Das Mittelalter Perspektiven mediävistischer Forschung Zeitschrift des Mediävistenverbandes Herausgegeben von Frank Fürbeth im Auftrag des Präsidiums des Mediävistenverbandes Band 1 · 1996 ·Heft 1 Providentia - Fatum - Fortuna Herausgegeben von Joerg 0. Fichte Akademie Verlag \I Das Mittelalterl ( /996) /, S. 91-110 Providentia oder Prognose? Zur Zukunftserwartung im Spätmittelalter WALTERBLANK In Ze ite · politischer oder kultureller Umbrüche erleidet das Selbstbewußtsein der Betroffen en c, eine n Einbruch. Die scheinbar so stabile Ordnung ist ins Rutschen geraten, die Orientierungsmarken sind zweifelhaft geworden, und das Wertesystem verlangt eine neue Begrünrlung. Diese menschliche Grunderfahrung verstärkt sich , wenn die Umbrüche existenzoedrohe nd sind und die Möglichkeit des eigenen Todes unmittelbar vor Augen tritt, so daß die Frage nach dem "Was weiter?" die Alltagsroutine und den stabilen Tagesrhythmus von innen her im Hinblick auf die Zukunftserwartung auf einmal in Frage stell t. Die - anthropologi sche Grunderfahrung des gesamten Spätrrtittelalters verdichtet ich im mer neder an konkreten Vorgängen, wie beispielsweise dem Massensterben durch die 1 Pest: '' m 1326-1400 zählte man 32 Pestjahre, von 1400-1500 41, von 1500-1600 30" oder - ' .f ganz andere Weise - der Infragestellung der scheinbar so selbstverständlichen Erfahn g des Tages- und Jahreszeitrhythmus durch die Gregorianische Kalenderreform von 1532. D ie Folge davon ist eine allgemeine Verunsicherung, die die eigene Unsicherheit auch auf da beobachtete Naturgeschehen projiziert, wie folgende zusammenfassende Beobannmg von Ernst Zinner zur Kalenderumstellung verdeutlicht: "die Bauern [beschwerten sich] , daß nunmehr alle Lostage verkehrt seien; das Obst würde unreif abgenommen; die Heilwurzeln würden nicht mehr rechtzeitig ausgegraben; sogar die Vögel wüßten nicht mehr, wann sie sich paaren und nisten, und wann sie mit ihrem Gesang aufh ören und wegziehen sollten."2 Charakterisiert die letztgenannte Irritation nur die allgemeine U nsicherheitaufgrund der neuen zeitlichen Rahmenbedingungen, so wirkt die Todesbedrohung durch die Pest zentral. Hilflos der Seuche ausgeliefert, sterben ganze Ge nerationen und Landstriche aus. Insgesamt wird die Zahl der Opfer auf etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung Europas geschätzt. 3 Hier wird die Angst vor dem Tode zur religiösen Schlü sselfrage und gleichzeitig zur kollektiv dringlichen Anfrage an die Wi ssenschaft vor allem der Medizin, ob man dagegen prophylaktisch denn nichts tun kann . Dieses Beispie l aus dem 14. Jahrhundert zeigt, wie sich die Angst vor dem persönlic~en Tod mit den Endzeitbedrohungen und der Sorge vor dem allgemeinen Jüng ten Gencht vermischen. Immer schärfer aber wird auch eine Haltung des Aufbäumen dagegen Ema Döring- Hirsch, Tod und Jenseits im Spätmittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des deut chen 2 Bürgertum s. Berlin 1935, S. 8. · d Ern st Zinner, Geschichte und Bibliographie der astronomi schen Literatur in Deutschl and zur Zelt er 3 Renaissance. Stuttgart 2 1964, S. 27. Döring-Hirsch [Anm. l] , S. 8f. 92 W. Blank, Providentia oder Prognose? deutlich sowie das Streben, sich nicht einfach im Vertrauen auf die Güte Zukunft auszuliefern. Man will zunehmend genauer wissen, was uns künfti g wie man dieses Kommende einzuschätzen hat, um sich dementsprechend können. Die Zukunftserwartung wird zum neuen Paradigma, in welchem die liehen Spannungen von Glauben und Wissen ausgetragen werden, wobei die aus dem Rückgriff auf die antike Kosmologie bereitgestellt werden. '""~ttes der rartet und halten zu ~r s prüch- ttel dazu 1. Zukunftserwartung 1.1. Biblische Perspektive Die vom christlichen Glauben vermittelte biblische Perspektive besagt, daß Go d ie Welt und den Menschen geschaffen hat, daß beide aber auf ein von Gott besti m es Ende zulaufen. Diese lineare Vorstellung der Zeit, die final bestimmt ist, steht dem klischen 4 Zeitgedanken in mehrfacher Hinsicht entgegen, was für das Alltagsbewu <;ein des Menschen im Mittelalter mit Konsequenzen verbunden ist: 1. Zeit wird zur entsr · tdenden Qualität, die nicht wiederholbar und auch nicht umkehrbar ist, sondern di '1it dem Richtungspfeil eine Zielvorgabe enthält, die als Aufgabe einzuholen ist Ze1' ·. •ird von einem Anfang her und auf ein Ende hin definiert Die Bewertung der Zeit aber ird vom Ende her vorgenommen, wo der individuelle Tod bzw. das Weltende den Sun, enstrich darstellen, unter dem die unterschiedlich erfahrenen Zeitabschnitte von Go• 1ls dem Richter darüber im "Ergebnis" beurteilt werden. 2. Die es Ende ist angstbesetzt Jr Angst vor dem eigenen Tod kommt der erwartete Urteilsspruch durch Gott im pe jnlichen Gericht, das über die Lebenszeit und die Qualität des Danach entscheidet, übe! tlimmel oder Hölle als Dauerzustand. 3. Analoges gilt für das Ende der Welt, wo das t .rben als kollektives Phänomen im allgemeinen Endgericht, dem "Jüngsten Gericht", ebentall s einer Endabrechnung unterzogen wird. Tod und Weltende sind damit die Doppelspannung, unter der der mittelalterliche Gläubige sein Leben so einzurichten versucht, daß er am Ende zu den "Erwählten" gehört. Die Möglichkeiten der Vorbereitung darauf aber si nd unterschiedlich. W ährend der persönliche Todeseintritt nicht berechenbar ist, vermittelt die Bibel an verschiedenen Stellen durchaus Anhaltspunkte, wie sich jener Paukenschlag des Weltendes vorher ankündigt, so daß man sich konkret darauf einstellen kann. Zentral sind hier vor allem die biblischen Aussagen in der sog. "Kleinen Apokalypse" (Matth. Kap. 24 und Parallelen) mit der Angabe von Vorzeichen sowie im eschatologischen Szenario in den Kapiteln 19-22 4 Hans-Willy Hohn , Zykl izität und Heilsgeschichte. Reli giöse Zeiterfahrung des europäischen Mittelalters. In: RainerZoll (Hg.), Zerstörung und Wiederanei gnung von Zeit. Frankfurta. M. 1988, S. 120-142; Gerhard Schmied, Zyklische Zeit- lineare Zeit. In: Rudolf Wendorff (Hg.), Im Netz der Zeit. Stuttgart 1989, S. 11 8- 127; Jacques Le Goff, Zeitder Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter. In: Claudia Honegger (Hg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge der systematischen Aneignung historischer Prozesse. Frankfurt a. M. 1977, S. 393-414; Aaron J. Gurjewitsch, Was ist die Zeit? In : ders., Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. München 1980, S. 98-187; Arno Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas (Kleine Kulturwi ss. Bibliothek 28). Berlin 1990; hier auch grundsätzliche Erörterung neuerer Forschungsansätze (N. Elias, G. Dux, Th. Nipperdey) mit weiterführender Literatur. Das Mitleialter 1 ( 1996) 1: Providentia- Fatum- Fortuna 93 der Jo" ·"··nes-' Apokalypse'. Diese Einladung zur Spekulation wird seit den frühchristlichen T~.::,cn begierig aufgenommen und ausgebaut, so daß sich eine ganze Gattung sog. eschatc giseher Schriften und Vorstellungen entwickeln konnte. 5 Ge• 1 wir noch einmal zurück zur Angst vor dem Tod. Im Unterschied zu heute gehört die Eri '" nung des Todes im Mittelalter zur Realität in der Familie, wo der Sterbende nicht ausge g··~nzt wird. Jedermann kann und muß sich also auf den Tod vorbereiten und Verha~ ~"nsweisen vorher einüben, so daß ihm der verheißene Übergang leichter fallt. Verhe .-ung aber bedeutet das Versprechen: mit dem Tod ist nicht alles zu Ende, sondern es geil. m Jenseits weiter, nach Möglichkeit im Himmel, dem Ort ewiger Glückseligkeit in der - 1schauung Gottes. In der seit dem 14. Jahrhundert weit verbreiteten Gattung der Sterbe;.:uchlein, der 'Ars bene moriendi', 6 werden in Anlehnung an Johannes Gerson (1 363- 429) daher meist zwei Komplexe von Ermahnungen und Übungen dargestellt: in einen ~ sten Teil die Hilfestellung für den Betreffenden selbst in seiner dankbaren Aner .• ·nung von Gottes Wohltaten, der Unterwerfung unter Gottes Willen, Geduld im Leide·· jer Übernahme des Todes als Buße für die Sünden und der totalen Hingabe an Gott: 1 zweite Teil orientiert sich an den sog. Anselmischen Fragen, die vor allem den "HeJf- -,' Anleitung geben sollen: z. B. die Hinführung des Sterbenden zur Bitte um Vew 'lnng der Sünden mit Ablegung der Beichte, oder der Bereitschaft zur Wiedergutmad, ''.,,von Unrecht. Weitere Teile bieten Gebete und fromme Lektüre an, so daß sich der S. •bende ganz auf die Hingabe an Gottes Willen einläßt. Grundanliegen dieser Schrift...,il und Wegleitungen ist also, ganz auf Gott zu vertrauen, der in seiner vorausschauenden Güte fü r den Einzelnen alles optimal richten wird. Gottes Vorausschau ist hier kein Problem, sondern eher Ansporn zum eigenen, daraufbezogenen richtigen Verhalten, damit Gott sich als der Gütige erweisen kann. Emen anderen Akzent setzt die angstbesetzte Endzeiterwartung. Seit der Jahrtausendwende wurde Adsos berühmte Schrift 'Epistula ad Gerbergarn reginam de ortu et tempore Antichristi' (zwischen 949 und 954) 7 immer wieder ausgeschrieben und mit genauen Daten 5 6 7 Von Bedeutung sind vor allem die beiden Themenkomplexe der "Fünfzehn Vorzeichen" (vgl. Hans Eggers, Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts. In: 2Verfasserlexikon. Bd. 2 [ 1980], Sp. I 013-1 020) sowie des "Antichrist" (vgl. Will-Erich Peuckert, Antichrist. In: Hwb. d. dt. Aberglaubens. Bd. I [ 1927], Sp. 479-502; Hans-Peter Kursawa, Antichristsage, Weltende und Jüngstes Gericht in mittelalterlichen deutschen Dichtungen. Analyse der Endzeiterwartungen bei Frau A va bis zum Parusiegedicht Heinrichs von Neustadt vor dem Horizont mittelalterlicher Apokalyptik. Köln 1976; Wolfgang Frühwald, Symposium Apokalypse und Antichri st in der europäischen Literatur. In: Literaturwiss. Jb. d. Görresgesellschaft 29 [ 1988], S. 219-223). Rainer Rudolf, Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens (Forschungen zur Volkskunde 39). Köln, Graz 1957; Arthur E. Imhof, Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute (Kulturstudien. Bibliothek d. Kulturgeschichte 22). Wien, Köln 199 1; Alois M. Haas, Todesbilder im Mittelalter. Fakten und Hinweise in der deutschen Literatur. Dannstadt 1989; Norbert Ohler, Sterben und Tod im Mittelalter (dtv-sachbuch 30383). München 1990.- Wie groß die Nachfrage nach solcher Hilfestellung war und wie verbreitet diese Schriften waren, ist z. B. auch daran zu sehen, daß ein Kapitel aus Heinrich Seuses ' Büchlein der Ewigen Weisheit' (XXI: Wie man so/ lernen sterben, und wie ein unbereirer tot geschaffen ist) vielfach als separates Sterbebüchlein verbreitet ist (vgl. Heinrich Seuse, Deutsche Schriften. Hrsg. von Kar! Bihlmeyer. Stuttgart 1907 [unveränd. Nachdr. Frankfurt a. M. 1961] , S. 278 Anm.). Ernst Sackur (Hg.), Sibyllinische Texte und Forschungen. Pseudomethodius, Adso und die Tiburtinische Sibylle. Halle a. d. S. 1898, S. 97-113. W. Blank, Providentia oder Prognose? 94 angereichert, wann das Weltende eintreten solle. Eine Zusammen tellun' 0n Endzeit- und Antichristdaten ergibt, 8 daß ab 1200 etwa alle 30 Jahre erneut da Er ehe n des Antichrist und bzw. oder das Weltende prophezeit wurde, zunächst nach Anhalt pw 1 \Oll aus der Bibel (1260: nach Apk. 11 , 3; 12, 6; 1290: nach Dan. 12, 11 ; 1300: nach Dan 14; 1335: nach Dan. 12, 12), später aufgrund von Sonnenfinsternissen, der großen Kt 1 •nktion, Kometenerscheinungen oder anderen kosmologischen Vorgängen, die im 15 d 16. Jahrhundert immer häufiger als endzeitrelevant interpretiert und verbreitet wurdt bis im 16. und 17. Jahrhundert der Höhepunkt dieser Zukunftsangst erreicht i t. Die kn• reten Hinweise auf das Weltende erscheinen dabei neben der kosmologischen Prognosti uneh mend aber auch als Ergebnis einer Motivtypik, die, ursprünglich biblisch begründt.• Immer alltagsrelevantere Vorgänge erlaßt und als Signa deutet, wie etwa Streit in der milie, Unglück im Stall, Hungersnöte, Seuchen oder Elementarkatastrophen. Auf diese ei e verdichtet sich nicht nur die Angst vor dem Ende, sondern auch die Häufigkeit de r· rognost1z1erten Ereignisdaten, wobei überraschenderweise im Bewußt ein der Leute k. um eine Rolle spielt, wenn sich eine solche Prognostik nicht bewahrheitet. 1.2. Kosmologische Perspektive Was sich in dieser zuletzt angesprochenen Verlagerung andeutet, i t ei n ,. ltsame Vermischung von biblischen Vorstellungen mit antik kosmologi schen Gn:. anschauungen. Während die frühchristliche Schöpfungslehre Gott als den Weiterschaft und den Welterhalter ansieht, so daß sich der Mensch selbst in den fein ten Reaktil- n seines Tuns Gottes Macht unmittelbar unterworfen weiß, geht die antike Sicht vom koc, 1ischen Ganzen aus, in dem der Mensch als Mikrokosmos unmittelbar teilhat und einoeb nden ist in den b Makrokosmos. Die kosmischen Vorgänge insgesamt sind 0 systemaf<;~.-h und stringent geordnet, daß kein noch so kleiner Teil dieses Ko mos au dieser Ordnung ausscheren kann. Daher kann die 'Tabula smaragdina' 9 als Axiom dieser Ganzheit formulieren: "wie oben, so unten", das heißt, wie es im gesamten ko mjschen Bereich abläuft, so auch analog dazu in der damit korrespondierenden Dimension des Menschen (= Mikrokosmos). Die Anwendung dieses Axioms zeigt sich vor allem in zwei Bereichen: in der Medizin mit ihrer ~äfte-, Elementen- und der astromedizinischen Lehre, zum anderen in der astronomia mit 1 h_rer astrologischen Typen- und Korrespondenzenlehre. Beide Disziplinen gehen übereinStimmend von der Vorstellung aus, daß der Mensch au denselben Elementen zusammengesetzt ist wie der Kosmos insgesamt, er al o auch den elben Reaktionsweisen wie die Natur unterliegt, und daß andererseits in der kosmischen Weltordnung ein Einfluß- und Korrespondenzensystem funktioniert, in dem die Planeten der oberen, supralunaren Sphäre Wi_U Erich Peuckert, JüngsterTag.ln: Hwb. d. dt. Aberglaubens. Bd. 4 ( 1932), Sp. 859-884, hier Sp. 861-863; I (1927), Sp. 538-549, hier Sp. 547-548; ders., Antichrist. [n: ebd. ßd. I , P· - , er p. 491-493. d(~~~7)ASpoka417y9ps5e0.2Inhi:ebdS. Bd. 9 ~~~:1 d~ einflußreichsten alchimistischen Texte aus der hermeti Kunst~ St:~~dlt~~S·~~~Iberg chen Tradition. - Vgl. Julius F. Ruska, 1926; Kurt Seligmann, Das Weltreich der Magie. 5000 Jahre gehet~;: von der Spätant"k b.' ~9tedermann, TabulaSmaragdi na. ln : ders., Handlexikon der magischen Kun I e IS zum . Jahrhundert. Graz 1968, S. 340. Das Miuela/ter I ( 1996) 1: Providentia- Fatum- Fortuna 95 (Satum, Jup ~r, Mars, Sonne, Venus, Merkur, Mond) die untere, sublunare Sphäre (die Erde und d~ s Menschen) prägend und steuernd beeinflussen. Eine solche Weltvorstelluncr0 hat einen anr f ren Bezugsrahmen als die Bibel, wenngleich sie diesem nicht widersprechen muß. Diese Jnterschied ist schon bei Augustin unter dem Bild der beiden Bücher, dem 10 "Buch der I· "'iligen Schrift" und dem "Buch der Natur", thematisiert worden. Die Verchristlid ..... ng der antiken Naturvorstellung besteht zunächst nur darin, daß Gott als der Schöpfer der Welt selbstverständlich auch Schöpfer der Natur ist, allerdings mit der Zusatzpers)J tive, daß die göttliche Offenbarung nicht nur verbal erfolgt ist, sondern auch als descript divina in der Natur. Aus dieser ist somit die Handschrift Gottes als des Schöpfers t."enfalls ablesbar, indem der Mensch die Gesetzmäßigkeit der naturalia als Chiffre ent 1fem kann, so daß ihm damit Strukturen zugänglich werden, die sowohl die Naturerken nis als Objekterkenntnis erfassen wie auch die menschliche Natur als Selbsterkenntnis i Bereich der naturalia, so daß daraus menschliche Anlagen und deren elementare eaktionen wie deren natürliche Zielrichtung erkennbar werden. In dieser Ausrichtun~ rscheint der Mensch als Teil der Natur und des kosmischen Ganzen somit teilweise er mbar, insofern er den in ihm wirksamen Naturgesetzen unterworfen ist und insoweit a' · ,•uch natürliche Verhaltensweisen bei ihm voraussehbar sind. Damit ist die Weichenst~ , ng vorgenommen, die seit dem 12. Jahrhundert eine Doppelspurigkeit der christlicher· ' eltsicht programmiert. Mit der Verpflichtung des Menschen, beide Bücher lesen zu m ',en (Francis Bacon), ist auch die Frage des Verhältnisses von Glauben und Wissen auf ine neue Basis gestellt. Daher kann Galilei mit der Zwei-Bücher-Theorie die 11 averroistisc' ,. Lehre von der Trennung zwischen Wissen und Glauben bekämpfen, was konsequen terweise aber auch ein verändertes Menschenbild zur Folge hat. 2. Göttliche oder weltliche Vorausschau Der weltanschauliche Umbruch, der sich seit dem 12. Jahrhundert in den Texten als ein Nebeneinander zweier anscheinend widersprüchlicher Meinungen dokumentiert, deutet auf ein Erkenntnisproblem hin, das den Theologen und Naturforschern erhebl iche Schwierigkeiten bereitet. 12 Es stehen die unterschiedlichen Denkansätze einer traditionell biblischen Offenbarungstheologie dem "neuen" aristotelischen Weltbild mit einem kosmologisch-naturgesetzliehen Ansatz gegenüber. Es sind, verbunden damit, die auctoritatesLehren, die inhaltlich immer häufiger als im Widerspruch zur eigenen Empirie stehend aufgewiesen werden, so daß ein neuer Bezugs- und Wertungshorizont gefordert ist. Als Kategorie steht somit auf einmal die Tradition gegen die Logik und die Empirie, mit der die Forderung nach Überprüfbarkeit von Aussagen verknüpft ist. Konsequenterweise 10 Heribert M. Nobis, Buch der Natur. In : Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hgg.), Hi stori sches Wörterbuch der Philosophie. Bd. I. Darmstadt 1971 , S. 957-959. Nobis [Anm. l 0], Sp. 958 mit Literatur. .. 12 Vgl. Walter Blank, Naturanschauung im Mittelalter (Wolfgang Stammler~Gastprofessur, Vortra.ge, Heft 1). Freiburg i. d. Schweiz 1994, S. 17-30, hier s. 18-21 ; ders., 'des geloub 1ch Megenbergrer n1ht - Konrads von Megenberg 'Naturwissenschaft' zwischen Tradition und Empirie. In: Vielfalt des Deutschen. Festschr. f. Werner Besch. Hrsg. von Klaus J. Mattheier u. a. Frankfurt, Berlin, Bern 1993, S. l59- l77. II 96 W. Blank, Providemia oder Prognose? bedeutet das für den Naturbereich die Annahme einer Naturgesetzlichkeit, d1e gisch strukturiert und rational erkennbar ist. Schließlich steht philosophiegescl' Ideenrealismus (deduktive Denkbewegung von oben nach unten) mit dem Nor (induktiver Ansatz von unten nach oben) in einer scheinbar ausweglosen Ko·J . kussion , die im 13. Jahrhundert mit dem lateinischen Averroismus schließlich 1 13 von der "doppelten Wahrbeit" kulminiert, die vom Lehramt 1277 als häreti d wurde. Zusammenfassend heißt das, daß die neue Naturerkenntnis sich aufg Praomatik zunehmend als Wissenschaft etabliert, sie im selben Maß aber in Spar b traditionellen Offenbarungsglauben gerät, der darin eine Entwertung der Po iu und des ihm radikal untergeordneten Menschen sieht. ·usal-lotlich der alismus versdisr Lehre w erfen 1d ihrer ng zum Gottes 2.1. Providentia tzt sieb Bezogen auf unsere Frage nach der göttlichen bzw. der weltlichen Vorausschau damit das Problem auf folgende Aspekte zu: Das traditionell bibeltheologi ehe ld von Gottes providentia begründet dessen Vorauswissen damit, daß Gott nicht nur der 'höpfer Dinge aller Dinge ist, sondern auch einer, der sich allezeit um die von ihm geschaffe und Menschen kümmert. Die Gottesvorstellung darin stützt sich auf die ihm un · teilten Attributionen wie der Allmächtige, der Allwissende, der Allgegenwärtige und r alles Lenkende. Die Sicherheit dieses Systems ruht auf der Absolutheit Gottes un<' 1f dem menschlichen Glauben an ihre ständige Präsenz. Wenn Gott die Welt geschaffe, '1at und er ein Interesse an ihrer Erhaltung hat, ist auch sein Vorauswissen des Kon tenden selbstverständlich. Die Problematik der Providenz bezieht sich allerding weniger auf Gott elb ls auf die menschliche Auswirkung der Gottesvorstellung. Denn spätestens im mens. 1lichen Leiden oder in der Betroffenheit durch den Tod Nahestehender 14 drängen sich Fra~en auf wie: "Warum trifft es gerade mich?", "Ist das gerecht?", "Weshalb straft mich Cott so? Und wofür?". Das heißt, die Frage der Vorausschau Gottes stellt sich für den Menschen fast immer erst in Situationen seiner Auflehnung gegen das Schicksal, gegen Leid, das er als ungerecht empfindet. Hier wird die entscheidendere Seite des pro- (im Begriff der pro-videntia) angesprochen: Es geht dem Betroffenen viel mehr um da Gott unterstellte fürsorgliche Vorausplanen für den Menschen als um Gottes Vorauswissen, was kaum in Frage steht. In solchen Situationen weiß auch die Theologie keine befriedigende Antwort. Sie kann nur auf den unendlichen Unterschied zwischen Gott und Mensch hinweisen, der einerseits Gottes überragende Souveränität betont und andererseits die menschliche Defizienz. Daher sind in den Sterbebüchlein gerade diese Gedanken besonders herausgearbei13 Vertreten bes. durch Siger von Brabant (1235-84); vgl. Herbert Gabel , Doppelte Wahrheit. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 3 ( 1959), Sp. 515-516; Fernand van Steenberghen, A verroismus. In: Lexikon flir Theologie und Kirche. Bd. I (1957) , Sp. 1144- 1146; Ludwig Hödl , Lateinischer Averroismus. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. I (1980), Sp. 1292- 1295. 14 Vgl. das um etwa 1400 geschriebene eindrucksvolle Streitgespräch des 'Ackermanns' mit dem Tod wegen des " Raubes" sei ner Ehefrau: Johannes von Tepl, Der Ackermann aus Böhmen. Hrsg. von Maurice O ' Connell Walshe. London 1982. Das Mittelalter 1 ( 1996) 1: Providentia -Fatum- Fortuna 97 tet, die,- -.llgemeine menschliche Sündhaftigkeit, seine begrenzte Erkenntnis, sein immer •'gnendes Schuldigwerden betonen und welche die daraus nötigen Folgerungen der stä_ ._~cn Bereitschaft zu Buße, Umkehr und erneuter Hinwendung zu Gott bewußt mache . Die menschliche Kreatürlichkeil wird hier beschrieben als ein Zustand der Schwär der allen Anlaß zur Demut bietet, die aber aufgehen kann im unbegrenzten Vertra1' auf Gottes Sorgen und Planen für den betroffenen Menschen. wieder~-~ 2.2. Erkenntnis und Planung Der ge' • geschichtliche Umbruch, der im 12. Jahrhundert beginnt und durch die Aristoteles-F· ption einen mächtigen Schub erhält, setzt in der Schule von Chartres mit einer 16 neuen öpfungs-Exegese ein. Gott wird hier nicht mehr nur als der übermächtige Schör .. , ;esehen, sondern es wird vor allem die Lehre vom Menschen als der imago Dei weiter. vickelt. Dabei werden die beiden Perspektiven reflektiert, einerseits die Analogie 'Gott ensch', andererseits die Siebt vom Menschen als Krone und Haupt der Schöpfung. Der rv'<: och als imagoDeiist danach vor allem dadurch gekennzeichnet, daß er als einzige Spezi.: ier Schöpfung durch die Qualität der intelligentia ausgezeichnet ist, das heißt, daß die g ·~t öe Potenz jene Qualität ist, die den Menschen mit Gott und den Geistwesen verbir -. · und ihn mit jenen in ein Ähnlichkeitsverhältnis setzt. Mit anderen Worten, die .1sfähigkeit des Menschen istjene Qualität, die ihn über die sonstige animalische Erke oder r-;.m materiale Schöpfung erhebt. Sie erlaubt dem Menschen ein Verständnis für Zusarr:nenhänge und Strukturen der Schöpfung, das sich nicht nur auf die Außensicht stützt, sondern ihn gleichsam am Blick in die göttliche Schöpfungswerkstatt teilhaben läßt. Diese Innenschau wird von Bonaventura daher zu Recht als intuitus intellectus beschrieben, als jene Erkenntnis, die auf einer ganzheitlichen Wahrnehmung der Dinge beruht. Unschwer ist hierin der neuplatonische Zugriff auf die Welt erkennbar, der sich etwa bei Pseudo-Dionysius Areopagita 17 als Teilhabe am Göttlichen versteht. Die andere theologische Perspektive geht aus von der paulinischen "Kephalaiosis"Lehre im Kolosserbrief (Kap. 1, 14-23), 18 nach der der menschgewordene Sohn Gottes als "der Erstgeborene vor aller Schöpfung" (1, 15) seine vorweltliche Existenz im Typus des 15 Vgl. z. B. Thomas Peuntners ' Kunst des heilsamen Sterbens'. Nach den Handschriften der Österr. Nationalbibliothek untersucht und hrsg. von Rainer Rudolf (Texte des späten MAs 2). Berlin 1956, S. 29, 45-35, l. 16 Marie-Dominique Chenu, La theologie au douzieme siecle cEtudes de Philosophie Medievale 45). Patis 2 1966, bes. S. 19-51; Richard William Southem, Humanism and the School ofChartres. ln: ders., Medieval Humanism and other Studies. Oxford 1970, S. 61-85; ders., The Schools ofParis and the School ofChartres. In: Robert L. Benson u. Giles Constable (Hgg.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. Oxford 1982, S. 113-137; Wolfram von den Steinen, Natur und Geist im zwölften Jahrhundert. Die Welt als Geschichte 14 (1954), S. 71 -90; Tullio Gregory, La nouvelle idee de nature et de savoir scientifique au Xlle siecle. In: John E. Murdoch u. Edith D. Sylla (Hgg.), The Cultural Context of Medieval Learning. Proceedings ofthe First International Colloquium on Philosophy, Science and Theology in the Middle Ages. Sept. 1973 (Boston Studies in the Philosophy of Science 26). Dordrecht, Boston 1975, S. 193-218. 17 Adolf Martin Ritter u. Helmut Meinhardt, Dionysius Are(i)opagites. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 3 ( 1986), Sp. I 079-1087. 18 Nikolaus Kehl, Der Christusmythus im Kolosserbrief (zu Kol. I, 12-20). Stuttgart 1967. 98 W. Blank, Providentia oder Prognose ? Adam abbildet, indem Gott alles Geschaffene vor Adam hinstellt und ihn jedem einzelnen Ding einen Namen geben läßt (Genesis 2, 19f.) und er den Menschen als Haupt der Schöpfung einsetzt. Mit der richtigen Erkenntnis der Schöpfung und dem vorsündlichen verantworteten richtigen Umgang mit den Dingen aber ist auch die Macht verbunden, über diese Schöpfung zu verfügen. Das ist die ursprüngliche Funktion jenes Satzes: "Macht euch die Erde untertan" (Gen. 1, 28). Mit dieser Akzentuierung aber ist der Mensch in eine andere Vergleichsebene zu Gott gestellt. So wie Gott seine Schöpfung geordnet und "gut" gemacht hat, spiegelt sich in dieser Schöpfung seine Weisheit. Mit der Schönheit der Welt aber - der aus der Antike bekannten kosmos- Vorstellung - ist nicht nur eine ästhetische Dimension angesprochen , sondern, wie sich an der Benennung der Dinge durch Adam zeigt, auch die rationale Struktur dieser Schöpfung. Das führt in der Schule von Chartres dazu, daß die Schöpfung in ihrer Gesetzmäßigkeit betont wird, wobei der Schöpfer genau diese Naturgesetzlichkeit als verläßliche Basis ihres Funktionierens angelegt hat. Daran hängt deren Erkenntnismöglichkeit, die sich als universaler Ordnungs- und Erkenntnisfaktor erweist. Daher kann Bernardus Silvestris in seinem Werk 'Cosmographia' 19 (verfaßt zwischen 1145 und 1148) die Erschaffung des Menschen als kosmologischen Schöpfungs20 vorgang beschreiben, in dem der Mensch bis ins einzelne durch makrokosmische Kräfte mitgeprägt ist. Hier wird die antike Makro-/Mikrokosmos-Korrespondenz, mythologisch erzählt, an astrologischen Grundanschauungen ausgerichtet, so daß die Planetenkräfte zugleich menschliche Potenzen und Strebungen kennzeichnen, die in der Konsequenz die Vitaldimension des Menschen erkennbar, weil astrologisch berechenbar, macht. Doch ist mit der Zuwendung zur kosmischen Naturlehre in der Schule von Chartres nicht eine Abwendung von der christlichen Schöpfungslehre intendiert, sondern umgekehrt wird der Versuch zu einer Synthese von biblischem Schöpfungsglauben und Erkenntnis der Naturgesetzlichkeit unternommen. Dabei ist der entscheidend veränderte Ansatz der, daß der Mensch als Teil der Schöpfung im gesamten materialen und vitalen Bereich mit ihr identisch ist, so daß sich damit auch das Verhältnis des Menschen zur Natur verändert. Zentral ergibt sich hier zum ersten Mal, in die christliche Schöpfungsexegese integriert, 19 Ed. with lntroduction and Notes by Peter Dronke (Textus minores 53). Leiden 1978. - Übersetzung: Bemardus Silvestris, Über die allumfassende Einheit der Welt. Makrokosmos und Mikrokosmos. Übers. u. eingeleitet v. Wilhelm Rath (Aus der Schule von Chartres Bd.l). Stuttgart o. J. 20 Inhalt: Bei der Erschaffung des Menschen behält sich Noys, die göttliche Intell igenz, die Erschaffung der Seele selbst vor. Jedoch bitte sie Natura, ihr in allem anderen behilflich zu sein. So eilt Natura zusammen mitUraniadurch alle Sphären der Planeten, wobei die Seelejeweils die planetarische Prägung (von Satum bis zum Mond) erhält, bis auf der Erde Physis mit ihren beiden Töchtern Theorica und Practica die materiale Gestaltung des Menschen vollendet. Dort vereinen sich die Schöpfermächte zum gemei nsamen Werk, um in der gestaltgebenden Zusammenfügung von Seele und Leib eine Nachgestaltung derhimmlischen Ordnung vorzunehmen. Vgl. dazu: Etienne Gilson, La cosmogonie de Bemardu s Silvestri s. Archives d'histoire doctrinaleet litteraire du Moyen Age 3 ( 1928), S . 5-24; Theodore Silverstein, The Fabulous Cosmogony of Bemardus Silvestris. Modem Philology 46 ( 1948/49), S. 92-116; Jean Jolivet, Les principes feminins dans Ia 'Cosmographia' de Bemard Silvestre. In: Christian Wenin (Hg.), L' homme et son univers au Moyen Age. Actes du 7ieme congres international de philosophie mectievale 1982. Bd. I. Louvain Ia Neuve 1986, S. 296-305, sowie die Einleitungen der Texteditionen von Peter Dronke [Anm. 19] und Winthrop Wetherbee (New York, London 1973). Das Mittelalter 1 ( 1996) I: Providentia- Fatum- Fortuna 99 die Schlußfolgerung, daß die Natur eine von Gott gesetzmäßig geordnete Natur ist, aus der der denkende Mensch logische Folgerungen im Sinn einer Naturerkenntnis ableiten kann . Diese Konsequenz verändert allerdings in doppelter Hinsicht das bisherige Weltbild. Zum einen tritt der allmächtige Schöpfer hinter den weisen Schöpfer zurück, der die Welt sinnvoll geordnet und strukturiert hat und nicht ohne einen zwingenden Grund in deren Ablauf eingreift. Auf diese Weise aber wird die Natur zum zweiten Buch der Offenbarung Gottes, zum "Buch der Natur", 21 so daß die Natur damit aufgewertet wird und teilhat an der Offenbarung Gottes. Zum anderen wird die Natur für den Menschen wenigstens teilweise berechenbar und damit der menschlichen Planung mit unterworfen. Das wiederum hat die Konsequenz, daß die Natur nun zunehmend ins Forschungsinteresse des Menschen rückt und deren Betrachtung als "Objekt", als ein dem Menschen Entgegengesetztes, neue Akzente setzt. Für das Verhalten des Menschen aber bedeutet das, daß er nicht mehr einfach tiefgläu big alles dem sorgenden Gott überläßt, sondern daß er selbst in seiner Erkenntnis zur Aktivität aufgerufen ist. Er soll und will das, was in seinen eigenen Möglichkeiten steht, mit steuern , d. h. vorausplanen und lenken- natürlich im Vertrauen auf Gott und in der Hoffnung auf die eigene zutreffende Erkenntnis der Naturgesetze. Die Veränderung, die hier mit dem Namen Bernardus Silvestris geistesgeschichtlich nur punktuell als Ausgangspunkt einer Entwicklungslinie angedeutet wurde, ließe sich in unterschiedlicher Akzentuierung mit den Namen Alanus ab Insulis, Peter Abaelard, Robert 22 Grosseteste, Roger Bacon oder Albertus Magnos weiterführen. Ich verzichte hier darauf, um anband von deutschen Textbeispielen seit dem 13. Jahrhundert auf die vielleicht neuralgischste Frage einzugehen , die einer menschlichen Planung entgegenzustehen scheint und die auch für breitere Wissenschaftskreise von Bedeutung war: die Kontroverse um Determinismus kontra Willensfreiheit. 3. Determinismus 3.1. Determinismus oder Willensfreiheit Der Streitpunkt, um den es hier geht, ist nicht die theologische Frage der Prädestination 23 des Men schen zum ewigen Glück oder zur Höllenstrafe, sondern die Kontroversdiskussion um den Astraldeterminismus. Schon die alte Kirche hat den simplen "Glauben an die Sterne" und deren Einfluß auf den Menschen abgelehnt, weil die christliche Erlösungslehre die Freiheit des Menschen voraussetzt, nach eigener freier Entscheidung sündigen zu können, d. h. sich auch gegen Gott entscheiden zu können oder nicht. Die Aufhebung der 21 Siehe oben S. 95 und Nobis [Anm . LO]. 22 Als Beispiel dafür wäre hi er die großangelegte Untersuchung von Christoph Huber zu nennen (Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insuli s in mittelhochdeutschen Dichtungen. [ ... ] [MTU 89]. München 1988) . 23 Ludwig Hödl u. Matthias Laarmann, Prädestination/Repro bation. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7 ( 1994), Sp. 142- 145; Ludwig Höd l, Determinismus. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 3 ( 1986), Sp. 736-737; Kar! Rahner, Vorsehung. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. I0 ( 1965), Sp. 887-889; Joachim Konrad, Vorsehung. In: Kurt Galling (Hg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd . 6. Tübingen 1962, Sp. 1496- 1499. 100 W. Blank, Providentia oder Prognose ? Sünde und ihrer Folgen aber ist nur durch einen unmittelbaren Eingriff Gottes in den Schuld-Nexus möglich, was sich in der Menschwerdung Gottes und seinem Erlösungstod für den sündigen Menschen vollzieht. An dieser Schlüsselste11e der christlichen Glaubensund Erlö ungslehre sind zwei Zentralpunkte gegen eine deterministische Beeinflussung des Menschen durch die Sterne festgeschrieben: 1. der Mensch hat einen freien Willen, so daß er für seine Entscheidungen verantwortlieb ist, 2. Einflüsse aus dem Kosmos können diesen freien Willen nicht aufheben oder nicht so weit beeinträchtigen, daß seine Entschei4 dungen vorgeprägt oder durch irgend welche Kräfte gesteuert wären? Diese klare kirchliche Position gerät mit dem Entstehen der älteren Scholastik (im 11. Jb.) erneut in die Diskussion durch die neue Gewichtung der Rationalität gegenüber dem Glauben. Daher begründet Anselm von Canterbury in seinem wegweisenden Dialog-Traktat 'Cur Deus homo' (zwischen 1094 und 1098)25 die Erlösungslehre neu durch den Versuch, vom Glauben her durch die Vernunft zur Einsiebt zu gelangen (Credo ut intelligam). Diese Methode wird im Verlauf der Aristoteles-Rezeption konsequent ausgebaut, so daß die intendierte Integration der heidnisch-antiken Kosmologie in die christliche Schöpfungs-und Erlösungslehre mit den Antworten in den theologischen Summen eines Thomas von Aquin (t 1274) als vorläufiger Abschluß und neuer Ausgangspunkt gesehen werden kann. Seine Antwort differenziert die Frage nach Art und Umfang des Einflusses der Gestirne auf den Menschen dahingehend, daß Thomas grundsätzlich einen Prägeeinfluß durch die Himmelskörper bejaht, insofern er die menschlich-physi ehe und intellektive Wesenheit betreffe. Der Wille des Menschen jedoch sei in seiner freien Wahl unbeeinträchtigt. Andererseits aber ist nach Thomas unbestreitbar, daß eine Mehrzahl der Menschen unkontrolliert nur den Strebungen der Affekte folge, welche der Einwirkung der Himmelskörper unterliegen. Daher könnten die Astrologen in vielen Fällen durchaus zutreffende Prognosen für Menschen aufstellen. Den natürlichen Strebungen widerstehe allerdings der Weise, wozu er kraft seines freien Willens auch in der Lage sei. 26 Das bedeutet nach Thomas: Je geistiger und höherstehend ein Mensch sei und je mehr er seine Entscheidungen willentlich kontrolliere, um so weniger sei er den natürlichen kosmischen Prägungen unterworfen. Da aber die Mehrzahl der Menschen den eigenen Trieben blind folge, sei in diesen Fällen auch eine astrologische Vorhersehbarkeit gegeben. 24 Ygl. Tullio Gregory, Temps astrologique et temps chretien.ln: Le temps chretien de Ia finde l'antiquite au moyen äge Uie-XIlle siecles. Paris 9-12 mars 1981 (Colloques internationaux du Centre national de Ia recherche cientifique 604). Paris 1984, S. 557-573; John D. North, Astrology and the Fortunes ofChurches. Centaurus 24 {1980), S. 181-211 ; Max L. W. Laistner, The Western Church and Astrology during the Early Middle Ages. Harvard Theological Review 34 ( 1941 ), S. 251-275. 25 Anselm von Canterbur1, Cur Deus homo I Warum Gott Mensch geworden. Lat.-Dt. Hrsg. von Franciscus S. Schmitt. Darmstadt 1970. 26 Thomas von Aquin, Summa theologica. I q. 115 art. 4 (bes. ad 1-3).- Zum Kontextder theologisch geführten Kontroversd iskussion siehe Gerhard Yoss, Astrologie- christlich. Regensburg 1980, bes. S. 22-27; Wilhelm 2 Knappich, Geschichte der Astrologie. Frankfurt a. M. 1988, bes. Kap. 4, 6 und 7; sowie spezieller: Eismarie Anrich, Groß Göttlich Ordnung. Thomas von Aquin - Paracelsus - Nova1is und die Astrologie. Tübingen 1951 ; Herrnenegi1d Braun, Der heilige Thomas und der gestirnte Himmel oder: Die Stellung des hl. Thomas von Aquin zu den astrophysikalischen Doktrinen seiner Zeit. Angelicum 17 ( 1940), S. 32-76; Philipp Schmidt, Die Stellung des hl. Thomas zur Astrologie. Stimmen der Zeit 156 (1954/55), S. 65-69. Das Mietefalt er 1 ( 1996) 1: Providentia- Fatum- Fortuna 101 Diese Diskussionen spiegeln sich in bislang ungewohnter Breitenwirkung erstmals auch in der volkssprachlichen Lehrdichtung seit dem 13. Jahrhundert wider. 27 Da der Diskussionshorizont der Spruchdichtung sich aber nicht im Raum theologischer Fachwissenschaft vollzieht, sondern von Laien formuliert und auch für ein Laienpublikum vorgetragen wird , ist es sinnvoll, diesen neu promulgierten Wissenshorizont auch von den volkssprachlichen Zeugnissen her ein wenig genauer zu erschließen. Als Ausgangspunkt unserer Betrachtung stellt der Spruchdichter Reinmar von Zweter (um 1240) die angesprochene Unterscheidung von Vorauswissen Gottes und Prädestination deutlich heraus: "Wohin die Menschen auch eingeordnet sind, ob zum Himmel oder zu den Höllenkindem, Gott wußte das vor aller Zeit. Deshalb soll aber niemand sagen: wenn ich zur Rettung bestimmt bin, werde ich gerettet, wenn aber zum Fall, dann hilft mir auch mein ganzes richtiges Verhalten überhaupt nichts. [.. .] Das Vorauswissen Gottes nötigt uns nicht eine Haaresbreite, wenn wir uns nicht selbst durch Nachlässigkeit in Nachteil bringen".28 Dennoch begegnen daneben seit der Antike tradierte Aussagen wie die in dem fiktiven Streitgespräch des sterngläubigen Faustinian mit den Jüngern des Apostels Petrus in der Kaiserchronik (Mitte 12. Jh .), aus denen eine strenge astrologische Determination zu sprechen scheint: "In dem Augenblick, in dem der Mensch geboren wird, prägt ihn notwendigerweise dessen Qualität, so daß er sich sein Leben lang danach 29 verhalten muß". Was hier der Heide als stellare Determination interpretiert, die Prägung durch die Geburtsstunde, 30 wird seit den Kirchenvätern als astraler Fatalismus zurückgewiesen, und daher wird vor der Astrologie gewarnt. In diesem Spannungsfeld zweier einander grundsätzlich entgegenstehender Meinungen formuliert der Volksprediger Berthold von Regensburg (t 1272) in seiner Predigt über die sieben Planeten aber ganz mit Thomas von Aquin übereinstimmend, daß trotz der großen Kraft, die die Sterne ausüben, diese "dennoch keine Kraft über den freien Willen haben". 31In der Einleitung dieser Predigt 27 28 29 30 3I Ei nschlägige Materialsamm lungen aus deutschen Texten des Mittelalters bei: Karl-Georg Bauer, Sternkunde und Sterndeutung der Deutschen im 9.-14. Jahrhundert unter Ausschluß der reinen Fachwissenschaft (Germ. Studien 186). Berlin 1937; Heinz Arthur Strauß, Der astrologische Gedanke in der deutschen Vergangenheit. München, Berlin 1926; Johannes Kibelka, Sternenglaube und Willensfreiheit in der deutschen Dichtung des Hochmittelalters. Wirkendes Wort 15 ( 1965), S. 85-98. "[... ] diu gotes vorgewizzenheit I diun solte uns niht hiires breit,/ un.t ist daz wir uns selbenniht versumen.": Die Gedichte Reinmars von Zweter. Hrsg. von Gustav Roethe. Leipzig 1887 (Nachdr. Amsterdam 1967), Spruch 87. "in swelher wfle der menniske wirt geborn,l diu muoz iemer uber in komen,l er muoz iemer dinne bern.l alsolange er scolleben." : Die Kaiserchronik eines Regensburger Gei stlichen. Hrsg. von Edward Sehröder (MGH, Dt. Chroniken I, l). Hannover 1892 (Neudr. Dublin, Zürich 1964), V. 3171 -3 174. Der hi er gebrauchte Begriff diu wfle = "der Zeitpunkt", aber auch di e aus dem Germanischen stammende Begriffsbildung diu wflscelde ="das (unbeeinflußbare) Schicksal".- Zur Einführung in die Astrologie: Franz Boll, Carl Bezold u. Wilhelm Gundel , Sternglaube und Sterndeutung. Die Geschichte und das Wesen der Astrologie. Mit einem bibliograph. Anhang von Hans G. Gundel. Darmstadt 7 1977; mit knapper historischer Skizze: John D. North u. Hermann Grei ve, Astrologie. In : Lexikon des Mittelalters. Bd. I (1980) , Sp. 1135-1145. unde haben/ sie doch keine kraft über die willekür: Benhold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten . Hrsg. von Franz Pfeiffer. Bd. I. Wien 1862, S. 48-64, hier S. 51 , 16; fast wörtlich auch 50, 16, 19f., 30f.; 51 , 3 f. 102 W. Blank, Providentia oder Prognose? kommt allerdings auch jener neue Stellenwert der Sterne zur Sprache, der in der Folgezeit immer nachdrücklicher betont wird: Genauso wie Gott die ganze Natur als Zeichen geschaffen hat, aus der der Gläubige lernen kann und soll, gilt das auch für die Planeten. "Es stehen sieben Sterne am Himmel. Aus ihnen sollt ihr lesen und 'Tugend' lernen", d. 32 h. richtiges, in ein Ganzes eingeordnetes Verhalten. Denn Gott habe die Sterne geschaffen zum Nutzen des Leibes wie der Seele. Bertholds Argumentation hebt im folgenden immer wieder auf zwei Aspekte ab: 1. die Sterne haben große Kraft über alle Dinge (50, 5f., 8f. u. 28ff.; 51, 1ff.) und können dem Menschen somit auch helfen , wenn er diese Kräfte kennt; 2. ausgenommen von dieser Wirkmacht der Sterne ist nur der freie Wille. Konsequent werden daher im zweiten Predigtteil die sieben Planetenkräfte einzeln auf sieben vorbildhafte kosmische Verhaltensweisen für den Menschen gedeutet (z. B. der Mond als Demut, Mars als Stärke des Geistes), so daß die kosmische und christliche Lebens-und Wirkordnung nicht als Gegensätze erscheinen, sondern als ein ganzheitliches Lebensmuster. Hier dient die Moraldidaxe als lehrhafter Zugang zur Schöpfungserkenntnis und zur demütigen Unterwerfung unter Gottes Willen, der sich in der Ars astronomia studieren und in der astrologia konkret umsetzen und anwenden läßt. So wird in einem Spruchton Regenbogens (Anfang 14. Jh.) im Rahmen der septem artes die Astronomie folgendermaßen gepriesen: "Astronomie, die so angenehme, lehrt, lauter und großzügig zu sein und arrogantes Verhalten zu meiden. [... ] Sie vermittelt Zucht, Zuverlässigkeit und auch Zurückhaltung aufgrund rechter Einsicht. Wohl dem, der seinen Verstand ganz auf die sieben Künste richtet". 33 Astrologie bedeutet hier also primär die moralische Aufforderung an den Menschen, jene Ordnung, die Gott im Kosmos geschaffen hat und die der Mensch in seinem Studium der Natur erkennen kann, als Vorbild für seine Ein- und Unterordnung in Gottes Schöpfungswillen zu nehmen und in sein eigenes Verhalten umzusetzen. Die Frage der Determination wird hier zwar in traditioneller Form erwähnt und in Erinnerung gerufen, aber sie tritt gegenüber der kosmischen Weltordnungsidee und dem globalen "moralisch"kosmischen Vergleichsmuster weitgehend in den Hintergrund. 3.2. Astrologie als Moraldidaxe Dieser scheinbar unmotivierte Umschlag von der kirchlichen Gegnerschaft gegen die Astrologie zu ihrer Einschätzung als einem geistlichen Erkenntnismittel der göttlichen Schöpfungsordnung vollzieht sich langsam in Jahrhunderten in der philosophisch-theolo32 Berthold von Regensburg [Anm. 31], S. 50, I ff. 33 Astronomia diu vil sueze leret I reine m.ilt wesen, (miden) unbescheidenheit. [.. . ] si bringet zuht, triuwe, da bi bescheidenheit: I wol im, der sinen sin vif gar an siben künste keret: Regenbogen, In: Friedrich Heinrich v. d. Hagen, Minnesinger. Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts (Teill -4). Leipzig 1838 (Neudr. I 963). Bd. Il, S. 309, Spruch 2 (aus dem Dreierbar der ' Briefweise'). Zur Datierung: Frieder 2 Schanze, Regenbogen. In: Verfasserlexikon. Bd. 7 (1989), Sp. 1077- J087. Die Tradition mit dem Preis der Artes geht in der Meistersangüberlieferung in breitem Umfang weiter, wobei die Astronomie, oft unter Regenbogens Namen, immer wieder als Bannerträgeri n der Künste sowie als Heils-, weil Erkenntnisverrnittlerin angesprochen wird (z. B. v. d. Hagen, Bd. ill, 468 I, Str.7; und Durward S. Poynter, The Poetics of the Early Meistersängeras Reflected in the Kolmarer Handschrift. Diss. [masch.] Los Angeles 1965, S. 253-319, hier bes. S. 302-303 [in Regenbogens 'Langem Ton ' ]). Das Mittelalter 1 (1996) 1: Providentia- Fatum- Fortuna 103 giseben Kontroversdiskussion im lateinischen Schrifttum. Daher sind die einzelnen Argumentationsschritte in volkssprachlichen deutschen Zeugnissen nicht unmittelbar zu verfolgen, sondern nur als Rezeptionsergebnis vorangegangener wissenschaftlicher Umwertungen zu konstatieren. Dennoch wird dabei deutlich, daß die Umwertung in zwei Schritten vor sich geht. Der erste Schritt ist das am Beispiel Bertholds deutliche Verfahren der Moraldidaxe. Gottes Schöpfung als Kosmos wird als vorbildlich hingestellt, da an ihm die Ungebrochenheil von Gottes Weltordnung als sein Heilswille für den Menschen übertragbar wird. Beachtlich dabei ist, daß der supralunare Bereich, dessen Planeten die Erde, den Menschen, die Tiere, Pflanzen und die Elemente beeinflussen, durch den Sündenfall des Menschen nicht geschwächt oder gar verkehrt wurde, sondern daß diese unverändert Gottes Schöpfungswillen umsetzen und so auch dem gefallenen Menschen als Heilszeichen dienen. Diese Sicht liegt schon Gottfrieds 'Tristan' (um 1200) in der Unterweisung Isoldes zugrunde, die der Erzähler moraliteit (Lehre vom richtigen Verhalten) nennt (V. 8008). 34 Die für den heutigen Leser naheliegende Frage, was der an dieser Stelle gemeinte Musikunterricht lsoldes bei Tristan mit Moralkategorien zu tun hat, läßt sich nur aus dem mittelalterlich-kosmologischen Verständnis der musica theorica beantworten: "Die Sittenlehre, diese angenehme Wissenschaft, ist beglückend und läuternd. Sie befindet sich in 35 Übereinstimmung mit der Welt und mit Gott" (V. 8012-8015). Musik bewirkt deshalb charakterliche und seelische Harmonie, weil die Harmonie der Musik ein Nachvollzug der kosmischen Gesetze der Sphärenmusik ist. Aus der Kenntnis und dem praktischen Nachvollzug dieser Gesetze resultiert die fast magische Wirkung von Isoldes Musizieren auf ihre Hörer, so daß mit dem Wort von ihrem zouber (V. 8132) sowohl die Faszination, aber auch die Macht des Mißbrauchs angesprochen ist. Insofern hat Musik als Anwendung kosmischer Klanggesetze auch hier mit richtigem menschlichem Verhalten, mit "Moral" zu tun, was Boethius in seinem Musiktraktat als consonantia (=Wiedergabe des griech. 36 Begriffs harmonia) bezeichnet. Insofern ist das Studium der kosmischen Naturgesetze also nicht etwa ein unerlaubtes Eindringen in den Bereich der schwarzen Künste, sondern im Gegenteil Erkenntnis der Schöpfung Gottes und Ansporn zu deren moralisch verantworteter Handhabung. 3.3. Astrologie als Naturerkenntnis Der entscheidendere zweite Schritt der Umwertung der Astrologie folgt aber, vermittelt durch die arabische Medizin und die ebenfalls arabisch initiierte genauere Bahnberechnung 37 der Planeten, aus dem Studium der Gesetzmäßigkeilen der Natur im einzelnen. Beide 34 Gottfried von Straßburg, Tristan. Hrsg. von Kar! Marold. 3. Abdruck bes. von Wemer Schröder. Berlin 1969. 35 moriiliteit daz süeze lesen I deist scelic unde reine. I ir Lere hat gemeine I mit der werlde und mit gote. 36 Den ganzen Kontext der Stelle interpretiert, in den weltanschaulichen Hintergrund eingeordnet, Williarn T. H. Jackson, Der Künstler Tristan in Gottfrieds Dichtung. In: Alois Wolf (Hg.), Gottfried von Straßburg (Wege der Forschung 320). Darmstadt 1973, S. 280-304, bes. S. 289-300. 37 Der hervorragendste Beitrag der toledanischen Astrologie waren die sog. Alfonsinischen Tafeln, die in den Jahren 1263-72 auf Befehl von König Alfons X. von Kastilien (mit dem Beinamen "Astrologus") zusarn- 104 W. Blank, Providentia oder Prognose ? Bereiche hängen an der genauen Beobachtung der makrokosmischen Kontextbestimmung für den Mikrokosmos Mensch, da sich aus der Kenntnis der stellaren Umlaufbahnen nicht nur allgemeine Einflüsse der Sonne oder des Mondes auf die menschliche Gesundheit oder die Pflanzen des Gartens ableiten lassen, sondern auch deren genaue zeitliche Festlegung für den Einzelnen. Die Ereignisse werden damit auf eine lineare Achse plaziert und stehen so in einer nicht umkehrbaren Erstreckungsdimension. Die Zukunft wird damit final ausgerichtet, wodurch sie sowohl den geschlossenen Wiederholungszyklus der Jahreszeiten wie auch der liturgischen Symbolzeit der Kirche sprengt. Einzelne Vorgänge werden so als Daten terrninierbar und prognostisch planbar. Mit diesem Ansatz durchbricht der Mensch die totale Abhängigkeitserfahrung von einer übermächtigen Natur, indem er deren Vorgänge als nicht willkürliche, sondern als gesetzmäßige erkennt und er damit ein Erkenntnismittel in die Hand bekommt, das ihn durch geplante Maßnahmen bezüglich des vorausberechneten Ereignisses aus seiner Hilflosigkeit befreien kann. Die Spannung, in die der Naturforscher dadurch gerät, wird ihm zunächst nicht als religiöses Problem bewußt, sondern vor allem als eine Aufgabe, die er als denkender Mensch zu bewältigen hat. In einer Praktik des Bemhard Behaim (15. Jh.) schreibt dieser sehr pointiert, es passiere in der Welt oft, daß das Böse, entgegen der gültigen Ordnung, über das Richtige siege, der Ungläubige über den Gläubigen. "Die Toren schieben dies dann auf den Zufall und das Glück". Solche Erfahrung aber könne man in der "bewährten, lobenswerten und natürlichen Kunst der Astronomie" machen, daß Gott von Ewigkeit her den Himmel, die Sterne und die Planeten erschaffen habe, um seine Allmacht zu erweisen, und daß er uns diese Erkenntnis zugleich zu einem peyzaichen (= einem "zusätzlichen Hinweis") gegeben habe, daß sich die menschliche Natur danach richten und sich daran halten möge, sich von den bösen, schädlichen Neigungen des Gestirns ab- und dem Guten zuzuwenden. Denn der Allmächtige wolle mit der Bestrafung der Bösen seine Gerechtigkeit aufweisen. "Daher kommt es einem Weisen wohl zu, den Einfluß des Gestirns zu erforschen, um daraus seinen Nutzen zu ziehen und auch sein Glück daraus abzuleiten". Und als Beleg dafür zitiert er des Ptolemäus Satz, daß ein Astrologe viel Schaden verhindem könne, der den Menschen aufgrund der Sterneneinflüsse betreffen sollte; denn (bei rechtzeitiger Erkenntnis) könne er die Men schen warnen, so daß sie sich den üblen Einwirkungen entziehen könnten .38 Die Widersprüchlichkeit von Erkenntnis und Praxis wird aber schon in diesem Zitat selbst deutlich. Wenn Gott die stellaren Einflüsse dazu benutzt, die Bösen zu bestrafen, dann deutet dies auf eine zumindest tendenzielle Unausweichlichkeit des Naturwirkens hin, also auf eine Art Fatalismus, auch wenn dieser durch Gottes Naturgesetze begründet wird. Andererseits aber soll es eine zentrale Aufgabe des Menschen sein, seinen Verstand zu benutzen, um aus der Berechnung und Beobachtung der Himmelsbewegungen Gottes überragende Schöpferqualität zu erkennen. Doch wenn daraus auch der eigene menschliche Handlungsspielraum zu erweitern ist, indem sich der Kundige vor dem kausal angelegten Unglück bewahren kann, stellt sich die alte Kontromengestellt wurden und die danach in ganzEuropaverbreitet und bis ins 16. Jahrhundert für die astrologischen Berechnungen benutzt wurden.- Vgl. Knappich [Anm.26], S. 164-165; North [Anm. 30], Sp. 1140. 38 Das lange Originalzitat bei: Hans Unterreitmeier, Deutsche Astronomie/Astrologie im Spätmittelalter. Archiv für Kulturgeschichte 65 ( 1983), S. 21-41, hier S. 38-39. Das Mittelalter 1 (1996) 1: Providentia- Fatum- Fortuna 105 versfrage nach dem Verhältnis von Gottes Weltlenkung, astraler Determination und menschlicher Ausweichmöglichkeit wiederum neu. Denn wenn natürliche Vorausbestimmung als rationale "Vor-Sicht" steuerbar wird, heißt das in letzter Konsequenz nichts anderes als die Ermöglichung einer Form von Manipulation der Natur. Daher wundert es nicht, daß die beiden Theologen Luther und Melanchthon, was die Bewertung der Astrologie angeht, gegensätzlicher Meinung bleiben. Luther sieht in den Sternenbewegungen kosmologische Ereignisse, die die Allmacht Gottes offenbaren. Diese aber sei unberechenbar. Im Unterschied dazu sieht Melanchthon in der Astrologie die auf den Menschen bezogene Auslegung jener göttlichen Schöpfung als eine intellektuelle Schutzmaßnahme gegen das irdische Fatum. 39 3.4. Kausalität und Prognostik Die Problematik, die hier deutlich wird, bezieht sich vor allem auf zwei Punkte: 1. Theologisch geht es um die ungeklärte Streitfrage, wie Gott die Welt lenkt, ob durch direkte Eingriffe, wozu er kraft seiner Allmacht natürlich in der Lage ist, oder durch "zwischenwirkende Kräfte der Natur" (Konrad von Megenberg) 40, in der Gott in seiner Vorsehung die Schöpfung teleologisch wirksam angelegt hat. Die Entwicklung verschiebt sich im späten Mittelalter mehr und mehr zur letztgenannten Meinung, so daß Gotteswirken, Naturwirken, Naturgesetz und Naturerkenntnis von Gott zum Menschen hin koordiniert und harmoni siert werden können mit dem Erfolg, daß die Astrologie eine legitime 41 Erkenntnisform des Wirkens Gottes wie der Natur darstellt. 2. Es geht implizit um den Wissenscbaftsbegriff, wie er definiert und wie er angewandt wird. Unter dem Einfluß der arabisch-aristotelischen Naturforschung gewinnt der Kausalitätsbegriff eine immer zentralere Bedeutung, so daß die kosmische Signaturenlehre neuplatonisch-augustinischer Ausrichtung zugunsten der logisch-rationalen Erklärung von Naturvorgängen immer weiter zurückgedrängt wird. Das führt dazu, daß als neue Theorievorgabe immer grundsätzlicher folgende Positionen zu finden sind, die z. B. Johannes Lichtenberger, der Astrologe Kaiser 42 Friedrichs III. ( 1473-76), in seiner 'Pronosticatio' in folgenden Punkten umschreibt: (1 .) Gott hat dem Menschen die Vernunft und die Kraft gegeben, aus der Beobachtung der Natur zutreffende Schlußfolgerungen zu ziehen und diese als Gesetzmäßigkeiten zu formulieren(= die Offenbarung Gottes im "Buch der Natur"); (2.) wenn sich Naturerkennt39 Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten. ln: ders., Gesammelte Schriften. Bd. IJ. Berlin 1932, S. 487-558, Anm. S. 647-656, hier bes. S. 497, 512, 545-50; lngetraut Ludolphy, Luther und die Astrologie. In: Paola Zambelli (Hg.), ' Astrologi hallucinati ' . Starsand the End ofthe World in Luther' s Time. Berlin 1986, S. 101-1 07 ; Stefano Caroti, Melanchthon 's Astrology. In: ebd., s. 109- 121. 40 Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861 (Nachdr. Hildesheim 1971),S .430, 14f. 41 Dazu siehe Blank, 'des geloub ich Megenbergrer niht' [Anm. 12], bes. S. 90-97. 42 Text gedruckt bei Warburg [Anm. 39]. S. 545-558; Lichtenhergers wichtige VOITede, S. 550ff.; dazu: Dietrich Kurze, Johannes Lichtenherger (t 1503). Eine Studie zur Geschichte der Prophetie und Astrologie. 2 Lübeck, Harnburg 1960; ders. , Johannes Lichtenberger. In: Verfasserlexikon. Bd. 5 (1985), Sp. 770-776 (mit weiterer Lit.). 106 W. Blank, Providentia oder Prognose? nisseimmer wieder bestätigen- hier kommt der zentrale Begriff der "Erfahrunglexperientia" ins Spiel-, lassen sich diese auch auf die Zukunft projizieren (Prognostik); (3.) wenn es einen kosmischen Einfluß der Naturdinge auf den irdischen Bereich gibt (was damals weitgehend unbestritten war), ist es legitim, den Erklärungsschlüssel und die Ursache für irdische Vorgänge ebenfalls am Himmel zu suchen. Allerdings gilt hier die pseudo-albertinische Einschränkung: "Die Sterne machen geneigt, sie zwingen nicht" . Bemerkenswerterweise sind es vor allem die Astronomen (z. B. Tycho Brahe [1546], Johannes Kepler [1571 -1630]), die auf die Rationalität der Astrologie setzen, die sie als Erforschung der göttlichen Weisheit in der Natur interpretieren. Daher zögern sie persönlich auch nicht, Horoskope für Auftraggeber zu erstellen, auch wenn Kepler im Lauf der Zeit hier zurückhaltender urteilt. Abgesehen von dieser theoretischen Prognose-Begründung als menschliche Voraussagemöglichkeit hat die praktische Prognostik im Alltag des Spätmittelalters jedoch eine kaum zu überschätzende Bedeutung. 43 Vor allem im astromedizinischen Bereich, in der astrologisch geprägten Verhaltenstypik und in den landwirtschaftlichen Anweisungen bis hin zu Wettervoraussagen ist der alltägliche Zeitablauf weitgehend von der astrologischen Prognostik bestimmt. Daher gibt es vom 15. und 16. Jahrhundert an für jeden der genannten Bereiche spezifische Bücher, die durch die Drucktechnik als Massenware verbreitet sind: 44 so eine Reihe von sog. "iatromathematischen Hausbüchern" , das sind medizinische Regelwerke einschließlich umfassender diätetischer Lehren für eine gesunde Lebensweise, die großteils in die Kalender45 eingearbeitet wurden; des weiteren eine Fülle von sog. 46 "Planetenkinder" -Darstellungen, das sind astro-psychologische Typisierungen, in denen jedes Sternzeichen, etwa das "Saturnkind" (d. i. ein Mensch, der unter der Herrschaft des Saturn geboren wurde, also im Tierkreiszeichen des Steinbocks oder des Wassermanns), umfassend beschrieben wird: körperliches Erscheinungsbild, somatische und psychologi43 Zum folgenden siehe: Walter Blank, Astrologische Prognostik als Planungsfaktor im Spätmittelalter. In: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen I 993 . Hrsg. von Peter Dilg, Gundolf Keil und Dietz-Rüdiger Moser. Sigmaringen 1995, S. 171 · 180. 44 Vom Einfluß der Gestirne auf die Gesundheit und den Charakter des Menschen. 1-Il. Faksimile-Ausgabe des Manuskripts C 54 der Zentralbibliothek Zürich (Nürnberger ' Kodex Schürstab'). Hrsg. von Gundolf Keil zus. mit Friedrich Lenhardt u. Christoph Weißer. Luzem 1981-83; Andre Parent, Das· ratromathematische Hausbuch ' in seiner bisher ältesten Fassung: die Buchauer Redaktion Heinrich Stegmüllers von 1443. Diss. phil. (linguistique) Montreal 1988; Friedrich Lenhardt u. Gundolf Keil , ratromathematisches Hausbuch. In: 2Verfasserlexikon. Bd. 4 (1983), Sp. 347-351; L. Garcfa Ballester, Astrologische Medizin. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. I (1989), Sp. I 145. 45 Vgl. zur Kalenderliteratur: Francis B. Brevart, The German 'Volkskalender' of the Fifteenth Century. Speculum 63 (1988) , S. 312-342; ders., Johann Blaubierers Kalender von 1481 und 1483: Traditionsgebundenheit und experimentelle Innovation. Gutenberg-Jahrbuch 1988, S. 74-83; Gustav Jungbauer, Kalender. In: Hwb. d. dt. Aberglaubens. Bd. 4 ( 1931/32), Sp. 921 -934; Klaus Matthäus, Zur Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwicklung der in Nürnberg gedruckten Jahreskalender in Buchform. Arch. f. Gesch. d. Buchwesens 9 ( 1969), Sp. 966- 1396; Ernst Zinn er, Der deutsche Volkskalender des I 5. Jh.s Naturforsch. Gesellschaft Barnberg 33 (I 952), S. 46-50. 46 Anton Hauber, Planetenkinderbilder und Sternbilder. Zur Geschichte des menschlichen Glaubens und lrrens. (Studien z. dt. Kunstgeschichte 194). Straßburg 1916; Viktor Stegemann, Planeten. In: Hwb. d. dt. Aberglaubens. Bd. 7 (1935/36), Sp. 36-294. Das Mittelalter 1 ( 1996) I: Providentia - Fatum- Fortuna 107 sehe Reaktioncweisen, ausgeübte Berufe, besondere Laster, bis hin zu typischen Todeser47 scheinungen. Cnd schl ießlich sind in den sog. Bauernpraktiken die relevanten landwirtschaftlichen 'J t.ngkeiten zeitlich markiert, Saat- und Erntedaten, aber auch Holzfäller- oder Schlachtterm1'"'e, und nicht zuletzt aus ganz unterschiedlichen Wurzeln stammende Wetterprognostih";,48die - alles zusammengenommen- den mittelalterlichen Alltag in seinem Zeitrhythmm; ,.;eitgehend bestimmen. Dies soll hier nicht im einzelnen verfolgt, sondern nur darauf hingewiesen werden. Für unseren Fragehorizont scheint mir zusammenfassend auch wenige1 ~ 'tese fast selbstverständliche prognostische Praxis des Alltags relevant, als vielmehr das •, 1enschenbild, das sich in den angedeuteten neuen Zugriffen ebenfalls neu formt. 4. Der neue Mensch 49 In der jüngster, Forschungsübersicht zur historischen Anthropologie im Mittelalter fällt auf, daß sich (,as einschlägige Frageinteresse der meisten Disziplinen und Forscher auf gesellschaftli... ne Bezugshorizonte bzw. literarische Rollenzuweisungen bezieht. So gut wie überhaup. nicht sind die gleichzeitigen Vorgänge der sich entwickelnden Naturforschung mit einbezogen - aus gutem Grund, da diese Perspektiven wiederum genauso einseitig die fqtwicklung von der Naturanschauung zur Naturwissenschaft mit den in die Neuzeit vora1A ·weisenden Tendenzen verfolgen. Mit unserer thematischen Frage nach der Zukunftserwr<tung der Menschen aber steht eine Frage im Zentrum, die sich letztlich als eine Frage na·. :, dem Selbstverständnis des Menschen versteht, oder anders umschrieben, als eine in terc·~ziplinäre Frage nach den Interdependenzen von anthropologischer Selbsterkenntnis un .. objektiver Sacherkenntnis an der Schnittstelle Mensch - Natur. Ohne auf diese ansprucinvolle Thematik hier genauer eingehen zu können, seien lediglich ein paar Schlaglichter ms unseren obigen Hinweisen herausgestellt, die als eine Art Zusammenfassung unterschiedliche Tendenzen noch einmal markieren wollen. Vereinfachend läßt sich in der Entwicklung vom Früh- zum Spätmittelalter das Wechselspiel zwischen Mensch und Natur in folgenden Punkten verdeutlichen: 47 48 49 Hellmut Rosenfeld, Kalender, Einblattkalender, Bauernkalender und Bauempraktik. Mit dem Text der Bauernpraktik von 1508 und eines Bauernkalenders von 1574. Bayer. Jb. f. Volkskunde 1962, S. 7-24 (mit Abb.); Viktor Stegemann , Bauernpraktik. In: Hwb. d. dt. Aberglaubens. Bd. I ( 1927), Sp. 941-948; Gerhard Eis, Fragment eines süddeutschen Bauernkalenders aus dem 16. Jh. Ostbair. Grenzmarken . Passauer Jb. 4 ( 1960), S. 90-94 (wieder in: G. Eis, Medizin. Fachprosa des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Amsterdam 1982, S. 3 16-323). Gustav Hellmann, Die Wettervorhersage im ausgehenden Mittelalter (XII. bis XV. Jahrhundert). In: ders., Beiträge z. Gesch. d. Meteorologie. Bd. II, Nr. 8 (Veröff. d . Kg l. Preuß. Meteorolog. ln st. 296). Berlin 1917, S . 167-229; ders., Versuch einer Geschichte der Wettervorhersage im XVI. Jahrhundert. Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss., Physikal.-mathemat. Kl. , Jg. 1924, Nr. I. Berlin 1924. Ursula Peters, Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion. In : Festschr. f. Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota. Bd. I. Tübingen 1992, S. 63-86. 108 W. Blank, Providenria oder Prognose? 1. Setzt man als Ausgangspunkt die neuplatonische Identitätserfahrung: der Mensch ist der Natur unterworfen, weil er selbst Teil der Natur ist,5° so resultiert daraus einerseits das Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit, gegen diese Natur nicht anzukommen, die sich aber andererseits in der spezifisch christlichen Glaubenshaltung an den allmächtigen Schöpfer aufhebt, der sich in seiner "Vorsehung" dem Menschen liebend zuneigt. 2. Mit der neuen Naturbeobachtung, die sich seit dem 12. Jahrhundert verstärkt der Erforschung der Naturgesetze zuwendet, erkennt der Beobachter, daß es in der Natur Strukturen gibt, die sich in einem längeren Erfahrungsraum als eine Abfolge von Ursache und Wirkung verstehen lassen. Da diese Kausalkette auch im Menschen selbst als dem Mikrokosmos anzusetzen ist, erstrecken sich die Einflüsse nicht nur auf die Elemente, sondern auch auf die kosmischen Korrespondenzen, die in der Erforschung der Sterne ihr überirdisches Pendant haben. Der Mensch unterliegt somit nicht nur einer material bestimmten Abhängigkeit von der Natur, sondern er ist von den gleichen Ordnungskategorien geprägt wie der Makrokosmos über ihm. - Die Folgerung aus dieser Bewußtseinslage ist eine doppelte: 3. Um sich diese kosmische Prägung oder- anders gesehen- diese analoge Hervorbringung durch den christlichen Schöpfergott zu erklären, greift z. B. die Schule von Chartres auf das astrologisch-mythische Erklärungsmuster zurück, um die geistig-seelische Konstitution des Menschen anschaulich zu machen. Der Mensch ist also, nach Meinung der einen, von den Sternen geprägt, nach Meinung der anderen von Gott nach demselben Muster wie die Sterne geschaffen. Aber: Übereinstimmung besteht darin, daß der Mensch aufgrund seiner Ebenbildlichkeit zu Gott undkraftseiner Erkenntnisfähigkeit näher bei Gott und im Wert über den Dingen steht als jene. Das betont die Einzigartigkeit des Menschen im Kontext der Schöpfung. 4. Das den Menschen absolut von der Natur Unterscheidende ist vor allem aber sein freier Wille. Dieser unterliegt nach christlicher Überzeugung keinerlei astralen Zwängen. Diese Erfahrung löst ihn aus jedem geschöpfliehen Kontext heraus und vermittelt ihm das Bewußtsein der "Freiheit der Kinder Gottes". Nur Gott steht noch über ihm. Aus diesen unterschiedlichen Stufen der Erkenntnis bzw. den unterschiedlichen Bewußtseinssphären ergeben sich nun aber durchaus widersprüchliche Zeitzeugnisse, die sich vor allem in den Erwartungen von der Zukunft bzw. für die Zukunft verdeutlichen. Steht auf der einen Seite das Bewußtsein des demütigen Geschöpfes Gottes, das Freude und Leid aus seiner Hand annimmt und zuletzt auch seinen Richterspruch , so verändert die zunehmende Einsicht in die Anlage der Natur rückwirkend auch den menschlichen Betrachter. Wenn die Erkenntnis der Naturgesetzlichkeit ihm nicht nur eine zutreffende Analyse der seienden Dinge erlaubt, sondern - vor allem mit Hilfe des Erkenntnismittels der Astronomie/Astrologie - sogar eine projektive Verlängerung der Erkenntnisstrukturen in die Zukunft mit der noch weitergehenden Möglichkeit einer genauenzeitlichen Fixierung der 50 Hierher gehört die antike physikalische Elementenlehre, nach der der Mensch aus denselben Bausteinen besteht wie die ihn umgebende Natur; hierher gehört- daraus abge leitet- dann aber auch die Makro-!Mikrokosmos-Korrespondenzenlehre, die den Abbildcharakter des Kleinen zum Großen betont. Das Mittelalter 1 ( 1996) I: Pro videntia -Fatum - Fortuna 109 erwartbaren Vorgänge, so verschiebt sich das Selbstbewußtsein eines solchen Menschen in entscheidender Weise. Er kann nunmehr die Astrologie nicht nur als Schutz vor dem traditionell negativ eingestuften Sterneneinfluß benutzen, sondern generell als Zugriff auf die Natur durch sein Wissen. In der Konsequenz daraus, die aber erst mit dem späten 15. Jahrhundert deutlicher hervortritt, geht es hier um die tiefgreifende Erfahrung, daß Wissen Macht ist. Um deren rechten Gebrauch zu kennzeichnen, spricht man rechtfertigend von "weißer Magie" für den christlich integrierten, verantworteten Gebrauch der Naturbeherrschung, im anderen Fall von "schwarzer Magie" bei deren Mißbrauch. Wie groß deren Faszination in der Zeit war, sieht man an der literarischen Überlieferungsgeschichte des 51 Volksbuchs von Dr. Faustus. Eine andere Konsequenz des neuen Bewußtseins finden wir in extremer Form in der 52 Rede Picos della Mirandola 'Über die Würde des Menschen ' (von 1487) ausgedrückt. In diesem Festvortrag vor den in Rom zu einer Disputation versammelten Gelehrten Europas setzt er ein mit der These: "Nichts gilt für bewunderungswürdiger als der Mensch". Doch alle bisher in der Geschichte genannten Gründe dafür verwirft er als unzureichend: die menschliche Mittlerfunktion für alle Geschöpfe, daß er der Interpret der Natur sei, daß er das Zwischenglied zwischen der Ewigkeit und der Zeit sei, und sogar Davids Aussage, daß er nur wenig hinter den E ngeln zurückstehe. Positiv dagegen nennt er zwei Gründe für die einmalige Würde des Menschen: Gott habe ihn erschaffen mit der Intention, "daß alles [in ihm] vereint sei, was sonst auf ei nzelne Wesen beschränkt [= verteilt] war. Er schuf ihn als sein Ebenbild und sagte zu ihm: [... ] Die Natur [... ] ist in die Gesetze gebannt, die wir ihr gaben. Du allein bi st durch keine Beschränkung gebunden". Er möge sich seine eigene Natur formen . Denn er sei fähig, zum Tier abzusteigen und ein solches zu sei n, oder aber die göttlichen Regionen in sich wiederzugebären und damit zum Sohn Gottes aufzusteigen. Dann aber stehe er im eigentlichen Sinn über allen Geschöpfen. Will man diese Rede historisch etwas analysieren, so sieht man, daß der Gedanke der Teilhabe an den Elementen zwar noch da ist, er aber doch völlig subaltern bewertet ist. Das Eigentliche am Men schen ist nicht seine kosmische Vorprägung, sondern seine Freiheit der eigenen Entscheidung, die schöpferisch ist. Der Mensch schafft sich selbst, entsprechend einer Anlage, die Gott in ihn hineingelegt hat. Die Vorstellung vom Geschaffensein durch Gott ist zwar noch da, aber modifiziert: Gott gibt die Anlagen in den Menschen hinein, mit denen dieser selbst frei schöpferisch umgeht. Dies ist der absolute Schritt zur Neuzeit, zum B ewußtsein des autonomen Menschen. Aus dieser Selbstbewertung des Menschen wird auch klar, weshalb die Kirche Pico zeitweilig mit dem Bann belegt hat. Was wir hier sehen, ist der konsequente Weg von der Theozentrik über die Kosmozentrik Zur Anthropozentrik. Dabei sind die kosmologische Sicht der Natur wie die christliche Schöpfungsperspektive auf der Strecke geblieben. Mit diesem Entwurf vom autonomen 51 Stephan Füssel, Faust-Historia. In: Literatur-Lex ikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von Walther Killy. Bd. 3. Güters loh, München 1989, S. 339-340 (mi t weiterführender Literatur). 52 G. Picodella Mirandola, De homini s dignitate. Heptaplus. De enteet uno. Hrsg. von Eugenio Garin (Edizione Nazionale dei Classici del pensiero Italiano.l). Firenze 1942. - Wieder abgedr. mit dt. Übers.: Hedwig Heger (Hg.), Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Texte und Zeugnisse. I. Teilband: Spätmittelalter und Frühhumanismus (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnis e. Bd. ll, I). München 1975, S. 512-515. 110 W. Blank, Providentia oder Prognose? Menschen endet eigentlich die mittelalterliche Anthropologie. Das Bewußtsein von der Selbstbestimmung durch den freien Willen ist hier begleitet von der Vorstellung der Natur als einem reinen Substrat, über das der Mensch verfügen kann. So verlockend für den spätmittelalterlichen Menschen eine solche Zukunftsprojektion sein mochte, die Gefahr der Selbstüberschätzung des Menschen mit der Vergewaltigung der ihn umgebenden Natur, ja des Vergessens der Tatsache, daß auch er selbst Natur ist und er untrennbar zu ihr dazugehört, wird uns heute im 20. Jahrhundert erst richtig deutlich. Doch läßt schon unsere kurze Skizze erkennen, was damals wie heute das Problem war und ist: Im Suchen nach der Balance zwischen beiden Ansätzen markiert Pico della Mirandola einen Extrempunkt, ebenso wie umgekehrt heute mancher Außenflügel der Ökologiebewegung ein alternatives Ideal der Verschmelzung von Mensch und Natur sucht, das aber- genau so wie dessen mittelalterlicher Kontext - auch nicht mehr erreichbar sein dürfte. Vielleicht hilft dieser Blick auf die Gegenwart, uns bewußt zu machen, daß es eine einzige harmonisierte Meinung zu solchen Weltanschauungsfragen weder heute gibt, noch daß es sie im Mittelalter je gegeben hat. Daher gehört es zu den Herausforderungen eines Mediävisten, die in widersprüchlichen Texten angebotenen Gegensätze auszuhalten. Anschrift des Verfassers: Prof Dr. Walter Blank Albert-Ludwigs-Universität Deutsches Seminar I Werthmannplatz 79085 Freiburg