Aus der Geschichte des Stalag Luft I Barth

Werbung
„Wir wachten eines Morgens auf, und die Wachen waren verschwunden.“1 Aus der Geschichte des Stalag Luft I Barth
Helga Radau. Barth I Martin Albrecht, Berlin in: Zeitgeschichte regional, Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 1/04
I
n der der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkriegs gingen
deutsche Städte reihenweise in Flammen auf. Große und
kleine erlitten schwere Schläge von anglo-amerikanischen
Luftarmeen. Das kleine pommersche Barth, 30 km westlich von
Stralsund gelegen, war ein wichtiger Rüstungsstandort im Norden Deutschlands. Munition und Kampfstoffe, Metallteile für
die Heeres- und die Luftwaffenrüstung, eine große Flakkaserne
und ein auffälliger Flugplatz - die Stadt am Bodden war ein lohnendes, erreichbares und zudem fast fehlerfrei auffindbares Ziel.
Die Walter-Bachmann-Flugzeugwerke Ribnitz eröffneten hier
im Jahre 1938 eine Filiale und stellten ebenso wie die alteingesessene Pommersche Eisengießerei Baugruppen und Waffenteile
für die Ausrüstung der Wehrmacht her. Im Barther Stadtwald
entstand von 1939 bis 1940 ein weitläufiges Munitionswerk. Als
"Pommersche Industriewerke G.m.b.H. (PIW)" war es ein
reichseigenes Werk, das bis Kriegsende ca. 3.600 Beschäftigte
zählte, die Mehrzahl von ihnen ZwangsarbeiterInnen aus okkupierten europäischen Ländern wie Polen, der Sowjetunion, Belgien und Frankreich. Unter ihnen befanden sich auch Hunderte
sowjetische Kriegsgefangene und italienische Militärinternierte.
Zwischen 1935 und 1943 entwickelte sich Barth zu einer Garnisonsstadt der Luftwaffe Görings, ausgestattet mit einem Flugplatz und einer Flakschule. Der Fliegerhorst Barth war ein
wichtiges Teilstück der Infrastruktur beim Aufbau der deutschen
Luftwaffe in den 30er Jahren. In der zweiten Kriegshälfte diente
er neben seiner Nutzung als Flugplatz für Neuformierungen und
Umgliederungen von Kampfverbänden insbesondere als Produktionsstandort für die Luftrüstung und die Ausbeutung Tausender SklavenarbeiterInnen.
Als im Jahre 1942 die Royal Air Force Rostock bombardierte
und die Heinkel-Flugzeugwerke stark beschädigte, verlagerte
der Konzern die Produktion über ganz Mecklenburg und Vorpommern. Die größte seiner Filialen entstand im Herbst 1943
auf dem Fliegerhorst Barth. Acht große Hangars wurden zu Produktionsstätten von Flugzeugen und Flugzeugteilen umgerüstet.
Neben dem laufenden Flugbetrieb produzierte man Komponenten des Jägers Me 109 und komplettierte zweimotorige He 111.
Ab Ende 1944 gliederte Heinkel in den grauen Hallen die Produktion um und fertigte eines der letzten Flugzeugmuster der
Göringschen Luftwaffe, den Strahljäger He 162, der indes seine
technische Überlegenheit nicht mehr vom Reißbrett weg und aus
den Produktionshallen heraus in die Realität überführen konnte.
Diese Hochtechnologie wurde mit dem Blut und dem Leben der
Häftlinge bezahlt. Die Bewacher und die meisten zivilen Beschäftigten nahmen diese Umstände billigend in Kauf. Als billigste Arbeitskräfte beutete der Konzern in Barth KZ-Häftlinge
aus. Unter den Frauen und Männern aus mehr als 20 Nationen
befanden sich Hunderte europäischer Juden. Das jüngste ungarische Mädchen war 13 Jahre alt. Das KZ Barth war ein Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück und bestand aus
sechs Luftwaffenkasernen auf dem Fliegerhorstgelände, die
durch elektrisch geladenen Draht und Wachtürme gesichert waren. Insgesamt mussten im Zeitraum von November 1943 bis
zum 30. April 1945 schätzungsweise 6.000 bis 7.000 Häftlinge
in den Hangars arbeiten. Ein Todesmarsch sollte dann Ende
April 1945 die überlebenden Häftlinge der Befreiung entziehen
und sie als Zeugen liquidieren. Es wird geschätzt, dass ca. 2.000
von ihnen Hunger, Ausbeutung und SS-Terror nicht überlebten.
Bis heute gibt es keine exakten Kenntnisse über die wirkliche
Anzahl und alle Standorte der Zwangsarbeitslager in und um
Barth. Die Einwohnerzahl der Boddenstadt mit ca. 15.000 Männern, Frauen und Kindern im Jahre 1945 wurde bei weitem von
der Anzahl der KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen überschritten.
Das jahrelange Dröhnen der viermotorigen Bomber der 8. Luftflotte der USA und der britischen Royal Air Force bleibt alteingesessenen Barthern unvergesslich. Tausende dieser schweren
Kampfflugzeuge überflogen im Zweiten Weltkrieg die vorpommersche Kreisstadt in Richtung Berlin und Stettin, um dort
ihre zerstörerische und tödliche Last abzuwerfen. Auf die Stadt
am Bodden regnete es keine Bomben. In den Karten der englischen und amerikanischen Stäbe und auf den schriftlichen Anweisungen der Geschwaderkommandeure und Navigatoren waren die Koordinaten 54 Grad 20'45"N und 12 Grad 43'00"E gesperrt gedruckt. Barth blieb unversehrt. Die Engländer und
Amerikaner flogen keine Angriffe auf die kleine, malerische
Stadt. Erst am 12. Mai 1945, als am Bodden die Waffen schon
nahezu zwei Wochen schwiegen, dröhnten über die im zartem
Frühlingsgrün stehenden Wiesen die viermotorigen amerikanischen B 17, die legendären "Fliegenden Festungen". Doch die
Maschinen der 8. US-Luftflotte brachten keinen Tod. Sie setzten
zur Landung auf dem Flugplatz Barth der Luftwaffe an. Ihre
Piloten folgten den Einweisungen der Flugleitzentrale im Tower
des Fliegerhorstes. Verständigungsschwierigkeiten gab es nicht.
Amerikanische Offiziere saßen auf der Erde an den Funkgeräten
und brachten die schweren Maschinen sicher zur Erde. Die
"Operation Revival" begann.
Drei Kilometer vom Fliegerhorst Barth entfernt im Norden des
Stadtgebietes war nach den Anfangssiegen der Wehrmacht ein
Kriegsgefangenenlager entstanden. Zunächst allgemein für
Mannschaften der Luftwaffen gegnerischer Länder eingerichtet,
erhielt es nach mehreren Umstrukturierungen die Aufgabe,
westalliierte Luftwaffenoffiziere aufzunehmen. Bekannt wurde
es als Kriegsgefangenenlager der Luftwaffe I oder Stalag Luft I 2.
Der Lagerkomplex wurde in den Wiesen unmittelbar im Anschluss an das Gelände der Flak-Schule am Bodden eingerichtet.
Unter den Rohren der ständig einsatzbereiten Flak am Südostrand des Lagergeländes mussten sich die Prisoner of War3 einrichten und einer ungewissen Zukunft entgegensehen.
Das war ein klarer internationaler Rechtsbruch. Die Nähe der
Flak-Einheit und darüber hinaus auch die der anderen Luftwaffen- und Rüstungsobjekte stand gegen Geist und Buchstaben des
Genfer Abkommens. Auf der Konferenz in Genf wurde 1929 in
Ergänzung der Haager Landkriegsordnung aus dem Jahre 1907
ein ,,Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen"
paraphiert und vom Deutschen Reich seitens des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg 1934 in Kraft gesetzt. Im zweiten
Abschnitt des Abkommens heißt es betreffs der Kriegsgefangenenlager im Artikel 9: "Kein Kriegsgefangener darf jemals in
ein Gelände zurückgebracht werden, wo er dem Feuer des
Kampfgebietes ausgesetzt sein würde, oder dazu verwendet
werden, durch seine Anwesenheit bestimmte Punkte oder Gegenden vor Beschießung zu schützen."4
Seite 1 von 7 Seiten
1. Oktober 1943: .... 920 Kriegsgefangene
1. Februar 1944: ....1.090 Kriegsgefangene
1. April 1944: ........2.508 Kriegsgefangene
1. September 1944:.4.097 Kriegsgefangene
1. Dezember 1944: .4.872 Kriegsgefangene
1. Januar 1945: .......5.906 Kriegsgefangene.
Die Lagerstärke betrug im Frühjahr 1945 durch die Zuführung
des evakuierten Camps Stalag Luft VI aus Ostpreußen ca. 9.000
alliierte Kriegsgefangene. Die Kapazitätsgrenzen des Komplexes in den Wiesen waren damit weit überschritten.
Gegen Kriegsende bestand das Lager aus vier Teillagern (engl.
compound): Westlager, Nord I, Nord II und Nord III. Die Gefangenen wohnten in den typischen einstöckigen Holzbaracken.
Entsprechend den ansteigenden Abschusszahlen der deutschen
Luftverteidigung musste oftmals für die Unterbringung auf Zelte
zurückgegriffen werden, bis später dann weitere Baracken errichtet werden konnten. Ein doppelter, hoher Stacheldrahtzaun,
in dessen Zwischenraum gerollter Stacheldraht lag, begrenzte
den riesigen Lagerkomplex. In regelmäßigen Abständen erhoben
sich Wachtürme mit starken Scheinwerfern, die des Nachts das
gesamte Areal ableuchteten. Ein kniehoher "Warndraht" lief auf
der Innenseite des ersten Zaunes entlang. Wer ihn überschritt,
konnte ohne Anruf des Wachpostens erschossen werden.
Amerikanischer Plan des Areals des Lagers Stalag Luft I und der Flakschule in Barth, 1945. Alle Abbildungen: Förderverein Dokumentations- und Begegnungsställe Barth e. V..
In der perversen Dialektik des Krieges lag es, dass jener Bruch
internationalen Rechts der Stadt Barth das Schicksal von Rostock, Halberstadt und über 100 anderer deutscher Städte mit
hochentwickelter Rüstungsproduktion ersparte. Die alliierten
Einsatztruppen vermieden nach Möglichkeit jeden direkten Angriff im Umfeld der Lager ihrer Boys. Selbst in normalen Berichten, die seitens westalliierter Stäbe in Umlauf gebracht wurden und wohl nie in die Hände fliegender Einheiten kamen, fanden sich vorsorglich die genannten Koordinaten des Kriegsgefangenenlagers.
Die Deutsche Luftwaffe hatte ca. 900 Mann als Lagerpersonal
abgestellt. Während die Bewachung der Kriegsgefangenen und
Besetzung der Wachtürme in den Händen der Stabskompanie
lag, übernahm eine Landesschützenkompanie die äußere Bewachung. In ihr dienten überwiegend ältere, frontuntaugliche Männer. Die Kommandanten des Stalag Luft I waren:6
18. März bis 14. Juni 1940: ...........Oberst von Winckler
14. Juni 1940 bis 6. Mai 1941: ......Major von Oertzen
6. Mai 1941 bis April 1942:...........Major Burckhardt
Oktober 1942 bis Dezember 1944: Oberst Scherer
Januar bis 30. April 1945:..............Oberst Warnstedt.
Im Deutschen Reich bestanden im Zweiten Weltkrieg mehr als
130 Kriegsgefangenenlager, davon mehr als 80 Stammlager für
Unteroffiziere und Soldaten (Stalag), 38 Offizierslager (Oflag)
sowie 14 bei der Marine (Marlag) und Luftwaffe (Stalag Luft).
Das Lager Barth lag auf einer schmalen Landzunge, die sich
zwischen dem Barther Bodden und dem Fluß Barthe befand.
Nach ihrer Gefangennahme durchliefen die Flieger zunächst ein
Vernehmungslager in Oberursel, wurden danach in Durchgangslager (Dulags) in Frankfurt a. M. und später Wetzlar überführt.
Von dort erfolgte der Transport in Güterzügen, bei wichtigen
Offizieren auch in Personenzügen, in die verschiedenen Stammlager oder Offizierslager.
Die erste Gruppe von Offizieren und Unteroffizieren der Royal
Air Force erreichte am 7. Juli 1940 das Barther Lager, das aus
zwei kleinen Teillagern bestand. Nach der Eröffnung von Görings Modell-Lager Stalag Luft III in Sagan/Schlesien wurden
alle 800 Gefangenen des Barther Lagers dorthin überstellt. Von
Oktober 1942 bis November 1943 nahm das Stalag Luft I nur
Unteroffiziere auf, die dann aber im November 1943 in das
Kriegsgefangenenlager Stalag Luft VI nach Heydekrug/Ostpreußen eingewiesen wurden. Dieses Lager war im Sommer 1943 als
Hauptlager für kriegsgefangene Unteroffiziere eröffnet worden.
Das Stalag Luft I Barth besaß von Oktober 1943 bis Mai 1945
den Status eines Kriegsgefangenenlagers für Offiziere der alliierten Luftstreitkräfte. Die Belegungsstärke5 schwoll im Zuge
der Luftschlacht über Mitteleuropa schnell an:
Von den Gefangenen errichtetes Denkmal zur Erinnerung an den 50. Fluchttunnel, Barth 1943.
Seite 2 von 7 Seiten
Die Abwehrabteilung des Stalag Luft I unterstand über einen
längeren Zeitraum hinweg Major August von Miller zu Aichholz. Ihr oblag in erster Linie die Verhinderung von Fluchtversuchen. Dutzende Fluchttunnel wurden im Lager gegraben.
Nachteilig für den Tunnelbau als Fluchtweg wirkte sich der
hohe Grundwasserspiegel aus, so dass Tunnel nur in geringer
Tiefe angelegt werden konnten. Nachdem die Abwehrabteilung
im Sommer 1941 längs der Umzäunung Bodenmikrophone installiert hatte, verringerte sich die Chance einer erfolgreichen
Tunnelflucht zusehends. Ungeachtet dessen wurden allein von
Juli 1940 bis April 1942 43 Tunnel von Offizieren und zehn von
Unteroffizieren angelegt; davon wurden zwei nach der Installierung der Bodenmikrophone fertiggestellt. Von vier Gefangenen,
die durch diese Tunnel flohen, erreichte einer England. Natürlich gab es außerdem zahlreiche andere Fluchtversuche. Nur
zwei Engländer gelangten im Mai und Oktober 1941 über Stralsund und Saßnitz nach Schweden und von dort nach England7.
Hubert Zemke berichtete aus seiner Erinnerung, dass insgesamt
wohl mehr als 80 solche Fluchtversuche unternommen wurden,
die nicht alle glimpflich für die Beteiligten abliefen8. So wurde
im Januar 1942 der britische Sergeant John Shaw im Stalag Luft
I auf der Flucht erschossen. Nach internationalen Gepflogenheiten waren große Teile der Organisation des Lageralltags
mehr oder weniger den Kriegsgefangenen selbst übertragen
worden. Die alliierten Offiziere nutzten dies, um militärische
Strukturen aufzubauen bzw. zu festigen. Wichtig war ihnen natürlich, eine starke Organisation zu schaffen, die alle Gefangenen organisierte, die Kampffähigkeit aufrechterhielt und die
Stunde X vorbereitete.
Die abgeschossenen Offiziere konnten eine einheitliche Kommandostruktur schaffen, die sicherstellte, dass die POW der
deutschen Lagerkommandantur gegenüber mit einer Stimme
sprachen. Das zu erreichen war zunächst einfacher als gedacht.
Die amerikanische Gruppe, die einen zunehmend größeren Anteil der Lagerinsassen stellte, und die britische, die die ältere auf
dem Platze war, verabredeten, dass der jeweils höchste Dienstgrad die Position des Senior Allied Officer wahrnahm, der als
Alliierter Lagerkommandant von den Deutschen akzeptiert
wurde. Daneben gab es noch die jeweils für die bei den Gefangenengruppen zuständigen Senior American Officer und Senior
British Officer.
9
Mit seiner Ankunft im Lager übernahm Colonel Hubert Zemke
zunächst die Geschäfte des Senior American Officers. Er war
nicht nur eines der amerikanischen Jagdflieger-Asse, sondern
hatte auf verschiedenen Kriegsschauplätzen seit 1941 internationale Erfahrungen sammeln können. So auch im Umgang mit
den sowjetischen Streitkräften, ihrer Technik und der Mentalität
ihrer Führung. Er schulte 1941, noch vor dem Kriegseintritt seines Landes, sowjetische Jagdflieger in Murmansk auf amerikanische Flugzeuge um. In der 8th Air Force befehligte Zemke zunächst die 56th Fighter Group, die er zu einer Eliteeinheit entwickelte. Seit August 1944 kommandierte er die 479th Fighter
Group, als deren Commander er aus seinem Jagdflugzeug P-51
Mustang bei Hannover aussteigen musste.
Zemke wurde bald in Abstimmung mit der britischen Lagerleitung als Senior Allied Officer eingesetzt. Vorgänger von Colonel Zemke war Lieutenant Colonel Jean Byerly, ehemaliger B17-Group Commander, der über Italien abgeschossen worden
war. Davor hatte bis zum Januar 1944 Colonel William Hatcher,
ehemaliger Commander einer Bomber Group der 8th Air Force,
abgeschossen über Bordeaux, den Posten innegehabt. Er war
nach seinen harschen Protesten gegen die harten Lebensbedingungen im Camp in ein anderes Lager verlegt worden10.
Die Amerikaner stellten im Sinne ihrer Kommandogliederung in
den fliegenden Verbänden die "Provisional Wing X" auf. Der
Senior Officer und sein Stab ("Headquarters") saßen im Teillager Nord 1. Die Deutschen steuerten Schreibmaschinen und einen Abzugsapparat samt Papier für die Stabsarbeit bei. Sie un-
terstützten eine Organisationsform wie diese, da sie die Lagerführung erleichterte. Die deutsche Kommandantur war natürlich
an der Erhaltung der Befehlsstruktur ihrer Gefangenen interessiert. Die Gefahren für die Bewacher, die von Tausenden straff
organisierten Offizieren ausgingen, auch wenn sie hinter Stacheldraht saßen, waren den deutschen Offizieren selbstverständlich klar.
Wappen der Provisional Wing X. Entwurf 1944.
Die "Provisional Wing X" regelte die inneren Angelegenheiten
des Camps, stellte die Verbindungen mit dem Roten Kreuz und
der YMCA (Young Men's Christian Association) her, sicherte
die Disziplin und Erfassung aller POW und sollte die Evakuierung des Lagers organisieren, wenn die Zeit heran war. Die innere Gliederung des Headquarters glich der in einer amerikanischen Fliegereinheit. Die Stellenbesetzung der Stabsabteilungen
am Ende des Krieges sah beispielsweise so aus:
Stabsabteilung A-1 (Personalangelegenheiten): Major Dillingham
A-2 (Sicherheit, Aufklärung): Major McColiom
A-3 (Bildung, Sport): Major Todd
A-4 (Sicherstellung, d.h. Verteilung der Pakete etc.):
Captain Birkner ..
Ihnen standen die Compound Commander der vier Teillager zur
Seite, denen jeweils ein Senior American bzw. Senior British
Officer unterstand:
North 1: Lieutenant Colonel Ross Greening (US)
North 2: Lieutenant Colonel Cy Wilson (US)
North 3: Lieutenant Colonel Francis Gebreski (US)
West Compound (für die US-POW): Colonel Einar Malstrom (US).
In die Struktur der "Provisional Wing X" gliederten sich die vier
Teillager als jeweils eine "Group" und deren Baracken als jeweils eine "Squadron" ein,11 Jeder einzelne POW war somit in
einer militärischen Einheit eingegliedert und hatte seinen festen
Platz in ihr.
Kriegsgefangene stellten auch das medizinische Personal im Lagerhospital, arbeiteten in verschiedenen Werkstätten, wie der
Tischlerei und Schneiderstube, verwalteten die umfangreiche
Lagerbibliothek, waren in der Schreibstube eingesetzt und berei-
Seite 3 von 7 Seiten
teten einige Mahlzeiten selbst zu. Zusätzlich zur deutschen Verpflegung erhielten sie wöchentlich Pakete des britischen, kanadischen und amerikanischen Roten Kreuzes. Die seelsorgerische
Betreuung übernahmen kriegsgefangene Priester verschiedener
Konfessionen. Im Westlager gab es einen Andachtsraum, der
allerdings mit dem rapiden Anwachsen der Lagerstärke nicht
mehr ausreichte. So fanden an wärmeren Tagen Andachten unter
freiem Himmel statt.
Regelmäßige Inspektionen der Schweizer Schutzmacht12 boten
den Kriegsgefangenen die Möglichkeit, Beschwerden über die
deutsche Lagerleitung und Wachposten anzubringen. Die Vertreter der Schutzmacht fertigten über ihre Besuche des Stalag
Luft I ausführliche Protokolle an. Einhellig schätzten sie die Behandlung der Kriegsgefangenen als zumeist korrekt ein, machten aber Einschränkungen bei der räumlichen Situation, die zuweilen sehr beengt war. Die zeitweilige Unterbringung in Zelten
und die sanitären Bedingungen wurden oftmals beanstandet. Die
Verpflegung wurde zumeist als ausreichend, aber zu monoton
eingeschätzt. Eine einschneidende Verschlechterung trat dann zu
Beginn des Jahres 1945 ein.
Auch die YMCA sandte in regelmäßigen Abständen ihren Vertreter, den dänischen Pfarrer Christian Christiansen. Er sorgte
für die kulturellen Belange. Der YMCA verdankten die Kriegsgefangenen ihre Lagerbibliothek, Sportgeräte aller Art, Musikinstrumente und vieles andere mehr. Großer Beliebtheit erfreuten sich Theateraufführungen. Zwei Bands spielten für ihre Kameraden und die deutschen Bewacher. Weiterbildungskurse für
Sprachen, Mathematik u. a., Kurse für Geflügelzucht, Versicherungswesen etc. sollten die jungen Männer auch geistig fithalten.
Unter den Angehörigen der Royal Air Force waren auch Freiwillige aus verschiedenen, von den Deutschen okkupierten Ländern wie Polen, der Tschechoslowakei, Belgien, Frankreich,
Norwegen, Griechenland und Jugoslawien. Der Engländer Ron
Winton z.B. wohnte im Westlager in Baracke 11, Raum 9 mit
acht Landsleuten, vier Franzosen, einem Australier und drei Kanadiern zusammen. Er meint, dass sie alle miteinander in Harmonie lebten bis zu dem Zeitpunkt, als die Deutschen die Essensrationen halbierten. Dann bestimmten sie Geoff Winter aus
Yorkshire zum "Verteilungsoffizier" — ein undankbarer Job.
Einen Eindruck von der alliierten Front gegen Nazideutschland
vermittelt die Belegungsliste vom 30. Oktober 1944: 3.443
Amerikaner, 750 Briten, 137 Kanadier, 26 Australier, 22 Südafrikaner, 20 Tschechen, 15 Neuseeländer, 9 Belgier, 8 Polen, 3
Rhodesier, 3 Iren, 2 Norweger, 1 Liberianer.13
Für die schwersten und schmutzigsten Arbeiten, wie das Reinigen der Latrinen, setzten die Deutschen sowjetische Kriegsgefangene ein. In der Abwehrabteilung des Majors von Miller zu
Aichholz diente Heinrich Haslob. Er war wegen seiner Dienstbeflissenheit und seines Ehrgeizes bei vielen Kriegsgefangenen
verhasst. In seinem Tagebuchnotizen erwähnt er im Januar
1942: ,,1.000 Russen angekommen".
Ankunft sowjetischer Kriegsgefangener im Stalag Barth, Januar 1942.
Einige von ihnen fotografierte er heimlich. Diese Aufnahmen
dokumentieren den schlechten körperlichen Zustand und die unzulängliche, diskriminierende Bekleidung. An stelle von Lederschuhzeug wurden ihnen nur Holzschuhe ausgehändigt. Die
sowjetischen Kriegsgefangenen hausten in einer Baracke im
deutschen Vorlager. Obwohl sie, wie ihre westalliierten Verbündeten, zumeist Offiziere der Luftstreitkräfte waren, wurden
sie gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie als "bolschewistische Untermenschen" behandelt. Da die Sowjetunion
nicht zu den Unterzeichnern der Genfer Konvention gehörte,
genossen sie zudem keinen Schutz durch das Internationalen
Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen. Im Frühjahr 1944
befahl der Kommandant Oberst Scherer dem Wachpersonal gar,
Schäferhunde auf "die Russen" zu hetzen, da sie seiner Meinung
nach "immer frecher" würden.
Die alliierten Kameraden versuchten heimlich, ihnen Brot oder
Zigaretten zukommen zu lassen. Aus vielen ihrer Berichte klingt
großes Mitleid und Wut über die unmenschliche Behandlung
seitens der gemeinsamen Feinde. Beerdigungslisten der Jahre
1939 bis 1945 aus der St. Marienkirche Barth nennen auch die
häufigsten Todesursachen sowjetischer Kriegsgefangener: "allgemeine Schwäche", "völlige Entkräftung". und "Tuberkulose".
Das Schicksal der überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen
aus dem Stalag Luft I nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
ist unbekannt. In den Berichten deutscher, englischer oder amerikanischer Behörden zur Lagerstärke am Kriegsende tauchen
sie niemals auf. Von 1990 bis 2000 wandte sich nicht ein einziger ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener aus jener Gruppe
mit der Bitte um Bestätigung seiner Zwangsarbeit an die Stadt
Barth. Vermutlich landeten viele von ihnen in Stalins Gulags, da
sie als Vaterlandsverräter galten, hätten sie sich doch nicht in die
Kriegsgefangenschaft begeben dürfen. Vor den meisten von ihnen lag dann nach der Befreiung die Verurteilung zu einer Haftstrafe von bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit oder gar das Todesurteil. Die Baracken des Stalag und die Luftwaffenkasernen des
KZ im Fliegerhorst blieben somit nicht lange leer. Sowjetische
Filtrierungslager belegten die Gebäude und bildeten für Tausende von sowjetischen Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeitern das drohende Tor in die alte Heimat. Für Barth sind für
den 1. August 1945 die "Repatriierungslager" mit den Kennummern 164 und 209 belegt.
Hier wurden neben sowjetischen Kriegsgefangenen auch männliche und weibliche Zwangsarbeiter, letztere vielfach mit Kleinkindern, überprüft, um zu entscheiden, ob sie zurück in ihre
Heimatorte oder aber in Gefangenschaft und Zwangsarbeit gehen würden.
Eine andere Gruppe Kriegsgefangener des Stalag Luft I, die die
nationalsozialistische Rassenideologie zu spüren bekam, waren
Hunderte Juden, vornehmlich aus den USA. Jüdische Kriegsgefangene mussten zwar nicht mit einem gelben Stern gekennzeichnet sein, doch sollten sie so weit wie möglich von den anderen Kriegsgefangenen getrennt werden. Einige Tage nach
Weihnachten 1944 wurden die jüdischen Gefangenen zunächst
in einer gesonderten Baracke des Teillagers Nord 1 konzentriert.14 Am 10. Januar 1945 trafen dort ca. 400 - 500 Juden aller
Teillager zusammen. Viele fürchteten, sie würden von Barth aus
zur Vernichtung in ein KZ transportiert werden, und baten ihre
nichtjüdischen Kameraden um die Benachrichtung ihrer Familien, falls sie nicht mit ihnen in die Heimat zurückkehrten. Colonel Zemke als Senior Allied Officer protestierte energisch gegen
das Vorgehen der deutschen Kommandantur und wies den Lagerkommandanten darauf hin, dass etwaige Beeinträchtigungen
oder gar Tötungen der Gefangenen als hinreichende Gründe für
Verurteilungen als Kriegsverbrechen nach dem bevorstehenden
alliierten Sieg gewertet würden.15
Der Widerstand der Offiziere hinter dem Barther Stacheldraht
speiste sich nicht zuletzt aus dem Vorhandensein zweier Radios.
Seite 4 von 7 Seiten
Die britischen Kriegsgefangenen Roy Kilminster und Leslie
HurreIl besaßen jeweils ein illegales Radio und hörten jede
Nacht die Nachrichten des BBC London. Die Berichte wurden
mitstenografiert und am nächsten Morgen heimlich weitergeleitet. Auf diese Weise waren die Kriegsgefangenen über die Lage
an den Fronten besser informiert als die Deutschen. Nach dem
Beginn der Invasion in Frankreich ging auch die "Voice of America" dazu über, verschlüsselte Nachrichten und Befehle für die
Kriegsgefangenen zu übermitteln.
Hauptgebiet der Geheimtätigkeiten waren die gesamte Zeit über
die Vorbereitung und Realisierung der Fluchten ausgewählter
Gefangener. Diese Unternehmen waren in der Regel umfangreich vorbereitet und forderten ganze Gruppen von Beteiligten.
Die Engländer blieben über die Jahre hinweg die Chefs in der
Feindaufklärung und die Planer diverser Geheimoperationen
und Untergrundaktivitäten einschließlich der Fluchtversuche.
Das US-Personal wurde in die geplanten Manöver aber voll einbezogen~ Zuweilen gelang es sogar, Nachrichten zu deutschen
Militärbewegungen oder Rüstungsvorhaben, wie z.B. zu Versuchen mit den „Wunderwaffen", über die Fronten zu bringen.
Die Befehle über die "Voice of America" orientierten die
westallierten Kriegsgefangenen darauf, sich den von den Nazis
geplanten Evakuierungen der Lager zu verweigern. Die Gefahr
für Barth wurde groß, als das Stalag Luft I das Ziel eines Transportes aus dem weiter östlich gelegenen Stalag Luft VI wurde
und sich somit Ende Februar die Kopfzahl der Gefangenen auf
mehr als 9.000 POW erhöhte. Colonel Zemke und seine Stabsoffiziere bereiteten sich darauf vor,' eine weitere Verlegung zu
verhindern. Sie erhielten von SHAEF16 den Befehl "Stay-put", d.
h. zu bleiben, wo sie waren, und sich von der Front überrollen
zu lassen.17 Vorbereitungen wurden in der "Provisional Wing X"
getroffen, um die Kampfbereitschaft der Männer herzustellen.
Die als Tarnung für das Kampftraining anberaumten Sportveranstaltungen wurden intensiviert. Major TAG. Pritchard, ein
britischer Commando-Officer, der in Italien als Fallschirmjäger
gefangen worden war, bildete die britischen Kämpfer aus, Lieutenant Colonel Burt Mc Kencie als ehemaliger Infanterieoffizier die US-Männer.18
Lagerturm, Barth 1945.
von Miller zu Aichholz, Hauptmann von Beck-Managetta und
Major Schröder auf höheren Befehl aus Barth entfernt. Angeblich sollen sie sich den westalliierten Kriegsgefangenen gegenüber zu freundlich verhalten haben. Als neuer Kommandant
wurde Oberst Warnstedt eingesetzt, der als erste Maßnahme eine
neue, strengere Lagerordnung in Kraft setzte. Die Wachposten
erhielten den Befehl, ohne Warnung auf Kriegsgefangene zu
schießen, die sich während des Fliegeralarms außerhalb der Baracken, am offenen Fenster oder im Eingangsbereich befanden.
Dieser Anordnung fiel am 18. März 1945 der amerikanische
Leutnant Frank Elroy Wyman zum Opfer. Er überhörte das Signal und wurde im Barackeneingang von einem Wachturmposten
niedergeschossen.
Das Jahr 1945 brachte noch weitere gravierende Verschlechterungen für die ca. 9.000 Kriegsgefangenen des Stalag Luft I. Die
Deutschen halbierten die Essens- und Kohlerationen. Zu allem
Unglück stagnierte bis Ende März 1945 die Lieferung von RotKreuz-Paketen. Eine Zeit des Hungerns und Frierens begann.
Zuweilen war es für einen Gefangenen nicht einmal möglich,
1.000 Kalorien pro Tag zu erhalten. Auf Grund rapider Gewichtsabnahme waren die Kriegsgefangenen außerstande, sich
sportlich zu betätigen. Die beliebten Lagerkatzen verschwanden
spurlos und landeten in den Kochtöpfen der Amerikaner. Ihre
britischen Kameraden waren entsetzt über diesen "Kannibalismus".
Mit der Auslieferung Tausender langersehnter Lebensmittelpakete kurz vor Ostern 1945 stiegen Lebensmut und Moral. Die
Gefangenen wussten, dass der Krieg und ihre Gefangenschaft
sich dem Ende näherten, und erwarteten ungeduldig das Erscheinen der Roten Armee.
Eine V-2 über dem Stalag. Barth 1944. Zeichnung eines amerikanischen Kriegsgefangenen.
Im Januar 1945 wurden Kommandant Oberst Scherer, Major
Am 29. und 30. April 1945 beriet sich Kommandant Warnstedt
mehrere Male mit den verantwortlichen britischen und amerikanischen Offizieren. Warnstedt teilte ihnen mit, dass das Lager
sich auf einen Verlegungsmarsch vorbereiten solle. Colonel
Zemke weigerte sich, diesen Befehl auszuführen, und wies darauf hin, dass im Falle einer militärischen Aktion alle Maßnahmen und die möglichen, ja wahrscheinlichen Opfer auf beiden
Seiten dem Oberst Warnstedt persönlich zugeschrieben werden
Seite 5 von 7 Seiten
würden. Nach einer Bedenkpause verkündete der deutsche Lagerkommandant, dass für seine Seite jetzt der Krieg aus sei. Er
wünschte zu erfahren, ob die "Provisional Wing X" das Lager
übernehmen würde unter der Bedingung, das deutsche Personal
nicht durch eine militärische Aktion am Abzug zu hindern.
Zemke sagte mit der Maßgabe zu, dass die deutsche Truppe
komplett und in Marschordnung abziehe, nur Handfeuerwaffen
mitnehme und keine Lagereinrichtungen zerstöre.
Gegen 22 Uhr am 30. April erloschen alle Lichter, und die Deutschen zogen in Richtung Westen ab. Am 1. Mai übernahm die
Militärpolizei der freien Lagerinsassen die Besetzung der
Wachtürme. Späher suchten Kontakt zur sowjetischen Armee.
"Field Forces" hielten Hunderte Deutsche vom Lager fern, die
aus Angst vor "den Russen" im Stalag Luft I Schutz suchten.
Die ersten Schritte in die Freiheit, Barth im Mai 1945.
Am 2. Mai 1945 um 10 Uhr zog das 133. Garderegiment (44.
Gardeschützendivision, 65. Armee unter Generaloberst P.l. Batow) in Barth ein. Colonel Hubert Zemke (US Army Air Force)
und Group Captain Cecil Weir (Royal Air Force) waren in der
Nacht zum 2. Mai bei der bedingungslosen Kapitulation der
Stadt Barth gegenüber einem sowjetischen Offizier zugegen.
Auf ihren Exkursionen zum Fliegerhorst Barth entdeckten
Kriegsgefangene des Stalag Luft I das KZ Barth und waren entsetzt über Hunderte halbverhungerter Menschen und Dutzende
toter Häftlinge, die in den völlig verdreckten und verlausten
Räumen umherlagen. Britische und amerikanische Mediziner
versorgten nach Kräften die Kranken und brachten sie in das
Lazarett des Fliegerhorstes und in das Hospital des Stalag Luft I.
Nun erst wurde das arabische Sprichwort für sie Realität, das ein
Kriegsgefangener an eine Barackenwand im Stalag Luft I geheftet hatte: "Ich hatte keine Schuhe und murrte. Bis ich einen
Mann ohne Füße traf."
Die Rote Armee hatte an diesem 2. Mai das größte Offizierslager der Wehrmacht für abgeschossene Flieger westalliierter
Luftwaffen erreicht. Die alliierte Lagerleitung bat um Unterstützung bei der Rückkehr in die Heimat. Ein verständliches Anliegen, saßen doch viele von ihnen schon seit Jahren hinter Stacheldraht. Doch dieser Wunsch war seitens der sowjetischen
Truppen nicht so einfach zu erfüllen. Die westlichen Verbündeten standen bei Schwerin und rückten nicht weiter vor. Die Rote
Armee kontrollierte nach und nach das gesamte dazwischen liegende Mecklenburger Land. Das Kriegsgefangenenlager war
fast 120 km von den eigenen, westalliierten Truppen entfernt.
Ein Landmarsch war nicht so einfach zu bewerkstelligen. Das
Stalag Luft I war eine Insel im anschwellenden roten Ozean.
Somit war eine politische Lösung gefragt.
Seit dem Herbst des Jahres 1944 beschäftigten sich die amerikanischen und britischen Stäbe von SHAEF intensiv mit dem
Schicksal ihrer Kriegsgefangenen im Machtbereich der Nazis.
Vereinbarungen mit der Sowjetunion wurden kurz nach der
Konferenz in Jalta im Februar 1945 getroffen, um die eigenen
Männer so schnell wie möglich zurückzuholen. Ebenso wollte
die sowjetische Seite ihre Kriegsgefangenen und insbesondere
diejenigen, die auf Seiten Deutschlands mit der Waffe gegen sie
gekämpft hatten, zurückerhalten. Auch die geflüchteten Bürger
der Staaten des Baltikums und der anderen Gebiete, die erst
1940 zur Sowjetunion gekommen waren, wollte sie wieder nach
Osten transportiert sehen. Zunächst erhöhte die Sowjetunion den
Druck auf ihre Alliierten dadurch, dass sie bekannt gab, alle
westalliierten ehemaligen Gefangenen würden zunächst nach
Odessa ans Schwarze Meer gebracht, um sie später in Sammeltransporten nach Westeuropa zu transportieren.19 Stalin begann,
auf Zeit zu spielen.
Beim Stalag Luft I Barth kam noch ein zusätzliches Moment
hinzu. Schließlich ging es - militärisch gesehen - um die Rückführung von 9.000 Fliegeroffizieren mit einiger Kampferfahrung
auf einem Gebiet, auf dem die Rote Luftflotte nur über wenige
Erfahrungen verfügte: auf dem des strategischen Luftkrieges.
Mit den Offizieren, die in Barth nun immer noch hinter Stacheldraht saßen, hätten die Amerikaner problemlos eine weitere
schlagkräftige Luftarmee aufstellen können. Die Anzahl der einsitzenden Offiziere war weit höher als die jener Offiziere, die in
den fliegenden Verbänden der mächtigen 8th Air Force im April
1945 ihre Angriffe gegen Nazideutschland geflogen hatten.2o
Die Amerikaner und Engländer begannen umzudisponieren und
handelten blitzschnell. Der Befehl "Stay-put", d.h. das Überrollenlassen und das Abwarten der Gefangenen im anglo-amerikanischen Lager, wurde ab März 1945 durch den Plan "Rankin
Case C" ersetzt.21 Die POW sollten mit allen verfügbaren Mitteln versuchen, die Lager geordnet in Richtung auf ihre Truppen
zu verlassen. Längere Verhandlungen mit der Roten Armee
sollten vermieden und Tatsachen geschaffen werden. Entsprechende Befehle gingen verschlüsselt sowohl über Funk als auch
über normale Radiosendungen an die Kriegsgefangenenlager.
Nach Möglichkeit sollte die Air Force zum Transport aus weiter
entfernten Camps eingesetzt werden. Die Bedingungen in Barth
waren dafür ausgezeichnet. Ein voll betriebsfähiger Fliegerhorst
mit einer entsprechend ausgebauten Start- und Landebahn lud
ein. Die amerikanischen Offiziere begannen, die Anlagen und
Rollbahnen zu entminen.
Die Kriegsgefangenen des Stalag Luft I erlebten diese präzise
vorbereitete Airlift-Aktion als "Operation Revival". Ungeduldig
warteten Tausende junger Männer seit dem 30. April auf ihre
Evakuierung, doch die sowjetische Seite ließ sich Zeit. Tagelang
fertigte sie namentliche Listen der zu Evakuierenden an. Sie
sorgte für das leibliche Wohl ihrer Verbündeten und trieb Dutzende lebender Kühe und Schweine in das Lager, die dort geschlachtet wurden. Kulturveranstaltungen vereinten die Männer
bei der Seiten. Ein sowjetisches Tanzensemble trat auf.
Auftritt eines sowjetischen Tanzensembles vor den POW, Barth im Mai 1945.
Die Führung der "Provisional Wing X" arbeitete konzentriert
und effektiv, waren die kommandierenden Offiziere doch schon
vor Monaten maßgeschneidert für ihre neue Aufgabe ausgewählt
worden. Die besten Offiziere waren zum rechten Zeitpunkt am
richtigen Ort. Colonel Zemke kamen seine Erfahrungen mit den
Handlungsweisen sowjetischer Stäbe zugute. Er wusste, dass er
Entscheidungen nur mit den Offizieren der Roten Armee vor 01t
treffen konnte und die sowjetische Befehlshierarchie nach
"oben" nur vorsichtig in Gang setzen durfte. Group Captain
Seite 6 von 7 Seiten
Weir überzeugte den Kommandeur der in Barth stationierten
sowjetischen Truppen, ihn nach Wismar zur britischen Armee
zu begleiten. Mit dem Auto fuhren sie sogar bis Hagenow, wo
der bedrängte sowjetische Offizier eine Erklärung unterzeichnete, die für den 12. und 13. Mai eine "Feuerpause" zusicherte,
so dass die Evakuierung mit Flugzeugen vom Fliegerhorst Barth
stattfinden konnte. Die höheren Stäbe der Engländer, Amerikaner und der Sowjetunion wurden kurz vorher benachrichtigt.
Weir kehrte nach Barth zurück. Ein Brief an den sowjetischen
Divisionskommandeur Generalmajor W.A. Borisov wurde vorbereitet, in dem dieser über die bevorstehende Evakuierung informiert wurde. Dieses Schreiben sollte dem General erst übergeben werden, wenn das erste Flugzeug in Barth landete. Kurz
vor 14 Uhr am 12. Mai 1945 begrüßten die Insassen des Stalag
Luft I mit großem Jubel das bekannte Geräusch amerikanischer
Flugzeuge. Die 8th Air Force ließ es sich nicht nehmen, das Stalag Luft I selbst zu evakuieren, saßen doch viele ihrer alten Bekannten dort hinter dem Stacheldraht. Brigadegeneral William
Gross, der Kommandeur der 1th Air Division der Luftflotte, entstieg der ersten einschwebenden "Fliegenden Festung" und verließ Barth erst mit der letzten Maschine zwei Tage später. Zwei
weitere B-17 und eine Transportmaschine C-46 brachten starke
Sendeanlagen und eine SHAEF-Stabsgruppe unter General David M. Schlatter, dem Verantwortlichen für ehemalige USKriegsgefangene in Eisenhowers Stab22.
Vor dem Einstieg in eine B-17, Barth am 14.5.19455
Zum Abtransport der befreiten Gefangenen wurden fast durchweg Bomber B-17 herangezogen. Einige zweimotorige C-46
flogen die Verwundeten und Kranken aus. Alle Maschinen
drehten nur auf dem Flugfeld, nahmen ihre Kameraden an Bord
und starteten. Keiner der Motoren sollte auf dem Platz abgestellt
werden, und die Maschinengewehrpositionen besetzten die
Bordschützen wie zu Kriegszeiten. An drei Tagen bestiegen alle
Kriegsgefangenen die in kurzen Abständen startenden Maschinen und flogen nach Hause. Auch Dutzende tschechischer und
polnischer Flieger, die im Rahmen der Royal Air Force gedient
hatten, erklommen die Maschinen. Sie schlossen sich nicht ihren
sowjetischen Waffenbrüdern an.
Die militärpolitische Situation war einzigartig: Tagelang agierten starke amerikanische Luftwaffenverbände 120 km tief in der
im Entstehen begriffenen sowjetischen Besatzungszone
Deutschlands. Stalins Soldaten standen verunsichert am Rande
des Flugplatzes. Sie hatten keinerlei Richtlinien aus Moskau,
und so verabschiedeten sie ihre Waffenbrüder im Kampf gegen
Nazideutschland freundlich und freundschaftlich. Schießen
konnten die sowjetischen Soldaten bei dem unerhört entschiedenen Vorgehen ihrer Verbündeten auch nicht. Die Maschinen
starteten im 3-Minuten- Takt. Drei Transportmaschinen luden
schließlich noch die über Jahre hinweg entstandenen Graphiken,
Gemälde und anderen Kunstwerke der Gefangenen aus dem
Barther Camp auf. Mit diesem Material wurde noch 1945 in den
USA eine gut besuchte Ausstellung organisiert.23
Als letzter POW.bestieg der Senior Allied Officer Colonel Hubert Zemke seine B-17. Er war der 8.498te Kriegsgefangene des
Lagers, der im Mai 1945 nach Hause flog. Die Maschine, in der
auch Brigadegeneral Gross und Group Captain Weir saßen,
drehte am 14. Mai noch mit dem sowjetischen Generalmajor
Borisov eine Ehrenrunde, setzte den Gast ab und flog nach Wes-
ten davon.
Das Stalag Luft I war Geschichte.24 Der heiße Krieg war für
Tausende von Kriegsgefangenen zu Ende. Am Horizont zogen
schon erste Schatten eines neuen, kalten Krieges auf.
Anmerkungen
1. Der ehemalige Kriegsgefangene Edwin D. Hays im Interview mit
dem "Spiegel" über seine Befreiung im Stalag Luft I Barth. Spiegel Spezial, 2003, H. 1, S.85
2. Im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Bestand RW 6, finden
sich in den Listen bis zum 1.7.1941 folgende Bezeichnungen:
,,Kriegsgefangenenlager Barth/Vogelsang", "Stalag Luft 2",
"Luftstalag II", "Luft Barth", ab dem 1.2.1941 "Lager Luft 1
Barth" und schließlich ab dem 1.10.1942 "Stalag Luft 1 Barth".
Ein Arbeitsvertrag im Archiv der Stadt Barth vom 6.6.1941 zur
Beschäftigung von britischen Kriegsgefangenen trägt die Bezeichnung "Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager (Stalag)
Barth 2 (Pommern)"
3. Im Englischen/Amerikanischen abgekürzt mit POW, PoW, PXW
oder PW
4. So die deutsche Übersetzung des im Ursprung französischen Textes. Zit. n.: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.). Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges
1941-45, Hamburg 2002, S. 23
5. Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Bestand RW 6
6. Freundliche Mitteilung von H. Gülzow
7. Vgl. Radau, Helga, "Death-Shore" und sein todsicherer Fluchtplan aus dem Kriegsgefangenenlager Stalag Luft I Barth, in: Geschichtswerkstatt Toitenwinkel (Hg.), Kriegsgefangene und
Zwangsarbeiter zwischen Warnow und Barthe ((= Schriften der
Geschichtswerkstatt Toitenwinkel, 5). Rostock 1998, S. 44-49
8. Freeman, Roger A., Zemke's Stalag, Shrewsbury 1991, S. 35
9. Ebd., S. 11
10. Hubert Zemke war Amerikaner, dessen familiäre Wurzeln in
Bayern und Pommern lagen. Er sprach gut Deutsch und ein wenig
Russisch. 10 Ebd., S. 22
11. Die Gegenstücke in der deutschen Gliederung der Luftwaffe waren: Wing = Geschwader, Group = Gruppe, Squadron = Staffel
12. Archiv des Fördervereins Dokumentations- und Begegnungsstätte
Barth e.V., Kopien der Berichte der Schweizer Schutzmacht
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
NARA National Archives Washington D.C., RG 334
Kaufman, Mozart, Fighter Pilot, New York 1993, S. 103
Astor, Gerald, The Mighty Eighth, New York 1998, S. 479
SHAEF: Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force =
Oberkommando der Alliierten Expeditionskräfte (in Europa):
Oberkommandierender: General Eisenhower
NARA National Archives Washington D.C., RG 334
Freeman (wie Anm. 8), S. 73
NARA National Archives Washington D.C., RG 334
Vgl. die statistischen Angaben bei: Freeman, Roger A., The
Mighty Eigth. War Manuel, London 2002, S. 146·22l
NARA National Archives Washington D.C., RG 334
Freeman (wie Anm. 8), S. 112-114
Ross Greening, Chartes, Not as briefed, Washington 2001, S.
217·234
Der Förderverein Dokumentations- und Begegnungsstätte Barth
e. V. bereitet eine Ausstellung zur Geschichte Barths zwischen
1933 und 1945 vor. Neben der Geschichte des KZ-Außenlagers
wird auch die des Stalag vorgestellt. Einen kurzen Überblick zur
Entwicklung von Barth in diesem Zeitabschnitt gibt die Broschüre "Fußnoten. Zum Gedenk und Lernpfad KZ-Außenlager Barth"
von Elke Engelmann, die über den Förderverein Dokumentationsund Begegnungsstätte Barth e. V., Teergang 2, 18356 Barth, zu
beziehen ist.
Seite 7 von 7 Seiten
Herunterladen