Dieter Krüger Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 58 Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler Band 58 Dieter Krüger Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1983 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland von Dieter Krüger Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht. 1983 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Biblioth Kruger, Dieter: Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland / von Dieter Krüger. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1983. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 58) ISBN 3-525-35717-6 NE: GT © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1983. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, da; Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. EDV-Satzerstellung: Mohndruck, Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Druck und Einband: Hubert & Co., Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 Inhalt Vorbemerkung 9 I. Einführung 1. Positionen der deutschen Nationalökonomie vor 1914 . 2. Biographisches 3. Zum Vorgehen II. Das Problem sozialliberaler Theorie und Praxis am Beispiel von Gerhart v. Schulze-Gävernitz 1. Sozialreform - das englische Vorbild 2. Konservative Formierungsideologie und 'liberaler Imperialismus' 3. Politischer Gelehrter und gelehrter Politiker: SchulzeGävernitz und Friedrich Naumann III. IV.. Die Auseinandersetzung mit dem Marxismus 1. Kant gegen Marx! (Schulze-Gävernitz) 2. Hegel gegen Marx! (Plenge) 3. Neukantianismus, Sozialdemokratie und Gelehrtenpolitik Die Auseinandersetzung mit dem Organisierten Kapitalismus 1. Die Bürokratiedebatte von 1909 2. Plenge und Jaffe über den Wandel der Wirtschaftsordnung 3. Das Kreditwesen als Steuerungsinstrument 4. Die Manager 5. Finanzpolitische Probleme 6. Schulze-Gävernitz und das Petroleummonopolprojekt . 11 13 20 25 29 29 33 43 49 50 57 66 74 78 82 88 92 93 96 V. Die 'Schule der Organisatoren' - Plenges Projekt einer Unterrichtsanstalt für praktische Volkswirte 102 VI.. Die Gelehrtenpolitik in der Krise am Vorabend des Ersten Weltkrieges 1. Binnenkonflikte im Verein für Socialpolitik 109 109 5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 2. Das Scheitern einer liberalen akademischen Sozialpolitik 3. Die Alternativen Plenges 111 116 VII. Die Kriegswirtschaft als Ordnungsproblem 118 1. Von der 'Militarisierung' zur 'Sozialisierung' (Jaffé) · · 121 2. Von der Organisation'zum Sozialismus 124 3. Die Kontroverse über den Kriegssozialismus 129 VIII. Die Kontroverse um die Übergangswirtschaft 1. Staatssozialismus oder Staatsinterventionismus? 2. Die Finanzreform als Problem der Nationalökonomie . 3. Finanzreform und Sozialisierung: die Vorschläge Jaffes und Rudolf Goldscheids 4. Staatssozialismus und Sozialdemokratie - einige Aspekte des Wandels sozialdemokratischer Übergangskonzeptionen 5. 'Wirtschaftsliberalismus versus Staatssozialismus' und die Reichstagsrede von Schulze-Gävernitz im Mai 1918 . 6. Der Kampf um die Wirtschaftspolitik nach der Novemberrevolution - ein Ausblick 141 141 148 IX. 170 172 Handelspolitik und Kriegsziele 1. Mitteleuropa 2. Die Kontroverse über die Zollannäherung 3. Brentanos Plädoyer für Freihandel 4. Sozialliberale Kriegszielpolitik - das Beispiel SchulzeGävernitz X. XL Der Beitrag deutscher Nationalökonomen zur Kriegs- und Burgfriedensideologie 1. Plenges'Ideen von 1914' 2. Die Rezeption der'Ideen von 1914' 3. Wahlrechtsreform, Parlamentarismus und 'Deutsche Freiheit' Arbeiterbewegung und Gesellschaftswissenschaft im Zeichen des Burgfriedens 1. Bürgerliche Sozialreform und sozialdemokratischer Reformismus 2. 'Neumarxismus' und 'Neukonservatismus': Plenge und die Lensch-Cunow-Hänisch-Gruppe 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 152 158 161 165 175 177 180 189 194 199 204 214 214 219 XII. Kriegsideologie - Präfaschismus - Faschismus 1. Die Lauensteiner Tagung 2. Plenge und der Präfaschischmus (Ernst Krieck, Eduard Stadtler) 3. Plenge und der Nationalsozialismus 232 234 XIII. Epilog 241 Abkürzungen der Periodika und Sammelwerke 251 Anmerkungen 254 Quellen und Literatur 1. Ungedruckte Quellen 2. Literatur 342 342 343 Personenregister Sachregister 359 364 236 239 7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 Vorbemerkung Diese Studie ist eine überarbeitete Fassung meiner 1981 vom Fachbereich Geschichtswissenschaft der Philipps-Universität Marburg angenommenen Dissertation mit dem Titel "Deutsche Nationalökonomen in Politik und Gesellschaft des späten Kaiserreichs 1900-1918". Für die Betreuung dieser Dissertation danke ich Prof. Gerd Hardach und Prof. Theo Schiller, beide Marburg. Durch ihre kritische Lektüre und vielen Hinweise haben Prof. Peter Hertner, Florenz, und die Herausgeber dieser Reihe zum Zustandekommen dieser überarbeiteten Fassung beigetragen. Ferner sei auch allen anderen, die mir mit Hinweisen, Rat und Kritik geholfen haben, besonders Dipl.-Soz. FranzGeorg Duhr, Florenz, und Dr. Stefan Bajohr, Düsseldorf, gedankt. Großen Anteil am Gelingen der Studie haben auch die Mitarbeiter der benutzten Archive und Bibliotheken; dabei seien die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Zentralarchive der DDR, der Bundesarchive und der Universitätsbibliothek Bielefeld, wo ich jeweils längere Aufenthalte verbrachte, besonders hervorgehoben. Der Friedrich-NaumannStiftung, Gummersbach, bin ich für ein zweieinhalbjähriges Doktorandenstipendium zu großem Dank verpflichtet. Sie hat auch einen Druckkostenzuschuß gewährt. Vielfache Hilfestellung gab mir ferner das Fachgebiet Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Marburg und besonders dessen Leiter, Prof. Ingomar Bog. Bei der Fertigstellung des Manuskripts konnte ich in dankenswerter Weise auf den Rechner des Europäischen Hochschulinstituts, Florenz, zurückgreifen. In jeder Hinsicht haben mich schließlich meine Eltern, Alice und Heinz Krüger, Konstanz, unterstützt, ohne deren unermüdliche Hilfe diese Arbeit nicht zustandegekommen wäre; ihnen gilt mein besonders herzlicher Dank. San Domenico di Fiesole, im Februar 1983 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 I.Einführung Bis vor zwanzig Jahren war das Interesse der Forschung an der Rolle der deutschen Wissenschaft für die gesellschaftliche Entwicklung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik gering. Das hat sich heute ins Gegenteil verkehrt.1 Nicht zuletzt die Literatur über die Sozialwissenschaften der wilhelminischen Ära - also vor allem über die Nationalökonomie und Soziologie sowie Bereiche der Geschichtswissenschaft und Philosophie - hat seitdem zugenommen,2 Auf der Grundlage dieser neueren Forschungen und unter weitgehender Berücksichtigung vorhandenen Quellenmaterials soll in dieser Studie das Verhältnis der Nationalökonomie als führender Sozialwissenschaft ihrer Zeit zur wilhelminischen Gesellschaft und ihren Hauptproblemen untersucht werden. Die bisherigen Darstellungen konzentrieren sich meist auf einen über die Zeit hinaus relevant gebliebenen Gelehrten und vernachlässigen darüber jene zeitgenössischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen, in denen das jeweilige Werk entstanden ist. Oder sie behandeln summarisch eine ganze Disziplin als Gruppe und vermögen so, den Prozeß der Rezeption gesellschaftlicher Entwicklung in sozialwissenschaftlicher Theorie nur in Grundzügen darzustellen. Einen Fortschritt hingegen stellt die Arbeit Bruchs dar. Ihm gelingt es, am Beispiel mehrerer Gelehrter, Vereine, Zeitschriften und bestimmter von Gelehrten mitgetragener öffentlicher Kampagnen wesentliche Wechselbeziehungen von Professorenschaft, öffentlicher Meinung und staatlicher Politik zwischen 1890 und 1914 aufzuzeigen. 3 Die hier vorliegende Studie konzentriert sich auf den Vergleich von drei Nationalökonomen, die sie im Kontext der wissenschaftlichen Kommunikation der Zeit behandelt. Möglichst differenziert sollen der Prozeß der wissenschaftlichen Rezeption gesellschaftlicher Phänomene unter Maßgabe bestimmter gesellschaftlicher Interessen und spezifischer Denktraditionen sowie der Versuch der Rückvermittlung von Theorie in die Gesellschaft bestimmt werden. Daß dabei wesentliche Strömungen und Gruppierungen der Nationalökonomie nur in den jeweiligen Problemfeldern, wie etwa in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus, mit der Kriegszielfrage und ähnlichem, skizziert werden, kann umso leichter in Kauf genommen werden, als 11 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 sich Gruppen meist in der Auseinandersetzung um zentrale wissenschaftliche und politische Fragen bildeten. Es war nicht die Ausnahme, sondern die Regel, daß ein und derselbe Wissenschaftler je nach Streitfrage verschiedenen Gruppierungen angehörte. Ferner beabsichtigt die Studie weniger ein komplettes Panorama der zeitgenössischen Sozialwissenschaften, als vielmehr die Darstellung der Wechselbeziehung von Gesellschaft und Sozialwissenschaften anhand ausgewählter Personen und Probleme. Allgemein sahen sich die Sozialwissenschaften der Kaiserzeit in wachsendem Maße vor die Aufgabe gestellt, die historischen Bedingungen und aktuellen Folgen jener wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme zu analysieren, die sich aus der raschen Entwicklung Deutschlands zur Industriegesellschaft ergeben hatten. Ferner fühlte sich die Mehrheit der Sozialwissenschaftler aufgerufen, Perspektiven und Leitbilder der künftigen gesellschaftlichen Entwicklung zu entwerfen. Daraus folgend, galt es, durch derartige Leitbilder politische und ökonomische Entscheidungen von sozialen Gruppen und Individuen zu beeinflussen und/oder zu legitimieren. Das war zunächst über direkte Verbindungen zu Entscheidungsträgern wie Beamten, Politikern, aber auch Funktionären der Arbeiterbewegung möglich. Beinahe noch bedeutender war der Versuch vieler Gelehrter, als Einzelne oder im Zusammenwirken mit Kollegen, mit Politikern, mit Publizisten, selten im Rahmen politischer Parteien und immer häufiger in Zusammenarbeit mit den seit 1890 erstarkenden Agitations- und Interessenverbänden, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Schließlich hatte sich die öffentliche Meinung seit Jahrhunderten als wichtigster Raum des gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozesses herausgebildet, aus dem heraus die Ergebnisse der Selbstverständigung zu politischen Konsequenzen drängen.4 Viele Hochschullehrer versuchten, nicht nur in ihrer Eigenschaft als Sozialisationsinstanzen, sondern eben als Faktoren der öffentlichen Meinung, solche Wertnormen zu verbreiten, die der Begrenzung und Unterdrückung gesellschaftlicher Konflikte dienen sollten. Das gilt natürlich im besonderen Maße für die Kriegszeit. So zeigt das Beispiel von Schulze-Gävernitz, wie sich selbst sozialliberale Reformvorstellungen mit einem an konservativen Topoi anknüpfenden ideologischen Konzept verbinden konnten. Die unter dem Stichwort "Gelehrtenpolitik" zusammengefaßten Bemühungen der Hochschullehrer, über den akademischen Bereich hinaus ihren Vorstellungen Geltung in der Öffentlichkeit und Einfluß auf Entscheidungsträger zu verschaffen, entsprachen der Tatsache, daß wissenschaftliche Erkenntnis per se keine Handlungsmacht entfalten kann; sie bleibt immer darauf verwiesen, von, in der Regel konfligierenden, gesellschaftlichen Gruppen rezipiert zu werden. Insofern waren auch die Sozialwissen12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 schaffen der wilhelminischen Ära gleichzeitig Ferment, Produkt und Spiegel gesellschaftlicher Konflikte. 1. Positionen der deutschen Nationalökonomie vor 1914 Seit den 1880er Jahren war die deutsche akademische Nationalökonomie zur Domäne der Jüngeren Historischen Schule geworden, als deren Haupt Gustav Schmoller (1838 - 1917) gilt. Im Anschluß an die Vorläufer der Alteren Schule (Roscher, Knies u.a.) lehnte Schmoller die Theorie und deduktive Methodologie der englischen Klassik und ihrer deutschen Fortsetzer (Rau, Thünen, Hermann u.a.) ab. Er sah in der umfassenden Beschreibung der Herausbildung ökonomischer und sozialer Strukturen die Voraussetzung einer später zu entwickelndenden Theorie. Obwohl diese angesichts einer Fülle wirtschafts- und sozialhistorischer Forschungen dann doch nur ein Schattendasein führte, formulierten Lujo Brentano (1844 - 1931), Karl Bücher (1847 - 1930) und Georg F. Knapp (1842 - 1926) immer wieder theoretische Überlegungen. Sieht man von Adolf Wagner (1835 - 1917) - der eher an die Korrektur als an die Überwindung der klassischen Theorie dachte - und dem Neoklassiker Heinrich Dietzel (1857 - 1925) ab, so war der eigentliche Antipode der Historischen Schule die österreichische Grenznutzenschule. Ihr Protagonist Carl Menger (1840 - 1921) focht mit Schmoller einen heftigen Methodenstreit um den Stellenwert deduktiver Verfahren aus. Aber selbst zwischen diesen Richtungen waren vermittelnde Positionen möglich, wie das Werk Eugen v. Philippovichs (1858 - 1917) zeigt. Er gehörte mit Carl Ballod (1864 1933), Franz Eulenburg (1867 - 1943), Carl J . Fuchs (1865 - 1937), Eberhard Gothein (1853 - 1938), Heinrich Herkner (1863 - 1932), Ignaz Jastrow (1865 - 1937), Karl Rathgen (1856 - 1921), Gerhart v. Schulze-Gävernitz (1864 - 1943), Max Sering (1857 - 1939), Ferdinand Tönnies (1855 - 1936), August Sartorius v. Waltershausen (1852 - 1938), Alfred Weber (1868 - 1958), Hermann Schumacher (1868 1952), Walther Lotz (1865 - 1941) und anderen zu einer neuen Generation von Nationalökonomen, die überwiegend der Historischen Schule entstammte. Dennoch strebten einige ihrer Vertreter nach neuen Paradigmata der Forschung, die der Erklärung des modernen Kapitalismus und seiner Entstehung gerecht werden sollten. Am bekanntesten wurden Max Weber (1864 - 1920) und Werner Sombart (1863 - 1941), deren Arbeiten das Bestreben prägte, sozialwissenschaftliche Theorie und historische Beschreibung wieder zu integrieren. Das gilt sowohl für das von Max Weber entwickelte Instrumentarium des 'Idealtypus' wie für Sombarts Arbeit über die Entstehung 13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 des modernen Kapitalismus, deren erste Auflage zudem von marxistischen Theoremen beeinflußt war. Überhaupt sahen sich viele jüngere Nationalökonomen zur Auseinandersetzung mit dem Marxismus herausgefodert, wie das Beispiel von Schulze-Gävernitz und des zur jüngsten Generation vor dem Weltkrieg zählenden Johann Plenge (1873 - 1963) zeigt. Die theoretischen Überlegungen Schulze-Gävernitz' verweisen zudem auf die starke Resonanz Max Webers in der jüngeren Generation und deuten das Bemühen an, dessen Vorstellungen mit der Historischen Schule in Einklang zu bringen. Auch Karl Diehl (1864 - 1943) blieb mit seinem Versuch, eine konkrete Wirtschaftstheorie aus den Rechtsinstituten einer Gesellschaft herzuleiten, der Historischen Schule verbunden. Mit ihren entwicklungs- und konjunkturtheoretischen Arbeiten gelang den ebenfalls zur allerjüngsten Generation zählenden Arthur Spiethoff (1873 - 1957) und Josef Schumpeter (1883 - 1950) die Bewältigung des Schmoller-Mengerschen Methodenstreits. Ähnlich vermittelnde Positionen bezogen Paul Mombert (1876 - 1938), Robert Liefmann (1874 - 1941) und Otto v. Zwiedineck-Südenhorst (1871 - 1957). Der Versuch vieler jüngerer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, die Sterilität zu vermeiden, in welche die Historische Schule zu geraten drohte, führte zu einem Generationenkonflikt, der sich auch auf andere Gebiete erstreckte und sich mit den Gegensätzen dort verband. Unter anderem entluden sich die Spannungen im Streit um die ethischen Zwecksetzungen und sittlichen Postulate der Gesellschaftswissenschaften, wie sie besonders von Wagner, Schmoller, Gustav Cohn (1840 - 1919) und dem Protagonisten des katholischen 'Solidarismus', Heinrich Pesch (1854 1926), gefordert wurden. Auf der anderen Seite standen vor allem Max Weber und Sombart, die den Gesellschaftswissenschaften das Recht absprachen, ethische Normen aufzustellen und daraus politische Handlungsanweisungen abzuleiten. Daß der Werturteilsstreit nicht nur eine Generationenfrage war, zeigt die vermittelnde Haltung Knapps, Brentanos, Schulze-Gävernitz' sowie die Kritik an Webers Forderung nach Werturteilsfreiheit durch Herkner, Alfred Weber, Rudolf Goldscheid (1870 - 1931) und Robert Wilbrandt (geb. 1875). Ähnlich wie Plenge, schrieb Wilbrandt der Nationalökonomie die Funktion zu, Handlungsanweisungen zu geben. So richteten sich Vertreter der dritten, jüngsten Generation ihrerseits wieder gegen die Forderungen ihrer Vorgänger, der zweiten Generation. Bezeichnend dafür sind unter anderen Edgar Jaffé (1866 - 1921) und Othmar Spann (1878 - 1950), deren gesellschaftspolitische Konzeptionen manche Vorstellungen der älteren Kathedersozialisten wieder aufnahmen. Andererseits gehörte auch ein unbedingt liberaler Soziologe wie Leopold v. Wiese (1876 - 1970) zu dieser jüngsten Generation. Freilich war der Konflikt um die Werturteilsfreiheit vielfältig mit den 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1 Gegensätzen in der Einschätzung des modernen Kapitalismus, der Rolle der preußisch-deutschen Bürokratie und vor allem der Ziele der Sozialpolitik verwoben.5 Angesichts der offensichtlichen sozialen Probleme im Gefolge des aufstrebenden deutschen Kapitalismus bekannten sich die meisten Vertreter der Historischen Schule und ihre jüngeren Nachfolger zur Forderung nach Besserung der sozialen Lage der Arbeiterklasse als Voraussetzung ihrer Integration in das gesellschaftliche System. Freilich schieden sich die Geister an der Frage, wie dieses gemeinsame Ziel erreicht werden sollte. Seit seiner Gründung und auch in seiner Glanzzeit in den 1880er Jahren prägte der latente Konflikt zwischen Sozialkonservativismus und Sozialliberalismus den 'Verein für Socialpolitik', der neben einem Zentrum bürgerlichen Engagements für die Sozialreform auch immer mehr zum Kommunikationszentrum der Gesellschaftswissenschaften geworden war. Die Begriffe 'sozialkonservativ' und 'sozialliberal' geben zunächst keine parteipolitischen Orientierungen, sondern gesellschaftspolitische Richtungen an, die ihre Legitimation nicht zuletzt aus der wissenschaftlichen Analyse bezogen. Unter den älteren Nationalökonomen und Gründern des Vereins zählten besonders Schmoller, Knapp, Wagner, Johannes E. Conrad (1839 - 1915) und Georg v. Mayr (1841 - 1925) zur konservativen und Brentano sowie Bücher zur liberalen Richtung. Daß die von Brentano repräsentierte Richtung seit etwa 1890 die Unterstützung vieler jüngerer Nationalökonomen erhielt - etwa von Max und Alfred Weber, Jastrow, Fuchs, Sombart und Schulze-Gävernitz - verschärfte den Gegensatz zur konservativen älteren Generation, die mit Schmoller als Vorsitzendem den Verein führte. Das Grundproblem, dem sich beide Richtungen - besonders nach 1890 - konfrontiert sahen, war der Widerspruch, daß sich in Deutschland ein technologisch modernes, hochkonzentriertes Industriesystem mit einer dieser Grundlage weithin inadäquaten politischen und sozialen Verfassung verbunden hatte. Dem liberalen Bürgertum war es kaum gelungen, den Einfluß der Rittergutsbesitzerschicht auf den Staat zurückzudrängen. Allen ökonomischen und technologischen Neuerungen zum Trotz blieb die von vorindustriellen Werten geprägte Mentalität der Junker von großem Einfluß auf die politische Kultur und ihre spezifischen wirtschaftlichen Interessen von vorrangiger Bedeutung für die Staatstätigkeit. Die überlieferte ungenügende parlamentarische Rückbindung und Kontrolle der Bürokratie kam der vornehmlich im Großbürgertum sich verfestigenden Überzeugung entgegen, daß die Vorteile des Obrigkeitsstaates - besonders in der Auseinandersetzung mit der Arbeiterschaft - den Nachteil des junkerlichen Einflusses überwogen. Ausschlaggebende Teile des Großbürgertums, der Agrararistokratie, der höheren Beamtenschaft und des 15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35717-1