„Wir wachten eines Morgens auf, und die Wachen waren verschwunden.“1 Aus der Geschichte des Stalag Luft I Barth Helga Radau. Barth I Martin Albrecht, Berlin in: Zeitgeschichte regional, Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 1/04 I n der der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkriegs gingen deutsche Städte reihenweise in Flammen auf. Große und kleine erlitten schwere Schläge von anglo-amerikanischen Luftarmeen. Das kleine pommersche Barth, 30 km westlich von Stralsund gelegen, war ein wichtiger Rüstungsstandort im Norden Deutschlands. Munition und Kampfstoffe, Metallteile für die Heeres- und die Luftwaffenrüstung, eine große Flakkaserne und ein auffälliger Flugplatz - die Stadt am Bodden war ein lohnendes, erreichbares und zudem fast fehlerfrei auffindbares Ziel. Die Walter-Bachmann-Flugzeugwerke Ribnitz eröffneten hier im Jahre 1938 eine Filiale und stellten ebenso wie die alteingesessene Pommersche Eisengießerei Baugruppen und Waffenteile für die Ausrüstung der Wehrmacht her. Im Barther Stadtwald entstand von 1939 bis 1940 ein weitläufiges Munitionswerk. Als "Pommersche Industriewerke G.m.b.H. (PIW)" war es ein reichseigenes Werk, das bis Kriegsende ca. 3.600 Beschäftigte zählte, die Mehrzahl von ihnen ZwangsarbeiterInnen aus okkupierten europäischen Ländern wie Polen, der Sowjetunion, Belgien und Frankreich. Unter ihnen befanden sich auch Hunderte sowjetische Kriegsgefangene und italienische Militärinternierte. Zwischen 1935 und 1943 entwickelte sich Barth zu einer Garnisonsstadt der Luftwaffe Görings, ausgestattet mit einem Flugplatz und einer Flakschule. Der Fliegerhorst Barth war ein wichtiges Teilstück der Infrastruktur beim Aufbau der deutschen Luftwaffe in den 30er Jahren. In der zweiten Kriegshälfte diente er neben seiner Nutzung als Flugplatz für Neuformierungen und Umgliederungen von Kampfverbänden insbesondere als Produktionsstandort für die Luftrüstung und die Ausbeutung Tausender SklavenarbeiterInnen. Als im Jahre 1942 die Royal Air Force Rostock bombardierte und die Heinkel-Flugzeugwerke stark beschädigte, verlagerte der Konzern die Produktion über ganz Mecklenburg und Vorpommern. Die größte seiner Filialen entstand im Herbst 1943 auf dem Fliegerhorst Barth. Acht große Hangars wurden zu Produktionsstätten von Flugzeugen und Flugzeugteilen umgerüstet. Neben dem laufenden Flugbetrieb produzierte man Komponenten des Jägers Me 109 und komplettierte zweimotorige He 111. Ab Ende 1944 gliederte Heinkel in den grauen Hallen die Produktion um und fertigte eines der letzten Flugzeugmuster der Göringschen Luftwaffe, den Strahljäger He 162, der indes seine technische Überlegenheit nicht mehr vom Reißbrett weg und aus den Produktionshallen heraus in die Realität überführen konnte. Diese Hochtechnologie wurde mit dem Blut und dem Leben der Häftlinge bezahlt. Die Bewacher und die meisten zivilen Beschäftigten nahmen diese Umstände billigend in Kauf. Als billigste Arbeitskräfte beutete der Konzern in Barth KZ-Häftlinge aus. Unter den Frauen und Männern aus mehr als 20 Nationen befanden sich Hunderte europäischer Juden. Das jüngste ungarische Mädchen war 13 Jahre alt. Das KZ Barth war ein Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück und bestand aus sechs Luftwaffenkasernen auf dem Fliegerhorstgelände, die durch elektrisch geladenen Draht und Wachtürme gesichert waren. Insgesamt mussten im Zeitraum von November 1943 bis zum 30. April 1945 schätzungsweise 6.000 bis 7.000 Häftlinge in den Hangars arbeiten. Ein Todesmarsch sollte dann Ende April 1945 die überlebenden Häftlinge der Befreiung entziehen und sie als Zeugen liquidieren. Es wird geschätzt, dass ca. 2.000 von ihnen Hunger, Ausbeutung und SS-Terror nicht überlebten. Bis heute gibt es keine exakten Kenntnisse über die wirkliche Anzahl und alle Standorte der Zwangsarbeitslager in und um Barth. Die Einwohnerzahl der Boddenstadt mit ca. 15.000 Männern, Frauen und Kindern im Jahre 1945 wurde bei weitem von der Anzahl der KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen überschritten. Das jahrelange Dröhnen der viermotorigen Bomber der 8. Luftflotte der USA und der britischen Royal Air Force bleibt alteingesessenen Barthern unvergesslich. Tausende dieser schweren Kampfflugzeuge überflogen im Zweiten Weltkrieg die vorpommersche Kreisstadt in Richtung Berlin und Stettin, um dort ihre zerstörerische und tödliche Last abzuwerfen. Auf die Stadt am Bodden regnete es keine Bomben. In den Karten der englischen und amerikanischen Stäbe und auf den schriftlichen Anweisungen der Geschwaderkommandeure und Navigatoren waren die Koordinaten 54 Grad 20'45"N und 12 Grad 43'00"E gesperrt gedruckt. Barth blieb unversehrt. Die Engländer und Amerikaner flogen keine Angriffe auf die kleine, malerische Stadt. Erst am 12. Mai 1945, als am Bodden die Waffen schon nahezu zwei Wochen schwiegen, dröhnten über die im zartem Frühlingsgrün stehenden Wiesen die viermotorigen amerikanischen B 17, die legendären "Fliegenden Festungen". Doch die Maschinen der 8. US-Luftflotte brachten keinen Tod. Sie setzten zur Landung auf dem Flugplatz Barth der Luftwaffe an. Ihre Piloten folgten den Einweisungen der Flugleitzentrale im Tower des Fliegerhorstes. Verständigungsschwierigkeiten gab es nicht. Amerikanische Offiziere saßen auf der Erde an den Funkgeräten und brachten die schweren Maschinen sicher zur Erde. Die "Operation Revival" begann. Drei Kilometer vom Fliegerhorst Barth entfernt im Norden des Stadtgebietes war nach den Anfangssiegen der Wehrmacht ein Kriegsgefangenenlager entstanden. Zunächst allgemein für Mannschaften der Luftwaffen gegnerischer Länder eingerichtet, erhielt es nach mehreren Umstrukturierungen die Aufgabe, westalliierte Luftwaffenoffiziere aufzunehmen. Bekannt wurde es als Kriegsgefangenenlager der Luftwaffe I oder Stalag Luft I 2. Der Lagerkomplex wurde in den Wiesen unmittelbar im Anschluss an das Gelände der Flak-Schule am Bodden eingerichtet. Unter den Rohren der ständig einsatzbereiten Flak am Südostrand des Lagergeländes mussten sich die Prisoner of War3 einrichten und einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Das war ein klarer internationaler Rechtsbruch. Die Nähe der Flak-Einheit und darüber hinaus auch die der anderen Luftwaffen- und Rüstungsobjekte stand gegen Geist und Buchstaben des Genfer Abkommens. Auf der Konferenz in Genf wurde 1929 in Ergänzung der Haager Landkriegsordnung aus dem Jahre 1907 ein ,,Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen" paraphiert und vom Deutschen Reich seitens des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg 1934 in Kraft gesetzt. Im zweiten Abschnitt des Abkommens heißt es betreffs der Kriegsgefangenenlager im Artikel 9: "Kein Kriegsgefangener darf jemals in ein Gelände zurückgebracht werden, wo er dem Feuer des Kampfgebietes ausgesetzt sein würde, oder dazu verwendet werden, durch seine Anwesenheit bestimmte Punkte oder Gegenden vor Beschießung zu schützen."4 Seite 1 von 7 Seiten 1. Oktober 1943: .... 920 Kriegsgefangene 1. Februar 1944: ....1.090 Kriegsgefangene 1. April 1944: ........2.508 Kriegsgefangene 1. September 1944:.4.097 Kriegsgefangene 1. Dezember 1944: .4.872 Kriegsgefangene 1. Januar 1945: .......5.906 Kriegsgefangene. Die Lagerstärke betrug im Frühjahr 1945 durch die Zuführung des evakuierten Camps Stalag Luft VI aus Ostpreußen ca. 9.000 alliierte Kriegsgefangene. Die Kapazitätsgrenzen des Komplexes in den Wiesen waren damit weit überschritten. Gegen Kriegsende bestand das Lager aus vier Teillagern (engl. compound): Westlager, Nord I, Nord II und Nord III. Die Gefangenen wohnten in den typischen einstöckigen Holzbaracken. Entsprechend den ansteigenden Abschusszahlen der deutschen Luftverteidigung musste oftmals für die Unterbringung auf Zelte zurückgegriffen werden, bis später dann weitere Baracken errichtet werden konnten. Ein doppelter, hoher Stacheldrahtzaun, in dessen Zwischenraum gerollter Stacheldraht lag, begrenzte den riesigen Lagerkomplex. In regelmäßigen Abständen erhoben sich Wachtürme mit starken Scheinwerfern, die des Nachts das gesamte Areal ableuchteten. Ein kniehoher "Warndraht" lief auf der Innenseite des ersten Zaunes entlang. Wer ihn überschritt, konnte ohne Anruf des Wachpostens erschossen werden. Amerikanischer Plan des Areals des Lagers Stalag Luft I und der Flakschule in Barth, 1945. Alle Abbildungen: Förderverein Dokumentations- und Begegnungsställe Barth e. V.. In der perversen Dialektik des Krieges lag es, dass jener Bruch internationalen Rechts der Stadt Barth das Schicksal von Rostock, Halberstadt und über 100 anderer deutscher Städte mit hochentwickelter Rüstungsproduktion ersparte. Die alliierten Einsatztruppen vermieden nach Möglichkeit jeden direkten Angriff im Umfeld der Lager ihrer Boys. Selbst in normalen Berichten, die seitens westalliierter Stäbe in Umlauf gebracht wurden und wohl nie in die Hände fliegender Einheiten kamen, fanden sich vorsorglich die genannten Koordinaten des Kriegsgefangenenlagers. Die Deutsche Luftwaffe hatte ca. 900 Mann als Lagerpersonal abgestellt. Während die Bewachung der Kriegsgefangenen und Besetzung der Wachtürme in den Händen der Stabskompanie lag, übernahm eine Landesschützenkompanie die äußere Bewachung. In ihr dienten überwiegend ältere, frontuntaugliche Männer. Die Kommandanten des Stalag Luft I waren:6 18. März bis 14. Juni 1940: ...........Oberst von Winckler 14. Juni 1940 bis 6. Mai 1941: ......Major von Oertzen 6. Mai 1941 bis April 1942:...........Major Burckhardt Oktober 1942 bis Dezember 1944: Oberst Scherer Januar bis 30. April 1945:..............Oberst Warnstedt. Im Deutschen Reich bestanden im Zweiten Weltkrieg mehr als 130 Kriegsgefangenenlager, davon mehr als 80 Stammlager für Unteroffiziere und Soldaten (Stalag), 38 Offizierslager (Oflag) sowie 14 bei der Marine (Marlag) und Luftwaffe (Stalag Luft). Das Lager Barth lag auf einer schmalen Landzunge, die sich zwischen dem Barther Bodden und dem Fluß Barthe befand. Nach ihrer Gefangennahme durchliefen die Flieger zunächst ein Vernehmungslager in Oberursel, wurden danach in Durchgangslager (Dulags) in Frankfurt a. M. und später Wetzlar überführt. Von dort erfolgte der Transport in Güterzügen, bei wichtigen Offizieren auch in Personenzügen, in die verschiedenen Stammlager oder Offizierslager. Die erste Gruppe von Offizieren und Unteroffizieren der Royal Air Force erreichte am 7. Juli 1940 das Barther Lager, das aus zwei kleinen Teillagern bestand. Nach der Eröffnung von Görings Modell-Lager Stalag Luft III in Sagan/Schlesien wurden alle 800 Gefangenen des Barther Lagers dorthin überstellt. Von Oktober 1942 bis November 1943 nahm das Stalag Luft I nur Unteroffiziere auf, die dann aber im November 1943 in das Kriegsgefangenenlager Stalag Luft VI nach Heydekrug/Ostpreußen eingewiesen wurden. Dieses Lager war im Sommer 1943 als Hauptlager für kriegsgefangene Unteroffiziere eröffnet worden. Das Stalag Luft I Barth besaß von Oktober 1943 bis Mai 1945 den Status eines Kriegsgefangenenlagers für Offiziere der alliierten Luftstreitkräfte. Die Belegungsstärke5 schwoll im Zuge der Luftschlacht über Mitteleuropa schnell an: Von den Gefangenen errichtetes Denkmal zur Erinnerung an den 50. Fluchttunnel, Barth 1943. Seite 2 von 7 Seiten Die Abwehrabteilung des Stalag Luft I unterstand über einen längeren Zeitraum hinweg Major August von Miller zu Aichholz. Ihr oblag in erster Linie die Verhinderung von Fluchtversuchen. Dutzende Fluchttunnel wurden im Lager gegraben. Nachteilig für den Tunnelbau als Fluchtweg wirkte sich der hohe Grundwasserspiegel aus, so dass Tunnel nur in geringer Tiefe angelegt werden konnten. Nachdem die Abwehrabteilung im Sommer 1941 längs der Umzäunung Bodenmikrophone installiert hatte, verringerte sich die Chance einer erfolgreichen Tunnelflucht zusehends. Ungeachtet dessen wurden allein von Juli 1940 bis April 1942 43 Tunnel von Offizieren und zehn von Unteroffizieren angelegt; davon wurden zwei nach der Installierung der Bodenmikrophone fertiggestellt. Von vier Gefangenen, die durch diese Tunnel flohen, erreichte einer England. Natürlich gab es außerdem zahlreiche andere Fluchtversuche. Nur zwei Engländer gelangten im Mai und Oktober 1941 über Stralsund und Saßnitz nach Schweden und von dort nach England7. Hubert Zemke berichtete aus seiner Erinnerung, dass insgesamt wohl mehr als 80 solche Fluchtversuche unternommen wurden, die nicht alle glimpflich für die Beteiligten abliefen8. So wurde im Januar 1942 der britische Sergeant John Shaw im Stalag Luft I auf der Flucht erschossen. Nach internationalen Gepflogenheiten waren große Teile der Organisation des Lageralltags mehr oder weniger den Kriegsgefangenen selbst übertragen worden. Die alliierten Offiziere nutzten dies, um militärische Strukturen aufzubauen bzw. zu festigen. Wichtig war ihnen natürlich, eine starke Organisation zu schaffen, die alle Gefangenen organisierte, die Kampffähigkeit aufrechterhielt und die Stunde X vorbereitete. Die abgeschossenen Offiziere konnten eine einheitliche Kommandostruktur schaffen, die sicherstellte, dass die POW der deutschen Lagerkommandantur gegenüber mit einer Stimme sprachen. Das zu erreichen war zunächst einfacher als gedacht. Die amerikanische Gruppe, die einen zunehmend größeren Anteil der Lagerinsassen stellte, und die britische, die die ältere auf dem Platze war, verabredeten, dass der jeweils höchste Dienstgrad die Position des Senior Allied Officer wahrnahm, der als Alliierter Lagerkommandant von den Deutschen akzeptiert wurde. Daneben gab es noch die jeweils für die bei den Gefangenengruppen zuständigen Senior American Officer und Senior British Officer. 9 Mit seiner Ankunft im Lager übernahm Colonel Hubert Zemke zunächst die Geschäfte des Senior American Officers. Er war nicht nur eines der amerikanischen Jagdflieger-Asse, sondern hatte auf verschiedenen Kriegsschauplätzen seit 1941 internationale Erfahrungen sammeln können. So auch im Umgang mit den sowjetischen Streitkräften, ihrer Technik und der Mentalität ihrer Führung. Er schulte 1941, noch vor dem Kriegseintritt seines Landes, sowjetische Jagdflieger in Murmansk auf amerikanische Flugzeuge um. In der 8th Air Force befehligte Zemke zunächst die 56th Fighter Group, die er zu einer Eliteeinheit entwickelte. Seit August 1944 kommandierte er die 479th Fighter Group, als deren Commander er aus seinem Jagdflugzeug P-51 Mustang bei Hannover aussteigen musste. Zemke wurde bald in Abstimmung mit der britischen Lagerleitung als Senior Allied Officer eingesetzt. Vorgänger von Colonel Zemke war Lieutenant Colonel Jean Byerly, ehemaliger B17-Group Commander, der über Italien abgeschossen worden war. Davor hatte bis zum Januar 1944 Colonel William Hatcher, ehemaliger Commander einer Bomber Group der 8th Air Force, abgeschossen über Bordeaux, den Posten innegehabt. Er war nach seinen harschen Protesten gegen die harten Lebensbedingungen im Camp in ein anderes Lager verlegt worden10. Die Amerikaner stellten im Sinne ihrer Kommandogliederung in den fliegenden Verbänden die "Provisional Wing X" auf. Der Senior Officer und sein Stab ("Headquarters") saßen im Teillager Nord 1. Die Deutschen steuerten Schreibmaschinen und einen Abzugsapparat samt Papier für die Stabsarbeit bei. Sie un- terstützten eine Organisationsform wie diese, da sie die Lagerführung erleichterte. Die deutsche Kommandantur war natürlich an der Erhaltung der Befehlsstruktur ihrer Gefangenen interessiert. Die Gefahren für die Bewacher, die von Tausenden straff organisierten Offizieren ausgingen, auch wenn sie hinter Stacheldraht saßen, waren den deutschen Offizieren selbstverständlich klar. Wappen der Provisional Wing X. Entwurf 1944. Die "Provisional Wing X" regelte die inneren Angelegenheiten des Camps, stellte die Verbindungen mit dem Roten Kreuz und der YMCA (Young Men's Christian Association) her, sicherte die Disziplin und Erfassung aller POW und sollte die Evakuierung des Lagers organisieren, wenn die Zeit heran war. Die innere Gliederung des Headquarters glich der in einer amerikanischen Fliegereinheit. Die Stellenbesetzung der Stabsabteilungen am Ende des Krieges sah beispielsweise so aus: Stabsabteilung A-1 (Personalangelegenheiten): Major Dillingham A-2 (Sicherheit, Aufklärung): Major McColiom A-3 (Bildung, Sport): Major Todd A-4 (Sicherstellung, d.h. Verteilung der Pakete etc.): Captain Birkner .. Ihnen standen die Compound Commander der vier Teillager zur Seite, denen jeweils ein Senior American bzw. Senior British Officer unterstand: North 1: Lieutenant Colonel Ross Greening (US) North 2: Lieutenant Colonel Cy Wilson (US) North 3: Lieutenant Colonel Francis Gebreski (US) West Compound (für die US-POW): Colonel Einar Malstrom (US). In die Struktur der "Provisional Wing X" gliederten sich die vier Teillager als jeweils eine "Group" und deren Baracken als jeweils eine "Squadron" ein,11 Jeder einzelne POW war somit in einer militärischen Einheit eingegliedert und hatte seinen festen Platz in ihr. Kriegsgefangene stellten auch das medizinische Personal im Lagerhospital, arbeiteten in verschiedenen Werkstätten, wie der Tischlerei und Schneiderstube, verwalteten die umfangreiche Lagerbibliothek, waren in der Schreibstube eingesetzt und berei- Seite 3 von 7 Seiten teten einige Mahlzeiten selbst zu. Zusätzlich zur deutschen Verpflegung erhielten sie wöchentlich Pakete des britischen, kanadischen und amerikanischen Roten Kreuzes. Die seelsorgerische Betreuung übernahmen kriegsgefangene Priester verschiedener Konfessionen. Im Westlager gab es einen Andachtsraum, der allerdings mit dem rapiden Anwachsen der Lagerstärke nicht mehr ausreichte. So fanden an wärmeren Tagen Andachten unter freiem Himmel statt. Regelmäßige Inspektionen der Schweizer Schutzmacht12 boten den Kriegsgefangenen die Möglichkeit, Beschwerden über die deutsche Lagerleitung und Wachposten anzubringen. Die Vertreter der Schutzmacht fertigten über ihre Besuche des Stalag Luft I ausführliche Protokolle an. Einhellig schätzten sie die Behandlung der Kriegsgefangenen als zumeist korrekt ein, machten aber Einschränkungen bei der räumlichen Situation, die zuweilen sehr beengt war. Die zeitweilige Unterbringung in Zelten und die sanitären Bedingungen wurden oftmals beanstandet. Die Verpflegung wurde zumeist als ausreichend, aber zu monoton eingeschätzt. Eine einschneidende Verschlechterung trat dann zu Beginn des Jahres 1945 ein. Auch die YMCA sandte in regelmäßigen Abständen ihren Vertreter, den dänischen Pfarrer Christian Christiansen. Er sorgte für die kulturellen Belange. Der YMCA verdankten die Kriegsgefangenen ihre Lagerbibliothek, Sportgeräte aller Art, Musikinstrumente und vieles andere mehr. Großer Beliebtheit erfreuten sich Theateraufführungen. Zwei Bands spielten für ihre Kameraden und die deutschen Bewacher. Weiterbildungskurse für Sprachen, Mathematik u. a., Kurse für Geflügelzucht, Versicherungswesen etc. sollten die jungen Männer auch geistig fithalten. Unter den Angehörigen der Royal Air Force waren auch Freiwillige aus verschiedenen, von den Deutschen okkupierten Ländern wie Polen, der Tschechoslowakei, Belgien, Frankreich, Norwegen, Griechenland und Jugoslawien. Der Engländer Ron Winton z.B. wohnte im Westlager in Baracke 11, Raum 9 mit acht Landsleuten, vier Franzosen, einem Australier und drei Kanadiern zusammen. Er meint, dass sie alle miteinander in Harmonie lebten bis zu dem Zeitpunkt, als die Deutschen die Essensrationen halbierten. Dann bestimmten sie Geoff Winter aus Yorkshire zum "Verteilungsoffizier" — ein undankbarer Job. Einen Eindruck von der alliierten Front gegen Nazideutschland vermittelt die Belegungsliste vom 30. Oktober 1944: 3.443 Amerikaner, 750 Briten, 137 Kanadier, 26 Australier, 22 Südafrikaner, 20 Tschechen, 15 Neuseeländer, 9 Belgier, 8 Polen, 3 Rhodesier, 3 Iren, 2 Norweger, 1 Liberianer.13 Für die schwersten und schmutzigsten Arbeiten, wie das Reinigen der Latrinen, setzten die Deutschen sowjetische Kriegsgefangene ein. In der Abwehrabteilung des Majors von Miller zu Aichholz diente Heinrich Haslob. Er war wegen seiner Dienstbeflissenheit und seines Ehrgeizes bei vielen Kriegsgefangenen verhasst. In seinem Tagebuchnotizen erwähnt er im Januar 1942: ,,1.000 Russen angekommen". Ankunft sowjetischer Kriegsgefangener im Stalag Barth, Januar 1942. Einige von ihnen fotografierte er heimlich. Diese Aufnahmen dokumentieren den schlechten körperlichen Zustand und die unzulängliche, diskriminierende Bekleidung. An stelle von Lederschuhzeug wurden ihnen nur Holzschuhe ausgehändigt. Die sowjetischen Kriegsgefangenen hausten in einer Baracke im deutschen Vorlager. Obwohl sie, wie ihre westalliierten Verbündeten, zumeist Offiziere der Luftstreitkräfte waren, wurden sie gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie als "bolschewistische Untermenschen" behandelt. Da die Sowjetunion nicht zu den Unterzeichnern der Genfer Konvention gehörte, genossen sie zudem keinen Schutz durch das Internationalen Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen. Im Frühjahr 1944 befahl der Kommandant Oberst Scherer dem Wachpersonal gar, Schäferhunde auf "die Russen" zu hetzen, da sie seiner Meinung nach "immer frecher" würden. Die alliierten Kameraden versuchten heimlich, ihnen Brot oder Zigaretten zukommen zu lassen. Aus vielen ihrer Berichte klingt großes Mitleid und Wut über die unmenschliche Behandlung seitens der gemeinsamen Feinde. Beerdigungslisten der Jahre 1939 bis 1945 aus der St. Marienkirche Barth nennen auch die häufigsten Todesursachen sowjetischer Kriegsgefangener: "allgemeine Schwäche", "völlige Entkräftung". und "Tuberkulose". Das Schicksal der überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Stalag Luft I nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist unbekannt. In den Berichten deutscher, englischer oder amerikanischer Behörden zur Lagerstärke am Kriegsende tauchen sie niemals auf. Von 1990 bis 2000 wandte sich nicht ein einziger ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener aus jener Gruppe mit der Bitte um Bestätigung seiner Zwangsarbeit an die Stadt Barth. Vermutlich landeten viele von ihnen in Stalins Gulags, da sie als Vaterlandsverräter galten, hätten sie sich doch nicht in die Kriegsgefangenschaft begeben dürfen. Vor den meisten von ihnen lag dann nach der Befreiung die Verurteilung zu einer Haftstrafe von bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit oder gar das Todesurteil. Die Baracken des Stalag und die Luftwaffenkasernen des KZ im Fliegerhorst blieben somit nicht lange leer. Sowjetische Filtrierungslager belegten die Gebäude und bildeten für Tausende von sowjetischen Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeitern das drohende Tor in die alte Heimat. Für Barth sind für den 1. August 1945 die "Repatriierungslager" mit den Kennummern 164 und 209 belegt. Hier wurden neben sowjetischen Kriegsgefangenen auch männliche und weibliche Zwangsarbeiter, letztere vielfach mit Kleinkindern, überprüft, um zu entscheiden, ob sie zurück in ihre Heimatorte oder aber in Gefangenschaft und Zwangsarbeit gehen würden. Eine andere Gruppe Kriegsgefangener des Stalag Luft I, die die nationalsozialistische Rassenideologie zu spüren bekam, waren Hunderte Juden, vornehmlich aus den USA. Jüdische Kriegsgefangene mussten zwar nicht mit einem gelben Stern gekennzeichnet sein, doch sollten sie so weit wie möglich von den anderen Kriegsgefangenen getrennt werden. Einige Tage nach Weihnachten 1944 wurden die jüdischen Gefangenen zunächst in einer gesonderten Baracke des Teillagers Nord 1 konzentriert.14 Am 10. Januar 1945 trafen dort ca. 400 - 500 Juden aller Teillager zusammen. Viele fürchteten, sie würden von Barth aus zur Vernichtung in ein KZ transportiert werden, und baten ihre nichtjüdischen Kameraden um die Benachrichtung ihrer Familien, falls sie nicht mit ihnen in die Heimat zurückkehrten. Colonel Zemke als Senior Allied Officer protestierte energisch gegen das Vorgehen der deutschen Kommandantur und wies den Lagerkommandanten darauf hin, dass etwaige Beeinträchtigungen oder gar Tötungen der Gefangenen als hinreichende Gründe für Verurteilungen als Kriegsverbrechen nach dem bevorstehenden alliierten Sieg gewertet würden.15 Der Widerstand der Offiziere hinter dem Barther Stacheldraht speiste sich nicht zuletzt aus dem Vorhandensein zweier Radios. Seite 4 von 7 Seiten Die britischen Kriegsgefangenen Roy Kilminster und Leslie HurreIl besaßen jeweils ein illegales Radio und hörten jede Nacht die Nachrichten des BBC London. Die Berichte wurden mitstenografiert und am nächsten Morgen heimlich weitergeleitet. Auf diese Weise waren die Kriegsgefangenen über die Lage an den Fronten besser informiert als die Deutschen. Nach dem Beginn der Invasion in Frankreich ging auch die "Voice of America" dazu über, verschlüsselte Nachrichten und Befehle für die Kriegsgefangenen zu übermitteln. Hauptgebiet der Geheimtätigkeiten waren die gesamte Zeit über die Vorbereitung und Realisierung der Fluchten ausgewählter Gefangener. Diese Unternehmen waren in der Regel umfangreich vorbereitet und forderten ganze Gruppen von Beteiligten. Die Engländer blieben über die Jahre hinweg die Chefs in der Feindaufklärung und die Planer diverser Geheimoperationen und Untergrundaktivitäten einschließlich der Fluchtversuche. Das US-Personal wurde in die geplanten Manöver aber voll einbezogen~ Zuweilen gelang es sogar, Nachrichten zu deutschen Militärbewegungen oder Rüstungsvorhaben, wie z.B. zu Versuchen mit den „Wunderwaffen", über die Fronten zu bringen. Die Befehle über die "Voice of America" orientierten die westallierten Kriegsgefangenen darauf, sich den von den Nazis geplanten Evakuierungen der Lager zu verweigern. Die Gefahr für Barth wurde groß, als das Stalag Luft I das Ziel eines Transportes aus dem weiter östlich gelegenen Stalag Luft VI wurde und sich somit Ende Februar die Kopfzahl der Gefangenen auf mehr als 9.000 POW erhöhte. Colonel Zemke und seine Stabsoffiziere bereiteten sich darauf vor,' eine weitere Verlegung zu verhindern. Sie erhielten von SHAEF16 den Befehl "Stay-put", d. h. zu bleiben, wo sie waren, und sich von der Front überrollen zu lassen.17 Vorbereitungen wurden in der "Provisional Wing X" getroffen, um die Kampfbereitschaft der Männer herzustellen. Die als Tarnung für das Kampftraining anberaumten Sportveranstaltungen wurden intensiviert. Major TAG. Pritchard, ein britischer Commando-Officer, der in Italien als Fallschirmjäger gefangen worden war, bildete die britischen Kämpfer aus, Lieutenant Colonel Burt Mc Kencie als ehemaliger Infanterieoffizier die US-Männer.18 Lagerturm, Barth 1945. von Miller zu Aichholz, Hauptmann von Beck-Managetta und Major Schröder auf höheren Befehl aus Barth entfernt. Angeblich sollen sie sich den westalliierten Kriegsgefangenen gegenüber zu freundlich verhalten haben. Als neuer Kommandant wurde Oberst Warnstedt eingesetzt, der als erste Maßnahme eine neue, strengere Lagerordnung in Kraft setzte. Die Wachposten erhielten den Befehl, ohne Warnung auf Kriegsgefangene zu schießen, die sich während des Fliegeralarms außerhalb der Baracken, am offenen Fenster oder im Eingangsbereich befanden. Dieser Anordnung fiel am 18. März 1945 der amerikanische Leutnant Frank Elroy Wyman zum Opfer. Er überhörte das Signal und wurde im Barackeneingang von einem Wachturmposten niedergeschossen. Das Jahr 1945 brachte noch weitere gravierende Verschlechterungen für die ca. 9.000 Kriegsgefangenen des Stalag Luft I. Die Deutschen halbierten die Essens- und Kohlerationen. Zu allem Unglück stagnierte bis Ende März 1945 die Lieferung von RotKreuz-Paketen. Eine Zeit des Hungerns und Frierens begann. Zuweilen war es für einen Gefangenen nicht einmal möglich, 1.000 Kalorien pro Tag zu erhalten. Auf Grund rapider Gewichtsabnahme waren die Kriegsgefangenen außerstande, sich sportlich zu betätigen. Die beliebten Lagerkatzen verschwanden spurlos und landeten in den Kochtöpfen der Amerikaner. Ihre britischen Kameraden waren entsetzt über diesen "Kannibalismus". Mit der Auslieferung Tausender langersehnter Lebensmittelpakete kurz vor Ostern 1945 stiegen Lebensmut und Moral. Die Gefangenen wussten, dass der Krieg und ihre Gefangenschaft sich dem Ende näherten, und erwarteten ungeduldig das Erscheinen der Roten Armee. Eine V-2 über dem Stalag. Barth 1944. Zeichnung eines amerikanischen Kriegsgefangenen. Im Januar 1945 wurden Kommandant Oberst Scherer, Major Am 29. und 30. April 1945 beriet sich Kommandant Warnstedt mehrere Male mit den verantwortlichen britischen und amerikanischen Offizieren. Warnstedt teilte ihnen mit, dass das Lager sich auf einen Verlegungsmarsch vorbereiten solle. Colonel Zemke weigerte sich, diesen Befehl auszuführen, und wies darauf hin, dass im Falle einer militärischen Aktion alle Maßnahmen und die möglichen, ja wahrscheinlichen Opfer auf beiden Seiten dem Oberst Warnstedt persönlich zugeschrieben werden Seite 5 von 7 Seiten würden. Nach einer Bedenkpause verkündete der deutsche Lagerkommandant, dass für seine Seite jetzt der Krieg aus sei. Er wünschte zu erfahren, ob die "Provisional Wing X" das Lager übernehmen würde unter der Bedingung, das deutsche Personal nicht durch eine militärische Aktion am Abzug zu hindern. Zemke sagte mit der Maßgabe zu, dass die deutsche Truppe komplett und in Marschordnung abziehe, nur Handfeuerwaffen mitnehme und keine Lagereinrichtungen zerstöre. Gegen 22 Uhr am 30. April erloschen alle Lichter, und die Deutschen zogen in Richtung Westen ab. Am 1. Mai übernahm die Militärpolizei der freien Lagerinsassen die Besetzung der Wachtürme. Späher suchten Kontakt zur sowjetischen Armee. "Field Forces" hielten Hunderte Deutsche vom Lager fern, die aus Angst vor "den Russen" im Stalag Luft I Schutz suchten. Die ersten Schritte in die Freiheit, Barth im Mai 1945. Am 2. Mai 1945 um 10 Uhr zog das 133. Garderegiment (44. Gardeschützendivision, 65. Armee unter Generaloberst P.l. Batow) in Barth ein. Colonel Hubert Zemke (US Army Air Force) und Group Captain Cecil Weir (Royal Air Force) waren in der Nacht zum 2. Mai bei der bedingungslosen Kapitulation der Stadt Barth gegenüber einem sowjetischen Offizier zugegen. Auf ihren Exkursionen zum Fliegerhorst Barth entdeckten Kriegsgefangene des Stalag Luft I das KZ Barth und waren entsetzt über Hunderte halbverhungerter Menschen und Dutzende toter Häftlinge, die in den völlig verdreckten und verlausten Räumen umherlagen. Britische und amerikanische Mediziner versorgten nach Kräften die Kranken und brachten sie in das Lazarett des Fliegerhorstes und in das Hospital des Stalag Luft I. Nun erst wurde das arabische Sprichwort für sie Realität, das ein Kriegsgefangener an eine Barackenwand im Stalag Luft I geheftet hatte: "Ich hatte keine Schuhe und murrte. Bis ich einen Mann ohne Füße traf." Die Rote Armee hatte an diesem 2. Mai das größte Offizierslager der Wehrmacht für abgeschossene Flieger westalliierter Luftwaffen erreicht. Die alliierte Lagerleitung bat um Unterstützung bei der Rückkehr in die Heimat. Ein verständliches Anliegen, saßen doch viele von ihnen schon seit Jahren hinter Stacheldraht. Doch dieser Wunsch war seitens der sowjetischen Truppen nicht so einfach zu erfüllen. Die westlichen Verbündeten standen bei Schwerin und rückten nicht weiter vor. Die Rote Armee kontrollierte nach und nach das gesamte dazwischen liegende Mecklenburger Land. Das Kriegsgefangenenlager war fast 120 km von den eigenen, westalliierten Truppen entfernt. Ein Landmarsch war nicht so einfach zu bewerkstelligen. Das Stalag Luft I war eine Insel im anschwellenden roten Ozean. Somit war eine politische Lösung gefragt. Seit dem Herbst des Jahres 1944 beschäftigten sich die amerikanischen und britischen Stäbe von SHAEF intensiv mit dem Schicksal ihrer Kriegsgefangenen im Machtbereich der Nazis. Vereinbarungen mit der Sowjetunion wurden kurz nach der Konferenz in Jalta im Februar 1945 getroffen, um die eigenen Männer so schnell wie möglich zurückzuholen. Ebenso wollte die sowjetische Seite ihre Kriegsgefangenen und insbesondere diejenigen, die auf Seiten Deutschlands mit der Waffe gegen sie gekämpft hatten, zurückerhalten. Auch die geflüchteten Bürger der Staaten des Baltikums und der anderen Gebiete, die erst 1940 zur Sowjetunion gekommen waren, wollte sie wieder nach Osten transportiert sehen. Zunächst erhöhte die Sowjetunion den Druck auf ihre Alliierten dadurch, dass sie bekannt gab, alle westalliierten ehemaligen Gefangenen würden zunächst nach Odessa ans Schwarze Meer gebracht, um sie später in Sammeltransporten nach Westeuropa zu transportieren.19 Stalin begann, auf Zeit zu spielen. Beim Stalag Luft I Barth kam noch ein zusätzliches Moment hinzu. Schließlich ging es - militärisch gesehen - um die Rückführung von 9.000 Fliegeroffizieren mit einiger Kampferfahrung auf einem Gebiet, auf dem die Rote Luftflotte nur über wenige Erfahrungen verfügte: auf dem des strategischen Luftkrieges. Mit den Offizieren, die in Barth nun immer noch hinter Stacheldraht saßen, hätten die Amerikaner problemlos eine weitere schlagkräftige Luftarmee aufstellen können. Die Anzahl der einsitzenden Offiziere war weit höher als die jener Offiziere, die in den fliegenden Verbänden der mächtigen 8th Air Force im April 1945 ihre Angriffe gegen Nazideutschland geflogen hatten.2o Die Amerikaner und Engländer begannen umzudisponieren und handelten blitzschnell. Der Befehl "Stay-put", d.h. das Überrollenlassen und das Abwarten der Gefangenen im anglo-amerikanischen Lager, wurde ab März 1945 durch den Plan "Rankin Case C" ersetzt.21 Die POW sollten mit allen verfügbaren Mitteln versuchen, die Lager geordnet in Richtung auf ihre Truppen zu verlassen. Längere Verhandlungen mit der Roten Armee sollten vermieden und Tatsachen geschaffen werden. Entsprechende Befehle gingen verschlüsselt sowohl über Funk als auch über normale Radiosendungen an die Kriegsgefangenenlager. Nach Möglichkeit sollte die Air Force zum Transport aus weiter entfernten Camps eingesetzt werden. Die Bedingungen in Barth waren dafür ausgezeichnet. Ein voll betriebsfähiger Fliegerhorst mit einer entsprechend ausgebauten Start- und Landebahn lud ein. Die amerikanischen Offiziere begannen, die Anlagen und Rollbahnen zu entminen. Die Kriegsgefangenen des Stalag Luft I erlebten diese präzise vorbereitete Airlift-Aktion als "Operation Revival". Ungeduldig warteten Tausende junger Männer seit dem 30. April auf ihre Evakuierung, doch die sowjetische Seite ließ sich Zeit. Tagelang fertigte sie namentliche Listen der zu Evakuierenden an. Sie sorgte für das leibliche Wohl ihrer Verbündeten und trieb Dutzende lebender Kühe und Schweine in das Lager, die dort geschlachtet wurden. Kulturveranstaltungen vereinten die Männer bei der Seiten. Ein sowjetisches Tanzensemble trat auf. Auftritt eines sowjetischen Tanzensembles vor den POW, Barth im Mai 1945. Die Führung der "Provisional Wing X" arbeitete konzentriert und effektiv, waren die kommandierenden Offiziere doch schon vor Monaten maßgeschneidert für ihre neue Aufgabe ausgewählt worden. Die besten Offiziere waren zum rechten Zeitpunkt am richtigen Ort. Colonel Zemke kamen seine Erfahrungen mit den Handlungsweisen sowjetischer Stäbe zugute. Er wusste, dass er Entscheidungen nur mit den Offizieren der Roten Armee vor 01t treffen konnte und die sowjetische Befehlshierarchie nach "oben" nur vorsichtig in Gang setzen durfte. Group Captain Seite 6 von 7 Seiten Weir überzeugte den Kommandeur der in Barth stationierten sowjetischen Truppen, ihn nach Wismar zur britischen Armee zu begleiten. Mit dem Auto fuhren sie sogar bis Hagenow, wo der bedrängte sowjetische Offizier eine Erklärung unterzeichnete, die für den 12. und 13. Mai eine "Feuerpause" zusicherte, so dass die Evakuierung mit Flugzeugen vom Fliegerhorst Barth stattfinden konnte. Die höheren Stäbe der Engländer, Amerikaner und der Sowjetunion wurden kurz vorher benachrichtigt. Weir kehrte nach Barth zurück. Ein Brief an den sowjetischen Divisionskommandeur Generalmajor W.A. Borisov wurde vorbereitet, in dem dieser über die bevorstehende Evakuierung informiert wurde. Dieses Schreiben sollte dem General erst übergeben werden, wenn das erste Flugzeug in Barth landete. Kurz vor 14 Uhr am 12. Mai 1945 begrüßten die Insassen des Stalag Luft I mit großem Jubel das bekannte Geräusch amerikanischer Flugzeuge. Die 8th Air Force ließ es sich nicht nehmen, das Stalag Luft I selbst zu evakuieren, saßen doch viele ihrer alten Bekannten dort hinter dem Stacheldraht. Brigadegeneral William Gross, der Kommandeur der 1th Air Division der Luftflotte, entstieg der ersten einschwebenden "Fliegenden Festung" und verließ Barth erst mit der letzten Maschine zwei Tage später. Zwei weitere B-17 und eine Transportmaschine C-46 brachten starke Sendeanlagen und eine SHAEF-Stabsgruppe unter General David M. Schlatter, dem Verantwortlichen für ehemalige USKriegsgefangene in Eisenhowers Stab22. Vor dem Einstieg in eine B-17, Barth am 14.5.19455 Zum Abtransport der befreiten Gefangenen wurden fast durchweg Bomber B-17 herangezogen. Einige zweimotorige C-46 flogen die Verwundeten und Kranken aus. Alle Maschinen drehten nur auf dem Flugfeld, nahmen ihre Kameraden an Bord und starteten. Keiner der Motoren sollte auf dem Platz abgestellt werden, und die Maschinengewehrpositionen besetzten die Bordschützen wie zu Kriegszeiten. An drei Tagen bestiegen alle Kriegsgefangenen die in kurzen Abständen startenden Maschinen und flogen nach Hause. Auch Dutzende tschechischer und polnischer Flieger, die im Rahmen der Royal Air Force gedient hatten, erklommen die Maschinen. Sie schlossen sich nicht ihren sowjetischen Waffenbrüdern an. Die militärpolitische Situation war einzigartig: Tagelang agierten starke amerikanische Luftwaffenverbände 120 km tief in der im Entstehen begriffenen sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Stalins Soldaten standen verunsichert am Rande des Flugplatzes. Sie hatten keinerlei Richtlinien aus Moskau, und so verabschiedeten sie ihre Waffenbrüder im Kampf gegen Nazideutschland freundlich und freundschaftlich. Schießen konnten die sowjetischen Soldaten bei dem unerhört entschiedenen Vorgehen ihrer Verbündeten auch nicht. Die Maschinen starteten im 3-Minuten- Takt. Drei Transportmaschinen luden schließlich noch die über Jahre hinweg entstandenen Graphiken, Gemälde und anderen Kunstwerke der Gefangenen aus dem Barther Camp auf. Mit diesem Material wurde noch 1945 in den USA eine gut besuchte Ausstellung organisiert.23 Als letzter POW.bestieg der Senior Allied Officer Colonel Hubert Zemke seine B-17. Er war der 8.498te Kriegsgefangene des Lagers, der im Mai 1945 nach Hause flog. Die Maschine, in der auch Brigadegeneral Gross und Group Captain Weir saßen, drehte am 14. Mai noch mit dem sowjetischen Generalmajor Borisov eine Ehrenrunde, setzte den Gast ab und flog nach Wes- ten davon. Das Stalag Luft I war Geschichte.24 Der heiße Krieg war für Tausende von Kriegsgefangenen zu Ende. Am Horizont zogen schon erste Schatten eines neuen, kalten Krieges auf. Anmerkungen 1. Der ehemalige Kriegsgefangene Edwin D. Hays im Interview mit dem "Spiegel" über seine Befreiung im Stalag Luft I Barth. Spiegel Spezial, 2003, H. 1, S.85 2. Im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Bestand RW 6, finden sich in den Listen bis zum 1.7.1941 folgende Bezeichnungen: ,,Kriegsgefangenenlager Barth/Vogelsang", "Stalag Luft 2", "Luftstalag II", "Luft Barth", ab dem 1.2.1941 "Lager Luft 1 Barth" und schließlich ab dem 1.10.1942 "Stalag Luft 1 Barth". Ein Arbeitsvertrag im Archiv der Stadt Barth vom 6.6.1941 zur Beschäftigung von britischen Kriegsgefangenen trägt die Bezeichnung "Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager (Stalag) Barth 2 (Pommern)" 3. Im Englischen/Amerikanischen abgekürzt mit POW, PoW, PXW oder PW 4. So die deutsche Übersetzung des im Ursprung französischen Textes. Zit. n.: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.). Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-45, Hamburg 2002, S. 23 5. Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Bestand RW 6 6. Freundliche Mitteilung von H. Gülzow 7. Vgl. Radau, Helga, "Death-Shore" und sein todsicherer Fluchtplan aus dem Kriegsgefangenenlager Stalag Luft I Barth, in: Geschichtswerkstatt Toitenwinkel (Hg.), Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zwischen Warnow und Barthe ((= Schriften der Geschichtswerkstatt Toitenwinkel, 5). Rostock 1998, S. 44-49 8. Freeman, Roger A., Zemke's Stalag, Shrewsbury 1991, S. 35 9. Ebd., S. 11 10. Hubert Zemke war Amerikaner, dessen familiäre Wurzeln in Bayern und Pommern lagen. Er sprach gut Deutsch und ein wenig Russisch. 10 Ebd., S. 22 11. Die Gegenstücke in der deutschen Gliederung der Luftwaffe waren: Wing = Geschwader, Group = Gruppe, Squadron = Staffel 12. Archiv des Fördervereins Dokumentations- und Begegnungsstätte Barth e.V., Kopien der Berichte der Schweizer Schutzmacht 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. NARA National Archives Washington D.C., RG 334 Kaufman, Mozart, Fighter Pilot, New York 1993, S. 103 Astor, Gerald, The Mighty Eighth, New York 1998, S. 479 SHAEF: Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force = Oberkommando der Alliierten Expeditionskräfte (in Europa): Oberkommandierender: General Eisenhower NARA National Archives Washington D.C., RG 334 Freeman (wie Anm. 8), S. 73 NARA National Archives Washington D.C., RG 334 Vgl. die statistischen Angaben bei: Freeman, Roger A., The Mighty Eigth. War Manuel, London 2002, S. 146·22l NARA National Archives Washington D.C., RG 334 Freeman (wie Anm. 8), S. 112-114 Ross Greening, Chartes, Not as briefed, Washington 2001, S. 217·234 Der Förderverein Dokumentations- und Begegnungsstätte Barth e. V. bereitet eine Ausstellung zur Geschichte Barths zwischen 1933 und 1945 vor. Neben der Geschichte des KZ-Außenlagers wird auch die des Stalag vorgestellt. Einen kurzen Überblick zur Entwicklung von Barth in diesem Zeitabschnitt gibt die Broschüre "Fußnoten. Zum Gedenk und Lernpfad KZ-Außenlager Barth" von Elke Engelmann, die über den Förderverein Dokumentationsund Begegnungsstätte Barth e. V., Teergang 2, 18356 Barth, zu beziehen ist. Seite 7 von 7 Seiten