„Normale Beschulung der Kinder unmöglich“ Aus der Geschichte der Frankenberger Ortenbergschule – Dritter Teil: Die Nationalsozialisten bestimmen die Pädagogik Im „Dritten Reich“ war gerade die Jugend der nationalsozialistischen Ideologie ausgesetzt. von dr. karl schilling Frankenberg. Nichts weniger als einen „neuen Menschen“ wollten die Nationalsozialisten heranzüchten, von „arisch reiner Rasse“ und beseelt von dem, was die braunen Machthaber für eine deutsche Gesinnung hielten. Dabei setzten sie gerade bei der Jugend an: Durch Indoktrination sollte sie das Menschenbild der Partei verinnerlichen. Sie hatte gesund zu sein und soldatisch aufzutreten, der blinde Gehorsam löste das Ideal der Aufklärung vom selbstbestimmten Denker ab. Individualität war nur noch im Kampf erwünscht, in der sozialdarwinistischen Bestenauslese. Sonst war Uniformität in der von „Führern“ dirigierten „Volksgemeinschaft“ gefragt. Alle Lebensfelder der Deutschen, ihr gesamter Alltag sollten durchdrungen werden von NS-Propaganda. Dazu dienten Massenorganisationen wie die Hitler-Jugend, der Bund deutscher Mädel oder die Deutsche Arbeitsfront. Aus den Schulen sollte der „Kulturbolschewismus hinweggefegt“ werden. Demokratisch gesinnte Lehrer wurden kaltgestellt. Bis 1936 waren 97 Prozent der Pädagogen dem „Nationalsozialistischen Lehrerbund“ eingegliedert. Die Jugend der Partei paradiert Mitte der 1930er-Jahre in Uniform durch die Frankenberger Bahnhofstraße: Auch viele Ortenbergschüler traten im „Dritten Reich“ den „Pimpfen“, der Hitler-Jugend oder dem Bund deutscher Mädel bei. Fotos: Archiv sche Gruß. Ein SA-Aufmarsch. Beim Sportfest der Jugend. Unsere Fahne.“ Weitere Vorgabe: „Der Vater erzählt vom großen Krieg und vom Führer“ – was den befragten Mann zugleich in die Pflicht nahm, gut über Adolf Hitler zu sprechen. Und zum „Tagesablauf“ gehörten Kapitel wie: „Der Bruder beim Jungvolk. Die Schwester beim BDM...“ Auch Sport war wichtig getreu der HJ-Devise: „hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie ein Windhund“. Bislang gab es in der Schulchronik so gut wie keine Hinweise auf politische EreignisAuf Linie gebracht se in Deutschland. Das änderte Auch die Ortenbergschule­ sich 1933 schlagartig, nachdem blieb von der Vereinnahmung die Nationalsozialisten am 30. nicht verschont, Franken- Januar die Macht an sich gerisberg galt als Nazi-Hochburg. sen und die Verfassung binnen Im Schuljahr 1932/33 besuch- Wochen außer Kraft gesetzt hatten 535 Schüler bis Klasse 8 die ten. So notiert Rektor MauseVolksschule. Das Kollegium be- hund schon am 8. März: stand damals aus dem Rektor Mausehund, den Lehrern Wil- „Hakenkreuzbanner gehißt“ helm Eckardt, Heßler, Kurt Himmelmann und Runte sowie den „Anläßlich des Wahlsieges der Lehrerinnen Paula Dedolf, Tho- nationalen Regierung am 5. mas und Dietzel. Heßler diente März ist der Tag schulfrei. Die alauch als Gauredner der Partei. te schwarzweißrote Fahne und Im Archiv der Ortenbergschu- das Hakenkreuzbanner wurden le liegt ein Buch mit „Lehr- und neben der schwarzweißen Fahne Stoffverteilungsplänen für die auf dem Schulhause gehißt.“ vier unteren Jahrgänge“ aus dem Die zwangsverordnete IdeoJahr 1937, das Einblicke gibt in logie wurde mit der Hilfe des die neuen Erziehungsziele: Den preußischen Staatsapparates Grundschülern sollte es selbst- und neuer Medien konsequent verständlich erscheinen, dass in die Schule getragen. Am 21. die Partei und ihre Ideologie all- März notiert der Rektor: gegenwärtig waren. Die Schule begeht auf behördWichtig war die Heimatkun- liche Anordnung hin den Tag de. Sie solle „nicht nur Kennt- der Eröffnung des nationalen nisse vermitteln, sondern auch Reichstages in der Garnisonsden festen Grund legen für den kirche zu Potsdam feierlich. Die Stolz auf Heimat, Sippe, Stamm, Jahrgänge 4–8 versammeln sich Volk und Führer“. Ausgehend im Saale des Gasthauses zur von der Familie sollte das Kind Sonne, wo der Schulleiter den ideale Menschen sehen. „Der Kindern die Bedeutung des Tages heldische Gedanke ist in den durch eine Ansprache zum BeVordergund zu stellen.“ Sprache wußtsein bringt. Der aufgestellund Dichtung sollten die Kinder te Lautsprecher übermittelt hieals „lebendigen Ausdruck ihres rauf die Ansprachen des Herrn völkischen Wesens erleben“. Reichspräsidenten von HindenSchon die Erstklässler sollten burg und des Herrn Reichskanzsich mit Themen befassen wie: lers Adolf Hitler.“ „Jungvolk marschiert. Der deutOder am 1. Mai 1934: „Am 1. Mai beteiligt sich die Schule am Fest der nationalen Arbeit. Morgens 8 Uhr versammeln sich Lehrer und Schüler vor dem Schulhause, um dem Hissen der Fahnen beizuwohnen. Der Schulleiter weist in einer Ansprache auf die Bedeutung des Tages hin. Anschließend wird die Ansprache des Reichsministers [Joseph] Göbbels im Rundfunk in der Aula der Edertalschule gehört. Nachmittags beteiligt sich die Schule an dem imposanten Festzug.“ Auch der Germanenkult trieb seine Blüten. Schon 1929 hatte die Schulgruppe des „Volksbundes für das Deutschtum im Ausland“, kurz VDA, erstmals eine Aggressiv warb Hitlers Partei Sonnenwendfeier organisiert, 1933 übernahm Hitlers NSDAP um den Beitritt zur HJ. die Regie. Die Jugend hatte mitzuziehen. Am 8. Juni 1933 vermerkt Mausehund: „Die Sonnenwendfeier wird nachgeholt. Die Schule beteiligt sich mit einem Sprechchor, der von Herrn Böttner eingeübt war, und einem Gedichtvortrag.“ Auch die Lehrer mussten ideologisch auf Linie gebracht werden. Mausehund notiert für den 12. bis 14. November 1933: „Herr Heßler muß drei Tage vertreten werden, weil er an einem Lehrgang für Rassenkunde u.s.w. in Marburg teilnimmt.“ Auch die ersten systematischen Kriegsvorbereitungen werden erkennbar. Für den 14. bis 16. Januar 1935 heißt es: „Herr Himmelmann muß vertreten werden, weil er zu einem Luftschutzkursus in Kassel einberufen ist.“ Im Februar/März 1936 besuchte er einen Kurs in Berlin. Die Chronik berichtet auch über Sammlungen fürs Winterhilfswerk, Schüler mussten zudem VDA-Postkarten verkaufen. Im März 1936 schreibt der Rektor in die Chronik: „Die Schule erhielt laut Bestätigung des Führers des Gebietes 14/2 Kurhessen in Anerkennung dafür, daß die Angehörigen der Schule zu fast 100 % in der H.J. sind das Recht, die H.J.=Fahne zu hissen. Die erste Hissung und feierliche Weihe erfolgte am 29. Februar.“ Im September wurden „2 Lehrer freigestellt zur Teilnahme am Reichsparteitag“ der NSDAP. Am 30. Januar 1937 ist zu lesen: „Die Schule feierte den 30. Januar, den Tag der Machtübernahme durch Adolf Hitler, diesmal als Abschluß des 1. Vierjahresplanes. Im Mittelpunkt der Feier stand die Übertragung der Ansprache, die Herr Dr. Göbbels in der 1. Berliner Gemeinschaftsschule an die gesamte deutsche Schuljugend hielt. Als Rahmen dafür bot Herr Heßler neben einer Ansprache eine Reihe von Gedichten und Liedern, von Klasse III vorgetragen, unter dem Motto ,das ewige Reich‘. Die Feier fand in der Turnhalle statt. Die behelfsmäßige Rundfunkanlage [...] funktionierte vorzüglich.“ Bei Kriegsausbruch 1939 wurden am 26. August gleich zwei Lehrer eingezogen, einer musste Dienst als „Flugwache“ im Burgwald schieben, Heßler wurde Leiter der Autobeschaffungskommission. So blieben laut Mausehund er und noch „drei Lehrer und 3 ½ Lehrerinnen“. Er schreibt wenige Tage später: „Am 1. September wurden alle Schulen des Reiches durch den Reichsluftfahrtminister geschlossen. Als der Unterricht am 12. September wieder aufgenommen werden durfte, hatte sich die Schülerzahl durch die Kinder der in der Zwischenzeit hier untergebrachten Rückwanderer um rund 140 erhöht, so daß 14 Klassen gebildet werden mußten. Da Herr Heßler wieder aus dem Heeresdienst entlassen worden war und drei als Rückwanderer gekommene Lehrerinnen beschäftigt werden konnten, war eine ausreichende unterrichtliche Versorgung der rund 650 Kinder möglich.“ Wegen eines befürchteten Angriffs der Franzosen wurden aus dem Rheinund Saarland Zivilisten „ins Reich“ gebracht, die Ortenbergschule musste für die 140 Neuen drei zusätzliche Klassen bilden. Ihre Zahl ging nach dem deutschen Sieg über Frankreich 1940 wieder zurück. Indessen hatte der Krieg weitere Auswirkungen auf den Unterricht. Für die Wochen vom 23. November 1939 bis 5. Januar 1940 notiert Mausehund: „Wegen Kohlemangels“ müsse der Unterricht ausfallen – was sich auch in den nächsten Wintermonaten wiederholt. Außerdem gab es verstärkte Sammlungen. Am 8. Juli 1941 hält Mausehund am Ende des Schuljahrs das Jahresergebnis fest: l 327,85 Reichsmark „Kameradschaftsopfer“ für den Volksbund für das Deutschtum im Ausland, l 80,15 Mark für die Kriegsgräberfürsorge, l Altmaterialsammlung: 3841 Kilo Knochen, 574 Kilo Lumpen, 2098 Kilo Papier, 87 Kilo Buntmetall und 3313 Kilo Alteisen. Gesamterlös: 151,66 Mark, l 19,4 Kilo Heilkräuter: „Zinnkraut, Schafgarbe, Himbeerblätter, Haselnußblätter und Fingerhutblätter“. Auch der damalige Schüler Fritz Neuschäfer erinnert sich: Knochen, Buntmetalle, Eisen und im Herbst Kräuter hätten sie abgegeben. Außerdem mussten die Schüler von Alliierten abgeworfene Flugblätter sofort einsammeln. An der immer deutlicher zutage tretenden deutschen Niederlage änderte auch das nichts. Im Schuljahr 1944/45 hatten die Deutschen der alliierten Lufthoheit immer weniger entgegenzusetzen, die Angriffe nahmen zu. Unter dem 12. Januar 1945 notiert Mausehund: „Die Störungen des Unterrichts durch Fliegeralarm werden immer häufiger. In den ersten Kriegsjahren 1940, 41 u. 42 waren Tagesalarme sehr selten, jedoch wirkten auch die Nachtalarme störend, weil sie die Nachtruhe der Kinder beeinträchtigten. Zum Ausgleich ordnete die Schulbehörde schon im Oktober 1940 an, daß nach nächtlichen Alarmen der Unterricht zwei Stunden später als gewöhnlich beginnen sollte. In unserem System, in dem täglich mehrere Klassen aufeinander unterrichtet wurden, bereitete diese Regelung große Schwierigkeiten. Ende 1942 setzten auch Tagesalarme ein, so daß die Einrichtung behelfsmäßiger Luftschutzräume ins Auge gefaßt werden mußte. Im Kohlenkeller wurde durch eine Scheidewand ein Raum abgetrennt, der für rund 100 Kinder ausreichte, ebenso viel konnten im Baderaum untergebracht werden. [...] Luftschutzräume schaffen Allmählich mehrte sich die Zahl der nach Hause flüchtenden Kinder, bis schließlich auf Weisung eines Vertreters des Herrn Oberpräsidenten hin alle Kinder nach Hause bzw. in nähergelegenen Luftschutzräume geschickt wurden. Bis Oktober 44 sind Tage ohne Alarm selten. Es kommt vor, daß der Unterricht an einem Tage mehrmals unterbrochen werden bzw. für einzelne Klassen ganz ausfallen muß.“ Auch am Boden waren die Alliierten nicht aufzuhalten. Doch die Nationalsozialisten wollten nicht aufgeben, so musste Hitlers letztes Aufgebot an die Front: Kinder und Greise wurden in Schnellkursen an Waffen ausgebildet und sollten als „Volkssturm“ den bestens ausgerüsteten alliierten Truppen Widerstand leisten. Um die schnell ausgehobenen Einheiten unterzubringen, griffen die Nazis auf öffentliche Gebäude zurück. Am 28. Januar 1945 notiert Mausehund: „Mit diesem Tage griff der Krieg so einschneidend in den Schulbetrieb ein, daß eine normale Beschulung der Kinder unmöglich wurde. Sechs Unterrichtsräume wurden an diesem Tage mit einer Volkssturmkompanie belegt, so daß der Unterricht nur in drei Sälen fortgesetzt werden konnte.“ Der Volkssturm zog zwar am 3. Februar wieder aus, dafür beschlagnahmte die Militärverwaltung die Schule „für Lazarettzwecke“. Am 4. begann die Räumung, das Mobiliar wurde auf den Boden der Zehntscheune gebracht. Mausehund: „Für die Unterbringung der wertvollen Lehrmittel der Volksschule und der Edertalschule gab die Lazarettverwaltung auf inständiges Bitten der beiden Schulleiter drei Dachräume frei, in die alles eingestellt werden konnte.“ Schule ausgelagert Der Rektor musste irgendwie Ersatz finden, „um einen notdürftigen Schulbetrieb einzurichten“. Er fand drei Räume: l die „Ehrenhalle“ des Landratsamtes, l den Saal der Freien evangelischen Gemeinde in der Bottendorfer Straße, l einen Unterrichtsraum der ländlichen Berufsschule Auf der Burg, den die Berufsschule aber auch weiter nutzte und in dem auch der Konfirmandenunterricht stattfand. Am 21. März enden die Eintragungen der Chronik. Zum Schluss schildert Mausehund noch den ersten großen Luftangriff aufs Bahnhofsviertel am 12. März und die Folgen: „Dieser Angriff erregte solchen Schrecken, daß die Eltern sich weigerten, ihre Kinder in die Schule zu schicken, da zwei der Räume in der Nähe des Bahnhofs lagen. Deshalb wurde die Schule geschlossen.“ Mit dem Bericht über den zweiten Luftangriff mit mindestens 36 Toten schließt die Chronik des langjährigen Rektors. Er sollte nie mehr als Pädagoge an die „Stadtschule“ zurückkehren. An Gründonnerstag, 28. März, marschierten die Amerikaner in Frankenberg ein. Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos. Militärregierungen übernahmen die Kontrolle. Mit „belasteten“ Lehrern wollten sie einen neuen, freiheitlich-demokratischen deutschen Staat nicht aufbauen. Fortsetzung folgt. Regelmäßige Sammlungen und das Päckchenpacken fürs Winterhilfswerk gehörten für Schüler zur Pflicht.