SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst Darwins Erbe Evolution – Fluss des Lebens (1) Autoren: Anja Petersen und Gábor Paál Redaktion: Detlef Clas Regie: Günter Maurer Sendung: Samstag, 02. Mai 2009, 8.30 Uhr, SWR2 Wiederholung: Montag, 26. Juli 2010, 8.30 Uhr, SWR2 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-6030 Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. 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Der kleine verschlafene Hafenort ist die Hauptstadt der Galápagos-Inseln. Regie: ATMO-2-Seehunde, Seehundbellen in Pause zwischen den Absätzen zu hören, dann ATMO-3-Fußmarsch Erzählerin: Von der 4.000-Seelen-Gemeinde führt ein staubiger Weg durch karge Vegetation entlang der felsigen Küste. Lediglich die roten Kehlsäcke der balzenden Fregatt-VogelMännchen verleihen der Landschaft etwas Farbe. Nach einer halben Stunde Fußmarsch erreichen wir eine kleine Bucht. Hier erinnert eine Statue an den berühmten Naturforscher Charles Darwin, der am 17. September 1835 zum ersten Mal seinen Fuß auf die Galápagos-Inseln setzte. Über diesen Moment sollte er später in seinem Reisebericht schreiben: Regie: ATMO-4-Küste, Seelöwen, Seevögel: bis zum Endes des Blockes Zitator 1: Nichts könnte weniger einladend sein als der erste Eindruck. Ein zerklüftetes Feld schwarzer Basaltlava ist überall von verkümmertem, sonnenverbranntem Buschwerk bewachsen, das kaum Zeichen von Leben aufweist. Die trockene, ausgedörrte, von der Mittagssonne aufgeheizte Oberfläche verlieh der Luft etwas Dumpfes und Drückendes gleich der aus einem Backofen: Wir meinten, selbst die Büsche röchen unangenehm. Erzählerin: Etwas mehr als einen Monat blieb der Vater der Evolutionstheorie während seiner fünfjährigen Weltreise in dem pazifischen Inselreich, ritt auf Riesenschildkröten und sammelte wertvolles Material für seine späteren Studien. Regie: Atmo wegblenden Cut 1.: Also ich denke, dass die Reise mit der Beagle sicher ein Schlüsselerlebnis für Darwin gewesen ist, die für seine ganze wissenschaftliche Zukunft die Weichen gestellt hat. 2 Sprecher: Jörg Rheinberger, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Cut 2.: [Also wir müssen ja nicht davon ausgehen, dass für Darwin die Evolutionstheorie in voller Blüte schon da gewesen wäre oder dass er sie mit auf die Reise genommen hätte, keineswegs.] Aber es haben sich für ihn einfach Fragen gestellt, die er bis dahin in dieser Schärfe noch nicht gesehen hatte, und die dann auf eine [konsistente] Lösung drängten. Sprecherin: Zwischen Darwins Reise mit der Beagle, einem Schiff für Vermessungen, und der Veröffentlichung seines Buches über den Ursprung der Arten liegen mehr als zwanzig Jahre. Wenn die Reise etwas zu seiner Theorie beigetragen hat, dann deshalb, weil sie ihm veranschaulicht hat, dass es da draußen, in der Natur, offene Fragen gibt, die auf eine Antwort warten. Die Antworten selbst hat ihm die Expedition nicht geliefert. Die sind erst im Laufe der Jahre danach in ihm gereift. Sprecher: Und auch diese Antworten – das komplizierte Gebäude der Evolutionstheorie – entstanden nicht aus heiterem Himmel. Es ist sogar bemerkenswert, was alles an Erkenntnissen, an Puzzleteilen schon vorhanden war. [Man könnte sagen: Viele Grundpfeiler standen; was fehlte, war das gemeinsame Dach.] In den hundert Jahren vor Darwins Revolution hatten die Wissenschaftler schon so viele neue Einsichten in die Natur gewonnen! Da hatten die Geologen gezeigt, dass die Erde eine bewegte und eine viel längere Geschichte hinter sich hat als es die Schöpfungsgeschichte nahelegte. Sie hatten gezeigt, dass der Planet sich wandelt. Sie hatten Muschelschalen in Gesteinsablagerungen hoch im Gebirge gefunden und Versteinerungen von merkwürdigen Tieren, die offenbar ausgestorben sind. Von unglaublichen Drachengestalten, die man schließlich Dinosaurier nannte: „schreckliche Echsen“. Sprecherin: Auch der Begriff „Naturgeschichte“ entstand in dieser Zeit – ohne dass dabei jemand an Evolution dachte. Die Vergangenheit und das Wesen des Planeten begann man erst zu erahnen. Alexander von Humboldt bereiste die Welt und beschrieb die Natur, die belebte ebenso wie die unbelebte. Er stellte Überlegungen zu ihrer Geschichte an. Er warf zum Beispiel die Frage auf, warum die Kontinente Südamerika und Afrika der Form nach so ähnlich, aber in Klima und Vegetation so unterschiedlich sind. Humboldt spekulierte, dass die Sahara deshalb eine Wüste sei, weil dort vor geraumer Zeit eine große Sintflut die Pflanzendecke davongespült habe. Solche Mutmaßungen zeigen, auf welch – buchstäblich: sintflutlichem – Stand die Wissenschaft von der Natur damals war. Sprecher: Sintfluten, große Katastrophen – das war der erste Ansatz der Naturforscher, um alles Mögliche zu erklären: die Versteinerungen von fremdartigen Urwelt-Tieren, oder die Ansammlung großer Gesteinsblöcke mitten in der Landschaft. Dass diese Moränen die Hinterlassenschaften eiszeitlicher Gletscher sein könnten, ahnte noch niemand – auch sie wurden zunächst als Hinterlassenschaften einer Sintflut gedeutet. Doch dann kamen zwei Landsleute Charles Darwins, James Hutton und Charles Lyell, und räumten mit 3 solchen Vorstellungen auf: Sie predigten Kontinuität: Die Geologen sollten es sich nicht zu bequem machen und einfach irgendwelche Katastrophen in der Vergangenheit erfinden – vielmehr sollten sie davon ausgehen, dass alle Vorgänge, die die Erde in der Vergangenheit geprägt haben, sie noch heute gestalten. Das Schlagwort hieß: Aktualismus. Und just dieses damals gerade relativ frisch erschienene Lehrbuch von Charles Lyell hat Darwin mit auf die Reise genommen. Sodass sich für Darwin die Frage stellte: Könnten auch die Prozesse, die die Vielfalt der Lebewesen hervorgebracht haben, noch immer wirksam sein? Regie: ATMO-5-Vögel und Zikaden: in den Absatz reinziehen Erzählerin: Noch heute tragen die Finken der Galápagos-Inseln den Namen des englischen Naturgelehrten. Millionenfach erwähnt und abgebildet, gelten die spatzengroßen Vögel mit ihrem Sammelsurium an Schnabelformen als Musterbeispiel für Darwins ArtEntstehungstheorie. Die geschichtsträchtigen Vögel stehen auch unter Beobachtung der Mitarbeiter der Charles-Darwin-Forschungsstation, die im nebelverhangenen Hochland von Santa Cruz drei große Netze aufgestellt haben. [Die feinen schwarzen Nylon-Fäden bilden eine unsichtbare Wand im üppigen Grün der Vegetation.] Ein ratterndes Tonband spult im Abstand von wenigen Sekunden den Gesang eines Baumfinken-Männchens ab – das monotone Trällern soll die Tiere in die Falle locken. Regie: ATMO-6-Tonband: Atmo in der Pause hochziehen und bis Ende des nächsten OTs leise hören lassen. Erzählerin: Bereits nach wenigen Minuten fliegt der erste Darwin-Fink ins Netz, eine Minute später der zweite. Cut 3. (Birgit Fessl) [Da ist wieder einer reingefallen. Gut, den müss’ ma gleich holen, der ist ziemlich weit oben, da müssen wir das Netz runterholen. Das ist ein kleiner Baumfink. Ganz typisch.] So leicht grünlich-gelb, sonst recht zierlich. Und ganz eindeutig ein Jungvogel, weil er ganz orange ist, der Schnabel. Aber super, der ist noch nicht richtig ausgewachsen. Die Flügel sind auch noch etwas klein. Sehr hübsch! Erzählerin: Vorsichtig befreit die Biologin Birgit Fessl den zappelnden Vogel aus dem engmaschigen Nylon-Netz. Anschließend bugsiert sie den Vogel in ein kleines Papiersäckchen, um ihn zu wiegen; danach nimmt sie ihn wieder heraus, um seinen Schnabel zu vermessen. Regie: ATMO-7-Vogelfangen-vermessen: Beginnt mit einem Warnruf des Vogels, bitte in der Pause kurz stehen lassen, in den nächsten Absatz reinziehen Erzählerin: Nach knapp zwei Stunden haben die Forscher 21 Vögel gefangen, vermessen und wieder freigelassen – darunter fünf Arten von Darwin-Finken. [Zurück in ihrem Büro in 4 Puerto Ayora deutet Fessl auf ein Plakat, das alle 13 auf Galápagos vorkommenden Finken-Arten zeigt. Manche existieren nur auf einer einzigen Insel, andere wiederum leben verstreut über den ganzen Archipel.] Doch alle Darwin-Finken sehen sich verblüffend ähnlich, nur in der Schnabelform variieren sie enorm: Manche Schnäbel sind fein wie Pinzetten, andere gleichen langen Greifzangen. Regie: ATMO-5-Vögel und Zikaden: leise im Hintergrund bis Ende des Blockes hören lassen Cut 4. (Birgit Fessl) Die Urväter der Darwin-Finken sind vor ca. 3 Millionen Jahren vom Kontinent herübergeweht worden. Das war wahrscheinlich eine relativ kleine Gruppe von mindestens 30 bis maximal 150 Tieren. Die haben dann schauen müssen, wie sie dort überleben. Und von dieser Art haben sich dann wahrscheinlich mit der Zeit einfach dann verschiedene Schnäbeltypen entwickelt. Erzählerin: Wer heute an Darwin denkt, dem kommen unweigerlich die nach ihm benannten Finken in den Sinn: Beide scheinen zusammenzugehören – wie Newton und der Apfel oder Galileis Experimente am schiefen Turm von Pisa. [Irgendwer hat die Legende verbreitet, Darwin sei beeindruckt gewesen von den Finken und ihren Schnäbeln, dass ihm seine Evolutionstheorie sofort aufblitzte. In Wirklichkeit hielt Darwin die Finken zunächst für nichts Besonderes. Erst nach seiner Rückkehr nach England erkannte Darwin, welche Bedeutung diese Tiere für ihn haben könnten. In seinem überarbeiteten Reisebericht schreibt er 1845: Zitator 1: Wenn man diese Abstufung und strukturelle Vielfalt bei einer kleinen, eng verwandten Vogelgruppe sieht, möchte man wirklich glauben, dass von einer ursprünglich geringen Zahl an Vögeln auf diesem Archipel eine Art ausgewählt und für verschiedene Zwecke modifiziert wurde.] Regie: Atmo weg Sprecher: Als die Theorie in Darwin heranreifte, sah es in der Biologie noch ähnlich aus wie in der Geologie. Auch hier wussten die Naturforscher zwar schon eine ganze Menge, ohne aber daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Da hatte der Schwede Carl von Linné ein Ordnungssystem für Tiere und Pflanzen entwickelt, das noch heute angewandt wird. Ein Ordnungssystem, das Organismen nach Ähnlichkeit sortierte und ähnliche Tiere und Pflanzen gemeinsamen Klassen zuordnete. Von hier, so scheint es, wäre es nur ein kleiner Gedankenschritt gewesen zu vermuten, dass unter diesen ähnlichen Organismen auch eine echte Verwandtschaft besteht, dass sie gemeinsame Wurzeln haben – aber vor diesem kleinen Schritt stand eine Denkblockade: Zu Darwins Zeiten war es allgemeiner Konsens, dass der Schöpfer die Lebewesen einmal geschaffen hat und sie sich danach nicht mehr verändert haben. Immerhin, es gab ein paar Forscher, die Verdacht geschöpft hatten. Da war vor allem Jean-Baptiste de Lamarck, der erkannte, dass sich Tiere in Anpassung an die Umwelt verändern. Allerdings stellte er es sich so vor, dass ein Tier aufgrund von äußeren Einflüssen bestimmte Organe besonders benutzt – dass etwa die Giraffe ihren Hals streckt, um an hohe Äste zu 5 kommen, der Hals dadurch länger wird und, wenn die Giraffe Kinder bekommt, sich diese Langhalsigkeit unmittelbar auf den Nachwuchs überträgt. Sprecherin: [Ähnliche Vorstellungen äußerte Darwins eigener Großvater, Erasmus Darwin – ein Naturforscher und renommierter Arzt, der, nebenbei, der Schriftstellerin Mary Shelley als Vorlage für die Titelfigur ihres Romans „Frankenstein“ gedient haben soll.] Doch all diejenigen, die bereits die Veränderbarkeit der Tier- und Pflanzenwelt erkannten, hatten eines gemeinsam: Sie haben zwischen den Arten keine Verbindung gesehen. Keinen Stammbaum mit gemeinsamen Wurzeln. Und sie haben den eigentlichen Motor der Veränderung nicht verstanden – das kam alles erst mit Darwin. Nach seiner Theorie verdanken die Giraffen ihre langen Hälse nicht den Streckübungen ihrer Eltern. Vielmehr haben sich diejenigen Giraffen, die ohnehin schon längere Hälse hatten, in ihrer Umwelt bewährt und erfolgreicher fortgepflanzt. Wenn heute Giraffen lange Hälse haben, dann also deshalb, weil die Natur eine Auslese getroffen hat. Sprecher: Hätten darauf nicht Forscher schon lange vor Darwin kommen können? Schließlich ist es dem Menschen schon in der Steinzeit gelungen, wilde Tieren und Pflanzen zu verändern und für seine Zwecke zu züchten. Jeder vernünftige Mensch sah: Ein Hausschwein sieht anders aus als ein Wildschwein. Und die Menschen wussten: Wenn man von einem Weizenfeld die Samen der längsten Ähren auswählt und neu sät, sind die Ähren in der nächsten Generation im Schnitt länger. Erst Darwin kam auf den Gedanken, dass auch die Natur eine Zuchtwahl betreibt – nur eben unbewusst und ohne Zielvorgabe. Genau so nennt er es ja auch: Das Wort Evolution benutzt er nicht, er spricht von „natürlicher Zuchtwahl“. Aus heutiger Sicht liegt diese Parallele scheinbar so nahe – nicht jedoch für die Menschen zu Darwins Zeiten, so der Wissenschaftshistoriker Jörg Rheinberger. Cut 5.: Es ist ja auch so, und das muss auch die Erfahrung der Züchter auch gewesen sein, dass wenn man nicht außerordentlich aufpasst, dann gibt es auch wieder so etwas wie eine Rückkehr der hoch gezüchteten Arten und Varietäten in ihre verwilderten Formen, sodass alles wieder verloren gehen kann. Insofern ist das Züchten alleine noch keine Garantie dafür, auf die Evolutionsidee kommen zu können. [Geschweige denn zu sagen, jetzt nehmen wir mal das, was die Züchter da machen als Analogie und gehen davon aus, dass die gesamte Natur als solche die Funktion eines anonymen Züchters übernimmt, nichts anderes ist ja dann die natürliche Selektion.] Regie: ATMO-5-Vögel und Zikaden: vor dem Absatz beginnen, kann leise bis zum Ende des ganzen Blockes zu hören sein Erzählerin: Wie einst Darwin, staunen heute noch viele Touristen über die seltsamen Geschöpfe der Galápagos-Inseln. In Millionen von Jahren haben sich viele Tier- und Pflanzenarten auf dem abgelegenen Archipel zu einzigartigen Formen entwickelt. Kein Wunder, dass dieses stammesgeschichtliche Versuchslabor Darwin einige Denkanstöße für seine später entwickelte Evolutionstheorie lieferte. „Der Archipel ist das Reich der Riesenschildkröten“, erklärt die Naturführerin Fernanda Davila und deutet auf eines der 6 Reptilien. Mit seinem riesigen Panzer und den schuppigen Beinen wirkt das gut einen Meter lange Tier wie ein Wesen aus längst vergangener Zeit. Regie: ATMO-8-Zischen-Riesenschildkröte; sollte in einer kurzen Pause zu hören sein Cut 6. (Davila) The sound that we heard was from a giant tortoise … free to come to the farm at any time. Voice over (w): Der Laut, den wir gerade gehört haben, stammt von einer Riesenschildkröte. Wir haben sie ein bisschen erschreckt, [weil wir ihr zu nahe gekommen sind]. Die Tiere leben hier nicht in Gefangenschaft. Sie können jederzeit auf die Farm kommen und sie wieder verlassen. Erzählerin: Dutzende von Tieren lassen sich zur Paarungszeit auf der Rinder-Farm Las Primicias im Hochland der Insel Santa Cruz beobachten. Das heißere Stöhnen der Männchen durchdringt die Luft – es soll nach Angaben von Darwin noch in einer Entfernung von mehr als 90 Metern vernehmbar sein. Regie: ATMO-09-STÖHNEN: sollte in der Pause kurz zu hören sein, kann in den nächsten OT reingezogen werden Cut 7. (Davila) By this animals it is difficult to know … looks like E.T. maybe. LACHEN Voice over (w): Bei diesen Tieren ist es schwierig, das genaue Alter anzugeben. Anhand der Größe würde ich sagen, dass dieses hier etwa 70 Jahre alt ist. Sie können 150 bis 200 Jahre alt werden. Dies ist ein Männchen. Es hat einen Panzer, der mit ihm wächst, und lange Beine, die wie Elefantenfüße aussehen. Außerdem hat es einen sehr langen Hals und ein schönes Gesicht, das vielleicht ein bisschen wie E.T. aussieht. Erzählerin: Tatsächlich haben Besucher – die einer Riesenschildkröte begegnen – das Gefühl, einem Wesen aus dem All ins Gesicht zu schauen. Angeblich sollen die Tiere den amerikanischen Regisseur Steven Spielberg zu seiner Film-Figur E.T. inspiriert haben, mit der er Anfang der 1980er-Jahre seinen Kino-Erfolg feierte. Auf Darwin wirkten die Reptilien hingegen wie „vorsintflutliche Wesen“. In seinem Reisebericht „Die Fahrt der Beagle“ erinnerte er sich an seine Abenteuer: Zitator 1: Es amüsierte mich immer, wenn ich eines dieser großen Ungeheuer auf seinem gemächlichen Marsch überholte und es in dem Moment – da ich an ihm vorüberging – Kopf und Beine einzog und tief zischend mit einem harten Schlag wie tot auf die Erde plumpste. Einige Male setzte ich mich einer auf den Rücken, und wenn ich ihr dann ein paar Mal hinten auf ihren Panzer klopfte, erhob sie sich und lief los – doch fand ich es sehr schwierig, das Gleichgewicht zu halten. 7 Regie: Atmo weg Sprecher: Das Gleichgewicht. Die Frage nach dem Gleichgewicht spielte auch eine entscheidende Rolle. Die Jahrzehnte vor Darwins Revolution waren nicht nur geprägt von bahnbrechenden Entdeckungen in der Naturgeschichte, auch das Wirtschafts- und Sozialleben wurde nun Gegenstand systematischer Untersuchungen, und dabei ging es sehr viel um Gleichgewichte und Ungleichgewichte. So war der führende britische Geologe James Hutton eng befreundet mit dem schottischen Ökonom Adam Smith, der erstmals die komplexen Wechselwirkungen im Wirtschaftsleben analysierte. Die Mathematik des Gebens und Nehmens. Smith gilt heute als Begründer der Volkswirtschaftslehre. Er beschrieb, wie in einer Welt, in der alle zunächst nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, durch die unsichtbare Hand des Marktes am Ende Fortschritt und Wohlstand entstehen. Ersetzt man nun „Markt“ durch „Natur“, dann sind die Parallelen zur Evolutionslehre, die Darwin später entwickeln sollte, unübersehbar. Cut 8.: Aus der Naturbeobachtung allein folgt bei Darwin gar nichts. Sprecherin: Meint der Biologe und Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer. Cut 9.: Sondern ohne den Blick auf die menschliche Gesellschaft wäre Darwin gar nicht auf die Idee gekommen. Und das finde ich ganz zentral, um ein Verständnis für Darwin zu bekommen, dass dieser Gedanke der Evolution nicht aus der Natur kommt, sondern aus der menschlichen Gesellschaft. Sprecher: Darwin erwähnt auch ausdrücklich ein Buch, das sein Denken nachhaltig geprägt hat: Den berühmten Aufsatz von Thomas Malthus über eine drohende Bevölkerungsexplosion. Cut 10.: Malthus sagt, dass die Zahl der Menschen schneller zunimmt als die Menge der Nahrungsmittel, die die Menschen ernähren können. Die Frage ist: Wann kommt es zum Kampf um das Überleben in dieser menschlichen Bevölkerung, und das ist das Stichwort, das Darwin brauchte: Kampf ums Überleben, also gewissermaßen eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft um die verfügbaren Ressourcen. Diesen Gedanken kann er natürlich ganz leicht auf die Finken übertragen. So wie er sich vorstellt, dass Menschen um knapp werdende Nahrungsmittel kämpfen, so kämpfen auch Finken um knapp werdende Nahrungsmittel. [1838 schreibt Darwin in sein Tagebuch, jetzt habe er die Grundtheorie, mit der er arbeiten kann, nämlich das, was man später im Deutschen etwas martialisch „Kampf ums Dasein“ nannte. Also sozusagen das Bemühen, am Leben zu bleiben. Regie: Atmo-4-Küste, Seelöwen, Seevögel: vor dem ersten Absatz beginnen und leise bis zum Ende des ganzen Blockes ziehen 8 Erzählerin: Santa Cruz, eine kleine Bucht – dicht gedrängt liegen Seelöwen in der Sonne und brüllen, daneben tummelt sich eine Gruppe von Meerechsen, etwa 80 an der Zahl. Der Naturforscher Darwin zeigte sich von diesen Mini-Drachen wenig angetan. In sein Reisetagebuch notiert er: Zitator 1: Sie sind hässlich anzusehen, von schmutzig schwarzer Färbung, dumm und träge in ihren Bewegungen. Erzählerin: Und für die Naturführerin Fernanda Davila sehen die bis zu 1,70 Meter langen Tiere aus wie Relikte aus einer längst vergangenen Zeit. Cut 11. (Davila) frei stehend: The group that we have in front of us ... is about 30 or 40 marine iguanas. Male and females together. Voice over (w) Vor uns haben wir eine Gruppe von 30 oder 40 Meerechsen. Es sind sowohl Männchen als auch Weibchen darunter.] Erzählerin: Wer die Galápagos-Inseln besucht, fühlt sich wie im Garten Eden: Meerechsen sitzen arglos auf den Wegen und selbst die brütenden flugunfähigen Kormorane drehen nicht einmal den Kopf, wenn Touristen in ihre Nähe kommen. Die Zahmheit ist die Folge des Insel-Lebens: Ohne größere Raubfeinde wie Füchse oder Wölfe brauchten die Tiere nicht wachsam zu sein und verloren im Laufe von Jahrmillionen jede Scheu – auch vor dem Menschen, der erst im 19. Jahrhundert begann, den Archipel zu besiedeln. Regie: ATMO-10-Pfiff-Blaufußtölpel: in kleinen Pause kurz hören lassen Cut 12. (Davila) I think that is one of the few places where you can take pictures ... that’s the reason why they are so friendly. Voice over (w): Hier ist eine der wenigen Gegenden auf der Welt, wo man Tiere aus nächster Nähe fotografieren kann. Sie wissen, dass Touristen immer frisches Wasser dabei haben. Deswegen sind sie auch so zutraulich. Erzählerin: Das Verhalten der Tiere erstaunte auch Darwin als er nacheinander die Inseln Floreana, San Cristóbal, Santiago und Isabela besuchte. In seinem Reisebericht notiert er: Zitator 1: Die Vögel näherten sich oftmals so weit, dass man sie mit einer Rute und manchmal auch, wie ich selbst es versucht habe, mit einer Mütze oder Kappe töten konnte. Eine Flinte ist hier beinahe überflüssig, denn mit dem Lauf stieß ich einen Falken von einem 9 Ast. [Einmal, als ich auf der Erde lag, ließ sich eine Spottdrossel auf dem Rand eines Kruges nieder, den ich in der Hand hielt, und trank in aller Seelenruhe Wasser daraus. Sie ließ es zu, dass ich das Gefäß vom Boden aufnahm, während sie darauf saß.] Regie: Atmo weg Sprecher: Die Evolutionstheorie hat selbst eine Evolution durchlaufen. Vieles von dem, was Darwin einst formulierte, hat sich weiterentwickelt. Darwin wusste noch nichts von Genen und den Regeln der Vererbung. Und er ahnte zwar, dass es einen Stammbaum des Lebens gibt, aber die Versteinerungen früher Tiere und Pflanzen waren noch längst nicht so gut erforscht, dass er diesen Stammbaum wirklich hätte rekonstruieren konnte. Sprecherin: Auch haben Biologen inzwischen entdeckt, dass in der Evolution nicht nur Organismen ums Überleben wetteiferten und sich die Arten nicht immer nur auseinanderentwickelt haben, sondern dass sie auch Symbiosen eingehen können. Ein entscheidender Schritt der Evolution bestand etwa darin, dass einzellige Lebewesen zu größeren verschmolzen. So waren die heutigen Mitochondrien und Chloroplasten, die Energielieferanten der heutigen Tier- und Pflanzenzellen – viele Jahrmillionen isoliert lebende Einzeller, die von anderen Einzellern einverleibt wurden. Auch wir verdanken einen Teil unseres heutigen Erbguts nicht unseren Vorfahren, sondern Viren, die sich in grauer Vorzeit in die Erbsubstanz eingeschmuggelt haben. Biologen betrachten all diese neuen Erkenntnisse nicht als Widerspruch zu Darwins Weltbild, sondern als Erweiterung, Verfeinerung und Vertiefung, denn das Grundprinzip bleibt: Nur das, was sich bewährt, hat Bestand. [Cut 13.: Das ist ja auch das schöne an der Evolutionstheorie, dass seit Darwin das Feld nie zur Ruhe gekommen ist. Weil es eben einen Reichtum an Fragestellungen erzeugt hat, an denen ganze Kohorten von Wissenschaften heute noch arbeiten.] Sprecher: Manches von Darwins Lehre gilt heute als überholt, sagt Jörg Rheinberger, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Etwa seine Vorstellung, wie Eltern ihre Eigenschaften auf Kinder übertragen. Cut 14.: Na, er hat sich vorgestellt, dass sämtliche Körperteile irgendwie so kleine Keimchen produzieren, die dann sich in den Reproduktionsorganen sammeln und sich dann dort wieder en miniature zusammensetzen und einen Organismus bilden. Sprecherin: Hier hat sich Darwin geirrt. Man könnte auch sagen: Dieser Zweig seiner Theorie ist ausgestorben. Auch manche der ursprünglichen Deutungen stimmen so nicht mehr: Darwins Theorie wurde lange Zeit so interpretiert, dass die Evolution eine stetige Entwicklung hin zu immer besser angepassten Tieren und Pflanzen war. Auch dieses Bild ist überholt: Menschen sind evolutionär betrachtet nicht besser angepasst als all die Quallen, Käfer oder Bakterien, die den Menschen höchstwahrscheinlich überleben werden. Auch sonst ging es in der Evolution keineswegs immer Richtung Fortschritt. Es 10 gab zahlreiche Weichenstellungen, bei denen die Evolution genauso einen anderen Weg hätte nehmen können, als den, den sie eingeschlagen hat. Sprecher: Hätte auch die Evolutionstheorie selbst eine ganz andere Richtung nehmen können? Denn das ist typisch für große Denker wie Darwin: Sie entwerfen nicht nur eine große Theorie, sondern geben ihrem Entwurf auch ihre persönliche Note, etwa indem sie sich unbemerkt auch in bestimmten Detailfragen festlegen. So prägten Darwin und seine Freunde in der Geologie das Bild einer gemächlichen, kontinuierlichen Evolution. Die Vorstellung von erdgeschichtlichen Katastrophen wurde über Bord geworfen. Inzwischen ist klar, dass es tatsächlich mehrere Katastrophen gab, die große Einschnitte in der Evolution bedeuteten und in deren Folge sich die Arten immer wieder neu entwickelt haben. Und selbst der alte Lamarck wird heute wieder ein bisschen rehabilitiert: Wie Forschungen der vergangenen zehn Jahre zeigten, scheint es in bestimmten Fällen doch möglich, dass Lebewesen auf Umweltveränderungen mit körperlichen Veränderungen reagieren und sich diese Veränderungen unmittelbar in die nächste Generation übertragen können. Bislang sind hier nur Einzelbeispiele bekannt, deshalb gehen die Biologen im Moment noch nicht davon aus, dass solche Vorgänge die Evolution entscheidend mitgeprägt haben. Sprecherin: Was wäre gewesen, wenn nicht Darwin, sondern irgendein anderer die Evolutionstheorie formuliert hätte? Zum Beispiel Darwins Zeitgenosse Alfred Wallace. Dieser hatte tatsächlich unabhängig von Darwin ähnliche Überlegungen angestellt, war dabei aber durch völlig andere Bilder inspiriert. Nicht wie Darwin durch die Tier- und Pflanzenzüchtung und die Ökonomie, sondern durch die Erfindung der Dampfmaschine, die in Darwins Jugendjahren gerade ihren Siegeszug feierte. Der Clou bei der Dampfmaschine ist, dass sie sich selber regelt und alle Unregelmäßigkeiten automatisch unterbindet. So schrieb Wallace: Zitator 2: In ähnlicher Weise kann im Reich der Tiere kein unausgeglichener Mangel jemals irgendeine auffällige Größe erreichen, weil er sich schon auf der allerersten Stufe bemerkbar machen würde, in dem er die Existenz erschweren und fast mit Sicherheit das Aussterben bedeuten würde. Sprecherin: Wallace dachte also weniger im Bild des Kampfes als vielmehr in Regelkreisen – ähnlich wie in der Ökologie, nur dass es das Wort damals noch nicht gab. [Hätte Wallace die Evolutionstheorie auf seine Weise weiter entwickelt, so spekulierte einmal der Biologe Gregory Bateson, hätte sich möglicherweise auch das systemischökologische Denken nicht erst im späten 20. Jahrhundert durchgesetzt, sondern hundert Jahre früher. Wer weiß.] Regie: ATMO-5-Vögel und Zikaden: vor dem Absatz beginnen, kann leise bis zum Ende des ganzen Blockes zu hören sein Erzählerin: Dutzend Touristen stehen vor einem Gehege der Charles-Darwin-Forschungsstation auf Santa Cruz auf Galápagos und fotografieren die wohl berühmteste 11 Riesenschildkröte der Welt. „Lonesome George“ – wie sie genannt wird – hat es sogar ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft – als Vertreter der seltensten Tierart der Welt. Cut 15. (Marquez) (frei stehend) Lo que esta aqui frente a nosotros es el coral … tortuga de la isla Pinta. Voice over (m) Wir befinden uns jetzt vor dem Gehege von „Lonesome George“. Er ist die letzte überlebende Riesenschildkröte der Insel Pinta. Erzählerin: ... erzählt Cruz Márquez, ein Mitarbeiter des Galápagos-Nationalparks. Als „Letzter seiner Art“ ist „George“ im Laufe der Jahre zu einem Symbol für die Bedrohung der Tier- und Pflanzenwelt des Inselreichs geworden. Bereits im 19. Jahrhundert schrieb Darwin in einer Vorahnung in seinem Reisebericht „Die Fahrt der Beagle“: Zitator 1: Viele Tiere auf den Galápagos wie auch auf den Falklandinseln wurden vom Menschen verfolgt und verletzt, und dennoch haben sie keine gesunde Furcht vor ihm gelernt. Aus all dem können wir folgern, welches Unheil die Einführung eines neuen Raubtieres auslösen muss. Erzählerin: Schon früh begann der Mensch, das „Versuchslabor der Evolution“ zu verändern. Seefahrer, Piraten und später auch Siedler brachten Haustiere und fremdartige Pflanzen auf die Galápagos-Inseln. Eine Katastrophe für das Ökosystem, das über Jahrmillionen vom Rest der Welt abgeschnitten gewesen war. Verwilderte Ziegen fraßen die Vulkan-Hänge kahl, Schweine wühlten die Eier der Meerechsen aus dem Boden. Und den Riesenschildkröten wurde ihr schmackhaftes Fleisch zum Verhängnis. Seefahrer schleppten ganze Schiffsladungen dieser Tiere weg. Als lebender Proviant ließen sie sich leicht verstauen und übereinander stapeln. Erst 1959 erklärte die Regierung von Ecuador Galápagos zum Nationalpark. Für einige Tiere kamen die Schutzbemühungen zu spät: Drei der insgesamt 14 Unterarten der Riesenschildkröten sind bereits ausgestorben, eine weitere steht knapp davor: Von ihr gibt es nur noch „George“, der seit rund 40 Jahren in einem Gehege auf Santa Cruz lebt. In den 1980erJahren steckten Forscher ihm zwei Weibchen einer eng verwandten Unterart ins Gehege. Cut 16. (Marquez) Algo más que se hizo ... el peso del animal de 110 kg hasta 85 kg. Voice over (m): Zusätzlich hat man das Tier auf Diät gesetzt, weil es zu dick war. Es bekam ein spezielles Futter, das aus Pflanzen, Früchten der Opuntien-Kakteen, Vitaminen und Eiweiß bestand. In der Folgezeit nahm er gehörig ab: Von 110 Kilogramm auf 85 Kilogramm. Erzählerin: Doch selbst das Abspecken half nichts: Jahrelang zeigte „George“ überhaupt kein Interesse an den Weibchen – bis seine Wärter im Jahr 2008 mehrere Gelege in seinem 12 Gehege fanden. Vorsichtig öffnet Márquez die Tür des klimatisierten Brutschranks und zeigt auf etwa 13 golfball-große weiße Eier. Regie: ATMO-11-Inkubator-Pause: in der Pause kurz sehen lassen Erzählerin: Nach monatelangem Warten scheint sich mittlerweile die Hoffnung wieder zu zerschlagen, dass „George“ doch noch Nachwuchs bekommt: Die Eier im Brutschrank sind offenbar unbefruchtet. Mit „Lonesome George“ scheint ein weiterer Ast vom Baum der Evolution zu verschwinden. ***** 13