36 | 5/2006 velojournal MARKT Doppelte Kraft, doppelte Freude Das Tandem ist weit mehr als bloss ein hübsches Requisit für die Hochzeitskarte. Es fährt rund um die Welt, bringt Kinder in die Ballettstunde, ermöglicht Menschen mit einem Handicap schöne Ausfahrten und holt auch mal den Besuch vom Bahnhof ab. velojournal hat sechs Tandems gefahren. Marius Graber (Text), Gian Vaitl (Fotos) Keiner zu klein, ein Tandem-Beifahrer zu sein: Zwei Generationen auf zwei Rädern. Im Tandemjargon heisst die oder der vordere FahrerIn «Captain», die Person hinten «Stoker», was so viel bedeutet wie «Kohlenschaufler». Das erinnert uns an die Arbeitsteilung auf der Dampflokomotive. Heizt man auf dem Tandem tüchtig ein, kommt schnell mal Temporausch auf. Mit dem gleichen Luft- und Rollwiderstand wie auf einem Solovelo, aber eben mit doppelter Kraft fährt es sich insbesondere in der Ebene und bergab ungewohnt schnell. Mit dem Tandem überholt man mit Leichtigkeit auch trainierte Rennvelofahrer. Dabei können Captain und Stoker noch immer gut kommunizieren. Tandem fahren ist Teamwork pur. Die Aufgabenteilung setzt Vertrauen voraus. Fehlt Letzteres, ist jede Tandemfahrt zum Scheitern verurteilt. Das Tandem verbindet, es fördert (und fordert) die Zweisamkeit. Viele Ehen sind auf dem Tandem geschlossen worden, einige aber wohl auch zerbrochen. Wer hinten sitzt, kann weder lenken noch schalten noch bremsen. Dafür die Landschaft doppelt geniessen, die Karte lesen, fotografieren oder gar – das soll funktionieren – aus einem Buch vorlesen. Das Tandem gleicht aus: Die Schnelle und der Langsame, die Starke und der Schwache – beide sind immer gleichauf. Deshalb ist es eine gute Alternative für die konventionelle Tour zu zweit. Da gibt es kein «jetzt wart doch mal» und kein «da bist du ja endlich». Das Tandem vermag Handicaps zu überwinden und ermöglicht besonders auch älteren Menschen, Blinden (siehe velojournal 4/06), Menschen mit Gleichgewichtsstörungen oder Behinderten Ausfahrten, die mit dem Solovelo nicht (mehr) möglich sind. Familientransportvehikel Weniger bekannt ist das Tandem als Familienkarosse. Mit dem Tandemtaxi bringen Eltern den Nachwuchs staufrei und schnell in die Musik- KLEINER MARKT, GROSSE AUSWAHL Neben den vorgestellen Modellen gibt es noch eine Anzahl von weiteren Anbietern, die Tandems herstellen: BC Bikes: Preiswertes 26“-Tandem, Vertrieb: Baltensberger und Partner AG. Burley: US-Traditionshersteller, Vertrieb: Haso. Colorado: 28“-Modelle, Vertrieb: Bellimport. Flyer: Der schweizer Elektrovelohersteller wird im Frühling ein Tandem mit elektrischem Zusatzantrieb lancieren. Raleigh: Preiswertes 26/28“-Tandem,Vertrieb: Swissbike. Stolz: Tandems nach Mass. Velotraum: Tandems in Wunsch-Farbe und -Ausstattung. Kindertretlager gibts von Santana und Burley. In der Schweiz etwas schwer erhältlich sind die faltbaren Modelle mit 20“-Rädern von Bernds und Bike Friday sowie die Tandems von Zwei+Zwei mit tiefem Einstieg und Freilaufsystemen. 37 | 5/2006 velojournal schule, den Fussballklub oder in den Kindergarten. Ein grosses «Hallo» am Ziel ist so sicher wie eine gesunde Portion Bewegung an der frischen Luft und die Freude am gemeinsamen Vorwärtskommen. Die Heimfahrt mit leerem Hintersitz bereitet kein Problem. Mit einem zusätzlichen, höher gelegten Kindertretlager funktioniert das Elterntaxi bereits mit Kindern ab zirka drei Jahren. Nach oben gibt es, zumindest konstruktiv, keine Altersgrenzen. Hängt man dem Tandem noch ein Trailerbike an, so kann ein Elternteil gleich mit zwei Kindern sicher unterwegs sein. Mit einem Kinderanhänger kommen gar drei Kinder mit. Der amerikanische Tandemspezialist Santana bietet Modelle mit bis zu sechs Plätzen an. Die Modelle im Test Auch ein Tandem ist schon längst nicht mehr nur einfach ein Tandem. Es gibt sie in fast allen Modellsparten. Die gefahrenen Zweiplätzer von BMC und Cannondale sind komplette Bikes, mit denen man dank breiten Reifen, kräftigen Scheibenbremsen und steifem Rahmen tüchtig durchs Gelände heizen kann. Auch auf groben Passagen fühlt man sich mit dieser Ausrüstung sicher. Die Federgabeloption des BMC «Baracchi» sorgte im Gelände für noch mehr Fahrspass, das dadurch höher gelegene Tretlager macht das Gefährt auf der Strasse etwas unpraktischer. Beide Modelle bilden auch eine gute Basis für ein Tourentandem, die Befestigungspunkte für Gepäckträger und Schutzbleche sind vorhanden. Nicht das ruppige Gelände, sondern Feld- und Wiesenwege sind das Terrain für das «FollowMe» von Tour de Suisse. Es eignet sich aber ebenfalls sehr gut für Touren, in der kleineren Rahmengrösse besonders auch als Familientaxi. Der günstige Preis des «Follow-Me» wirkt sich vor allem auf die Ausstattung aus. Das gegenüber dem BMC und Cannondale etwas lebendigere Fahrverhalten ist wohl vor allem auf den deutlich schmaleren Lenker zurückzuführen. Mit seinem Tourentandem geht Koga zwei Grundprobleme der Doppelsitzer an: Erstens lässt sich ein «Zweiervelo» nur schwer transportieren, insbesondere mit dem Auto. Also setzt Koga ein Faltgelenk in den Rahmen. Damit kann das Gefährt in der Mitte halbiert werden und passt dann auch auf den Heckgepäckträger eines Autos. Das zweite Problem: Der Stoker sieht die Schlaglöcher nicht. Die Hinterradfederung am Koga-Modell bringt hier spürbaren Komfort und dämpft die überraschenden Schläge. Durch die Federung verliert dieses Tandem allerdings etwas an Steifigkeit, das Fahrverhalten ist aber noch immer gut. Zusammen mit der Koga-typischen Vollausrüstung (drei Ständer für sicheren Stand, Bidonhalter, Pumpe, Multipositionslenker vorne und hinten, ja sogar Handschuhe für saubere Hände beim Falten) versteht sich von selbst, dass es kein Leichtgewicht mehr sein kann. Ob nun Reise-, Renn- oder MTB-Tandem – für jeden Geschmack gibt es den passenden Vierpedaler. Aus dem umfangreichen Tandemsortiment von Santana fuhren wir mit dem «TeamTitanium» ein reinrassiges Rennvelo. Wie der Preis erwarten lässt, ist beim «TeamTitanium» alles vom Feinsten: präzise geschweisster und auf Hochglanz polierter Titanrahmen, Lenker und Gabel aus Carbon, aerodynamische Räder (eine Sonderanfertigung von Shimano) und so weiter. So gab es denn auch beim Fahren nichts daran auszusetzen. Selbst bei hohem Tempo – wonach diese Maschine ja förmlich schreit – fährt dieses Velo ruhig und sicher, zeigt sich aber dennoch angenehm wendig. Die pizzagrosse Scheibenbremse hinten bringt das Rad sicher zum Stehen. Mit dem grossen Sitz für den vorderen Fahrer wirkt das «Pino»-Tandem der deutschen Firma Hase wie eine Kombination aus einem Liege- und einem normalen Velo. Es ist das einzige Modell, das beiden FahrerInnen beste Aussicht bietet. Zudem ist hier die Konversation noch einfacher, da die Köpfe der beiden Fahrer näher beieinander sind. Der grosse vordere Sitz ist sehr bequem und bietet gerade Kindern und Menschen mit einem Handicap viel Sicherheit. Die optionale Kinderkurbel verwandelt den vorderen Sitz mit wenigen Handgriffen zum Kinderplatz. WEBLINKS Technik und Auswahl Um den grossen Belastungen standzuhalten, welche durch die zwei FahrerInnen auf das Tandem einwirken, müssen die Modelle sehr robust kons- www.elterntaxi.de www.tandemclub.ch truiert werden. Trotz der Preisunterschiede zwischen den verschiedenen Fahrrädern sind zwischen den Tandemrahmen bezüglich Fahrverhalten kaum Unterschiede feststellbar. Die deutlichsten Differenzen treten bei der Ausstattung zutage. So vermitteln etwa die Scheibenbremsen ein Plus an Sicherheit. Doch auch mit den Felgenbremsen kann genügend Bremskraft erzeugt werden. Eine dritte Bremse, wie sie beim Koga «TwinTraveller» verbaut ist, dient als Wärmeableiter, damit die Felgen bei langen Talfahrten nicht zu heiss werden. Beim Hinterrad setzen Santana, Cannondale und Koga spezielle Tandemkomponenten ein. Die anderen Hersteller setzen auf robuste Mountainbike- und Freeride-Teile. Damit können sie für die meisten NutzerInnen genügend gute Laufräder bauen, den Preis senken und die Ersatzteilbeschaffung vereinfachen. Für Fahrkomfort sind folgende Optionen interessant: Zu den Tandems sind Freilaufsysteme erhältlich, welche die starre Verbindung der beiden Pedalpaare entkoppeln und es den Fahrern dadurch ermöglichen, sich auch mal etwas auszuruhen. Weil den Stoker die Schläge und Erschütterungen meist ungewarnt ereilen, ist für diesen eine gefederte Sattelstütze fast ein Muss (oder eben Kogas Hinterradfederung). Doch unabhängig davon stellt sich bei sämtlichen gefahrenen Tandems grosse Fahrfreude ein. Die Zweiplätzer bieten sehr viele Einsatzmöglichkeiten – eine individuelle Testfahrt ist also zweifellos angebracht. ■ TANDEMS BMC Cannondale Hase Spezialräder Modell Baracchi Mountain Tandem Pino Preis 4899 Franken 4699 Franken 4860 Franken Gewicht gemessen 19,2 kg 18,7 kg 24,6 kg Rahmengrösse 19/ 17" 21/19" MS LS LM XS XM Universalgrösse Rahmenmaterial Aluminium Aluminium Stahl Radgrösse 26" 26" 26 / 20" Bremsen hydraulische Scheibenbremse Magura Julie Tandem hydraulische Scheibenbremse Magura Louise Tandem hydraulische Scheibenbremse Magura Julie Tandem Schaltung/Ausstattung 27-Gang-Kettenschaltung, Shimano XT / LX, auch ohne Federgabel erhältlich 27-Gang-Kettenschaltung, Sram 9.0 / 7.0 0 27-Gang-Kettenschaltung, Shimano Deore / Sram, Schutzbleche, Ständer, Gepäckträger Importeur/Hersteller BMC Trading AG Cannondale Europe B.V Hase Spezialräder Telefon 032 654 14 54 061 487 94 87 0049 23 09 78 25 82 Homepage www.bmc-racing.com www.cannondale.com www.hasebikes.com Fotos: zVg Marke 38 | 5/2006 velojournal Koga Santana Tour de Suisse Twin Traveller TeamTitanium Follow-Me 6199 Franken 15 910 Franken 2999 Franken 34,4 kg 15,7 kg 17,9 kg 54/50cm S / M / L / XL SM / ML Aluminium Titan Aluminium 28" 28" 26" hydraulische Felgenbremse Magura HS33, zusätzlich ARAI Trommelbremse hinten vorne Felgenbremse Shimano Dura-Ace, hinten hydraulische Scheibenbremse hydraulische Felgenbremse Magura HS33, Scheibenbremse hinten optional 27-Gang-Kettenschaltung, Shimano XT, Schutzbleche, Ständer, Gepäckträger, Licht, Schloss 30-Gang-Kettenschaltung Shimano DuraAce / XTR, diverse Optionen möglich 27-Gang, Shimano XT, diverse Optionen möglich Koga Trading AG Santana Schweiz/Stadelmann Velos + Motos Tour de Suisse Rad AG 044 421 67 55 041 910 41 92 071 686 85 00 www.koga.com www.santanatandem.com www.tds-rad.ch 39 | 5/2006 velojournal