SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 WISSEN - Manuskriptdienst „Der Mensch und seine Bakterien Eine Symbiose auf Lebenszeit“ Autorin: Christine Westerhaus Sprecherin: Dörte Tebben Redaktion: Sonja Striegl Sendung: Dienstag, 26. Februar 2013, 08.30 Uhr, SWR2 ___________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 08.30 bis 09.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030! SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Manuskripte für E-Book-Reader: E-Books, digitale Bücher, sind derzeit voll im Trend. 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O-Ton - Dirk Haller: Vor 15 Jahren hat man die Existenz dieser Bakterien komplett vernachlässigt. Man hat gesagt: Ja, wir haben irgendwelche Bakterien, aber die spielen eigentlich keine Rolle. Jetzt schwenkt das Pendel ein bisschen in die andere extreme Richtung: Jetzt ist jeder physiologische Prozess verknüpft an die Präsenz von Bakterien. Sprecherin: Professor Dirk Haller ist Mikrobiologe. Das Getümmel im Darm interessierte ihn schon zu Beginn seiner Karriere. Berührungsängste hat er nicht. 1b. O-Ton - Dirk Haller: Ich bin natürlich auf du und du mit meinen Bakterien. Also ich war schon immer interessiert an Bakterien, das war schon immer mein Forschungsthema. Auch schon als das noch kaum jemanden interessierte. Ich habe mich auch schon immer mit dem Fäkalinstrument beschäftigt. Ich finde Fäkalien nicht eklig. Ich ekle mich nicht und ich fürchte mich nicht. Sprecherin: Diese Eigenschaft ist wichtig in Hallers Beruf. Denn die Mikrobenforscher haben es bei ihrer Arbeit oft mit menschlichem Kot zu tun. Die Fäkalien sind so etwas wie eine Blaupause der Darmflora. Dort finden die Forscher die gleichen Keime, wie im Darm. Dirk Haller arbeitet am Zentralinstitut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaft der Technischen Universität München. Dort untersucht er, welchen Einfluss die Ernährung auf die Bakteriengemeinschaft im Darm hat. Dass diese Mikroben den Menschen bei der Verdauung unterstützen, ist lange bekannt. Doch die kleinen Helfer übernehmen noch jede Menge anderer Aufgaben im Körper. 2 2. O-Ton - Dirk Haller: Ich kann mich noch daran erinnern: Da hieß es: Entweder ist ein Bakterium ein Infektionserreger, dann macht er was im Darm oder es ist eben so ein kleines Würstchen - was weiß ich - ein Lebensmittelfermentierer, dann macht er nichts. Und das ist jetzt mittlerweile grandios verifiziert, dass es nicht so ist. Und das ist eine echte Genugtuung wo ich sehe: Da hat sich echt das Rad gedreht. Sprecherin: Immer deutlicher zeichnet sich ab: Bakterien wirken nicht nur im Darm. Ihre Stoffwechselprodukte beeinflussen das Immunsystem, die Knochen, Lunge, Herz - und sogar das Gehirn. Neben Milchsäure produzieren die kleinen Helfer noch viele andere Stoffe, die den Körper beeinflussen: Zum Beispiel Enzyme, Hormone oder Antibiotika. Gerät das Gleichgewicht in der menschlichen Bakteriengemeinschaft durcheinander, kann der Mensch krank werden. Inzwischen wissen die Forscher, dass sich dieses „Mikrobiota“ genannte Ökosystem im Darm verändern kann. Bei manchen chronischen Krankheiten verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen den Bakterien: Manche Arten kommen häufiger vor, andere werden seltener. Diesen Zusammenhang haben die Forscher unter anderem beim Typ 2 Diabetes und bei entzündlichen Darmerkrankungen beobachtet. Doch warum das Ökosystem im Darm mancher Menschen durcheinander gerät, ist noch unklar. Denn das Zusammenspiel zwischen den Mikroben ist sehr komplex. (Regie: Atmo hier schon langsam hoch) Und das Getümmel im Darm ist gelinde gesagt - unübersichtlich, gibt Dr. Felix Sommer zu bedenken. Atmo 2: Keimfrei Labor 3. O-Ton - Felix Sommer: Jedes Wirbeltier, jedes Säugetier hat etwa Tausend unterschiedliche Bakterienspezies im Darm. Und rein von der Zellmenge sind es 10-mal mehr Zellen, als wir selber in unserem ganzen Körper haben. Das heißt im Prinzip sind wir eigentlich nur 10 Prozent in Zellen - Mensch. Sprecherin: Was die übrigen 90 Prozent der Zellen im menschlichen Körper treiben, erforscht Sommer am Wallenberg Laboratorium in Göteborg. Hier arbeitet der aus Kiel stammende Biologe mit keimfreien Mäusen. Diese Tiere wachsen von Geburt an ohne Bakterien auf. Deshalb kann der Forscher an ihnen studieren, was passiert, wenn bestimmte Mikroben im Organismus fehlen. Oder was einzelne Bakterien im Körper so alles anstellen. Atmo 3: Umkleideraum Sprecherin: Wer Felix Sommers Mäuse besuchen möchte, muss sich erst mal bis auf die Unterwäsche ausziehen. In einem Umkleideraum wird die gesamte Kleidung gegen einen Schlafanzug-ähnlichen Labordress getauscht. 3 Atmo 4: Luftdusche Sprecherin: Dann geht es unter die Dusche: In einer engen Kabine wird der ganze Körper mit Luft abgebürstet, mit Hochdruck wird sie aus kleinen Düsen gepustet. Fussel, ausgefallene Haare, Hautpartikel verschwinden im Luftwirbel. Selbst das Futter für die Mäuse muss behandelt werden. Die Forscher stecken es in einen „Autoklaven“. In diesem Gerät werden Gegenstände und Stoffe unter Hochdruck und bei Hitze sterilisiert. Auf dem Weg zu den keimfreien Mäusen kommt der Besucher an dem Metall-Ungetüm vorbei. Atmo 5: Gang Maushaus 4. O-Ton - Felix Sommer: Das ist der. Der ist auch begehbar, damit genug Platz da ist. Weil alles, was wir zu den keimfreien Tieren geben, darf logischerweise keine lebenden Bakterien beinhalten. Alles, was in diese Isolatoren reinkommt, wird entweder autoklaviert oder andersartig bearbeitet, damit da keine Bakterien mehr lebend drin sind. Das macht das Ganze auch sehr teuer (automatische Tür geht auf): Eine Maus kostet schon ein paar Tausend Euro. Atmo 6: Tür, Pieper Sprecherin: Die „Tausend-Euro Mäuse“ verbringen ihr Leben hinter verschlossenen Türen. Felix Sommer öffnet sie mit seiner persönlichen Chipkarte: Ein halliger, schmuckloser Raum verbirgt sich dahinter. An der rechten Wand stehen durchsichtige Plastik-Container auf einem Tisch. Die „Wohnblöcke“ der Mäuse. Darin aufgereiht die Appartements: Kleine Plastik-Käfige, in denen graue Mäuse umherlaufen. Fünf Tiere pro Einheit. Atmo 7: Hantieren Sprecherin: Felix Sommers Kollege Mattias Bergentall (Aussprache: „Berjentall“) bereitet gerade einen Versuch für seine Doktorarbeit vor. Über schlauchartige Ausstülpungen greift er in einen der Plastikbehälter. Sie baumeln wie zwei lange Nasen an der Seite. Atmo 8: Isolatorraum 5. O-Ton - Felix Sommer: Das sind diese Plastikbehältnisse, die durchsichtig sind, damit man sieht, was da drin geschieht. In diesem Isolator ist alles steril. Das bedeutet, dass der Isolator auf der einen Seite mit Handschuhen ausgestattet ist, so dass man dann wie das Mattias jetzt hier macht, mit diesen dicken Handschuhen innerhalb des Käfigs oder innerhalb dieses Isolators manipulieren kann, was man eben möchte. Sprecherin: Bergentall entriegelt die Käfigtür, greift nach einer Maus und setzt sie umständlich in 4 eine kreisrunde Schleuse im Inneren des Plastikbehälters. Durch die dicken Handschuhe wirken seine Bewegungen klobig, wie ferngesteuert. 6. O-Ton - Mattias Bergentall: Man muss auch vorsichtig sein. Wenn sie beißen, ist der Versuch am Ende. Sprecherin: Über ein Loch im Handschuh würden sofort Keime in den Isolator gelangen. Die geplanten Versuche wären vereitelt. Doch alles läuft nach Plan. Atmo 9: Klappe öffnen Sprecherin: Bergentall zieht nun seine Hände wieder aus den langen Ausstülpungen. Dann öffnet er die kreisrunde Schleuse von der Außenseite des Containers und holt seine Maus heraus. Atmo 10: Sprühen, Geklapper Sprecherin: Nun beginnt eine aufwändige Reinigungsprozedur: Bergentall schließt eine Hochdruckpumpe an die Innenseite der Schleuse an. Sie sprüht ein Desinfektionsmittel in die Öffnung. Danach dürfen die Forscher die Schleuse mindestens eine Stunde lang nicht öffnen. Erst dann sind alle Bakterien sicher abgetötet. Bergentall nimmt nun seine Maus und bringt sie in den Nachbarraum. Dort wird er den Darm des Tieres untersuchen. 7. O-Ton - Mattias Bergentall: Zur Zeit untersuche ich, ob sich die Permeabilität im Dünndarm von keimfreien Mäusen unterscheidet von Mäusen mit Keimen. Sprecherin: Bergentall will also herausfinden, wie Bakterien auf die Darmwand wirken. Es geht um das Verständnis von Morbus Crohn, einer chronischen Darmentzündung, die Ärzte noch immer nicht heilen können. Bei Menschen, die an dieser Krankheit leiden, ist die Darmwand durchlässiger. Deshalb können Bakterien aus dem Darm in das Innere des Körpers gelangen. Doch dort sind sie Fremde. Der Körper versucht deshalb alles, um sie wieder aus der Darmwand zu entfernen. Sein Immunsystem greift die Irrläufer an und löst dabei Entzündungen aus. Die Betroffenen leiden an starkem Durchfall, Gelenkschmerzen oder Gewichtsverlust. Auch die Arbeitsgruppe von Dirk Haller in Weihenstephan bei München ist den Ursachen dieser Krankheit auf der Spur. 8. O-Ton - Dirk Haller: Chronische Darmerkrankungen sind so eine Art Paradigmen-Erkrankung für die Möglichkeit, dass nicht-pathogene Bakterien tatsächlich was machen im Darm. Man wusste schon relativ früh, dass bei chronischen Darmentzündungen Bakterien eine 5 Rolle spielen. Aber was die da machen, weiß man bis heute nicht. Sprecherin: Dirk Haller möchte wissen, ob die Ernährung eine Rolle spielt. Er hat keimfreie Mäuse mit bestimmten Diäten gefüttert und beobachtet, dass die Entzündungen abklingen. Auch Patienten mit Morbus Crohn ging es mit dieser Spezial-Ernährung besser. 9. O-Ton - Dirk Haller: Eine Beobachtung ist, dass wenn wir recht vereinfachte Diäten nehmen, so genannte Elementardiäten, dann können wir die Entzündung unterbinden. Das lässt sich auch bei Patienten mit Morbus Crohn, speziell den jungen Patienten, auch sehen. Noch weiß man aber nicht, warum diese Elementardiäten so was machen. Sprecherin: Ebenso wenig wissen die Forscher, welche der 1000 unterschiedlichen Bakterienarten im Darm eine Rolle bei bestimmten Krankheiten spielen. Auch für diese Puzzlearbeit müssen keimfreie Mäuse herhalten. Die Forscher impfen diese Tiere mit einzelnen Bakterienstämmen. Diese vermehren sich im Organismus und besiedeln den ganzen Körper der Maus. So wollen die Forscher mehr darüber herausfinden, was die Keime im Organismus anstellen. Atmo 11: Isolatorraum, Hantieren Sprecherin: Direkt neben dem Container, aus dem Mattias Bergentall am Göteborger Wallenberg Laboratorium gerade seine keimfreie Maus geholt hat, steht ein weiteres Plastikzelt. Auch darin: Graue Mäuse, die aufgeregt hin und her laufen. Im Gegensatz zu ihren Artgenossen im Nachbarzelt sind sie aber nicht mehr völlig keimfrei: Sie wurden mit einem einzigen Bakterienstamm geimpft. Während Bergentall die Schleuse mit einem Akkuschrauber abdichtet, erklärt Felix Sommer den Sinn der Prozedur. 10. O-Ton - Felix Sommer: Im Idealfall - so planen wir natürlich immer die Experimente, dass man ein Bakterium findet, welches einen gewissen Effekt hervorruft. Leider stellt sich dabei dann heraus, dass es meist nie ein einzelnes Bakterium ist, sondern eher das Zusammenspiel von einem ganzen Konsortium von Bakterien. Also eine bestimmte Komposition der Flora, die wir im Darm haben, die dann einen bestimmten Effekt auf den Wirt ausübt wie beispielsweise ein erhöhtes Risiko für Diabetes oder etwaige andere Krankheiten. 11. O-Ton - Mattias Bergentall: Und das kann man sich auch leicht vorstellen, weil die Flora besteht ja aus über 1000 unterschiedlichen Bakterienarten und die machen da alles mögliche. Sprecherin: Noch wissen die Forscher nicht, wie eine gesunde Mikrobiota eigentlich aussieht. Oder was passiert, wenn Bakterien aus dieser Gemeinschaft verschwinden. Klar ist aber, 6 dass es auch Nachteile haben kann, wenn Ärzte Keime „eradikieren“, also entfernen. Das Magenbakterium „Helicobacter pylori“ beispielsweise galt lange Zeit als Parasit, der im Magen Schleimhautentzündungen verursacht. Doch Helicobacter pylori hat offenbar auch seine guten Seiten. Er reguliert die Magensäure und scheint Hormone zu beeinflussen, die das Hungergefühl steuern. Die Angst vor Magenschleimhautentzündungen hat dazu geführt, dass Ärzte diesen Keim systematisch aus der menschlichen Mikrobiota vertrieben haben. Mit Antibiotika. In den USA trägt inzwischen nur noch jedes sechste Kind dieses Bakterium in sich. 12. O-Ton - Dirk Haller: Es gibt Diskussionen, ob diese Magenkolonisierung mit Helicobacter pylori nicht das Merkmal einer normalen, gesunden Situation ist. Jetzt hat man angefangen, diesen Helicobacter zu eradikieren und sieht, dass allerlei Nachteile entstehen. Es ist natürlich schon interessant, wenn man ihn eradikiert mit Antibiotika, dass dann Konsequenzen für andere Krankheiten entsteht. Sprecherin: Dirk Haller ist deshalb der Meinung, dass man Bakterien nicht aus dem „Ökosystem Mensch“ entfernen sollte. Denn wer dort mit wem gemeinsame Sache macht, ist kaum erforscht. Der Bakterienklüngel im Darm sollte deshalb eher als Ökosystem gesehen und auch so behandelt werden. 13. O-Ton - Dirk Haller: Und wenn man versteht, wie sich so ein komplexes Ökosystem verändert in der Krankheit versteht man vielleicht auch, wie man das unterbinden kann. Beziehungsweise vielleicht auch, ob man in der Lage ist, durch Zugabe guter Bakterien in so ein Gefüge einzugreifen. Sprecherin: Als „gute“ Keime gelten zum Beispiel Milchsäurebakterien. Ihnen wird ein regulierender Effekt auf die Mikrobengemeinschaft im Darm nachgesagt. Sie schaffen ein Milieu, in dem schädliche Keime nicht überleben können. Andere konkurrieren mit „schlechten“ Bakterien um Nahrung und sind deshalb nützlich. Bei entzündlichen Darmerkrankungen gibt es Hinweise, dass manche Bakterien die Darmwand schädigen, andere eher schützen. Bestimmte Stämme des Bakteriums Escherichia Coli werden schon jetzt als Medikament zur Behandlung des Morbus Crohn eingesetzt. Doch wirklich nachgewiesen ist der Nutzen solcher „Probiotika“, also Mittel, die lebende Bakterien enthalten, nicht. Die Europäische Behörde EFSA (European Food and Safety Authority) hat deshalb allen Firmen solcher Probiotika untersagt, für ihr Produkt zu werben. Dennoch räumt der Münchner Biologe Dirk Haller der Idee gewisse Zukunftschancen ein. 14. O-Ton - Dirk Haller: Auch dahin gehend geht unsere Forschung: Was charakterisiert eigentlich ein gutes Bakterium, so dass man auf Basis dieser Forschung auch neue Probiotika entwickeln und charakterisieren kann. Das klappt in bestimmten Patientengruppen, aber in anderen 7 nicht. Also bisher gibt es da immer noch viel wishful thinking. Man ist immer noch weit davon entfernt, ein Bakterium zu nehmen, wo man genau weiß, dass dieses Bakterium für bestimmte Patienten protektiv wirkt. Sprecherin: Bisher wissen die Forscher auch nicht genau, warum die Bakteriengemeinschaft bei manchen Menschen durcheinander gerät und krank macht. Die Forscher beobachten aber eine Tendenz: Je mehr Arten in diesem Ökosystem leben, desto seltener gerät es aus dem Gleichgewicht. 15. O-Ton - Dirk Haller: Eigentlich sieht man bei allen chronischen Krankheiten, dort, wo die Mikrobiota eine Rolle spielt, dass im Krankheitszustand die Diversität der Mikrobiota abnimmt. Dass heißt, wenn man mal platt redet, dann sind die komplexen Ökosysteme mikrobieller Art sind eigentlich immer stabil, je weniger komplex, umso unstabiler wird es. Sprecherin: Diese Vielseitigkeit sieht der US-amerikanische Professor Martin Blaser in Gefahr. Er ist davon überzeugt, dass den Menschen in Industrienationen inzwischen wichtige Keime abhanden gekommen sind. Einseitige Ernährung, zu viel Hygiene und Antibiotikamissbrauch machen manchen Bakterien das Leben schwer. Sie sterben aus oder werden seltener. 16. O-Ton - Martin Blaser: So our hypothesis is that over the 20th century… ...Because of extinctions as a result of antibiotic use. Übersetzung: Wir gehen davon aus, dass wir unsere Bakteriengemeinschaft im Darm seit dem 20. Jahrhundert sehr verändert haben. Vor ein paar Jahren habe ich die Idee entwickelt, dass immer mehr Arten aus dieser Mikrobiota verschwinden, weil wir zu häufig und zu unkontrolliert Antibiotika verwenden. Sprecherin: Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Asthma könnten auch damit zusammenhängen, dass die Vielfalt im Darm schmaler wird, so Blaser. Tatsächlich haben Studien diesen Zusammenhang schon nachgewiesen. Für die Entwicklung des Immunsystems scheint es wichtig zu sein, dass der Körper Kontakt zu möglichst vielen Bakterien bekommt. Nun untersucht Blaser, ob den Menschen in Industrienationen tatsächlich schon ein paar Keime verloren gegangen sind. Gemeinsam mit einer Kollegin erforscht er die Bakteriengemeinschaften im Darm von Ureinwohnern des Amazonas. Eine Art mikrobielle Ahnenforschung. 17. O-Ton - Martin Blaser: Our goals are several fould... ...What are the important ones and gonna replace them. 8 Übersetzung: Wir verfolgen dabei mehrere Ziele. Einmal möchten wir herausfinden, ob sich bei Urvölkern andere Organismen im Darm finden als bei uns. Zum anderen möchten wir eine Art Bibliothek von dieser ursprünglichen und unveränderten Bakteriengesellschaft anlegen. Mithilfe dieser Datenbank könnten wir dann langfristig verloren gegangene Organismen in unserer Darmflora wieder ersetzen. Sprecherin: Außerdem könnte Blasers Forschung dabei helfen zu klären, ob sich die Vielfalt im Darm wieder herstellen lässt. Oder ob Ärzte die Mikrobiota eines kranken Menschen ersetzen können. Zum Beispiel, indem sie ihm die Bakterien eines Gesunden übertragen. In Einzelfällen hat das tatsächlich funktioniert. Doch die meisten Keimforscher sind kritisch, weil bei einer solchen Transplantation auch Risiken übertragen werden könnten. Unerkannte Infektionen beispielsweise. Oder Viren, die nicht nur menschliche Zellen, sondern auch Bakterien befallen können. Im Gegensatz zu Bakterien sind Viren keine Zellen und nicht dazu in der Lage, selbstständig zu leben. Sie können sich nur vermehren, indem sie ihre Erbinformation in fremde Zellen einschleusen und diese umprogrammieren. Außerdem haben sie im Gegensatz zu den Bakterien keinen eigenen Stoffwechsel. Daher gelten Viren auch nicht als Lebewesen. Was diese Partikel im Darm machen ist bisher so gut wie unbekannt. Auch deshalb sind Forscher wie Dirk Haller skeptisch, die ganze Darmflora eines Menschen zu transplantieren. Noch wisse man zu wenig über die Folgen solcher Experimente. 18a. O-Ton - Dirk Haller: Im Prinzip sind diese Fäkaltransplantationen unglaublich spannend. Aber es gibt nicht viel wirklich seriöse Literatur dazu. Man hat angefangen, bei Infektionen jetzt ganz speziell bei Infektionen mit Clostridium difficile, wo es Patienten gibt, die kurz vorm Sterben sind. Da gibt es Daten, dass die Fäkaltransplantationen wirksam sind. Und das bedeutet, dass Bakterien im Darm was machen. Sprecherin: Dirk Haller gibt aber zu bedenken, dass die fremden Keime in unterschiedlichen Patienten auch unterschiedlich wirken. Denn das Getümmel im Darm ist so individuell wie der menschliche Fingerabdruck. 18b. O-Ton - Dirk Haller: Und im Grunde genommen zeigen das die Fäkaltransplantationen auch. Das heißt, wenn man den Darm spült und eine neue komplette Mikrobiota einbringt, dann ist das eigentlich nur eine transiente Verschiebung im Ökosystem. Und die eigene Mikrobiota kommt wieder zurück. Das heißt, unsere Mikrobiota ist recht stabil und hat nur wenige Fenster, wo wir sie tatsächlich massiv beeinflussen können. Sprecherin: Nicht jeder Mensch eignet sich als Bakterienspender, als „Donor“. Und nicht in jedem Empfänger, also „Rezipienten“, wirken die gespendeten Bakterien auf die gleiche Weise. 9 19. O-Ton - Dirk Haller: Man weiß, dass es gute Rezipienten und schlechte gibt. Das heißt auch da die Abstimmung: Was ist eine gute Flora, von welchem Donor rekrutiere ich diese Bakterien und in welchem Rezipienten wirkt die dann tatsächlich. Das macht die Sache sehr kompliziert. Sprecherin: Zumindest Mäuse können aber auch ganz ohne Bakterien recht gut überleben. Im Labor werden sie sogar oftmals älter als ihre verkeimten Artgenossen. Dieses Phänomen ist genauso wenig verstanden wie viele andere Aspekte der wechselvollen Beziehung zwischen Mensch und Mikrobe. Den Forschern wird aber immer klarer, dass das Schicksal dieser beiden Symbionten viel enger verknüpft ist, als gedacht: Die Bakterien gehören zum Menschen wie andere Organe auch. 20. O-Ton - Dirk Haller: Wir werden steril geboren und können gar nicht verhindern, dass wir kolonisiert werden. Jede Körperoberfläche wird kolonisiert und der Darm scheint mit seinem Milieu extrem gut kolonisierbar zu sein, weil wir im Darm auch das dichteste mikrobiologische Ökosystem überhaupt auf diesem Planeten finden. Sprecherin: Auch Professor Sven Pettersson hat sich mit der Frage beschäftigt, wie wichtig die Bakterien für den Menschen sind. Der Forscher vom Karolinska Institut in Stockholm argumentiert, dass im Grunde wir ein Teil der Bakterien sind. Der Mensch musste sich im Laufe der Evolution an die Bakterien anpassen. Und nicht umgekehrt. 21. O-Ton - Sven Pettersson: Bakterierna kom före oss... …som ett hus för bakterierna. Übersetzung: Die Bakterien waren schon vor uns Menschen da. Wir sind also ein Teil der Evolution der Keime, und damit wir als selbstständige Art überleben konnten, mussten wir eine Möglichkeit finden, mit den Bakterien zusammen zu leben. Nach ihren Vorgaben. Man kann den Menschen deshalb auch als Haus für Bakterien sehen. Sprecherin: Herr in diesem Haus sei aber nicht der Mensch, sagt Sven Pettersson. Im Laufe der Evolution hätten sich die Bakterien in unserem Körper ein Milieu geschaffen, in dem sie sich wohl fühlten und vor Hunger geschützt waren. 22. O-Ton - Sven Pettersson: Och med sådant synsätt kan man titta:... ...och vi har tacksam tagit emot processer som är av värde för oss. 10 Übersetzung: Wenn man es aus dieser Perspektive angeht, kann man sehen: Wir sind nützlich für die Bakterien und haben unsererseits dankbar ihre Dienste in Anspruch genommen. Sprecherin: Petterssons Team hat tatsächlich konkrete Hinweise dafür gefunden, dass Bakterien bei Mäusen die Körpertemperatur regulieren: Ihre Stoffwechselprodukte wirken offenbar auf das braune Fettgewebe. Dieses Gewebe funktioniert wie ein schneller Brüter: Es kann Nahrung direkt in Wärme verwandeln. Kühlt der Körper aus, zapft er diese Reserve an. Dadurch verhindert er, dass Organe geschädigt werden. Vor allem das Gehirn ist temperaturempfindlich. 23. O-Ton - Sven Pettersson: När bakterierna åstakommer den här säkerställning av temperaturen och att man börja laga fat och de är 2 viktiga mechanismer som man har redovisad är en förutsättning att komplexa organismer kan tillatas väldigt energikrävande organ. T.ex mag-tarm kanalan och utvecklingen av hjärnan. (5:15) Och da lats energikrävande vävnader expandera. Och det är en förkläring för varför att mäniskor har en så välutvecklad hjärna. Übersetzung: Bakterien sichern die Temperatur und die Energieversorgung in ihrem Haus. Damit waren in der Evolution zwei wichtige Voraussetzungen erfüllt, dass wir uns Organe leisten konnten, die so viel Energie verbrauchen wie der Magen-Darm-Trakt oder das Gehirn. Ohne Energiespeicher und konstante Körpertemperatur hätte das nicht funktioniert. Das ist eine Erklärung, warum der Mensch ein so gut entwickeltes Gehirn hat. Sprecherin: Doch wie würde Leben aussehen, wenn wir uns niemals mit den Keimen eingelassen hätten? Eine müßige Frage, meint Professor Mathias Hornef von der Medizinischen Hochschule in Hannover. Er arbeitet am Institut für Mikrobiologie und Krankenhaushygiene und hat erforscht, wie sich der Organismus mit seinen Bakterien arrangiert. 24. O-Ton - Mathias Hornef: Ich mein, im Prinzip ist es evolutionär ja vorgegeben. Die Bakterien waren zuerst da, evolutionär sind die ja viel viel älter. Das heißt alle mehrzelligen Organismen und letztendlich auch der Mensch sind entstanden unter der permanenten Anwesenheit von Bakterien. Für den Wirt gab es nie die Option, keimfrei aufzuwachsen, wie diese Mäuse in diesen speziellen Containern. Insofern ist immer eine Auseinandersetzung in der Entwicklung zwischen dem mehrzelligen Wirt und den einzelligen Viren, Bakterien, oder Protozoen, die zum allergrößten Teil nicht pathogen sind, also die im Prinzip den Wirt nicht angreifen. Und einer Minderzahl von Bakterien, die professionelle Pathogene geworden sind. 11 Sprecherin: Alles in allem profitiert der Organismus von seiner Beziehung mit den Keimen. Doch Mensch und Mikrobe sind nur „ziemlich beste Freunde“. Der Körper muss auch lernen, sich von den Bakterien abzugrenzen. Schon kurz nach der Geburt muss sich das Neugeborene mit einer Flut von Keimen auseinandersetzen. Darunter nützliche und schädliche. Der Körper muss den guten Mikroben Zutritt verschaffen. Andererseits krank machenden den Zutritt verwehren. Mathias Hornef konnte zeigen, dass neugeborene Mäuse einen riskanten Weg wählen: Sie heißen Freund und Feind gleichermaßen willkommen. Zwei Wochen lang lassen sie Einwanderer unbehelligt. Dann erst kehrt die Fähigkeit des Immunsystems zurück, Bakterien zu erkennen. 25. O-Ton - Mathias Hornef: Wir interpretieren das so, dass tatsächlich nach der Geburt der Wirt ein Problem hat. Weil er nicht weiß, welche Bakterien kommen. Und die Taktik, die er da gewählt hat ist im Prinzip, dass er erst mal sein angeborenes Immunsystem zurück fährt. Sprecherin: Kurz nach der Geburt ist also im Prinzip jeder Keim willkommen im „Ökosystem Mensch“. Doch die Gästeliste ist nicht zufällig: Auf dem Weg durch den Geburtskanal geben Mütter ihren Babys eine Gründerpopulation an Bakterien mit. Es sind vor allem Milchsäurebakterien, die aus der Vaginalflora stammen. Per Kaiserschnitt geborenen Kindern fehlen diese Pionier-Keime. Auf ihrem Körper entdeckten Forscher vor allem Bakterien, die sie der Haut der Mutter und des Arztes zuordnen konnten. Noch Monate später unterscheidet sich die Mikrobiota von schnitt- und vaginal entbundenen Babys. Offenbar werden also schon bei der Geburt wichtige Weichen gestellt. 26. O-Ton - Mathias Hornef: Wir wissen, dass bei Neugeborenen die Oberfläche des Darms sehr schnell besiedelt wird. Das gilt dann für die erste postnatale Zeit, wird dann natürlich durch die Ernährung beeinflusst und dann, wenn die Kinder anfangen, feste Nahrung zu sich zu nehmen, entwickelt sich sowas wie eine reife adulte physiologische Darmflora, die sehr individuell ist. Also jeder von uns trägt eine andere Flora, die dann aber in irgendeiner Form reguliert zu sein scheint. Das ist zumindest die Vorstellung, die man heute hat. Sprecherin: Wer und was diese Flora reguliert, beginnen die Forscher erst langsam zu verstehen. Noch bis vor kurzem war daran kaum zu denken: Nur die wenigsten Körperkeime ließen sich in der Petrischale züchten und konnten so identifiziert werden. Erst seit wenigen Jahren können Forscher die Identität der Bakterien durch genetische Analysen nachweisen. Diese modernen Sequenziermethoden haben den Blick der Forscher geschärft, und sie haben das Tor zu einer unbekannten Welt geöffnet. ******************** 12