1 Standortbestimmung 1 Angewandte Sozialpsychologie: Eine Standortbestimmung Hans-Werner Bierhoff & Ann Elisabeth Auhagen Die Angewandte Sozialpsychologie ist Bestandteil der Sozialpsychologie. Warum spricht man dann überhaupt von „Angewandter Sozialpsychologie“? Der Begriff bringt zum Ausdruck, dass „eine wissenschaftliche Teildisziplin die Nützlichkeit der eigenen Forschung als Problem erkennt und auch bereit ist, sie unter Beweis zu stellen“ (Schultz-Gambard, 1987, S. XIII). 1 Grundlagen- und Anwendungsforschung beruhen auf dem gleichen wissenschaftlichen Paradigma Man kann sogar argumentieren, dass Anwendung und Grundlagenforschung dasselbe theoretische Rahmenkonzept des wissenschaftlichen Vorgehens beinhalten. In der Grundlagenforschung wird eine theoretische Erklärung für einen Tatbestand (z.B. Erhöhung der Motivation für eine Tätigkeit) gesucht. Ausgangspunkt der Anwendung ist eine bestimmte Problemlage, die mit einem zukünftigen Zustand in Beziehung gesetzt werden soll, und zwar mit Hilfe einer wissenschaftlichen Hypothese. BEISPIEL Wenn die Motivation am Arbeitsplatz gering ist In vielen Unternehmen beteiligen sich Mitarbeiter nur wenig an der Gestaltung ihres Arbeitsplatzes. Stattdessen bestimmt das Management den Arbeitsablauf durch Anweisungen, die von oben nach unten weitergereicht werden. Was folgt daraus für die Arbeitsmotivation der Mitarbeiter? Die wissenschaftliche Hypothese könnte lauten: Eine geringe Beteiligung der Mitarbeiter trägt dazu bei, dass die leistungsthematische Motivation gering ausfällt. Daraus ergibt sich die Prognose: Arbeitsbedingungen, in denen Mitarbeitern wenig Gestaltungsspielraum in Bezug auf ihren Arbeitsplatz zugestanden wird, führen zu einer niedrigen Arbeitsmotivation. 1 Grundlagen- und Anwendungsforschung beruhen auf dem gleichen wiss. Paradigma Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 1 1 Standortbestimmung Zwei Kernziele Angewandter Sozialpsychologie: Veränderungswissen und Optimierungswissen. Veränderungswissen. Gegenstand der sozialpsychologischen Anwendung ist zum einen, wie sich ungünstige Ausgangsbedingungen so verändern lassen, dass günstigere Effekte auftreten. Ein Schwerpunkt liegt also auf Hypothesen mit einem Veränderungswissen. Wenn z.B. die niedrige Beteiligung an der Arbeitsgestaltung der Mitarbeiter ihre Arbeitsmotivation verringert, dann lautet die Hypothese, dass eine hohe Partizipation der Mitarbeiter ihr Engagement erhöht (s. 19, Management und Motivation). Diese Hypothese liefert Veränderungswissen, wie sich die Problemlage so ändern lässt, dass die Arbeitsmotivation voraussichtlich steigt. Optimierungswissen. Ein zweites wichtiges Ziel ist die Verbesserung bestehender Abläufe. Nicht die Problemlage soll verändert werden, sondern der Prozess, der zu einem bestimmten Resultat führt, wird optimiert. Dieser zweite Kernbereich der Angewandten Sozialpsychologie konzentriert sich auf Optimierungswissen. Kreislauf der Hypothesen. Wenn eine Theorie einmal in ihren Grundzügen entwickelt wurde, werden neue und weiterführende Hypothesen aus dem schon vorhandenen Theoriegebäude abgeleitet. Dies ist eine für die Grundlagenforschung typische Vorgehensweise. Dabei werden Hypothesen entwickelt, die auf der Grundlage der inneren logischen Struktur der Aussagen der Theorie beruhen sowie auf den Ergebnissen, die theorierelevant sind und schon vorliegen. Das ändert aber nichts daran, dass die Theorie ursprünglich in aller Regel einen Praxisbezug aufweist. Bei der Grundlagenforschung verselbständigt sich der Prozess der Theorieüberprüfung. Ein Kreislauf der Aufstellung von Hypothesen und empirischer Überprüfung wird mehrmals durchlaufen, dann aber wieder mit der Praxis rückgekoppelt. Ein Beispiel ist die Forschung zur Gruppendynamik, die aus der Praxis kommt und nach erfolgreichen empirischen Untersuchungen in eine angewandete Gruppendynamik mündete (s. 7, Gruppendynamik). Wissenschaftstheoretischer Hintergrund. Der Forschungsprozess lässt sich in drei Zusammenhängen sehen: (1) Entstehungszusammenhang: Woher kommen die wissenschaftlichen Hypothesen? (2) Begründungszusammenhang: Wie lassen sich die Hypothesen empirisch prüfen? (3) Verwendungszusammenhang: Wie lassen sich die Erkenntnisse anwenden, die in den bewährten Hypothesen enthalten sind? (von Alemann, 1977) ^2 Angewandte Sozialpsychologie: Eine Standortbestimmung 1 Grundlagen- und Anwendungsforschung beruhen auf dem gleichen wiss. Paradigma Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 1 Standortbestimmung Diese drei Zusammenhänge sind aufs Engste miteinander verbunden. Entstehungszusammenhang und Verwendungszusammenhang sind praxisbezogen (Hypothesen werden in vielen Fällen aus der Praxis generiert, und sie werden – nach ihrer erfolgreichen Prüfung – vielfach in der Praxis verwertet). Folglich ist auch die wissenschaftliche Prüfung von Hypothesen in den Praxisbezug eingebettet. Aus dem Praxisbezug entstehen Theorien, die Hypothesen beinhalten, deren Gültigkeit empirisch unter Beweis gestellt werden kann. Hintergrund der Überprüfung von Forschungshypothesen ist dann der Begründungszusammenhang. Er baut auf einem wissenschaftlichen Begriffssystem auf und folgt einer wissenschaftstheoretisch abgesicherten Forschungslogik. Auf der Grundlage der Hypothese werden spezielle Prüfbedingungen hergestellt, um damit die Gültigkeit der Hypothese empirisch zu testen. Der Begründungszusammenhang umfasst auch eine Ergebnisbewertung, bei der gefragt wird, ob sich die Hypothese in dem empirischen Test bewährt hat oder nicht. Dabei wird die Forschungsfrage wieder in den ursprünglichen Problembezug zurück übersetzt. Dies zielt wiederum auf den Verwendungszusammenhang ab, der sich auf praktisch verwertbare Verbesserungsvorschläge bezieht. Nur gute Grundlagenforschung lässt sich erfolgreich anwenden, beispielsweise regte Kurt Lewin (1936), der Begründer der modernen Sozialpsychologie, ein eigenes Programm zur Anwendung sozialpsychologischen Wissens an, das als „Aktionsforschung“ bezeichnet wird und das Beckmann und Elbe (s. 34, Sportpsychologie) ausführlicher beschreiben. Wenn das wissenschaftliche Begriffssystem unzureichend ist oder der Forschungsprozess ungenau, sind keine praktisch verwertbaren Ergebnisse zu erwarten. Die hohe Praxisrelevanz einer wissenschaftlichen Disziplin ist ein Beleg für ihre methodische Reife. Sie umfasst eine angemessene Forschungslogik, eine Begriffsbildung und die erfolgreiche Herstellung von Prüfbedingungen. In diesem Sinne stellt Haisch (1983, S. 13) fest, dass „sozialpsychologisches Wissen zur Beantwortung von Fragen in der Form von Theorien vorliegt und jede empirische Prüfung einer Theorie Anwendung ist“ (Kursiv im Original). Es liegt in der Natur der Logik wissenschaftlichen Fortschritts, dass die Beantwortung von Grundlagenfragen und praktischen Fragen nach denselben Regeln erfolgt (vgl. Popper, 2002). Grundlagenforschung enthält also immer auch ein Anwendungselement. Popper (2002, S. 280) merkt dazu an: „Experimentieren ist geplantes Handeln, in dem jeder Schritt durch die Theorie gelenkt wird.“ Analog lässt sich sagen: Anwenden ist geplantes Handeln, in dem jeder Schritt durch Theorie gelenkt wird. Das kann verschiedene wissenschaftstheoretische Positionen einschließen und gilt sowohl für qualitative als auch für quantitative Forschung. 3 1 Standortbestimmung Herausforderungen für die Praxis. Wissenschaftliche Hypothesen sind prinzipiell auf alle Untersuchungseinheiten in einem Forschungsfeld anwendbar. Doch der Anwendungsfall ist im Allgemeinen komplexer als die Prüfbedingungen, unter denen sich die wissenschaftliche Hypothese bewährt hat. Dadurch ergeben sich besondere Herausforderungen für die Praxis. Bei der Anwendung wird ein Teilbereich aus allen möglichen Anwendungsfeldern ausgewählt (vgl. Kleinbeck, 1992). Die Anwendung wird nur dann erfolgreich verlaufen, wenn die Hypothese allgemein gültig ist. Allerdings ist die Hypothese auf ganz spezielle Bedingungen und vorgefundene Problemlagen zugeschnitten. In der Anwendung sind jedoch auch andere Bedingungen und Problemlagen zu berücksichtigen, die möglicherweise in anderen Hypothesen eine Rolle spielen. Für die Hypothese, dass mehr Partizipation die Motivation erhöht, ist also zu untersuchen, was die Arbeitsmotivation außerdem noch beeinflussen könnte, wie beispielsweise ein Entgeltsystem oder die Art der Leistungsrückmeldung (s. 19, Management und Motivation). Wechselspiel von Hypothesen. Ein komplexes Wechselspiel unterschiedlicher Hypothesen ist typisch für den Anwendungsfall. Es muss genau betrachtet werden, um konkrete Prognosen im Sinne von Empfehlungen abzuleiten. Denn die Anwendung einer Hypothese kann nicht auf einer Eliminierung von für die Hypothese irrelevanten Randbedingungen aufbauen, wie das in der Grundlagenforschung der Fall ist, sondern sie muss mit den konkreten Bedingungen der Praxis rechnen. 2 Bedeutung Angewandter Sozialpsychologie Bedeutung von Angewandter Sozialpsychologie kann in einem doppelten Sinne verstanden werden. Zum einen als Frage nach dem Nutzen einer solchen Disziplin: Wozu brauchen wir eine Angewandte Sozialpsychologie? Was bringt sie, das andere nicht bringen? Zum anderen als Frage nach der Klärung des Begriffs: Welcher Bedeutungsgehalt steckt in dem Konzept Angewandte Sozialpsychologie? Was ist Angewandte Sozialpsychologie? Hier lässt sich zum einen nach der Bedeutung von Sozialpsychologie fragen und zum anderen nach der von Angewandter Psychologie. Für beide Begriffe existieren diverse Diskurse und Vorschläge (Sozialpsychologie z.B. Auhagen, in diesem Band; Bierhoff & Herner, 2002; Feger & v. Hecker, 1999; Witte, 1994; Angewandte Psychologie z.B. Anastasi, 1973; Haisch, 1983; Graf Hoyos, 2000; v. Rosenstiel, 1994). Manche Autoren verweigern aber auch Definitionen, unter anderem weil sie darin eine voraussetzungsärmere Strategie sehen (z.B. Schultz-Gambard, 1987). ^4 Angewandte Sozialpsychologie: Eine Standortbestimmung Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 1 Standortbestimmung Wir möchten eine Zwischenposition beziehen und anstatt einer Definition von Angewandter Sozialpsychologie einen Orientierungsvorschlag anbieten. DEFINITION Angewandte Sozialpsychologie: Ein Orientierungsvorschlag Angewandte Sozialpsychologie kann als Teilbereich der Sozialpsychologie verstanden werden. Sie vermittelt Veränderungs- und Optimierungswissen mit Hilfe eines Wechselspiels verschiedener Strategien zwischen Forschung und Praxis im Feld sozialer Gegebenheiten. Das soziale Feld lässt sich aufspannen durch eine individuumsbezogene, eine interaktionsbezogene und eine Ebene sozialer Strukturen. Angewandte Sozialpsychologie setzt sich zusammen aus Kommunikation und Interaktion sowie Praxisfeldern, in denen die sozialen Aspekte das vorrangige Thema sind. Soziale Prozesse. Viele bekannte Definitionen von Sozialpsychologie treffen sich in der Idee, Sozialpsychologie sei eine Wissenschaft, die sich mit dem Erleben und Verhalten von Menschen in sozialen Bezügen oder Gegebenheiten befasst (vgl. Feger & v. Hecker, 1999). Diese sozialen Gegebenheiten und Prozesse können nach der inzwischen fast als „klassisch“ anzusehenden Einteilung von Graumann (1979) unterteilt werden in solche, die sich auf das Individuum beziehen, solche, die sich auf Interaktionen und solche, die sich auf soziale Strukturen beziehen. Dementsprechend werden Fragen behandelt, erstens die am Individuum, zweitens die an mindestens zwei Menschen und drittens die an sozialen Strukturen beobachtbar sind. Anwendung. Sie ist sinnverwandt mit Einsatz, Gebrauch oder Nutzung (Duden, 1982). Es fragt sich jedoch: Anwendung wovon eigentlich, wozu überhaupt und für wen? Graf Hoyos (2000) hat sich diesen Fragen für die psychologische Teildisziplin der Angewandten Psychologie gestellt. Er argumentiert, dass eine Position nicht umfassend genug sei, die unter Anwendung ausschließlich die Anwendung von Wissen, Methoden und Erklärungen aus der wissenschaftlichen Psychologie auf die Praxis verstehe. Vielmehr sollen Forschung und Praxis sich gegenseitig befruchten, ergänzen und aufeinander beziehen. Bezogen auf die Sozialpsychologie heißt das, dass die Bedeutung und der Gegenstand von Angewandter Sozialpsychologie nur zu einem ersten Teil aus der Anwendung von sozialpsychologischen Paradigmen, Konzepten, Theorien und Forschungsresultaten auf die Praxis bestehen kann. Alltagsphänomene erfassen und vorhersagen. Mindestens genauso wichtig ist der zweite Teil: die Betrachtung sozialer Phänomene in der Alltagspraxis. Auf2 Bedeutung Angewandter Sozialpsychologie Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 5 1 Standortbestimmung gabe der Angewandten Sozialpsychologie ist es, diese zu beobachten, sie adäquat zu erfassen, zu erklären, vorherzusagen und daraus Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis. Es bildet einen dritten ebenfalls gleichberechtigten Teil der Angewandten Sozialpsychologie. Dieses Wechselspiel beinhaltet im Idealfall die Optimierung von wie auch immer gearteter sozialer Praxis als auch eine mögliche Anpassung der Forschung, ihrer Theorien, Methoden und Ergebnisse an die sozialen Gegebenheiten und Prozesse in der Praxis. Hermeneutische Spirale. Manchen Forschungsparadigmen, wie dem – zum Beispiel in Teilen der Organisationspsychologie gern verwendeten – qualitativen Forschungsparadigma (z.B. Friebertshäuser & Prengel, 1997), ist ein solches Vorgehen inhärent und wird auch „hermeneutische Spirale“ genannt. Eine hermeneutische Spirale bezeichnet ein sich immer wieder auf verschiedenen Ebenen erneuerndes Verständnis für einen Gegenstandsbereich: Einem Vorverständnis folgt ein Gegenstandsverständnis, das wiederum von einem erweiterten Vorverständnis gefolgt wird, welches erneut ein erweitertes Gegenstandsverständnis hervorbringt und so fort (z.B. Mayring, 1993). Die dem qualitativen Paradigma folgende „gegenstandsbegründete Theorie“ (grounded theory, Glaser & Strauss, 1965/1974) zum Beispiel ist eine Theorie, die sich immer wieder an der Praxis entwickelt und prüft. Diese Theorie wurde verwendet im Zusammenhang mit dem Wunsch, bessere Bedingungen für Kranke und Sterbende und deren Umfeld zu schaffen (Glaser & Strauss, 1965/1974). Probleme erkennen und lösen. Anwendung hat unter anderem da ihren Platz, wo es gilt, im Alltagshandeln praktische Probleme zu erkennen und mit Hilfe von passenden Hilfsmitteln und sozialen Technologien längerfristige Lösungen zu erwirken. Diese Themenstellung wurde schon in dem ersten wegweisenden Buch der Angewandten Sozialpsychologie deutlich (Varela, 1971), das sich explizit der Bereitstellung von Lösungsvorschlägen für Alltagsprobleme unter besonderer Berücksichtigung von Arbeit und Beruf zuwandte. Anwendung hat auch dort ihren Platz, wo Schwierigkeiten und Konflikte spontan zu bewältigen sind (s. 8, Konfliktmanagement). Gestaltung des Alltags. Anwendung hilft uns ganz allgemein, unseren Alltag besser zu gestalten. Und damit wird klar, für wen Anwendung im Rahmen des sozialen Feldes, also der Sozialpsychologie, da ist: Für alle, die ihren sozialen Alltag bewusster gestalten und eventuell verbessern möchten. Dies kann im professionellen sowie im privaten Handeln der Fall sein. In diesem Zusammenhang hat Miller (1969) darauf hingewiesen, dass eine wichtige Aufgabe der wissenschaftlichen Psychologie darin besteht, den Alltagsmenschen über psychologische Me^6 Angewandte Sozialpsychologie: Eine Standortbestimmung Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 1 Standortbestimmung chanismen und Erkenntnisse zu informieren, das öffentliche Bewusstsein über psychologische Tatbestände in Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu bringen und psychologische Mythen, die in der Öffentlichkeit verbreitet sind, zu reduzieren. Das ist gemeint, wenn davon die Rede ist, dass Psychologen die Aufgabe haben „to give psychology away“. Praktische Sozialpsychologie. Auf eine weitere Differenzierung soll noch kurz aufmerksam gemacht werden: diejenige zwischen Angewandter Sozialpsychologie und Praktischer Sozialpsychologie (vgl. Graf Hoyos et al., 1992; v. Rosenstiel, 1994). Unter Praktische Sozialpsychologie fällt die Tätigkeit von Sozialpsychologinnen und Sozialpsychologen in einem Anwendungsfeld. Es geht um die Lösung von Alltagsfragen auf wissenschaftlicher Grundlage nach bestem Wissen, wie es dem Stand der Sozialpsychologie entspricht, ohne eigene Forschung. Das entspricht z.B. der Tätigkeit eines Schulpsychologen, der einen Konflikt zwischen Schülern und Lehrern beilegt, oder einer Mediatorin, die einen Erbstreit schlichtet (s. 9, Mediation). Während in der Angewandten Psychologie Forschung zu Problemen des Alltags durchgeführt wird, bezieht sich die Praktische Psychologie auf die Lösung von Alltagsfragen durch dafür ausgebildete Experten. Unser Band soll für verschiedene Zielgruppen nützlich sein: für Praktiker verschiedener Berufsgruppen sowie für (Sozial)psychologen, aber auch für Studierende und Lehrende. Zwischen Forschung und Praxis vermitteln. Und was bringt die Angewandte Sozialpsychologie, das andere nicht bringen? Sie ist eine Vermittlerin zwischen Forschung und Praxis im Feld sozialer Gegebenheiten und Prozesse (s. 34, Sportpsychologie). Sie vermittelt theoretisches und angewandtes Wissen über soziale Denkweisen, soziales Fühlen und soziales Handeln auf verschiedenen Ebenen und in diversen inhaltlichen Feldern sowie durch inhaltsübergreifende Strategien (siehe unten). 3 Themen und Inhalte Angewandter Sozialpsychologie Die Themen und Inhalte Angewandter Sozialpsychologie sind nach unserem Ansatz zweigeteilt: erstens inhaltsübergreifende Kommunikation und Interaktion und zweitens wichtige Praxisfelder. Kommunikations- und Interaktionsprozesse beinhalten allgemeine Ansätze, Betrachtungsweisen, Methoden und Techniken, nicht fokussiert auf ein spezielles inhaltliches Feld innerhalb der Gesellschaft. Bei den wichtigen Praxisfeldern handelt es sich dagegen um spezielle Bereiche aus Gesellschaft und täglichem Le3 Themen und Inhalte Angewandter Sozialpsychologie Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 7 1 Standortbestimmung Angewandte Sozialpsychologie Kommunikation und Praxisfelder Interaktion Kommunikation Rhetorik Trainings Moderation Beratung Verhandeln Gruppendynamik Konfliktmanagement Mediation Globalisierung Innovation Wissensmanagement Und weitere Möglichkeiten Organisation Wirtschaft Medien Schule Recht Gesundheit Umwelt Sport Und weitere Möglichkeiten Abbildung 1. Themen und Inhalte der Angewandten Sozialpsychologie ben. Diese Bereiche bilden in der Psychologie spezielle Schwerpunkte: Arbeitsund Organisationspsychologie, Gesundheitspsychologie, Medienpsychologie, Personalpsychologie, Politische Psychologie, Rechtspsychologie, Pädagogische Psychologie, Sportpsychologie, Umweltpsychologie oder Werbepsychologie. Viele dieser psychologischen Disziplinen – und weitere hier nicht genannte – sind im Wesentlichen eine Verwirklichung von Angewandter Sozialpsychologie, nämlich dann, wenn sich das Themenspektrum auf die sozialen Aspekte bezieht. Daher wird der Angewandten Sozialpsychologie auch ein „Querläuferstatus“ zugeschrieben (Lösel, 1987). Darüber hinaus hat Angewandte Sozialpsychologie auch interdisziplinäre Bezüge (Kleinbeck, 1992). Ihre Nähe zu Disziplinen wie beispielsweise Kommunikationswissenschaften, Betriebswirtschaft, Jura und Pädagogik ist leicht erkennbar. Beide Inhaltsbereiche der Angewandten Sozialpsychologie, die inhaltsübergreifenden Kommunikations- und Interaktionsprozesse und die wichtigen Praxisfelder, beeinflussen sich wechselseitig. Zu einer angemessenen Kommunikation ^8 Angewandte Sozialpsychologie: Eine Standortbestimmung Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 4 1 Standortbestimmung oder zum Konfliktmanagement gehören Fertigkeiten, die für alle Praxisfelder von Gewinn sein können. Umgekehrt bergen Praxisfelder auch spezielle Anforderungen und brauchen deshalb über allgemeine Strategien hinausgehende Kommunikations- und Interaktionsstrategien. Das führte zum Beispiel im Feld der Pädagogischen Interaktion (s. 31, Pädagogische Interaktion) zur Entwicklung kindgerechter Sozialtrainings (Petermann et al., 1999). Viele weitere Beispiele für die Entwicklung solcher bewährten Techniken finden sich in den Beiträgen der Autoren dieses Bandes, etwa bezogen auf Kommunikation (s. 2, Basics der Kommunikation), Rhetorik (s. 3, Rhetorik und Präsentation) und Beratung (s. 10, Beratung). Die Reflexion über Themen und Inhalte von Angewandter Sozialpsychologie zeigt: Die Angewandte Sozialpsychologie ist durchaus bis zu einem gewissen Grade flexibel, was die Auswahl der Inhalte angeht, weil sie nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum ausgeübt wird. Gesellschaftliche Entwicklungen sowie Trends und Entwicklungen in der psychologischen Forschung haben Einfluss darauf, was in bestimmten Zeitperioden als aktuell und wichtig in der Angewandten Sozialpsychologie angesehen wird. Vor dreißig Jahren wären die Themen Internet oder Mediation noch nicht Gegenstand dieses Gebiets gewesen, während Kapitel über sozialpsychologische Aspekte der Rechtspsychologie oder Organisationspsychologie schon damals im Zentrum des Interesses gestanden hätten. Und zum heutigen Zeitpunkt haben wir nur eine vage Vorstellung davon, was vielleicht eine Angewandte Sozialpsychologie in dreißig Jahren enthalten wird. Unsere Auswahl der in diesem Band präsentierten Themen und Inhalte orientiert sich an ihrer gesellschaftlichen und psychologischen Aktualität und Wichtigkeit. Dass wir dennoch auf eine Reihe von Inhalten verzichten mussten, die es auch wert gewesen wären, aufgenommen zu werden, liegt an der Platzbeschränkung, der auch umfangreichere Bücher unterliegen. Angewandte Sozialpsychologie exemplarisch vorgeführt Welche Möglichkeiten stecken in Angewandter Sozialpsychologie? Dies wollen wir mit zwei Beispielen verdeutlichen – einem aus dem Bereich der Umweltpsychologie und einem aus dem Bereich der Wirtschaftspsychologie. Beispiel Umweltpsychologie. Wie kann man Menschen dazu bringen, nicht nur umweltbewusst zu denken, sondern auch so zu handeln? (s. 35, Umweltpsychologisch intervenieren). Das verweist auf die Einstellungsforschung im Allgemei4 Angewandte Sozialpsychologie exemplarisch vorgeführt Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 9 1 Standortbestimmung nen und das Thema der (fehlenden) Konsistenz zwischen Einstellung und Verhalten im Besonderen (vgl. Manstead, 1996). Warum werden umweltfreundliche Einstellungen häufig nicht in entsprechendes Verhalten umgesetzt? Wie lässt sich z.B. Energie sparendes Verhalten vermitteln (vgl. Frey et al., 1987)? Ein bestimmtes Bündel von sozialen Einstellungen, das sich im Begriff des Umweltbewusstseins verdichtet, lässt sich als Determinante des individuellen Energieverbrauchs auffassen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wann das Umweltbewusstsein die individuellen Entscheidungen zum Energieverbrauch beeinflusst. Weiterhin ist im Sinne der Verhaltensmodifikation danach zu fragen, ob Informationsdefizite für Energieverschwendung ursächlich sind. Zu berücksichtigen sind auch Techniken der Ausübung von sozialem Einfluss, die die Bindung an Energiesparmassnahmen beeinflussen, wie z.B. die Foot-in-the-door Technik (s. 35, Umweltpsychologisch intervenieren). Hierbei verpflichtet sich die Person mehr und mehr selbst, energiesparend zu handeln. Außerdem können Selbstüberwachungsstrategien hilfreich sein, die eine regelmäßige Rückmeldung über das erfolgreiche Energiesparen erlauben. Schließlich ist neben personalen Faktoren auch auf strukturelle Maßnahmen zu achten, wie sie z.B. in der staatlichen Förderung umweltfreundlichen Handelns zum Ausdruck kommen. Eine ähnliche Unterscheidung zwischen personalen und strukturellen Einflüssen wird von Wunderer (s. 17, Führung) bezogen auf das Führungsverhalten gemacht. Sozialer Einfluss im angewandten Kontext zielt entweder auf die strukturellen Rahmenbedingungen ab oder auf zielgerichtete Handlungsmuster. Beispiel berufliche Selbständigkeit. Welche Personen sind motiviert, sich beruflich selbständig zu machen, und welche Personen sind damit erfolgreich (s. 28, Berufliche Selbständigkeit)? Für den Entschluss, sich selbständig zu machen, spielen Sozialisationseinflüsse durch Eltern, aber auch durch Lehrer, die Unternehmertum ermutigen, eine große Rolle. Der Erfolg der Selbständigkeit wird nicht zuletzt durch die Persönlichkeit bestimmt, zum Beispiel durch die Fähigkeit, sich durchzusetzen. Eine weitere Determinante des unternehmerischen Erfolges sind Einstellungen, von denen wir schon im Kontext der Umweltpsychologie gesehen hatten, dass sie nicht zu vernachlässigen sind. 5 Gesellschaft und Angewandte Sozialpsychologie Angewandte Sozialpsychologie findet nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt. Gesellschaftliche Bedingungen vielerlei Art, wie politische, historische, wirtschaftliche, ökologische, soziale, religiöse und humanitäre Prozesse, bilden den großen Rahmen dieser Disziplin. ^ 10 Angewandte Sozialpsychologie: Eine Standortbestimmung Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 1 Standortbestimmung Grenzen und Chancen Grenzen. Grenzen werden zum Beispiel deutlich, wenn man politische Gesichtspunkte mit einbezieht. Die Rechtspsychologie wird wesentlich in ihren Möglichkeiten durch Gesetze und Vorschriften mitbestimmt. Diese juristischen Vorgaben lassen sich nur sehr bedingt durch sozialpsychologische Anwendungen beeinflussen. Die die Gesetzgebung tragende Legislative kann zur Vorbereitung einzelner Gesetze auf sozialpsychologisches Wissen zurückgreifen. Ob gegebenenfalls diese Gesetzentwürfe aber politisch durchzusetzen sind, ist eine andere Frage. Herausforderungen und Chancen. Häufig bergen politische, juristische und soziale Bedingungen aber Chancen und Herausforderungen für die Angewandte Sozialpsychologie. So können verschiedene Formen von angewandter Kommunikation, wie Trainings oder Konfliktmanagement, in diversen Organisationen, wie Schulen, Betrieben oder Gefängnissen, zu Verbesserungen der Fähigkeiten von Einzelpersonen oder zur Verbesserung der Effizienz der Organisation insgesamt führen (s. 2, Basics der Kommunikation; 4, Trainings; 8, Konfliktmanagement). Ebenso kann ein stärker erwachendes gesellschaftliches Bewusstsein über den Umgang mit der eigenen Gesundheit oder in Bezug auf – neue und alte – Medien mit Hilfe sozialpsychologischer Ansätze und Techniken zu einem verbesserten Lebensgefühl führen (s. 29, Medien; 30, Internet; 33, Gesundheit und Prävention). Erfolge in der Angewandten Sozialpsychologie sind auch in der Konsumenten-, der Werbepsychologie und der Forschung über Dienstleistungen zu verzeichnen (s. 22, Freiwilliges Arbeitsengagement; 25, Dienstleistung; 26, Konsumentenpsychologie; 27, Werbung). Nutzen. Schließlich ist seit langem der Nutzen der Angewandten Sozialpsychologie bei juristischen Problemen greifbar geworden, der an dieser Stelle exemplarisch etwas ausführlicher dargestellt werden soll. Dazu zählt das Wissen über Verfahrensgerechtigkeit, das für Gerichtsverfahren genutzt werden kann, um die Stellung von Täter und Opfer angemessen zu definieren. Ein besonderes Anwendungsfeld liegt in dem Teilbereich der Psychologie der Zeugenaussage, der sich u.a. mit dem Gehalt von Aussagen von Kindern vor Gericht befasst. Durch verschiedene Methoden wie Videoeinsatz kann erreicht werden, dass die Umstände der Aussage verbessert werden. Weiterhin ist die Befragungstechnik von Tätern und Opfern ein wichtiges Forschungsfeld der Angewandten Sozialpsychologie (s. 32, Rechtspsychologie). Eine weitere Fragestellung bezieht sich auf die Furcht vor Kriminalität, die subjektive Risikowahrnehmung und die damit zusammenhängenden Möglichkeiten zur Steigerung des subjektiven Sicherheitsgefühls. Schließlich geht es auch 5 Gesellschaft und Angewandte Sozialpsychologie Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 11 1 Standortbestimmung um den Versuch, kriminelles Verhalten zu erklären und zu seiner Vermeidung beizutragen. Ein Beispiel ist die Bluttat eines von der Schule verwiesenen Schülers, der in Erfurt zahlreiche Lehrer und Schüler durch gezielte Schüsse umbrachte. Antworten auf die Frage nach den Ursachen erfüllen ein wichtiges gesellschaftliches Bedürfnis, nämlich Erklärungen zu erhalten für ein schwer verständliches Gewaltphänomen. Einfluss der Angewandten Sozialpsychologie Die Vielseitigkeit und die Nützlichkeit der Angewandten Sozialpsychologie stehen also außer Frage. Warum aber ist dann die Angewandte Sozialpsychologie bislang als hilfreiches Werkzeug in der Öffentlichkeit eher wenig bekannt? Warum scheint ihr Einfluss auf die Lösung gesellschaftlicher Probleme dennoch bisweilen so bescheiden? Ein beredtes Beispiel dafür sind die umweltpsychologischen Forschungsarbeiten zu Möglichkeiten der verstärkten Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs (z.B. Bamberg, 2000). Trotz aller Forschung nimmt der Vorrang der privaten PKW-Nutzung in den letzten Jahren weiter zu. Nach Berechnungen des ifoInstituts (berichtet in Fischer Weltalmanach 2001, S. 1231) ist die PKW-Dichte in Deutschland zwischen 1970 und 2000 kontinuierlich und substantiell gestiegen. Auto fahren stellt – zumindest in Deutschland –, man könnte fast sagen, eine Art Dogma dar. Für den manchmal bescheiden erscheinenden Einfluss der Angewandten Sozialpsychologie bei der Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen lassen sich verschiedene Ursachen vermuten (vgl. auch Graf Hoyos et al., 1992; Kleinbeck, 1992, die weitere Gründe nennen). Vertrauen. Nur wer Vertrauen in den Nutzen sozialpsychologischer Erkenntnisse hat, wird diese auch vermehrt nutzen. Wenn das Vertrauen nicht gegeben ist, besteht die Gefahr, dass die Beteiligten mit Abwehr und Blockaden reagieren. Vertrauen kann unter anderem gefördert werden durch positive Vorerfahrung (Schweer & Thies, 2003). Kommunikation sozialpsychologischen Wissens. Es ist auch eine Frage der Verbreitung und Kommunikation von sozialpsychologischem Wissen, ob dieses in der Alltagspraxis eingesetzt wird. Hierzu lässt sich erst einmal feststellen, dass viele Angebote und Techniken wie Konfliktmanagement, Mediation, Kommunikation und Rhetorik, Gruppendynamik und andere grundlegende Interaktionsstrategien (siehe erster Teil in diesem Band) genuin sozialpsychologischer Natur sind, ohne dass sie unter diesem Label in der Praxis angewendet werden. Das ist nicht unbedingt kritikwürdig, denn es zeugt von der Spannbreite und interdisziplinären Nützlichkeit sozialpsychologischer Erkenntnisse. Dennoch ist es si^ 12 Angewandte Sozialpsychologie: Eine Standortbestimmung Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 1 Standortbestimmung cher wünschenswert, dass die Angewandte Sozialpsychologie ihre unbestrittenen Beiträge und Leistungen besser dokumentiert und besser kommuniziert. Dazu soll auch der vorliegende Band beitragen. Passung und Anpassung. Schließlich ist es eine Frage der Passung und Anpassung, ob Sozialpsychologie in alltäglichen Umgebungen ihre Anwendung findet. So kann die betreffende soziale Struktur, etwa eine Arbeitsorganisation, den neuen sozialpsychologischen Zielsetzungen angepasst werden. Wenn zum Beispiel in einem Unternehmen das Ausmaß der Eigenverantwortung der Mitarbeiter gesteigert werden soll (s. 20, Verantwortung in Organisationen), bedarf es einer Unternehmenskultur, die ein eigenverantwortliches Verhalten der Mitarbeiter positiv darstellt. Außerdem ist es wünschenswert, dass die Unternehmensleitung in Übereinstimmung mit dieser Unternehmenskultur handelt, um die üblichen Diskrepanzen zwischen Reden und Handeln zu vermeiden, die jede Glaubwürdigkeit unterminieren können. Wichtig ist aber auch, dass vorhandene Anreizsysteme, wie Bezahlung oder zusätzliche Prämien, nicht im Widerspruch zu dem Verhaltensmuster stehen, das in einem Veränderungsprozess herbeigeführt werden soll, sondern im Einklang mit ihm. Ethische Basis Weil Angewandte Sozialpsychologie in einer ständigen Interaktion mit gesellschaftlichen Anforderungen, Themen und Inhalten steht, kann sie ethische Gesichtspunkte gar nicht ausklammern (vgl. auch Graf Hoyos et al., 1992). Eine solche Diskussion wird in bestimmten Teilbereichen wie der Organisationspsychologie schon länger geführt (Berkel, 1994; Bierhoff & Auhagen, 2002). Die Frage ist: Soll man unter der Bezeichnung sogenannter „wertfreier Wissenschaft“ dieses Problem implizit behandeln oder soll man sich dieser Diskussion explizit stellen? Implizite Diskussion. Bislang bevorzugten viele Forschende und Anwender die erstgenannte Strategie. Wer aber Angewandte Sozialpsychologie ausübt, dessen Überlegungen und Handlungen haben ethische Bezüge: Ist jede Innovation zum Wohl von Menschen (s. 15, Innovation)? Bringt die Globalisierung auch humanitäre Nachteile mit sich (s. 14, Auswirkungen der Globalisierung auf die Arbeitswelt)? Berührt nicht die Personalauswahl individuelle Schicksale (s. 16, Personalauswahl)? Kann man nicht auf ethische und weniger ethische Weise verhandeln (s. 6, Verhandeln)? Wer ethische Probleme nicht wahrnimmt, reflektiert und Position bezieht, der kann, ohne dass es ihm bewusst wird, zum Handlanger anderer werden. Ein Beispiel: Nach dem Attentat auf das World-Trade-Center in New York erschien in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein Bericht darüber, wie Lehrerinnen und Leh5 Gesellschaft und Angewandte Sozialpsychologie Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union. 13 1 Standortbestimmung rer in den USA sich freiwillig in Bezug auf Krieg psychologisch trainieren lassen (Kerstin Kullmann: Lehrer lernen Krieg. Die Zeit, Nr. 11, 7. 3. 2002, S. 47). Explizite Diskussion. Wird die ethische Diskussion im Rahmen der Angewandten Sozialpsychologie explizit geführt, kann dies auf verschiedenen Ebenen geschehen. Für die Forschenden bedeutet dies zum Beispiel die Abklärung von Fragen über die Zielsetzung der Forschung, deren Gegenstand und Methodik. Für die Anwender schließt es die Auswahl der Techniken ebenso ein wie den Diskurs über die Normen, die für die jeweilige Anwendungssituation relevant sind. Lassen sich übergeordnete Leitlinien für eine Ethik Angewandter Sozialpsychologie finden? Das ist sicher schwierig angesichts vieler kontroverser Positionen. Dennoch: Angewandte Sozialpsychologie hat dann eine Chance, tatsächlich zu verändern und zu optimieren, wenn sie unter Berücksichtigung der Würde jedes einzelnen agiert, wenn sie Achtung, Akzeptanz und Nächstenliebe in Bezug auf andere Menschen einschließt und gleichzeitig jede Form der Gewalt ablehnt. Offenheit für gesellschaftliche Bedingungen Angewandte Sozialpsychologie und praktische psychologische Tätigkeit stellen ein Zwillingspaar dar, das gut zusammenpasst und das die Grundlagenforschung mit den Techniken der Intervention und Beratung verbindet. Die Lösung von Einzelproblemen im Berufsalltag von psychologischen Expertinnen und Experten kann durch die Angewandte Sozialpsychologie wesentlich gefördert werden. Neben psychologischem Fachwissen und Kenntnis der Detailprobleme vor Ort ist für die erfolgreiche Nutzung und die Praxis von Angewandter Sozialpsychologie noch etwas anderes notwendig: das Interesse und die Offenheit für die sozialen, institutionellen und ökonomischen Bedingungen unserer Gesellschaft (s. 9, Mediation). Wer sich zum Beispiel noch nie mit wirtschaftlichen Dingen befasst hat, nicht einmal die Wirtschaftsseiten von Zeitungen studiert hat, läuft Gefahr, von Organisation und Wirtschaft nur ungenügend akzeptiert zu sein. Es kommt darauf an, sowohl die lokalen Gegebenheiten und Prozesse zu kennen, als auch die globalen Zusammenhänge, unter denen sie stattfinden. Die wirksame Anwendung der Sozialpsychologie setzt voraus, dass die Expertinnen und Experten mündige Bürger sind, die sich in ihrer Gesellschaftsordnung auskennen. Dies schließt die Kenntnis aktueller politischer und wirtschaftlicher Diskussionen ein. Erfolgreiche Anwendung und Praxis von Sozialpsychologie in den diversen Feldern und Bereichen verbindet deshalb letztendlich drei Aspekte: erstens die Fachkompetenz, die vorrangig bedeutsam ist, zweitens die Kenntnis der jeweils lokalen Besonderheiten und drittens ein übergreifendes gesellschaftliches Hintergrundwissen. ^ 14 Angewandte Sozialpsychologie: Eine Standortbestimmung Auhagen/Bierhoff (2003). Angewandte Sozialpsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.