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Zitierhinweis
Dieter Langewiesche: Rezension von: Christian Jansen: Gründerzeit
und Nationsbildung 1849-1871, Stuttgart: UTB 2011, in sehepunkte
11 (2011), Nr. 7 [15.07.2011],
URL:http://www.sehepunkte.de/2011/07/19635.html
First published: http://www.sehepunkte.de/2011/07/19635.html
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sehepunkte 11 (2011), Nr. 7
Christian Jansen: Gründerzeit und
Nationsbildung 1849-1871
Christian Jansen ist als exzellenter Kenner der Revolution 1848/49 und
der Geschichte der Achtundvierziger in den Jahrzehnten nach der
Revolution ausgewiesen. Diesen Spuren folgt auch seine Geschichte der
"Gründerzeit". Mit diesem Begriff rückt er Bismarck programmatisch aus
dem Handlungszentrum der Darstellung. Nicht Reichsgründungsära,
sondern Gründerzeit als eine Ära des Bürgertums und der
"Verbürgerlichung der deutschen Gesellschaften" (242); ohne die
Revolution und die Achtundvierziger keine deutsche
Nationalstaatsgründung - diese Grundannahmen liegen der Konzeption
des Buches zugrunde. Weitere Leitlinien sind: keine Fixierung auf
Preußen, so dass das Ende der langen Tradition deutscher
Vielstaatlichkeit markant hervortritt, und Würdigung der
konkurrierenden nationalpolitischen Programme. Was nicht verwirklicht
werden konnte, wird nicht an den Rand gedrängt. So kann Jansen die
Offenheit der damaligen Situation sichtbar machen.
Er nennt es einen "Paradigmawechsel" (10). Doch diese Perspektive
bestimmt inzwischen zahlreiche Studien, darunter auch
Gesamtdarstellungen. [ 1 ] Allgemein durchgesetzt hat sie sich in der
Geschichtsschreibung allerdings nicht, und erst recht nicht im deutschen
Geschichtsbild.
Das Buch ist chronologisch und systematisch gegliedert. Zunächst
werden in zwei Kapiteln prägnant die Revolution 1848/49 und ihr
"Nachleben" charakterisiert, dann folgt ein Kapitel über Wirtschaft und
Gesellschaft. Das 4. Kapitel skizziert die politischen Entwicklungen in
den fünfziger Jahren: international, in den deutschen Staaten und in den
politischen Gruppierungen in der Gesellschaft. Das 5. Kapitel ist Preußen
seit 1858 gewidmet. Warum nicht von einer "Neuen Ära" gesprochen
werden sollte, begründet Jansen in einer farblich abgehobenen Rubrik.
Solche Hervorhebungen, die auch andere Kapitel enthalten, dienen
vornehmlich dazu, Begriffe zu klären (z.B. Parteien im 19. Jahrhundert;
Verfassungskonflikt; Lückentheorie; Industrialisierung oder industrielle
Revolution?; Preußisch-deutscher, Deutscher oder Preußischösterreichischer Krieg?).
Zentral für Jansens Konzeption ist das 6. Kapitel: "Das Scheitern der
Nationalstaatsgründung von unten". Hier werden zunächst die Versuche
zur Reform des Deutschen Bundes in den Jahren 1862/63 erläutert. Sie
sind gescheitert, doch sie boten eine "realpolitische Option" (161).
Warum sie nicht realisiert werden konnten, wird eingehend dargestellt.
Ihr Scheitern habe die Weichen für den kriegerischen Weg zum
deutschen Nationalstaat gestellt. Den anschließende Abschnitt über den
Krieg um Schleswig-Holstein 1863/64 stellt Jansen unter die Überschrift:
"Bismarck manövriert die Nationalisten aus". Er "besiegte [...] die
innenpolitische Opposition auf außenpolitischem Feld." (175) Die beiden
abschließenden Abschnitte widmen sich den neuen "Parteien im
freiheitlich-nationalistischen Lager" (179) - so umschreibt Jansen die
Verfechter eines demokratischen Föderalismus, die sich als Deutsche
Volkspartei konstituierten - und den Anfängen der "Social-Demokratie".
Letztere war damals noch unbedeutend, wie er betont, doch als Kern
einer künftigen Massenbewegung verdiene sie Aufmerksamkeit.
Das alles ist informativ und zeigt die Vielfalt der nationalpolitischen
Konzeptionen in der deutschen Gesellschaft. Doch ist es angemessen, von
der Möglichkeit einer "Nationalstaatsgründung von unten" auszugehen?
Diese Formulierung überdehnt wohl doch die Handlungschancen aller
politischen Richtungen in der nationalen Bewegung. Ihre Organisationen
und Aktivitäten haben zweifellos die Bahnen festgelegt, in denen sich die
Nationalstaatsgründung von oben vollzogen hat. Die häufige Fixierung
auf Bismarck als dem deutschen Gründungsheros ist nicht
realitätsgerecht. Das betont Jansen überzeugend. Die Nationalbewegung
war ein zentraler Akteur, ohne den Bismarcks Weg zum Norddeutschen
Bund und dann zum kleindeutschen Nationalstaat anders verlaufen wäre.
Sie hat den Möglichkeitsraum der staatlichen Akteure wie Bismarck
mitgestaltet. Doch die Chance zu einer Nationalstaatsgründung von
unten lässt sich auch in Jansens Darstellung nicht erkennen.
Problematisch finde ich die Überschrift, unter der Jansen im 7. Kapitel
den Weg in den Norddeutschen Bund und das Deutsche Reich abhandelt:
"Ein imperialer Nationalstaat mitten in Europa". Er analysiert hier
präzise, warum 1866 als Epochenjahr in der jüngeren deutschen
Geschichte zu werten ist: "Anfang zur Bildung eines Nationalstaats nach
westlichem Muster", "supranationale Modelle", die auf Einschluss der
Habsburgermonarchie zielten, sind gescheitert (212). Auch in der
Luxemburg-Krise konnte sich die "westlich orientierte Strömung im
deutschen Nationalismus durchsetzen" (218). Erst im Kaiserreich sei sie
ins Abseits geraten, nicht schon in der Gründerzeit. Die Hoffnungen der
"westlich orientierten Liberalen und Demokraten" (218f.) erfüllten sich
zwar nicht, da aus dem Krieg gegen Frankreich eine "großpreußische
Reichsgründung" (228) hervorgegangen sei. Doch rechtfertigt dies, den
Nationalstaat im Gründungsakt imperial zu nennen? Hier werden spätere
Entwicklungen in die Gründerzeit zurückdatiert. Großpreußisch ist nicht
imperial.
Im letzten Kapitel bilanziert Jansen seine Deutung der deutschen
Gründerzeit in sieben Punkten (242-245): "Durchbruch zur
Industriegesellschaft", gesellschaftliche Verbürgerlichung, "Blütezeit
bürgerlicher Initiativen in Politik und Gesellschaft", die Soziale
Bewegung als "zukunftsträchtige Form zivilgesellschaftlichen
Engagements", Anfänge der Frauenbewegung, Entstehung des modernen
Antisemitismus, Rückkehr des großen Krieges in die europäische Politik.
Letzteres sehe ich anders. Den europäischen Großmächten gelang es
damals, die nationalstaatlichen Gründungskriege in Deutschland und
Italien auf europäische Regionalkriege zu begrenzen - eine große
Leistung. Obwohl die europäische Mächteordnung mit den beiden neuen
Staaten grundlegend verändert wurde und die nationalen Emotionen auf
allen Seiten brodelten, brach nicht der große europäische Krieg aus.
Das Buch endet mit der Charakterisierung der Reichsgründung aus
"heutiger Sicht" als "Pyrrhussieg" (248). Jansen begründet dieses
überraschende Urteil mit dem Ende der liberalen Reformära in den
siebziger Jahren. Rechtfertigt die zweite Reichsgründung, wie man das
genannt, was nun geschah, eine solche Einschätzung? Gewiss, der
Nationalstaat von 1871 war nicht der, den die Liberalen und erst recht
die föderativen Demokraten erstrebt hatten. Doch von einem Pyrrhussieg
zu reden, heißt, allen liberal-demokratischen Hoffnungen auf
Demokratisierung und volle Parlamentarisierung dieses Staates von
vornherein jede Chance abzusprechen. Ein solches Urteil halte ich auch
aus "heutiger Sicht" nicht für plausibel.
Christian Jansen ist ein höchst anregendes Buch gelungen, anregend
auch dort, wo man nicht zustimmt. Um es im Unterricht an der
Hochschule als Studienbuch einzusetzen, bedarf es aber wohl kräftiger
Unterstützung für die Studierenden. Die ausgewählte Literatur, das
Datengerüst und die Quellen in den Kapiteln bieten Hilfen. Dennoch setzt
der Autor viel voraus und seine Deutungen fordern eine kritische
Auseinandersetzung. Das Buch bietet also eine anspruchsvolle Meßlatte
im akademischen Unterricht.
Anmerkung :
[ 1 ] Es sei nur auf die Epochendarstellungen von James Sheehan:
German History 1770-1866, Oxford 1989, Wolfram Siemann: Gesellschaft
im Aufbruch. Deutschland 1849-1871, Frankfurt/M 1990, ders.: Vom
Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871, München 1995,
Harm-Hinrich Brandt: Deutsche Geschichte 1850-1870, Stuttgart 1999,
Friedrich Lenger: Industrielle Revolution und Nationalstaatsgründung,
Stuttgart 2003 und jüngst von Mark Hewitson: Nationalism in Germany,
1848-1866, New York 2010 verwiesen.
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