Johann Friedrich Konrad Judentum — Weltreligion der Erwählung* Das Judentum ist wie das Christentum eine Religion der Nächstenliebe. In einer prägnanten Beschreibung des Verhältnisses von Judentum und Christentum heißt es: "Weil für Juden und Christen gilt: Alle Menschen sind Gottes Ebenbild, gilt für beide die Forderung der Nächstenliebe. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! ... In beiden Religionen wird Gott verehrt, der die Menschen liebt, deshalb steht das Gebot der Nächstenliebe im Mittelpunkt." 1 Dies ist nicht immer so gesehen worden. Zu den so schwer überwindbaren Vorurteilen gehört regelmäßig der Vorwurf, daß es im Judentum weniger um Nächstenliebe geht als vielmehr um Vergeltung und Aufrechnung: "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Doch die hebräische Bibel, das Alte Testament, sagt etwas anderes. Lev 19,18: "du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (vgl. Mt 5,43 u.ö.). Lev 19,13: "du sollst deinem Nächsten nicht unrecht tun." Sir. 28,2: "vergib deinem Nächsten." Und es darf nicht übersehen werden, daß die Bestimmung des ius talionis im alten Israel angesichts der im heidnischen Umfeld vielfach überbordenden Vergeltungspraxis ein wirklich fortschrittlicher und humanisierender Rechtsgedanke war. Mit Vorurteilen und Mißverständnissen haben wir es auch immer wieder zu tun, wenn das Thema Erwählung Israels zur Sprache kommt. Was ist gemeint, wenn von der Erwählung Israels gesprochen wird? Dieser Beitrag soll dem Abbau von Vorurteilen dienen. Es werden Juden zu Wort kommen, die erklären und erzählen, was Erwählung bedeutet, was es heißt, Gottes auserwähltes Volk zu sein, und wie sie Gott und der Menschheit im Einhalten der Weisungen und Pflichten, der Gebote, der mizwot dienen, um im Lieben der Tora ganz, heil, heilig zu sein. Der Gedanke der Erwählung ist für das Judentum konstitutiv. Beides gehört zusammen in die Mitte Israels: Einerseits die Erwählung, geschichtich verwirklicht im Exodus, im Auszug aus Ägypten, in der Befreiung aus der Sklaverei u n d andererseits der Bund, Israels Verpflichtung am Sinai, die Gebote; Freiheit und Bindung, Gnade und Aufgabe, Geschenk und Auftrag, Berufung und Verantwortung, von Gott geliebt werden und Gott im Mitmenschen lieben, bewahrt werden und bewahren, 1 ) Vortrag vor der Senioren-Akademie der Universität Dortmund am 01.02.1988. Frieder Gadesmann u.a., Das Leben suchen, Frankfurt a.M. 1984, S. 72 u. S. 80. - 2 - Gott erfahren und Gott in die Welt bringen -- kurz: Exodus und Sinai, Erwählung und Tora sind untrennbar mit einander verbunden. Die 10 Gebote beginnen mit der sich zusagenden Selbstvorstellung Gottes "Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten, aus dem Sklavenhause geführt habe", und dann hört Israel, w o z u es Gott befreit hat, w o z u er es erwählt hat: "Du wirst doch keine anderen Götter neben mir haben; du wirst dir doch kein Abbild von irgendetwas machen und es als Gott verehren; du wirst meinen Namen nicht mißbrauchen" etc. Im Verlauf des Bundesschlusses und der Gesetzgebung, mitten in all den Geschichten und Gesetzen, die um Exodus und Sinai angesiedelt sind, tut Gott dem Mose seinen Namen kund, interpretiert er mit dem Namen auch sein Wesen und und verbindet damit den Anspruch, diesen Namen zu ehren, zu heiligen, nicht auszusprechen. Und er gibt ein Versprechen (Ex 33,19): "Ich, der Gnädige bin gnädig, und ich, der Erbarmer, erbarme mich." Diese seine Güte, die Gott vor Moses Angesicht vorüberziehen läßt, diese Liebe, diese Zuwendung ist es, die zuerst und zuletzt gilt. Und sie ist die Klammer, die alle Straf- und Gerichtsreden umgreift. Der jüdische Erwählungsglaube ist ein Vertrauen, -- ein Vertrauen das aus Gottes Zuwendung und Liebe lebt. "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!" (Jes. 43,1). Wieviele Christen haben sich diesen Spruch bei Taufe oder Konfirmation als Zuspruch für ihr Leben erwählt. Dieser Spruch ist aber ursprünglich an das Volk Israel gerichtet. Wir lassen den Anfang gern weg! Der Vers lautet: "Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!" Israel wird hier beim Namen gerufen. Es ist Sein, des Ewigen, Volk! Die Beliebtheit dieses Spruches in der Christenheit zeigt, wie tief christlicher Glaube im jüdischen Erwählungsglauben verwurzelt ist. An sein Erwähltsein glauben heißt: die Erfahrung zum Ausdruck bringen, von Gott geliebt zu sein. Lieben ist immer ein Auswählen. Die Geliebte ist die Auserwählte, der Geliebte ist der Auserwählte. Lieben als Erwählen ist selbstverständlich ein Bevorzugen: es geht ja um eine Auswahl aus allen anderen. Aber kann man von der Bevorzugung des Liebenden auf den Vorzug des Geliebten schließen? Ist das auserwählte Volk, das bevorzugte Volk, ein vorzügliches Volk, ein Volk, das besser, größer, erhabener ist als die anderen?! In dieser Weise wurde das Judentum oft mißverstanden. Dieses Mißverständnis ist aber auch innerhalb Israels und des Judentums immer wieder aufgetaucht und hat dem außerjüdischen Mißverständnis Nahrung gegeben. Jüdisch ist nicht dieses Mißverständnis des Erwähltseins mit der Folge der Überheblichkeit, sondern jüdisch ist der Protest gegen dieses Mißverständnis. Wir hören diesen Protest schon deutlich in der Hebräischen Bibel (Am 9,7): "Seid ihr Israeliten mir nicht gleich wie die Mohren?! spricht der Herr. Habe ich nicht Israel aus Ägypten geführt und die Philister aus Kaftor und die Aramäer aus Kir?!" M. Buber kommentiert: "Als Geschichtsvolk hat Israel nichts vor irgendeinem voraus, ... auch den feindlichen Nachbarvölkern schritt auf ihrem Weg schutzmäßig der eine Gott ... voran." 2 Auf sich selbst kann sich Israel nicht berufen. Noch deutlicher hören wir das in Dtn 7,6-8: "Du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott. Dich hat der Herr, dein Gott, erwählt zum Volk des 2 Martin Buber, Werke. Zweiter Band, München-Heidelberg 1964, S. 1039 - 3 - Eigentums (heiliges Volk = Volk des Eigentums) aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker - du bist ja das kleinste von allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat! ..." Hier wird Israel geradezu getadelt: Bilde dir bloß nicht ein, daß du etwas besonders Großes wärest - im Gegenteil! Du hast an dir selbst überhaupt keinen Grund zu meiner Wahl, du bietest nicht die geringste Voraussetzung dazu! Daß du mein Eigentum bist, liegt ganz allein in meiner Freiheit begründet, in meiner Liebe zu dir, in der ich mich an dich und dich an mich binde. Ein zweites Mißverständnis von Erwähltsein besteht darin, daß man in eine bequeme Sicherheit verfällt: Was kann uns als auserwähltem Volk Gottes schon passieren? Er wird uns schon bewahren wie seinen eigenen Augapfel. Er kann ja sein eigenes Versprechen nicht hinfällig werden lassen. Diesem Sicherheitsgefühl entspricht, daß man es mit seinem Lebenswandel nicht so genau nimmt und Gottes Gebote mißachtet. Auch hier gilt: Nicht dieses Mißverständnis ist jüdisch, sondern der Protest dagegen. So schimpft z. B. der Profet und Täufer Johannes: Denkt doch ja nicht, nur weil ihr Abrahams Kinder seid, kann euch im Gericht nichts passieren! Schließlich wird Gott ja wohl sein Wort halten, das er Abraham gegeben hat. Natürlich wird Gott sein Wort halten, aber wenn ihr als Abrahams Kinder versagt, kann Gott dem Abraham aus diesen Steinen hier Kinder erwecken! Er braucht euch nicht, um sein Wort zu halten. Sein Wort bleibt - aber ihr nur, wenn ihr an seinem Wort bleibt und danach tut! (vgl. Mt 3,9 // Lk 3,8). Ähnlich die Aussage Jer 7, 12-15: Das Volk verläßt sich auf den Tempel als einen sicheren Ort, weil es ja der Ort ist, an dem Gottes Name wohnt. Dort weiß man sich vor den Babyloniern sicher. Aber was sagt Jeremia?! – Er sagt: So spricht der Herr: Geht hin an meine Stätte in Silo, wo früher mein Name gewohnt hat, und seht nach, was ich dort getan habe! In Trümmern liegt sie, zerstört, und Efrajim (Nordreich Israel) ist verschwunden! Wenn ihr's genauso treibt und nicht auf meine Worte hört, wenn ihr mir nicht antwortet und entsprecht - "Fortschleudern will ich euch von meinem Antlitz hinweg!" 3 (vgl. Jer. 7,12-15). Hier wird deutlich, daß Erwählung ein Anspruch ist und Forderung bedeutet, und daß das Volk, das dieser Forderung nicht genügt, seine Erwählung auch verwirken kann. Es scheint gar nicht so leicht und bequem, Gottes auserwähltes Volk zu sein. Im Gegenteil! Am 3,1-2 heißt es: "Höret, was der Herr gegen euch spricht, ihr Israeliten (...)! Euch nur habe ich aus allen Sippen der Erde erkannt, darum suche ich auch an euch heim alle eure Verfehlungen!" Für Erwählen steht hier das Wort, das in der Hebräischen Bibel für die geschlechtliche Liebesgemeinschaft gebraucht wird: "erkennen", um der Innigkeit von Gottes Zuwendung Ausdruck zu geben. Innigkeit aber ist verletzlich; wenn man sie sich bewahren will, muß man behutsam mit ihr umgehen. Mit einer Kostbarkeit darf man nicht gleichgültig oder gar leichtfertig umgehen. So ist die Heraus-Wahl zugleich eine Heraus-Forderung. Von Gott erwählt sein heißt zugleich: In seinem Verhalten der Liebe Gottes entsprechen. Das ist eine hohe Verantwortung und schwere Aufgabe, der 3 Martin Buber, a.a.O., S. 1051. - 4 - kein Volk ohneweiteres gewachsen ist. Und da Israel von sich aus und an sich nicht besser ist als andere Völker, und sein Antworten immer wieder in Versagen entgleitet, darum ist in der jüdischen Religion immer wieder von Gottes Zorn und Gericht die Rede, -- noch mehr und umgreifender aber von Gnade und Erbarmen. Sein vergebendes Ja ist stärker als sein bestrafendes Nein und ermöglicht immer wieder einen Neuanfang. Diese Erfahrung Israels von Zuspruch und Anspruch an sein Volk hat die christliche Kirche übernommen; sie lebt daraus und hat ihre Theologie daraus bereichert und versteht sich ihrerseits als Gottesvolk. Das darf sie auch, n u r: sie hat dabei immer wieder einen schwerwiegenden Fehler begangen. Sie hat immer wieder gesagt: Wir sind das neue und damit das wahre Israel, die Erwählung ist auf uns übergegangen, und damit hat Gott das alte erwählte Volk eigentlich nicht mehr erwählt oder vielleicht verworfen. Wir sind nun die Erben. Israel, das alte Gottesvolk, ist vergangen, es lebe das neue Gottesvolk, die Kirche! Israel lebte und lebt aber in Wahrheit immer noch seiner Erwählung. Das konnten und wollten viele Christen nicht wahrhaben, denn es schien ihrer Theologie und ihrem Glauben zu widersprechen - und so war Israels bloße Existenz Grund genug, die Juden zu diffamieren. Wir haben herausgestellt: Nach jüdischem Verständnis bedeutet der Glaube, das auserwählte Volk zu sein, nicht, daß es von vornherein besser oder wertvoller wäre als andere Völker, sondern daß sich Gott in seiner Freiheit gerade ihm zugewendet hat, und damit auch von ihm Besonderes erwartet. Aber muß nicht schon diese Bevorzugung allein, auch wenn sie für Israel eine besondere Anstrengung beinhaltet, ein Ärgernis für die anderen Völker sein? Die Tatsache als solche, daß Gott dieses eine Volk herausruft aus den den Scharen von Völkern, es erwählt, segnet und heiligt? Nein! Weil es nach jüdischem Glauben keine Ganzheit ohne Aussonderung gibt. Der Gott Israels wählt aus und unterscheidet um des Ganzen willen! Das zeigt sich besonders deutlich an der ersten Schöpfungsgeschichte in Gen 1,1-2,4a: Gott schafft, indem er teilt, trennt und unterscheidet. Gott Gott scheidet das Licht von der Finsternis, er trennt die Wasser oben und und unten durch die Himmelsfeste, er grenzt die Gewässer vom Festland ab, er schafft die Gestirne zur Zeiteinteilung, und die Erde bringt hervor alle Lebewesen je nach ihren Arten unterschieden. Jedes Tagewerk beurteilt Gott als gut. Es ist gut für das, was Gott mit seiner mit seiner ganzen Schöpfung vorhat. Und am Ende heißt es (1,31): "Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag." Die sechs Tage mit ihren Werken, die sechs Werktage gelten in Gottes Augen als sehr gut. Damit ist die Schöpfung beendet, aber noch nicht die Schöpfungsgeschichte. Sie erzählt noch die Vollendung - und die besteht in der Aussonderung, Erwählung und Heiligung des siebenten Tages. 4 Gen 2,1-4a: "So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und s o vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte: er ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte..." Einen Tag, den Vollendungstag, greift Gott heraus, erwählt ihn, heiligt ihn 4 Vgl. dazu: Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III,1, 2. Aufl. Zollikon-Zürich, 1947 S. 240ff. - 5 - als einen besonderen Tag zu seinem Eigentum. Nicht der Mensch ist die die Krone der Schöpfung, sondern der Schabbat. Die sechs anderen namenlosen, nur gezählten Tage werden vom Schabbat profitieren. Um des Schabbats, des F e s t e s willen lohnt es sich zu sein, zu leben. Durch diese Aussonderung und Unterscheidung wird das Ganze sinnvoll, gewinnt das Leben Qualität. Der Schabbat als Sinngebung ist das kostbarste Geschenk Israels an die Völker der Welt. Es soll nun versucht werden, dasjenige, was für den jüdischen Glauben Erwählung heißt, an diesem "erwählten Tag", dem Schabbat, zu umschreiben. Es läßt sich dann leichter verstehen, wie Israel seine Erwählung sieht. Die Hawdala, der Dankspruch zum Schabbat-Ende am Samstag Abend lautet: "Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du unterschieden hast zwischen Heiligem und Unheiligem, zwischen Licht und Finsternis, zwischen Israel und den Völkern, zwischen dem siebten Tag und den sechs Tagen der Arbeit. Gelobt seist du, Ewiger, der unterschieden hat zwischen Heiligem und Unheiligem." Die Differenzierung zwischen Heiligem und Unheiligem bedeutet keine Diffamierung des Unheiligen. Die sechs Werktage stehen unter dem Urteil "sehr gut"! Genau das gilt auch für die Völker. Nur: der siebente Tag und das Volk Israel haben in der Vision Gottes für das Ganze des Seins eine besondere Funktion, wie auch füreinander eine wesenhafte Verknüpfung: "Dies drückt sich besonders deutlich in der Liturgie aus, vielleicht am deutlichsten in der Bezeichnung des Schabbat als Braut. Israel und der Schabbat gehören fest zusammen wie ein Ehepaar. So erklärt auch der Midrasch zu Gen 2,3: 'R. Schim`on b. Jochai lehrte: Einst führte der Schabbat Klage vor Gott mit den Worten: Herr der Welt, alle Werktage haben einen Partner, nur ich - ich bin allein geblieben. Da antwortete Gott: Die Gemeinde Israel wird dir Lebensgefährte sein. Als nun die Israeliten später am Berg Sinai die Tora empfingen, sprach Gott zu ihnen: 'Gedenket an das Gelübde, das ich einst dem Schabbat gab. Dies ist der Sinn des Gebotes: Gedenke des Schabbattags, daß du ihn heiligst.' (12) Daher wird Israel auch als Schomer Schabbat, 'Hüter des Schabbat' bezeichnet. Es besteht eine feste Partnerschaft. Die Schabbat-Heiligung ist also hohes Gebot. Deshalb heißt es: 'Haltet den Schabbat, wie es sich gebührt, so sehe ich euch dafür an, als hättet ihr alle Gebote in der Tora gehalten.'(13) Doch auch wenn Israel als Schomer Schabbat bezeichnet wird, gilt gleichermaßen der Satz: 'Nicht Israel hat den Schabbat bewahrt, sondern der Schabbat hat Israel bewahrt.' (14)." 5 Wir sehen an dieser Schabbat-Praxis (6) als an einem Beispiel, wie für Israel die Tora mit ihren Geboten Geschenk und Aufgabe ist, eine beglückende Verpflichtung. Die Gebote sind Israel gegeben, um durch sie zu l e b e n (vgl. Lev 18,5). Nach der Verlesung der Tora im Deuteronomium heißt es (30,19f): "Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen, indem ihr den Herrn, euren Gott, liebt und seiner Stimme gehorcht und ihm anhanget." 5 Tuviah Kwasman, Die ent- und angeeignete Bibel, in: Kirche und Israel 2. 1987, S. 106f; seine Anmerkungen: 12) Vgl. Genesis Rabba XI 8 zu Gen 2,3 13) Vgl. Exodus Rabba XXV 12 zu Ex 16,29 14) Ausspruch von Achad Haam - 6 - Letztlich hängt für Israel am Bewahren des Schabbats und der Tora nicht nur sein eigenes Leben, sondern der Bestand der ganzen Schöpfung. Walter Strolz 6 zitiert aus jüdischer Tradition: "Wenn die Israeliten die Tora annehmen, dann werdet ihr bestehen. Nehmen sie aber die Tora nicht an, dann lasse ich euch in die 'Öde und Leere', die vor der Schöpfung bestand, zurücksinken." Über Israel ist die Tora mit vielen ihrer Gebote, insbesondere mit dem Schabbat-Gebot zu den Völkern gelangt. Aber wir haben durch unsere Zivilisation den Schabbat unwiederbringlich zerstört. Das Wachstum sollte über den sechsten Tag hinaus weitergehen, und darum ist kein einzelner universalgültiger Ruhetag mehr möglich. Die Gier des Menschen hat ihn gefressen! Mit dem Verlust des Schabbats geht die ganze Schöpfung kaputt. Der Sinn ist weg, und damit hat das Sein verspielt. Das klingt mit an, wenn wir jetzt einige Sätze Abraham Heschels 7 zur Bedeutung des Schabbats hören. Wir zitieren ihn, um mit seinen Worten die Parallele Heiligung des Schabbats und Erwählung Israels zu verdeutlichen: "Vielleicht ist Sabbat der Begriff, der das Judentum am deutlichsten charakterisiert. Was ist der Sabbat? Eine Erinnerung an das Königtum jedes Menschen, an die Abschaffung der Unterschiede zwischen Herrn und Sklaven, zwischen reich und arm, zwischen Erfolgreichen und Versagern. ... Der Sabbat ist die Verkörperung des Glaubens, daß alle Menschen gleich sind und daß die Gleichheit der Menschen untereinander den Adel des Menschen ausmacht. Die größte Sünde des Menschen ist zu vergessen, daß er ein Königssohn ist. Der Sabbat ist die Bestätigung, daß Gottes Geist größer ist als das Universum; daß hinter dem Guten das Heilige steht. ... Was in den sechs Schöpfungstagen geschaffen wurde, ist gut; aber der siebte Tag ist heilig. Der Sabbat bedeutet Heiligkeit in der Zeit. Was ist der Sabbat? Die Präsenz der Ewigkeit, ein königlicher Augenblick, strahlende Freude. Die Seele ist verzaubert, die Zeit ist Wonne, und Innerlichkeit ist der höchste Lohn. Mißmut ist Entheiligung des Tages, und Streit ist Selbstmord der heute 'hinzugeschenkten' Seele. Der Mensch ist nicht allein, er lebt in der Präsenz dieses Tages. ... Der siebte Tag ist der Erinnerung an die Schöpfung und die Erlösung gewidmet, dem Gedenken an die Befreiung Israels aus Ägypten, an den Exodus aus der großen Zivilisation in die Wüste, wo das Wort Gottes gegeben wurde. ... Jude sein heißt, die Welt bejahen, ohne an sie versklavt zu sein ... Alle Tage der Woche müssen mit dem siebten Tag in geistigem Einklang stehen. ... Der Sabbat ist der Kontrapunkt des Lebens, die Melodie, die in allen Aufregungen und Wechselfällen des Lebens, die unser Gewissen bedrohen, festgehalten wird; er ist das Bewußtsein von Gottes Gegenwart in der Welt. Er lehrt uns, die Freude des Geistes zu fühlen, die Freude über das Gute, die Erhabenheit eines Lebens im Angesicht der Ewigkeit. ... Für den Juden heißt Leben sub specie aeternitatis (im Angesicht der Ewigkeit) leben sub specie Sabbatis. Jeden Freitagabend müssen wir das Licht in unserer Seele entzünden, müssen wir unsere Barmherzigkeit größer, unsere 6 Walter Strolz, Heilswege der Weltreligionen, Bd. 1: Christliche Begegnung mit Judentum und Islam, Freiburg-Basel-Wien 1984, S. 25. 7 Abraham Joshua Heschel, Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, Neukirchen-Vluyn 1980, S. 320f. (erstmals New York 1955) - 7 - Empfindsamkeit tiefer machen. Der Sabbat ist ein einziger Tag; Schabbesdigkeit aber sollte all unsere Tage durchdringen. Schabbestigkeit ist Spiritualität, Wesen und Geist des Judentums." Wir wagen einmal den Vergleich: Was vom Schabbat für die anderen Tage gilt, das gilt ähnlich von Israel für die anderen Völker: Israel ist ein einziges Volk; Jüdischkeit aber sollte alle Völker durchdringen. Jüdischkeit ist Spiritualität, ist Glauben, Lieben, Hoffen, ist Leben in Seinem, des Ewigen, mizwot. Erwählung Israels bedeutet wesenhaft eine Pro-Existenz, ein Für-Sein nach Gottes Willen. Wir können das mit Worten Leo Baecks 8 unterstreichen, der sicher die Akzente anders setzt als Heschel, - und im Blick auf seine Adressaten auch anders setzen muß - , in der hier verhandelten Grundintention aber mit ihm übereinstimmt. Nach Baeck besteht das Wesen des Judentums in seinem ethischen Monotheismus. Erwählung Israels bedeutet für ihn auch ganz klar Unterscheidung und damit ganz hart "Gegensatz zu den Völkern ringsumher", den es im Erfüllen von Gottes Willen durchzuhalten hat. "Seine Existenz kann nur eine religiöse sein; es wird sein, wie es vor Gott sein soll, oder es wird nicht sein. Aus dieser Gewißheit ist dann die Idee von dem w e 1 t g e s c h i c h t l i c h e n B e r u f e, von der Mission Israels erwachsen, von der Verantwortlichkeit, die es vor Gott und den Menschen hat. Die Auserwählung wird als ein Profetentum des ganzen Volkes erfaßt. Sie wird in ihm zu einem Glauben an eine Sendung über sich selbst hinaus, an ein Auserwähltsein um der anderen willen. Ganz Israel ist der Bote des Herrn, der Messias, der Knecht Gottes, der die Religion für alle Lande hüten, von dem das Licht zu allen Völkern ausstrahlen soll. 'Ich, der Ewige, habe dich in Gerechtigkeit gerufen, ich erfasse deine Hand, ich bewahre dich und setze dich ein zum Bunde der Völker, zum Lichte der Nationen, blinde Augen zu öffnen, Gefesselte aus dem Gefängnis herauszuführen, aus dem Kerker die, welche im Finstern wohnen.' ... Aus dem Glauben an sich konnte dieser Glaube an die Verantwortlichkeit aufwachsen, diese fordernde Zuversicht, für die Welt da zu sein. Nur ein Volk, das sein Eigenes in seiner Seele fühlte, konnte empfinden, wie viel es den anderen allen zu bedeuten hätte. Die Idee der Auserwählung erhält so zu ihrem unbedingten Korrelat die I d e e d e r M e n s c h h e i t, der zur wahren Religion berufenen Menschheit. Wenn einem Volke die Aufgabe zugewiesen wird, den einen Gott, der der Herr der ganzen Welt ist, auch für alle Welt zu verkünden, so ist mit dieser Betonung der Pflicht gegen alle Menschen zugleich auch der Gedanke der Gemeinschaft mit ihnen, der Gedanke einer Gotteskindschaft und Gotteszugehörigkeit aller deutlich ausgesprochen. Wenn Israel als Träger der Religion der 'erstgeborene Sohn Gottes' ist, so ist damit gesagt, daß alle Völker Gottes Kinder sind, daß sie in der Liebe zu ihm und in dem Gehorsam gegen sein Gebot mit Israel geeint sein sollen; das Band der religiösen Bestimmung verknüpft alle Menschen... Als Religion, die vor sich die Menschheitszukunft als die Vollendung ihres eigenen Weges erblickt, ist die israelitische Religion zur Weltreligion geworden. Ja sie könnte d i e Weltreligion genannt werden, insofern alle die Religionen, die sich im Universalismus ihres Zieles bewußt werden, aus ihr 8 Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, 6. Aufl. Fourier Verlag Wiesbaden o. J., S. 64ff (erstmals Berlin 1905; erw. Aufl. Frankfurt/M. 1922 ff) - 8 - hervorgegangen sind, und kraft dessen, daß sie aus ihr hervorgegangen sind, dieses Ziel sich setzten.... Die Weltreligion steht in der Religion des Judentums. Je lebendiger der Universalismus betont wurde, um so bestimmter durfte und mußte auch die besondere Aufgabe und Stellung Israels hervorgehoben werden. ... Die E i g e n t ü m l i c h k e i t d e s B e r u f e s wird gefordert, aber k e i n e E x k l u s i v i t ä t d e s H e i l s verkündet. Das Judentum blieb davor bewahrt, in die religiöse Enge des Begriffes einer alleinseligmachenden Kirche hineinzugeraten. ..." Wenn wir so aus jüdischer Sicht die Erwählung Israels als Proexistenz für uns alle sehen, können wir verstehen und werden es nicht für eine jüdische Anmaßung halten, wenn Heschel 9 schreibt: "Das Judentum ist Gottes Suche nach dem Menschen. ...Unsere Bestimmung ist, zu leben für etwas, das mehr ist als wir selbst. Unsere ganze Existenz ist ein beispielloses Symbol dieses Anspruchs. Wenn wir sind, was wir sind - nämlich Juden -, bedeuten wir mehr für die Menschheit, als wenn wir ihr irgendeinen besonderen Dienst leisten. ... Israel existiert nicht, um zu sein, sondern um die Vision Gottes lebendig zu erhalten. Unser Glaube mag hart geprüft werden, aber unser Schicksal ist in der Ewigkeit verankert. Wer vermag zu prophezeien, wie unsere Geschichte ausgehen wird? Aus dem Wunder sind wir gekommen, ins Wunder werden wir zurückkehren." Prof. Dr. Johann Friedrich Konrad Universität Dortmund 9 Heschel, a.a.O. S. 325ff.