SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde "Vier hoch fünf" Streichquartette im Profil (4) Von Christian Schruff Sendung: Donnerstag, 23. Oktober 2014 Redaktion: Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 SWR 2 Musikstunde mit Christian Schruff 23.10.2014 Donnerstag, "Vier hoch fünf" Streichquartette im Profil (4) Signet: SWR 2 Musikstunde Mit Christian Schruff. Herzlich willkommen zu „Vier hoch fünf“ – Streichquartette im Profil. Heute im vierten Teil: das Artemis Quartett. Titelmusik So expressiv, als wäre die Musik ganz neu, dabei akribisch, präzise und voll Energie und Temperament: Das Berliner Artemis Quartett hat sich den Ruf erworben, so zu musizieren. Und es hat sich diese kompromisslose Art erhalten, obwohl von den vier Mitgliedern, die das Artemis Quartett vor 25 Jahren gegründet haben, nur noch einer dabei, der Cellist Eckart Runge. Hier spielt er das Finale aus Ludwig van Beethovens Streichquartett Nr. 6, B-Dur, mit der Besetzung, in der das Artemis Quartett fünf Jahren lang erfolgreich gewesen ist: Natalia Prishepenko und Gregor Sigl, Violine, Friedemann Weigle, Viola, und Eckart Runge, Cello. *Musik 1 CD Track 5 Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 6 B-Dur, op. 18, Nr. 6 5. Satz: Allegretto quasi allegro Artemis Quartett (Aufn. 2009) VIRGIN, 50999 694584 0 8, LC07873 4:31 Absage Mit Beethoven hat das Artemis Quartett mal angefangen, 1989 in Lübeck, als man zum ersten Mal zusammen spielte. Und Beethovens Musik ist bis heute der „Markenkern“ des Ensembles. Immerhin sind die vier Musiker Ehrenmitglieder des Beethovenhauses Bonn. Als das Ensemble zwanzig Jahre seines Bestehens feierte, da legte es einen Beethoven-Zyklus auf und spielte ihn in Berlin, wo es längst seinen Sitz hat, daneben in der 3 Beethoven-Stadt Wien, in London, Paris, Tokyo und in Florenz. Das Artemis Quartett ist zur Zeit das Beethoven Quartett, so wie es vorher vielleicht das Alban Berg Quartett gewesen ist und davor das Quartetto Italiano. Friedemann Weigle, der Bratscher hat mir als Grund für die besondere Affinität zu Beethovens Musik gesagt, dass es die Gegensätze seien, die das Quartett immer wieder herausfordern. Beethovens Lieblingsdynamik sei das „Subito“, das plötzliche Umschlagen der Charaktere. Ein Satz, den Walter Levin den Musikern mitgegeben hat, der Primarius des La Salle-Quartetts. Levin war der erste Mentor des Artemis Quartetts. Als sie 1996 den ARDMusikwettbewerb gewonnen haben und im Jahr darauf den renommierten italienischen Preis „Paolo Borciani“, da haben die vier Musiker sich nicht sofort in die Konzertsäle und Aufnahmestudios gestürzt, um ihre Karriere voran zu bringen, sondern sie haben erst einmal weiter studiert. Beim legendären Alban Berg Quartett in Wien haben sie anderthalb Jahre lang gelernt, danach beim Emerson String Quartet in den USA. Und zuletzt gingen sie mit Walter Levin noch ins „Berliner Wissenschaftskolleg“ - zum Üben, aber auch, um sich geistig auszutauschen mit Spitzenköpfen aus ganz anderen Fächern. Denn Streichquartettspielen – das ist eine besonders intellektuelle Form des Musizierens. Musik 2 CD I, Track 3 & 4 > 00:38 Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 9 C-Dur, op. 59, Nr. 3 „Rasumowky“ 3. Satz: Menuetto. Grazioso & Beginn der Schlussfuge Artemis Quartett (Aufn. 1998) VIRGIN, 50999 694584 0 8, LC07873 6:07 Absage Das Artemis Quartett in einer Aufnahme von 1998 in der Besetzung, die kurz vorher zwei wichtige internationale Preise gewonnen hatte – den Premio Paolo Borciani und den ARD-Musikwettbewerb - mit Natalia Prishepenko und Heime Müller, Violine, Volker Jacobsen, Viola, und Eckart Runge, Cello. 4 Das Radikale, das Kompromisslose in Beethovens Musik fasziniert die Musiker immer wieder. Und gerade in den frühen Jahren des Quartetts, als die Musiker alle noch in ihren 20ern waren, da hatte jeder von ihnen auch persönlich wenig Lust auf Kompromisse. Beethoven sei zugleich klassisch und modern, ja sogar aufmüpfig, hat mir der Cellist Eckart Runge gesagt, und das passe eben zu ihnen. Darum sind die vier Musiker auch nicht von der Musikhochschule in eines der Spitzenorchester gegangen, wo sie dann entweder nach der Pfeife eines Dirigenten hätten spielen müssen oder eines Stimmführers, wie Bratscher Volker Jacobsen einmal sagte. Alle vier suchten die Freiheit, brauchten den demokratischen Prozess, sich in der Gruppe abzustimmen. Dieser Prozess erzeugt Reibungen, er bringt aber auch jeden der vier Musiker dazu, für seine Ansichten zu kämpfen. Dazu gehören Debatten, dazu gehört aber auch vor allem das Ausprobieren – und auch das Wissen darum, dass die Auseinandersetzung nie zu Ende ist. Schon im nächsten Konzert kann man alles anders spielen, muss vielleicht sogar anders spielen, weil ein Saal ganz anders klingt als der andere. Lange haben sich die Geigen im Artemis Quartett abgewechselt, die Positionen von erster und zweiter Geige getauscht. Daraus ist durchaus Konkurrenz im Innern erwachsen, aber auch eine kreative Kraft. Der ehemalige Artemis-Bratscher Volker Jacobsen fand, dass dieses Potential die Cavatine in Beethovens Opus 130 geradezu atemberaubend schön habe werden lassen. Denn beide Geigen hätten sich gegenseitig im schönen Spiel übertrumpfen wollen. Hier spielen Natalia Prishepenko und Gregor Sigl. Musik 3 CD Track 10 Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 13 B-Dur, op. 130 5. Satz: Cavatina. Adagio molto espressivo Artemis Quartett (Aufn. 2009) VIRGIN, 50999 694584 0 8, LC07873 Absage 6:16 5 Zur selben Zeit, in der das Artemis Quartett sich mit dem späten Beethoven beschäftigt hat, haben die vier Musiker auch drei SchubertQuartette eingespielt. Eine „Exkursion in Traumwelten von Schubert“ hat Eckart Runge das genannt. Den „Schubert-Ton“ zu finden, sei gar nicht so schwer gewesen, sondern sogar eine willkommene Abwechslung gewesen für das Quartett im „Beethoven-Modus“. Was Schubert von seinem Wiener Zeitgenossen Beethoven grundlegend unterscheide, das sei vor allem das Liedhafte seiner Erfindungen, seine schlichten Melodien, manchmal sogar sein naiver Ton. Aber dann haben die Musiker auch überraschende Parallelen entdeckt. Denn auch Schubert habe die Quartettkunst erneuert, er habe die Dimensionen erweitert, im späten G-Dur-Quartett sogar bis ins Sinfonische. Und er habe auch die Kontraste bis in Extreme ausgenutzt. Hier der 2. Satz, das Andante aus dem a-Moll-Quartett Nr. 13, in dem Schubert eine seiner Lieblingsmelodien verwendet hat. In seiner Schauspielmusik zur „Rosamunde“ erklingt sie in einer Zwischenaktmusik und von daher rührt der Name „Rosamunden-Quartett“. Musik 4 CD I, Track 6 (7:09) Franz Schubert: Streichquartett Nr. 13 A-Moll (D 804) „Rosamunde“ 2. Satz: Andante Artemis Quartett VIRGIN, 50999 602512 2 0, LC07873 4:28 Absage Die Kammermusik-Agentin Sonia Simmenauer hat ihr Leben den großen Quartetten gewidmet, dem Alban Berg Quartett, dem Guarneri Quartett und auch dem Artemis Quartett. „Leben im Quartett“ heißt deshalb ein kleiner Band im Untertitel, in dem sie von ihren Erfahrungen mit Quartettmusikern schreibt und worin sie diese auch zu Wort kommen lässt. Eckart Runge, Cellist im Artemis Quartett, zitiert Simmenauer mit diesen Zeilen: „Für mich gibt es zwei gleichwertige Dinge, die das Quartett zu der vollkommensten musikalischen Form machen. Da ist zunächst das 6 Repertoire: Komponisten aller Epochen haben für diese Besetzung ihre vielleicht schönsten und vor allem avanciertesten Werke geschrieben. ... [Das Quartett war] zugleich ein Experimentierfeld wie auch die ideale Form, die innigsten und persönlichsten Empfindungen ausdrücken zu können. Ebenso reizvoll wie das Repertoire finde ich das Menschliche im Quartett: Man ist ein Team, in dem man Verantwortung teilt, annimmt und abgibt ... [Dadurch] ist man ein hundertprozentig unersetzlicher Teil des Ganzen mit aller Verantwortung, aber ohne jemals allein zu sein – das ist für mich ein Idealmodell. Das fast utopische Ideal einer funktionierenden Gemeinschaft.“ Soweit Eckart Runge in Sonia Simmenauers Buch „Muß es sein? Leben im Quartett“. Nachdem verschiedene Zeitgenossen für das Artemis Quartett komponiert haben, z.B. Jörg Widmann oder Mauricio Sotelo, hat das Quartett nun zum ersten Mal einen Kompositionswettbewerb ausgelobt. Alle drei Jahre soll der „Artemis Wettbewerb“ stattfinden, 2015 zum ersten Mal. Vor allem soll er für Komponisten ein Anreiz sein, für diese Besetzung zu schreiben. Es gibt keine Altersbeschränkung. Das Siegerwerk soll im Januar 2016 uraufgeführt werden, in der Berliner Philharmonie, und danach noch in der Alten Oper Frankfurt, im Wiener Konzerthaus und im legendären Kammermusiksaal in London, in der Wigmore Hall. In dieser SWR 2 Musikstunde können wir auf diese Zukunftsmusik nicht warten, darum hier jetzt drei Sätze aus dem 1. Streichquartett des Ungarn György Ligeti, ein Werk aus dem Jahre 1956 mit deutlichem Bezug zu Béla Bartók. Musik 5 CD I /Tracks 7, 8, 9 5:16 György Ligeti: aus Streichquartett Nr. 1 „Métamorphoses nocturnes“ 7.-9. Satz: Tempo di Valse ...; Subito prestissimo; Allegretto, un poco gioaviale Artemis Quartett (Aufn. 1999) WARNER MUSIC, 50999 6 27905 2 9, LC06646 Absage 7 „Rock’n’Roll“ und „Gänsehaut“ – diese beiden Schlagworte fallen Bratscher Friedemann Weigle immer wieder ein, wenn er das Spiel seines Artemis Quartetts beschreiben soll. „Rock’n’Roll“ steht dafür, dass jeder jederzeit alles gibt für die Musik – übrigens spielt das Artemis Quartett im Stehen. Die „Gänsehaut“ steht dafür, dass man immer wieder auf die Suche geht, in jedem Konzert, nach den magischen und wunderbaren Momenten, die unter die Haut gehen. Bei der Suche nach solchen Momenten greifen die Artemis-Musiker oft erst zu Worten, dann erst zu den Instrumenten, denn das Verbalisieren helfe, genau zu bestimmen, um welche Nuance es geht. Seit 2012 ist der Wortschatz für diese Suche größer geworden, denn mit Vineta Sareika hat das Ensemble eine neue 1. Geige bekommen und seitdem wird auf Englisch geprobt. Eine der vielen positiven Veränderungen, von denen es im Laufe von 25 Jahren Quartettgeschichte einige gegeben hat. Gregor Sigl und Friedemann Weigle kamen 2007 neu ins Artemis Quartett und gingen mit viel Lampenfieber ins erste gemeinsame Konzert in Salzburg. Doch sehr schnell hat das Ensemble seinen Ton gefunden. Impulse zur Entwicklung bieten auch immer wieder Entdeckungen außerhalb des klassischen Repertoires. 2004 auf der „Schubertiade Schwarzenberg“ spielte das Artemis Quartett die „Suite del Angel“ von Astor Piazolla, dessen Musik – so Eckart Runge – „ähnlich wie Schubert, zwischen traumhaft schön und todtraurig“ changiert. Musik 6 CD Tack 8 Astor Piazolla Suite del Angel 2. Satz: Tango del Angel Artemis Quartett WARNER CLASSICS, 50999 267292 0 6, LC07873 4:36 Absage Die Suche nach der neuen Primaria war schwierig, zumal sie nicht in einem öffentlichen Casting stattfinden durfte, sondern diskret geschehen musste. Es gab eine lange Liste von Geigern, die in Frage kamen, die die Kriterien erfüllten. Gesucht wurde ein Musiker oder eine Musikerin mit Solisten-Qualitäten, aber ohne Solo-Ambitionen; denn neben dem 8 Quartett lassen sich keine 100 Solo-Auftritte absolvieren. Der Kandidat musste außerdem teamfähig sein, um in der besonderen Demokratie des Artemis Quartetts zu funktionieren. Das Ensemble versteht sich als „urbanes“ Quartett, es residiert in Berlin, und zu Berlin passe diese innere Struktur eben. Ein primarius-zentriertes Quartett mit klarer Hierarchie passe eher nach Wien. Der oder die Neue musste also auch in Berlin leben – und Kammermusikerfahrung haben. Am Ende blieben sechs Kandidaten. Beim Probespiel mit Vineta Sareika war klar: Hier passen Flexibilität und aufeinander Eingehen am besten. Und so fiel die Wahl auf sie, die Lettin, die in der russischen Geigenschule ihre Wurzeln hat, aber in Frankreich studiert hat. Erste gemeinsame CD ist das Mendelssohn-Album aus diesem Jahr. Über das Tempo für das Intermezzo im a-Moll-Quartett wurde anfangs gestritten. Vineta Sareika wollte ihre wunderbare Gesangsmelodie gerne langsam aussingen, ihr Geigenkollege hätte es lieber schneller gehabt. Kompromisse aber lehnt das Artemis Quartett ab. Hier ist das Ergebnis. Musik 7 CD II / Track 3 Felix Mendessohn Bartholdy Streichquartett Nr. 2 a-Moll op. 13 3. Satz: Intermezzo Artemis Quartett WARNER CLASSICS/ERATO, 0825646366903, LC00200 4:54 Absage Um Mendelssohn hat das Artemis Quartett lange einen Bogen gemacht. Im 25. Jahr seines Bestehens wird nun diese Repertoirelücke gefüllt mit Vineta Sareika am 1. Geigenpult und mit Musik, für die sich die ArtemisMusiker vor allem wegen der Spannungsfelder interessieren, in denen sie entstanden ist: zwischen Klassik und Romantik, zwischen Judentum und Christentum, zwischen jugendlichem Überschwang und reifer Komponistenpersönlichkeit. Mit der neuen 1. Geige sei das Artemis Quartett „jünger, blonder und französischer“ geworden, schrieben die Zeitungen. Nur in Frankreich fand man, der Ton sei „deutscher“ geworden. Ganz sicher aber bleibt das 9 Quartett eines der führenden Quartette. Benannt hat es sich übrigens nach der Jagdgöttin Artemis. Deren Attribut ja auch der Bogen ist, Mittlerweile unterrichtet das Artemis Quartett auch und kann auch da schon einen bemerkenswerten Erfolg verzeichnen: 2012 gewann das „Armida“-Quartett aus seiner Schule den ARD-Wettbewerb. Leicht wird es für neue, junge Quartette nicht auf dem harten Musikmarkt. Sie brauchen neben Fleiß und Können auch Glück – wie es das Artemis Quartett auch immer hatte. Musik 8 CD I / Track 1 (12:39) Felix Mendessohn Bartholdy Streichquartett Nr. 3 D-Dur op. 44, Nr. 1 1. Satz: Molto allegro vivace Artemis Quartett WARNER CLASSICS/ERATO, 0825646366903, LC00200 3... Absage Das war die SWR 2 Musikstunde mit Christian Schruff: "Vier hoch fünf" - Streichquartette im Profil (4) Morgen stelle ich Ihnen zum Abschluss dieser Reihe das Mandelring Quartett vor.