Geschichte Christian Möller Massensterben und Massenvernichtung sowjetischer Kriegsgefangener. Das Stalag 305 in der Ukraine 1941-1944 Magisterarbeit Christian Möller M.A. Massensterben und Massenvernichtung Das Stalag 305 in der Ukraine 1941-1944 Schulenburg-Leine im Mai 2001 Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete und gekürzte Version der Magisterarbeit „Wehrmachtsverbrechen in der Ukraine. Das Stalag 305 Adabasch 1941 bis 1943“, die der Autor am 19. November 2000 dem Historischen Seminar der Universität Hannover vorgelegt hat. Die Magisterarbeit wurde mit der Note 1 -sehr gut- bewertet. © Copyright: Christian Möller, Breslauer Str. 6, 30982 Pattensen-Schulenburg. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung - auch Auszugsweise - sowie Verbreitung durch Film, Funk und Fernsehen, durch fotomechanische Wiedergabe und Datenverarbeitungssysteme jeder Art, bzw. anderweitige Veröffentlichung auch in Teilauszügen nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung des Autors. 1 Inhaltsverzeichnis 1. 1.1 Einleitung und Quellenlage Strafprozeßakten als historische Quelle 3 5 2. 2.1. Die Organisation des deutschen Kriegsgefangenenwesens Das Kriegsgefangenenwesen im „Fall Barbarossa“ 6 7 3. 3.1 3.2 Verbrecherische Befehle und Richtlinien Richtlinien für eine Zusammenarbeit mit dem Reichsführer SS „Kommissarbefehl“, „Kriegsgerichtsbarkeitserlaß“ und „Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland“ 9 11 13 4. Der Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und die Durchführung der verbrecherischen Befehle Die Verschärfung der Befehle Die allgemeine Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen Die Zusammenarbeit mit dem SD in den besetzten Gebieten Die (Unter)Ernährung der Kriegsgefangenen Das Massensterben der Gefangenen im Winter 1941/42 Geplanter Arbeitseinsatz im Reichsgebiet und Verschärfung der Lebenssituation der Kriegsgefangenen 1941 bis 1943 16 5.7.3 5.7.4 5.8 Das Stalag 305 – Ein exemplarisches Gefangenenlager in der Ukraine/Sowjetunion? Die Organisation von Stalag 305 Das Hauptlager Die Außenlager a. Gefängnis Kirowograd b. Adabasch Bewachung durch das Landesschützenbataillon 783 Die Lebensverhältnisse in den Lagern rund um Kirowograd Die Situation im Lager Kirowograd Die Situation im Außenlager Adabasch Die Ernährungslage im Stalag 305 Die Aussonderung von Kommissaren und jüdischen Kriegsgefangenen Im Lager Kirowograd Im Lager Adabasch Massenexekution im Lager Adabasch – Ein konkretes Beispiel Weitere Erschießungen im Stalag 305 Kirowograd Gefängnis Kirowograd Kriegsgefangenenlazarett von Kirowograd Adabasch Zusammenarbeit mit dem SD – Exekutionen jüdischer Zivilisten in Kirowograd und Winniza Die Personen Die Opfer Die Täter a. Der Befehlsgeber b. Der Ausführende c. Die „Erfüllungsgehilfen“ Die Gaffer und Zuschauer Die Verweigerer Das Ergebnis 26 27 27 27 27 27 28 29 29 30 31 32 32 33 34 37 37 38 38 39 40 42 42 43 43 44 45 46 47 49 6. Schlußwort 50 7. 7.1 7.2 7.3 7.4 Quellen- und Literaturverzeichnis Bibliographien Unveröffentlichte Quellen Veröffentlichte Quellen Literatur 51 51 51 51 52 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 5. 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.6 5.7 5.7.1 5.7.2 2 17 18 19 20 21 23 1. Einleitung und Quellenlage Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war der Beginn eines Krieges von noch nie gekanntem Ausmaß. Sämtliche völkerrechtlichen Regeln für den Krieg wurden von der Wehrmacht außer Acht gelassen. Die deutschen Absichten waren jedoch von vornherein gekennzeichnet durch größte Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Militär des Gegners und seiner Zivilbevölkerung. Eine Reihe von Erlassen und Anordnungen, die vor Kriegsausbruch ergingen, belegen die deutsche Haltung im „Fall Barbarossa“: Der Gegner sollte nicht nur aus dem Felde geschlagen, sondern physisch vernichtet werden. Hieraus ergab sich eine gänzlich neue Qualität der Kriegführung, die vom Obersten Befehlshaber bis hinunter zum einfachen Soldaten größtmögliche Akzeptanz der Vernichtungspläne voraussetzte. Willige Helfer fanden sich jedoch sowohl im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), als auch in untergeordneten Kommandoebenen. Bereitwillig wurden Pläne erarbeitet und schließlich auf grausame Art und Weise in die Tat umgesetzt. Leidtragende waren in erster Linie die sowjetischen Kriegsgefangenen und die sowjetische Zivilbevölkerung. Die systematische Vernichtung von mindestens zwei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener durch Wehrmachtsteile stand jedoch lange Zeit im Schatten der Vernichtung der europäischen Juden, sie stellt einen „vergessenen Holocaust“ dar.1 Die Masse der Gefangenen starb an Unterversorgung oder an Krankheiten aufgrund der katastrophalen Lebensverhältnisse in den Lagern, zudem wurden etwa 600.000 Gefangene im Zuge der Aussonderungsmaßnahmen von Sonderkommandos der Sicherheitspolizei (Sipo) und des Sicherheitsdienstes (SD) erschossen.2 Laut Alexander Dallin gerieten im Jahr 1941 3.355.000 Rotarmisten in deutsche Kriegsgefangenschaft, im Jahr 1942 waren es 1.653.000 und im Jahr 1943 wurden 565.000 Soldaten der Roten Armee gefangengenommen. Annähernd die Hälfte aller Gefangenen überlebte ihre Gefangenschaft nicht.3 Erschreckend ist, daß im Bereich des Oberkommandos des Heeres (OKH-Bereich), also im frontnahen Gebiet, von rund zwei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen 845.000 in den Lagern starben, 535.000 wurden ins Zivilleben oder für den Militärdienst entlassen. „Sonstige Abgänge“ (z.B. Fluchten, Abgaben an SD, an Luftwaffe) sind mit 495.000 Soldaten der Roten Armee beziffert4, so daß schließlich mit Stand vom 1. Mai 1944 nur 175.000 Überlebende registriert, von denen 151.000 als Arbeiter eingesetzt wurden. 1 Schulte, Theo J.: The German Army and Nazi Policies in Occupied Russia, Oxford, New York, Munich, 1989, S. 180. Ebenda, S. 183. 3 Die Zahlenangaben basieren auf „OKW/AWA: Nachweisungen des Verbleibs der sowjetischen Kriegsgefangenen nach dem Stand vom 1. Mai 1944“, siehe Dallin, Alexander: Deutsche Herrschaft in Russland 1941-1945. Eine Studie über Besatzungspolitik, Düsseldorf 1958, S. 440 und Anmerkung 2. Nach dem Krieg haben etliche Autoren versucht, die absoluten Kriegsgefangenenzahlen zu eruieren. Sie sind dabei jedoch zu recht unterschiedliche Ergebnissen gelangt. Dallin nennt 5.160.000 Gefangene, wobei seine Zahlenangabe nur die registrierten Gefangenen beinhaltet. Nach angeblich unvollständigen deutschen Akten schließt er die Gesamtzahl der gefangengenommenen Rotarmisten sogar auf 5.754.000. Davon sollen 2.454.000 Gefangene verstorben sein (47,6%). Vgl. Dallin, Alexander: Ebenda, S. 440. Laut Streim seien von 5.163.381 gefangenen Rotarmisten 2.534.000 (49%) gestorben. Siehe Streim, Alfred: Sowjetische Gefangene in Hitlers Vernichtungskrieg. Berichte und Dokumente 1941-1945, Heidelberg 1982, S. 175. Jacobsen und Streit nennen 5.734.000 Gefangene, wovon 600.000 bereits an der Front getötet wurden und 3.300.000 (57,5%) insgesamt starben. Siehe Jacobsen, Hans-Adolf: Kommissarbefehl und Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener, in: Buchheim, Hans; Broszat, Martin; Jacobsen, Hans-Adolf und Krausnick, Helmut: Anatomie des SS-Staates, 6. Auflage, München 1994 (1. Auflage 1967), S. 477 und Streit, Christian: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978, S. 10 und 105; Hoffmann kritisiert sehr stark Jacobsen und Streit und benennt die absolute Zahl der Gefangenen mit 5.245.882, wovon zwei Millionen (38%) gestorben sind. Hoffmanns Zahlen stützen sich auf die Auswertung neuerer Dokumente. Siehe Hoffmann, Joachim: Die Kriegführung aus Sicht der Sowjetunion, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1983, S. 730, Anmerkung 71. Laut Müller sind etwa 5.370.000 Rotarmisten in Gefangenschaft geraten, wovon 3.222.000 (60%) zu Tode gekommen sind. Dagegen glaubt Roschmann, daß von den etwa fünf Millionen Gefangenen lediglich 1.680.000 (33,6%) verstorben sind. Vgl. Schulte, Theo J.: Ebenda, S. 181. 4 Während Jacobsen die Abgaben an den SD mit „Exekution“ gleichsetzt (Jacobsen, Hans-Adolf: Ebenda, Dokument Nr. 42, S. 544), bezweifelt Hoffmann dies und begründet es damit, daß die gesamte Hilfspolizei in den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine größtenteils aus Kriegsgefangenen rekrutiert wurde und unter der Zuständigkeit des 3 2