Newsletter September In Fortsetzung des Themas ‚China’ bringe ich diesen Monat einen Auszug aus einem Standardwerk chinesischer Kochkunst: Ken Hom: ‚Essen wie in China’: „Es gibt in der Küche jedes Landes für jede Art von Unwohlsein Speisen und Getränke, die dagegen helfen sollen – die Heilmittel sind so zahlreich wie die Krankheiten. Was die chinesische Heilkunde auf diesem Gebiet so bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass sie im Lauf der Zeit die Beschäftigung mit den heilenden und medizinischen Eigenschaften des Essens zu einer Wissenschaft und einer Kunst erhoben hat. Schon als Kind bekam ich nicht etwa automatisch ein gängiges Medikament verschrieben, sondern ich wurde zuerst mit Heilkost behandelt. Besonders oft gab es in diesen Fällen bei uns bok choy oder andere Kohlgerichte, chinesischen Broccoli, Bittergurke oder verschiedene Fleischgerichte und Saucen. Es waren auch sehr exotische Kräuter und Wurzeln darunter, deren Namen ich nicht kannte. Alle Speisen wurden genau nach Bedarf verwendet, je nachdem, ob mir kalt oder heiß war; ob ich Appetit hatte oder nicht; ob ich Magenbeschwerden oder Kopfweh hatte; ob ich apathisch oder hyperaktiv war. Für jegliche Beschwerden gab es ein passendes Hausmittel. Anstelle eines Rezepts vom Arzt verabreichte man mir ein speziell für jeden Fall zubereitetes wohlschmeckendes Gericht. Diese Kost hat mir stets geholfen, und sei es nur deshalb, weil meine Mutter vorher erzählt hatte, dass sie helfen würde. Darüber hinaus habe ich Zeit meines Lebens immer viel davon gehalten, dass die Chinesen auf die medizinischen Eigenschaften des Essens genauso achten wie Nahrhaftigkeit und Genuss. Es ist mir auch zur Gewohnheit geworden - wie es in China üblich ist - nicht allzu viel Fleisch zu essen. Essen aus Körnern und Getreide und Gemüse, Fisch und Fleisch stellen die wichtigsten Bestandteile einer gesunden und wertvollen Ernährung dar. Ich halte es auch für sinnvoll, Essen als etwas Heilendes für Körper und Seele zu betrachten, wie dies bei Buddhisten und anderen religiösen Vegetariern der Fall ist. Essen als Medizin Bemerkenswert ist, dass die erste wissenschaftliche Abhandlung über heilenden Eigenschaften der verschiedenen Nahrungsmittel im ersten Jahrhundert v. Chr. in China abgefasst wurde. Über dieses Buch, »Das klassische Werk der inneren Medizin des Gelben Herrschers«, dessen Autor bis heute nicht bekannt ist, schrieb der chinesische Wissenschaftler Jingfeng: »Die Grundlagen der Ätiologie, Pathologie, Pathogenese, Therapie und Prävention von Krankheiten sind hier dargelegt sowie die Basis einer diätetischen Behandlung.« Die Chinesen waren demnach unter den ersten, die Ernährung und Gesundheit miteinander in Beziehung gehaben: Man ist, was man isst. Früher schon, während der Zhou-Dy(1030– 256 v. Chr.), gehörten Ernährungsexperten zeitweise zum Kreis der höchsten medizinischen Fachleute am Hof. Ein wegweisendes Modell für die Behandlung von Krankheiten entstand zu dieser Zeit: Gutes und richtiges Essen und Trinken sind Grundlagen für die Heilung von Krankheiten. Chinaexperte und Wissenschaftler Frederick W. Mote schrieb: „Es sollte uns nicht erstaunen, dass in einer Gesellschaft, in der das Essen eine vorrangige Rolle spielt und in der eine bisher einzigartige Vielfalt von Lebensmitteln und Garmethoden existiert, versucht wird, die heilenden Eigenschaften der Ernährung zu erforschen. Alle materiellen Dinge betrachtete man dort als Teil eines organischen Kosmos, dessen Bestandne der gleichen Dynamik verhaftet sind, zu ihr gehören, auf sie reagieren und untereinander in Beziehung stehen ... Unter diesem Gesichtspunkt wird alles, was der Mensch isst, als Medizin betrachtet.“ So gesehen entwickelten die chinesischen Wissenschaftler und Gelehrten die theoretischen und praktischen Grundlagen der Ernährungsheilkunde. Mote fährt fort: „Man findet im Reich der Mitte kaum ein Gericht, dem nicht das Rezept eines weisen Gelehrten zugrunde liegt, der schon vor Jahrhunderten lebte und bei der Zusammenstellung der Zutaten einen gesundheitlichen Zweck im Auge hatte.“ Dies scheint mir etwas übertrieben, wahr ist jedoch, dass die chinesische Küche keine Unterscheidung kennt zwischen Heilkost und anderem Essen. Es gibt unzählige Nahrungsmittel und Gerichte in der chinesischen Küche, die in bestimmten Fällen als therapeutisches Mittel verabreicht werden. Dies bedeutet, dass vieles, was täglich gegessen wird, bei Bedarf auch als Medizin dienen kann, und umgekehrt spezifisch Medizinisches oft alltägliche Lebensmittel sind. Solche Lebensmittel mit doppelter Natur sind zum Beispiel Ingwer, Zimt, Blätter und Rinde des chinesischen Gelbholzbaums, chinesische Zwiebeln, Knoblauch, chinesische Jamswurzel, Essig, Eier, Sesam, Mungbohnen und Reis. Wein ist ebenfalls Getränk und medizinischer Wirkstoff zugleich, was auch früher schon der Fall war, denn die Wörter ‚Wein’ und ‚Medizin’ haben im Chinesischen die gleiche Herkunft und wurden einst durch das gleiche Schriftzeichen dargestellt. Wir ‚modernen’ Menschen heutzutage sind begreiflicherweise von der naturwissenschaftlichen Medizin und deren Therapien eingenommen und beeindruckt von den modernen Theorien über Krankheiten und deren Behandlung. Doch zwischen Essen und Medizin wurde vor dem 20. Jahrhundert überall auf der Welt kein großer Unterschied gemacht. Die Chinesen unterschieden sich hier aber dahingehend von den meisten anderen Kulturen, dass sie die Ernährung als grundlegend für die Gesundheit erkannt hatten. Sie hatten auch erkannt, dass Mangel, Maßlosigkeit und falsche Wahl beim Essen zu Krankheiten führen. Es dauerte viele Generationen, bis eine streng medizinische Kost als solche definiert, kategorisiert und bei ganz bestimmten Krankheiten verordnet wurde. Vieles ähnelt sich immer noch in Küche und Krankenzimmer. Daher erhält man heute zum Beispiel chinesische Datteln, Pfeffer, Kristallzucker und Hiobssamen sowohl im Lebensmittelgeschäft als auch beim Kräuterhändler und kann diese Zutaten zum Kochen oder als Medizin verwenden. Als wichtigstes Ziel bei der Verwendung des Essens als Heilmittel soll ein harmonisches Gleichgewicht zwischen dem Körper und dessen Bedarf an Nahrung hergestellt und beibehalten werden. Schon immer wurden dabei die ‚vier natürlichen Eigenschaften’ des Körpers und der Speisen beachtet: kalt, heiß, kühl und warm. Diese werden mit Bedacht durch die ‚fünf Geschmacksarten’ salzig, sauer, süß, scharf und bitter ergänzt. Chinesische Ärzte (die auch Ernährungsfachleute sind) haben schon immer versucht, krankhafte Unausgewogenheiten des Patienten wieder ins Gleichgewicht zu rücken. Daher wird bei Fieber ‚kühle’ Kost verabreicht, bei Kältegefühlen Warmes und Heißes. Mit den vier Eigenschaften müssen die Geschmacksarten harmonisch zusammenwirken, so wirkt Salziges zum Beispiel abschwellend bei Beulen, Bitteres ist gut gegen Feuchtigkeit, Saures hilft bei Durchfall und so weiter. In jedem Fall wird die Zusammenstellung der Zutaten sorgfältig vorgenommen, die Dosierung ist von größter Wichtigkeit; das zu erreichende Ziel bleibt stets die harmonisierende Wirkung der verabreichten Medizin. Gute ‚medizinische’ Köche, zu denen ich auch meine Mutter zähle, bereiten Heilkost so zu, dass sie dem Gaumen schmeichelt und leicht verdaulich, gesund und nahrhaft ist. Weder soll der Patient merken noch soll es ihn stören, dass er gerade Medizin verabreicht bekommt. Im modernen Sprachgebrauch nennt man die Behandlung von Krankheiten mit der alltäglichen Nahrung Ernährungstherapie. Fachleute berücksichtigen bei ihrer Anwendung das Alter, das Geschlecht und die persönlichen Lebensumstände des Patienten. Jahrhundertelang wurde über geeignete Zutaten und Rezepte für bestimmte Gebrechen Buch geführt und über sie beraten. Von Heilkundigen und verständigen Laien wurden sie stets beachtet. Es gibt genaue Vorschriften für die Zubereitung von Heilmitteln für Krankheiten wie Erkältung, Grippe, Bronchitis, ansteckende Gelbsucht, Schlaflosigkeit und Mumps. Diese Aufstellung umfasst alle bekannten Gebrechen bis zur ungenügenden Milchsekretion bei Wöchnerinnen. Die Chinesen hatten schon immer die Fähigkeit, eine sichere Diagnose stellen zu können. Wir sollten nicht allzu leichtfertig und gönnerhaft die sonderbar anmutende Verbindung belächeln, welche die Chinesen zwischen Essen und Gesundheit sehen. Im Westen ist man nämlich gerade dabei, genau diesen Zusammenhang in stärker werdendem Maß zu erkennen. Auch wenn die chinesischen Lehren in dieser Hinsicht vielen wenig überzeugend erscheinen, sollte man nicht außer acht lassen, dass die Menge der gesammelten empirischen Daten, auf welchen die praktischen Schritte und Verhaltensweisen beruhen, beeindruckend groß und auch für uns heute wertvoll ist. Die chinesische Ernährungslehre hat eine lange Geschichte und wurde sorgfältig entwickelt. Die große Vielfalt an Gerichten mit heilender Wirkung ist auch dem westlichen Auge durchaus vertraut. Da gibt es Brei und Eintöpfe mit Fleisch, Fisch oder Eiern, Fleischbrühe, die beruhigt und Schmerz lindert, milde Kräutertees, Säfte, schwach alkoholische Getränke, süßes Gebäck, Pfannkuchen, süße oder salzige gedämpfte gefüllte Klöße und Teigtaschen. Bitteres oder Unansehnliches wird selten verschrieben. Wie man sieht, ist die Nahrhaftigkeit der Speisen der wichtigste Teil der Ernährungstherapie. Es sind keine Wundermittel, und doch vollbringen diese Gerichte, von einer fürsorglichen Mutter als Medizin gereicht, wahre Wunder. Wie stark die hiermit verbundenen Traditionen sind, kann man heute im modernen China sehen. China ist im Wesentlichen eine bäuerliche Nation (dies ist eine Feststellung, die durchaus nicht despektierlich gemeint ist); es liegt daher die Vermutung nahe, dass Traditionen dort dauerhaft sind und keinem schnellen Wandel unterliegen. Tatsächlich hat die Lockerung der zentralen Kontrolle über die Produktion den Markt der medizinischen Kräuter wieder aufblühen lassen. In manchen Gegenden macht der Kräuteranbau sogar ein Fünftel der gesamten Anbaufläche aus. Bei diesen speziellen Produkten liegen die Gewinne höher als bei Weizen oder Hirse, und bei entsprechender Nachfrage genügt schon ein kleines Stück Land für ein gutes Auskommen. Die traditionelle chinesische Medizin erfreut sich nach wie vor ungeschmälerter Wertschätzung. In Nanjing wird zur Zeit eine Sammlung von mehr als 100000 medizinischen Rezepten zusammengestellt, die größte, die je in dieser Art in einem Band veröffentlicht wurde. In der Provinz Jiangsu hat sich in den letzten fünf Jahren die Zahl der Krankenhäuser, die mit traditioneller Kräutermedizin, Akupunktur und Akupressur arbeiten, verdoppelt. Eine Ausbildungsstätte für Ärzte und Schwestern in diesem Bereich wurde 1984 eröffnet. Auf meinen Chinareisen begegnete ich in Geschäften und an Essständen immer wieder dem Nebeneinander von Ernährung und Medizin, u. a. im größten Kräuterund Gewürzmarkt in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan. Dieser 1984 neu eröffnete Markt ist aus mehreren kleineren Märkten entstanden. Doch die große überdachte Fläche ist auch so immer noch zu klein; manche Händler weichen schon auf die umliegenden Gehwege und Gassen aus. Die Düfte auf diesem Markt sind ausgesprochen kräftig und wohlriechend. Dort findet man in groben Leinensäcken riesige Mengen von Kräutern, Wurzeln, Rinden, getrockneten Pilzen, Samen aller Art, getrockneten Früchten und anderen ausgefallenen Waren; die Behälter und Warentheken quellen über von all den Gewürzen und Kräutern. Auf den ersten Blick schien es sich nur um einen riesigen Kräuter- und Gewürzmarkt zu handeln, doch bei näherem Hinsehen lag der Schwerpunkt vor allem bei den Heilpflanzen und -produkten. Am Tag meines Besuchs dort war der Markt gedrängt voll und machte fast den Eindruck eines Basars und es herrschte eine geradezu exotische Atmosphäre. Ich schaute den Verkäufern zu, den Großund Einzelhändlern, wie sie inmitten von getrockneten Schlangenhäuten sowie Affen-, Rinder- und Ziegenknochen und -skeletten die Preise aushandelten. Überall türmten sich Berge von getrockneten Zitrusfrüchten, Wespennestern, getrockneten Seesternen und Seegurken, getrockneten Krabben und Kammuscheln. Ich versuchte die vielen verschiedenen Haufen und Berge von Pflanzen, Wurzeln und Kräutern zu zählen – bei 200 hörte ich auf. Im Gemüsemarkt der Gebrüder Tang im 13. Arrondissement von Paris findet man eine vergleichbare Atmosphäre. An einem anderen Tag nahm ich an einem Festessen teil, das im Heilkostrestaurant von Tongrentang gegeben wurde und bei dem es typische medizinische Speisen gab. Ich trank bitteren Wolfsbeerenlikör, der gegen Störungen der Nierenfunktion hilft, und Geißblatt-Tee; ich nahm ein bißchen vom Hasen mit schwarzen Sesamsamen, probierte Ginsengsuppe, schwarze Hühnerbrühe und noch viele andere der insgesamt 20 Gänge des Menüs. Jedes Gericht hat bei einem bestimmten Leiden heilende Wirkung. Für mich war es eher ein faszinierendes als ein kulinarishes Ereignis, doch als ich das Lokal verließ, fühlte ich mich sehr gesund. Bei einer anderen Gelegenheit sprach ich mit Song Rongcan, einem gebildeten jungen Mann und Inhaber eines hoch angesehenen Gourmet-Heilkostrestaurants in Chengdu. Er erzählte mir von seiner Familie, die sich seit drei Generationen mit dem Anbau von medizinischen Kräutern und der Zubereitung von Heilkost beschäftigt. Er ist erst 28 Jahre alt und schon Leiter der Produktionseinrichtung für medizinische Kräuter, nachdem er drei Jahre lang Geschäftsführer des Gesundheitskost-Restaurants in Tongrentang gewesen war. Den Speisen seines Restaurants werden kein Glutamat, Salz oder andere Zusätze beigegeben. Bei richtiger Dosierung umfassen seine Kräuter genau die erwähnten ‚fünf Geschmacksarten’ Und ergänzen die ‚vier natürlichen Eigenschaften’. Herr Song ließ für mich vier Gerichte auftragen und klärte mich über deren spezifische medizinische Eigenschaften auf. Long ma tongzi ji ist Ein Geericht aus jungem Hahn, der mit getrockneten Seesternen vier Stunden doppelt gedämpft wird, dann noch einmal 40 Minuten gedämpft und anschließend in einer pikanten kräftigen Brühe serviert wird. Es unterstützt die Nierenfunktion und soll auch dem Sexualleben sehr zuträglich sein. Zi kou niurou ist eine kalte Vorspeise aus Rindfleisch, das mit zwei verschiedenen Kräutern geschmort wird, was den Rindfleischscheiben einen unverwechselbaren Geschmack verleiht. Dieses Gericht soll wohltuend für die Haut und die Magenschleimhaut sein; es schmeckte überdies sehr gut. Als nächstes versuchte ich fu ling baozi, eine Art mit Hackfleisch gefülltes Brötchen. Bei diesem Gericht nimmt man zum Gehenlassen des Teigs statt Hefe einen anderen speziellen Pilz. Dieser Pilz wächst in der Nähe von Nadelbäumen und wird als Verjüngungsmittel oder als Mittel gegen das Altern empfohlen. Song Rongcan meinte, gehacktes Schlangen- und Schildkrötenfleisch hätte die gleichen Eigenschaften. Die Brötchen schmeckten wie die leckeren baozi, den Pilz schmeckte man kaum heraus. Zum Schluss probierte ich auch etwas du zhong yoahua, ein pfannengerührtes Gericht aus Schweinenieren und einer bestimmten Baumrinde. Es ist, so sagt man, besonders ‚gut für die Nieren’, jenes menschliche Organ, das in der chinesischen Ernährungsheilkunde ‚Tor zum Leben’ genannt wird. Es ist jener Teil des Körpers, der bei mangelhaftem oder sehr üppigem Essen und Trinken leidet und daher besonders geschützt und gepflegt werden muss. Das Rezept für dieses Gericht ist 2000 Jahre alt und wurde von Zhang Zhongjing, einem berühmten Arzt der Han-Dynastie, zusammengestellt. Insgesamt betrachtet, waren meine Erfahrungen mit der chinesischen Ernährungsheilkunde und der medizinischen Kost faszinierend. Welche gesundheitlichen Auswirkungen es auch haben mag, in den meisten Fällen war es ein Vergnügen, den Anordnungen des Arztes Folge zu leisten. Vegetarische Küche Die ausschließlich vegetabilisch, also an pflanzlicher Kost ausgerichtete Küche ist so alt wie die chinesische Kultur, mindestens 4000 Jahre alt. Die unerschöpfliche Vielfalt an Kulturpflanzen in China hatte zur Folge, dass Gemüse und Getreide zum wichtigsten und bekanntesten Teil des Essens der Chinesen wurden. Ein Großteil der angesehenen Küche aus Sichuan, einer Gegend mit einer außergewöhnlichen Vegetation, hat stark vegetarischen Charakter, ist jedoch nicht buddhistisch. Es bedurfte keiner Regierungserlasse oder religiöser Verbote, um die Menschen zum Verzehr der vielen Gemüsesorten anzuregen. Fleisch wurde nur selten verwendet, oft auch nur für die Zubereitung von Fleischbrühen. Rein vegetarisches Essen hingegen ist in China relativ neu. Erst mit dem sich verbreitenden Buddhismus in den ersten sechs Jahrhunderten n. Chr. kam diese Art des Kochens langsam auf; sie wird heute lediglich von einer Minderheit praktiziert, und nur relativ wenige Chinesen folgen den Leitlinien des Vegetarismus. Die Zahl der Buddhisten wird zusammen mit den Taoisten auf nur ungefähr 20 Millionen geschätzt, das sind kaum zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. Die in der buddhistischen Religion verankerte Achtung jeglichen Lebens hat sich in China mit der Einführung neuer Zutaten, Rezepte und Stilelemente beim Kochen bemerkbar gemacht, die das kulinarische Erbe aller Chinesen bereicherte. Es war nicht der Buddhismus, der rein pflanzliche Proteinquellen in die chinesische Küche einführte; die Chinesen verwendeten beispielsweise schon immer Hülsenfrüchte, vor allem Soja- und Mungbohnen. Der Buddhismus hat aber diesen Speisen zu noch größerer Bedeutung verholfen, und seine Glaubensanhänger bereiteten sie in einer so neuen und verlockenden Weise zu, dass viele Chinesen fortan auf Fleisch in ihrem Essen weitgehend verzichteten. Buddhistische Köche schaffen in vielen Gerichten die Illusion des deftigen Geschmacks von Schweine-, Rind-, Hühner- und Entenfleisch. Ihre Gerichte, die den Eindruck von Fleisch vortäuschen, sind so verführerisch, dass mancher beim Essen schon vergessen hat, dass er nicht wirklich Rindfleisch, Schweinefleisch, Huhn, Abalonen oder ähnliches isst. Allerdings ist mir zu Ohren gekommen, dass einige buddhistische Restaurants ein wenig mogeln und bei manchen Rezepten Hühnerfond verwenden. Einem alten Märchen zufolge war einst ein Taoist bei Leuten zum Esse eingeladen, die, so stellte sich später heraus, Alchimisten waren. Der Taoist brach in helles Entsetzen aus, als er sah, dass die beiden Hauptgerichte des Essens scheinbar ein Hund ohne Fell und ein kleiner Kinderkörper waren, die in klarer Brühe schwammen. Seine Gastgeber ermunterten ihn, doch wenigstens ein wenig von den ‚Spezialgemüsen’, wie sie die beiden Gerichte nannten, zu kosten. Der Taoist als streng vegetarisch lebender Mensch lehnte dies natürlich ab. Später erst, als alles at gegessen war, verrieten ihm seine Gastgeber, dass die beiden abscheulichen Körper die etwas eigenartig aussehenden Wurzeln einer Heilpflanze waren. Hätte er am Essen teilgenommen, so wäre ihm ewige Jugend und Unsterblichkeit beschieden gewesen. Die Moral dieser schockierenden Geschichte liegt darin, dass vegetarische Kost dem Fleisch täuschend ähnlich sein kann, dass gute vegetarische Kost mit keinerlei Einschränkung verbunden ist und darüber hinaus noch Gesundheit ur Wohlergehen beschert. Kein Märchen, sondern Tatsache ist, dass durch den Buddhismus eine Vielzahl von Ersatzstoffen für Fleisch aus Hülsenfrüchten, Gluten und vor allem Sojabohnen entwickelt wurde. Weizengluten, ein Stoff, der reich Protein und bestens formbar ist, wird bei der Zubereitung einer Reihe von Gerichten verwendet, die wie Fleisch schmecken. Der wahrscheinlich wichtigste buddhistische Fleischersatzstoff aber ist Tofu, der aus Sojabohnen hergestellt wird. Lange bevor der Buddhismus in China Fuß fasste, waren Sojabohnen schon ein elementarer Bestandteil der chinesischen Küche; der Buddhismus hat aber zweifelsohne deren Verbreitung in ganz China beschleunigt. Buddhistische Variationen des chinesischen Brauchs, Feiertage mit ganz speziellen Gerichten zu begehen, führten ebenfalls zur Verbreitung vegetarischer Eßgewohnheiten. Eines dieser Festtagsessen war schon Zeiten der Song-Dynastie bekannt, der Reisbrei der ‚Sieben Kostbarkeiten und fünf Geschmacksrichtungen’, den man am elften Tag des zweiten Monats aß. Bald wurde dies bei allen Chinesen, gleich welcher Konfession, ein beliebtes Gericht. Buddhismus und die Armut der Bevölkerung sind die Hauptgründe für die geringe Bedeutung und Verbreitung von Rindfleisch in der chinesischen Küche. Heute sind in China vegetarische Kost und vegetarische Restaurants immer noch anzutreffen. Ich habe buddhistische Gerichte an verschiedenen Orten probiert und dabei sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Obwohl die chinesische Kochkunst Gemüse in unzählbaren Variationen verwendet, bleibt streng vegetarische Küche in China eher die Ausnahme als die Regel.“