist
die Suizidalität. Es sterben wahrscheinlich mehr Menschen durch eigene Hand als
bei einem Verkehrsunfall. Nach WHO-Schätzungen liegt die Zahl der jährlichen
Suizide weltweit bei einer Million. Dazu kommen noch etwa zehn bis 20 Millionen
Suizidversuche. Das Risiko ist über alle Altersstufen verteilt. Eine Umfrage bei
rund 10 000 Jugendlichen in der Schweiz ergab, daß bei etwa einem Viertel Suizidgedanken und bei 15 Prozent konkrete Pläne bestanden. Drei Prozent hatten
bereits einen konkreten Versuch gemacht. Das Risiko steigt mit dem Alter. Auslöser sind neben Lebenskrisen und Alkoholmißbrauch vor allem – nicht oder unzureichend behandelte – psychische Erkrankungen.
Man muß nach Ansicht von Prof. Dr. med. Josef B. Aldenhoff (Kiel) davon
ausgehen, daß die diagnostischen und therapeutischen Fortschritte in der Psychiatrie suizidgefährdete Personen nur zum Teil erreichen. Darüber täuscht auch der
seit etwa 20 Jahren in den alten und neuen Bundesländern gleichermaßen zu beobachtende Abwärtstrend der Suizidzahlen in Deutschland nicht hinweg. Als ein
interessantes Phänomen bezeichnete es Prof. Dr. med. Heinz Häfner (Mannheim), daß heute in Deutschland steigende Arbeitslosigkeit im Gegensatz zur Zeit
zwischen den beiden Weltkriegen nicht mehr mit einer Zunahme des Suizidrisikos
assoziiert ist wie beispielsweise in Ländern, in denen der Verlust des Arbeitsplatzes existentielle Not für die Familien bedeutet. Ein funktionierendes Sozialsystem
stellt demnach einen ganz wesentlichen Präventionsfaktor dar.
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scher Erkrankungen auf die beiden
Extremgruppen „Wahnsinn“ und „Befindlichkeitsstörung“. Dementsprechend wurden auch Psychopharmaka –
meist mit Beruhigungsmitteln gleichgesetzt – vorrangig akzeptiert bei
Wahnsymptomen und als Schutz der
Allgemeinheit. Für seelische Erkrankungen werden sie als „süchtigmachend“ und „wesensverändernd“ weitgehend abgelehnt. Für sinnvoller werden Psychotherapie, Entspannungsübungen, Naturheilverfahren oder alternative Methoden angesehen.
Die Präferenz des Normalbürgers für die Psychotherapie entspricht
einer tiefsitzenden dualistischen Vorstellung. Seele und Leib werden noch
immer als etwas Getrenntes angesehen. Das habe sich auch in der Berufspolitik widergespiegelt – biologische
Psychiater und analytische Psychiater
hätten sich lange Zeit nicht besonders
gemocht, konstatierte Berger. Dies sei
heute vorbei und dokumentiere sich
auch darin, daß es seit 1992 nur Ärzte
für Psychiatrie und Psychotherapie
gebe.
Daß die beiden klassischen Behandlungsmethoden Psychopharmaka und Psychotherapie eng miteinander verzahnt sind, ist wissenschaftlich
schon lange belegt. Besonders bei
schweren Störungen reiche es keines-
falls aus, nur die neurobiologische Imbalance zu korrigieren oder nur die
zwischenmenschlichen/sozialen Korrelate, sondern man müsse multimodal vorgehen, betonte Berger. Wenn
ein Patient Medikamente nicht akzeptiert, sollte man ihn auch darauf hinweisen, welche Chance er vergibt: Die
Medikamentenwirkung tritt bereits
nach vier bis sechs Wochen ein, der
Effekt einer Psychotherapie dagegen
erst nach etwa vier Monaten.
Spezialisierung anstreben
Für unerläßlich hält Berger eine
Spezialisierung der Psychotherapeuten. Damit meinte er nicht hinsichtlich
der Methode (Psychotherapie-Schulen hält er für relativ unsinnig), sondern in Hinblick auf die psychische
Störung. Ein Arzt für Psychotherapie
sollte seiner Meinung nach die Kompetenz erwerben, eines oder verschiedene der Hauptstörungsbilder wie
Angst, Depression, Schizophrenie,
Eßstörung, posttraumatisches Streßsyndrom, Abhängigkeitserkrankungen spezifisch behandeln zu können,
und dabei die notwendigen Bausteine
der anerkannten Verfahren – Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie –
nutzen.
Gabriele Blaeser-Kiel
Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 33, 20. August 1999 (23) A-2071
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