Süddeutsche Zeitung Dienstag, 4. März 2008 Abgründig, versöhnlich Heinz Holligers zweites Streichquartett in Köln uraufgeführt Mit Mozart verlor das Streichquartett seine Unschuld. Mozarts Bekenntnis) er habe es sich mit den sechs Quartetten, die er dem verehrten Kollegen Joseph Haydn widmete, wahrlich nicht leicht gemacht, entriss die Gattung im Handstreich der dilettantischen Unbekümmertheit. Fortan gaben Komponisten im Streichquartett ihr Letztes und Inners- tet, der Klang entmaterialisiert. Schon der Beginn des 23-minütigen Werks, der wie eine gemeinsame Fanfare oder Französische Ouvertüre anhebt, wird durch Obertöne und Flageoletts seltsam zerstäubt und entkernt. Später lösen sich Gestalten und Ornamente in irisierendes Flimmern auf, durch Umstimmung der Instrumente - die gute alte Technik der tes: von der genialischen Zersetzungsmu- "Skordatur" - werden zusätzliche Rei- sik des späten Beethoven über Alban Bergs zwö!ftöniges Intim-Tagebuch der "Lyrischen Suite" bis hin zu Luigi Nonos bungen und Klangeffekte möglich. Mehr als einmal droht dabei das feine "Fragmente - Stille, An Diotima 11 von flüchtigen. Selbst Kanons und strenge Polyphonie können Auflösungs- und Erschöpfungszustände (im zentralen Adagio) nicht verhindern; häufig sind die 1980, Dokument einer zerschossenen, sprachlosen Moderne. In keiner anderen Gattung entstanden ' seit 1780 50 viele Schlüsselwerke des Fortschritts, wurden so intensive Fragen an das Handwerk und die Aussagekraft von Musik gestellt. Gewebe zu reißen, die Musik sich zu ver- Stimmen improvisatorisch frei in Tempo und Zusammenspiel. Nicht im ersten Man konnte sich dieser Aura des Quar- Quartett, erst hier scheint die Gattung wirklich bedroht. Aber Holliger erinnert tetts durch Nichtbeachtung entziehen sich am Ende der utopischen Kraft von (wie es Franz Liszt oder Olivier Messiaen nicht. "Was immer man für diese Besetzung schreibt, man schreibt unter den Musik - und die lag schon für Beethoven im inszenierten Auftritt der menschli-. chen Stimme. Im Epilog von Holligers Quartett, über dem ein Zitat Paul Celans skeptisch-kritischen Blicken der größten ("singbarer Rest") schwebt, summen die taten) -, entkräften ließ sie sich bis heute Komponisten", ächzt der 68-jährige Schweizer Heinz Hoiliger im Kommentar zu seinem zweiten Streichquartett. Das könnte Koketterie sein oder bitterer Ernst, vielleicht auch eine augenzwin- kernde Erklärung dafür, dass ganze 33 Jahre zwischen der Uraufführung seines ersten Quartetts und der Premiere des zweiten, am Wochenende in der Kölner Philhannonie, vergehen mussten. vier Musiker parallel zum Spiel feme Töne, die sich zu einer Art sanftem Choral verdichten. Selten wurde in der Kammermusik seit Nono Abgründiges und Versöhnliches so schillernd vereint. Seit 1995, als er Holligers Violinkonzert uraufführte, hat der Salzburger Geiger Thomas Zehetmair mit Holliger gearbeitet; zuletzt entstanden "Drei Skizzen" für Geige und Bratsche als originelle Zugabe zu Mozarts Sinfonia concertan':' . Wolken um die Zeiten Dabei wurde schon das erste Quartett von 1975 als Abgesang auf die Gattung gedeutet. Der stumme Schrei des Säkulums explodierte in ein schmerzhaftes Kreischen, brutal wurden die Instrumente traktiert, um die uextremen physischen und psychischen Bedingungen, unter denen diese Klänge entstehen", hörund sichtbar zu machen. Im Jahr 2007, als Hoiliger sein mehrfach verschobenes zweites Quartett im Auftrag der KölnMusik beendet, ist die Rebellion Vergangenheit. Ein spätes Fragment von Frledrich Hölderlin bildet das Motto " .. . wie Wolken um die Zeiten legt ... /1 . Hoiliger, von Spätwerken und Auflösungstendenzen seit jeher fasziniert,-hat in seinem "Scardanelli-Zyklus" die visionär-querständi- gen Texte des umnachteten Dichters im Tübinger Turm vertont. Im Quartett aber bildet Hölderlins Geist nur mehr einen Kondensstreifen über ganz filigranen, verschachtelten Strukturen. Der brutale Aktionismus des ersten Quartetts ist im zweiten Werk verduns- te. Kaum zu glauben, dass Holligers Quartett nun das erste zeitgenössische Werk ist, das Zehetmair mit seinem seit 1994 bestehenden Streichquartett aus der Taufe hob - so sehr bestach in der Kölner'Philharmonie die Präsenz und Inten- sität der Formation mit Zehetmair und Robert Olisa Nzekwu (Violinen), Ruth Kilius (Viola) und Ursula Smith (Cello). Wobei Holligers Quartett im Zentrum des Programms auch neues Licht aufVergangenes warf. Denn offenbar lag es nicht nur an der höchst intimen und doch dringlichen Deutung des Zehetmair Quartetts, dass Robert Schumanns Quar. tett in A-Dur wie ein romantischer Vorläufer von Holligers Tonsprache wirkte . Das vielfache Ansetzen und die enttäuschten Zusammenbrüche, die F1.ucht ins Volkstümliche ' und Kontrapunktische aus dem ständigen Zweifel an der echten Sprache heraus - an dies verbin- det Schumann, Holliger und Hölderlin. Vielleicht ist ja gerade das Streichquartett bis heute das ideale Medium für die innersten Anliegen der Komponisten. MICHAEL STRUCK-SCHLOEN