SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 WISSEN

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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 WISSEN - Manuskriptdienst
„Der Mensch und seine Bakterien Eine Symbiose auf Lebenszeit“
Autorin: Christine Westerhaus
Sprecherin: Dörte Tebben
Redaktion: Sonja Striegl
Sendung: Dienstag, 26. Februar 2013, 08.30 Uhr, SWR2
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1
Atmo 1: Geburtssituation, erster Schrei
Sprecherin:
Nachts um halb drei auf einer Neugeborenenstation. Der kleine Max erblickt das Licht
der Welt. Die Presswehen seiner Mutter haben ihn durch den Geburtskanal geschoben.
Auf dem Weg nach draußen wird er in eine dünne Schleimschicht gehüllt. Sie enthält
unzählige Bakterien. Schon in wenigen Minuten werden diese winzigen Keime jede
Öffnung in Max` Körper besiedeln. Von nun an werden sie ihn sein Leben lang
begleiten.
Ansage:
„Der Mensch und seine Bakterien - Eine Symbiose auf Lebenszeit“. Eine Sendung
von Christine Westerhaus.
Sprecherin:
Bakterien sind überall und doch für den Menschen unsichtbar. Sie besiedeln seine Haut,
die Lunge, den Darm und sämtliche Körperöffnungen. Doch welche Funktion sie dort
erfüllen, beginnen die Forscher erst jetzt allmählich zu verstehen.
1a. O-Ton - Dirk Haller:
Vor 15 Jahren hat man die Existenz dieser Bakterien komplett vernachlässigt. Man hat
gesagt: Ja, wir haben irgendwelche Bakterien, aber die spielen eigentlich keine Rolle.
Jetzt schwenkt das Pendel ein bisschen in die andere extreme Richtung: Jetzt ist jeder
physiologische Prozess verknüpft an die Präsenz von Bakterien.
Sprecherin:
Professor Dirk Haller ist Mikrobiologe. Das Getümmel im Darm interessierte ihn schon
zu Beginn seiner Karriere. Berührungsängste hat er nicht.
1b. O-Ton - Dirk Haller:
Ich bin natürlich auf du und du mit meinen Bakterien. Also ich war schon immer
interessiert an Bakterien, das war schon immer mein Forschungsthema. Auch schon als
das noch kaum jemanden interessierte. Ich habe mich auch schon immer mit dem
Fäkalinstrument beschäftigt. Ich finde Fäkalien nicht eklig. Ich ekle mich nicht und ich
fürchte mich nicht.
Sprecherin:
Diese Eigenschaft ist wichtig in Hallers Beruf. Denn die Mikrobenforscher haben es bei
ihrer Arbeit oft mit menschlichem Kot zu tun. Die Fäkalien sind so etwas wie eine
Blaupause der Darmflora. Dort finden die Forscher die gleichen Keime, wie im Darm.
Dirk Haller arbeitet am Zentralinstitut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaft der
Technischen Universität München. Dort untersucht er, welchen Einfluss die Ernährung
auf die Bakteriengemeinschaft im Darm hat. Dass diese Mikroben den Menschen bei
der Verdauung unterstützen, ist lange bekannt. Doch die kleinen Helfer übernehmen
noch jede Menge anderer Aufgaben im Körper.
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2. O-Ton - Dirk Haller:
Ich kann mich noch daran erinnern: Da hieß es: Entweder ist ein Bakterium ein
Infektionserreger, dann macht er was im Darm oder es ist eben so ein kleines
Würstchen - was weiß ich - ein Lebensmittelfermentierer, dann macht er nichts. Und das
ist jetzt mittlerweile grandios verifiziert, dass es nicht so ist. Und das ist eine echte
Genugtuung wo ich sehe: Da hat sich echt das Rad gedreht.
Sprecherin:
Immer deutlicher zeichnet sich ab: Bakterien wirken nicht nur im Darm. Ihre
Stoffwechselprodukte beeinflussen das Immunsystem, die Knochen, Lunge, Herz - und
sogar das Gehirn. Neben Milchsäure produzieren die kleinen Helfer noch viele andere
Stoffe, die den Körper beeinflussen: Zum Beispiel Enzyme, Hormone oder Antibiotika.
Gerät das Gleichgewicht in der menschlichen Bakteriengemeinschaft durcheinander,
kann der Mensch krank werden. Inzwischen wissen die Forscher, dass sich dieses
„Mikrobiota“ genannte Ökosystem im Darm verändern kann. Bei manchen chronischen
Krankheiten verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen den Bakterien: Manche Arten
kommen häufiger vor, andere werden seltener. Diesen Zusammenhang haben die
Forscher unter anderem beim Typ 2 Diabetes und bei entzündlichen Darmerkrankungen
beobachtet. Doch warum das Ökosystem im Darm mancher Menschen durcheinander
gerät, ist noch unklar. Denn das Zusammenspiel zwischen den Mikroben ist sehr
komplex. (Regie: Atmo hier schon langsam hoch) Und das Getümmel im Darm ist gelinde gesagt - unübersichtlich, gibt Dr. Felix Sommer zu bedenken.
Atmo 2: Keimfrei Labor
3. O-Ton - Felix Sommer:
Jedes Wirbeltier, jedes Säugetier hat etwa Tausend unterschiedliche Bakterienspezies
im Darm. Und rein von der Zellmenge sind es 10-mal mehr Zellen, als wir selber in
unserem ganzen Körper haben. Das heißt im Prinzip sind wir eigentlich nur 10 Prozent in Zellen - Mensch.
Sprecherin:
Was die übrigen 90 Prozent der Zellen im menschlichen Körper treiben, erforscht
Sommer am Wallenberg Laboratorium in Göteborg. Hier arbeitet der aus Kiel
stammende Biologe mit keimfreien Mäusen. Diese Tiere wachsen von Geburt an ohne
Bakterien auf. Deshalb kann der Forscher an ihnen studieren, was passiert, wenn
bestimmte Mikroben im Organismus fehlen. Oder was einzelne Bakterien im Körper so
alles anstellen.
Atmo 3: Umkleideraum
Sprecherin:
Wer Felix Sommers Mäuse besuchen möchte, muss sich erst mal bis auf die
Unterwäsche ausziehen. In einem Umkleideraum wird die gesamte Kleidung gegen
einen Schlafanzug-ähnlichen Labordress getauscht.
3
Atmo 4: Luftdusche
Sprecherin:
Dann geht es unter die Dusche: In einer engen Kabine wird der ganze Körper mit Luft
abgebürstet, mit Hochdruck wird sie aus kleinen Düsen gepustet. Fussel, ausgefallene
Haare, Hautpartikel verschwinden im Luftwirbel. Selbst das Futter für die Mäuse muss
behandelt werden. Die Forscher stecken es in einen „Autoklaven“. In diesem Gerät
werden Gegenstände und Stoffe unter Hochdruck und bei Hitze sterilisiert. Auf dem Weg
zu den keimfreien Mäusen kommt der Besucher an dem Metall-Ungetüm vorbei.
Atmo 5: Gang Maushaus
4. O-Ton - Felix Sommer:
Das ist der. Der ist auch begehbar, damit genug Platz da ist. Weil alles, was wir zu den
keimfreien Tieren geben, darf logischerweise keine lebenden Bakterien beinhalten.
Alles, was in diese Isolatoren reinkommt, wird entweder autoklaviert oder andersartig
bearbeitet, damit da keine Bakterien mehr lebend drin sind. Das macht das Ganze auch
sehr teuer (automatische Tür geht auf): Eine Maus kostet schon ein paar Tausend Euro.
Atmo 6: Tür, Pieper
Sprecherin:
Die „Tausend-Euro Mäuse“ verbringen ihr Leben hinter verschlossenen Türen. Felix
Sommer öffnet sie mit seiner persönlichen Chipkarte: Ein halliger, schmuckloser Raum
verbirgt sich dahinter. An der rechten Wand stehen durchsichtige Plastik-Container auf
einem Tisch. Die „Wohnblöcke“ der Mäuse. Darin aufgereiht die Appartements: Kleine
Plastik-Käfige, in denen graue Mäuse umherlaufen. Fünf Tiere pro Einheit.
Atmo 7: Hantieren
Sprecherin:
Felix Sommers Kollege Mattias Bergentall (Aussprache: „Berjentall“) bereitet gerade
einen Versuch für seine Doktorarbeit vor. Über schlauchartige Ausstülpungen greift er in
einen der Plastikbehälter. Sie baumeln wie zwei lange Nasen an der Seite.
Atmo 8: Isolatorraum
5. O-Ton - Felix Sommer:
Das sind diese Plastikbehältnisse, die durchsichtig sind, damit man sieht, was da drin
geschieht. In diesem Isolator ist alles steril. Das bedeutet, dass der Isolator auf der
einen Seite mit Handschuhen ausgestattet ist, so dass man dann wie das Mattias jetzt
hier macht, mit diesen dicken Handschuhen innerhalb des Käfigs oder innerhalb dieses
Isolators manipulieren kann, was man eben möchte.
Sprecherin:
Bergentall entriegelt die Käfigtür, greift nach einer Maus und setzt sie umständlich in
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eine kreisrunde Schleuse im Inneren des Plastikbehälters. Durch die dicken
Handschuhe wirken seine Bewegungen klobig, wie ferngesteuert.
6. O-Ton - Mattias Bergentall:
Man muss auch vorsichtig sein. Wenn sie beißen, ist der Versuch am Ende.
Sprecherin:
Über ein Loch im Handschuh würden sofort Keime in den Isolator gelangen. Die
geplanten Versuche wären vereitelt. Doch alles läuft nach Plan.
Atmo 9: Klappe öffnen
Sprecherin:
Bergentall zieht nun seine Hände wieder aus den langen Ausstülpungen. Dann öffnet er
die kreisrunde Schleuse von der Außenseite des Containers und holt seine Maus
heraus.
Atmo 10: Sprühen, Geklapper
Sprecherin:
Nun beginnt eine aufwändige Reinigungsprozedur: Bergentall schließt eine
Hochdruckpumpe an die Innenseite der Schleuse an. Sie sprüht ein Desinfektionsmittel
in die Öffnung. Danach dürfen die Forscher die Schleuse mindestens eine Stunde lang
nicht öffnen. Erst dann sind alle Bakterien sicher abgetötet. Bergentall nimmt nun seine
Maus und bringt sie in den Nachbarraum. Dort wird er den Darm des Tieres
untersuchen.
7. O-Ton - Mattias Bergentall:
Zur Zeit untersuche ich, ob sich die Permeabilität im Dünndarm von keimfreien Mäusen
unterscheidet von Mäusen mit Keimen.
Sprecherin:
Bergentall will also herausfinden, wie Bakterien auf die Darmwand wirken. Es geht um
das Verständnis von Morbus Crohn, einer chronischen Darmentzündung, die Ärzte noch
immer nicht heilen können. Bei Menschen, die an dieser Krankheit leiden, ist die
Darmwand durchlässiger. Deshalb können Bakterien aus dem Darm in das Innere des
Körpers gelangen. Doch dort sind sie Fremde. Der Körper versucht deshalb alles, um
sie wieder aus der Darmwand zu entfernen. Sein Immunsystem greift die Irrläufer an
und löst dabei Entzündungen aus. Die Betroffenen leiden an starkem Durchfall,
Gelenkschmerzen oder Gewichtsverlust. Auch die Arbeitsgruppe von Dirk Haller in
Weihenstephan bei München ist den Ursachen dieser Krankheit auf der Spur.
8. O-Ton - Dirk Haller:
Chronische Darmerkrankungen sind so eine Art Paradigmen-Erkrankung für die
Möglichkeit, dass nicht-pathogene Bakterien tatsächlich was machen im Darm. Man
wusste schon relativ früh, dass bei chronischen Darmentzündungen Bakterien eine
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Rolle spielen. Aber was die da machen, weiß man bis heute nicht.
Sprecherin:
Dirk Haller möchte wissen, ob die Ernährung eine Rolle spielt. Er hat keimfreie Mäuse
mit bestimmten Diäten gefüttert und beobachtet, dass die Entzündungen abklingen.
Auch Patienten mit Morbus Crohn ging es mit dieser Spezial-Ernährung besser.
9. O-Ton - Dirk Haller:
Eine Beobachtung ist, dass wenn wir recht vereinfachte Diäten nehmen, so genannte
Elementardiäten, dann können wir die Entzündung unterbinden. Das lässt sich auch bei
Patienten mit Morbus Crohn, speziell den jungen Patienten, auch sehen. Noch weiß
man aber nicht, warum diese Elementardiäten so was machen.
Sprecherin:
Ebenso wenig wissen die Forscher, welche der 1000 unterschiedlichen Bakterienarten
im Darm eine Rolle bei bestimmten Krankheiten spielen. Auch für diese Puzzlearbeit
müssen keimfreie Mäuse herhalten. Die Forscher impfen diese Tiere mit einzelnen
Bakterienstämmen. Diese vermehren sich im Organismus und besiedeln den ganzen
Körper der Maus. So wollen die Forscher mehr darüber herausfinden, was die Keime im
Organismus anstellen.
Atmo 11: Isolatorraum, Hantieren
Sprecherin:
Direkt neben dem Container, aus dem Mattias Bergentall am Göteborger Wallenberg
Laboratorium gerade seine keimfreie Maus geholt hat, steht ein weiteres Plastikzelt.
Auch darin: Graue Mäuse, die aufgeregt hin und her laufen. Im Gegensatz zu ihren
Artgenossen im Nachbarzelt sind sie aber nicht mehr völlig keimfrei: Sie wurden mit
einem einzigen Bakterienstamm geimpft. Während Bergentall die Schleuse mit einem
Akkuschrauber abdichtet, erklärt Felix Sommer den Sinn der Prozedur.
10. O-Ton - Felix Sommer:
Im Idealfall - so planen wir natürlich immer die Experimente, dass man ein Bakterium
findet, welches einen gewissen Effekt hervorruft. Leider stellt sich dabei dann heraus,
dass es meist nie ein einzelnes Bakterium ist, sondern eher das Zusammenspiel von
einem ganzen Konsortium von Bakterien. Also eine bestimmte Komposition der Flora,
die wir im Darm haben, die dann einen bestimmten Effekt auf den Wirt ausübt wie
beispielsweise ein erhöhtes Risiko für Diabetes oder etwaige andere Krankheiten.
11. O-Ton - Mattias Bergentall:
Und das kann man sich auch leicht vorstellen, weil die Flora besteht ja aus über 1000
unterschiedlichen Bakterienarten und die machen da alles mögliche.
Sprecherin:
Noch wissen die Forscher nicht, wie eine gesunde Mikrobiota eigentlich aussieht. Oder
was passiert, wenn Bakterien aus dieser Gemeinschaft verschwinden. Klar ist aber,
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dass es auch Nachteile haben kann, wenn Ärzte Keime „eradikieren“, also entfernen.
Das Magenbakterium „Helicobacter pylori“ beispielsweise galt lange Zeit als Parasit, der
im Magen Schleimhautentzündungen verursacht. Doch Helicobacter pylori hat offenbar
auch seine guten Seiten. Er reguliert die Magensäure und scheint Hormone zu
beeinflussen, die das Hungergefühl steuern. Die Angst vor
Magenschleimhautentzündungen hat dazu geführt, dass Ärzte diesen Keim
systematisch aus der menschlichen Mikrobiota vertrieben haben. Mit Antibiotika. In den
USA trägt inzwischen nur noch jedes sechste Kind dieses Bakterium in sich.
12. O-Ton - Dirk Haller:
Es gibt Diskussionen, ob diese Magenkolonisierung mit Helicobacter pylori nicht das
Merkmal einer normalen, gesunden Situation ist. Jetzt hat man angefangen, diesen
Helicobacter zu eradikieren und sieht, dass allerlei Nachteile entstehen. Es ist natürlich
schon interessant, wenn man ihn eradikiert mit Antibiotika, dass dann Konsequenzen für
andere Krankheiten entsteht.
Sprecherin:
Dirk Haller ist deshalb der Meinung, dass man Bakterien nicht aus dem „Ökosystem
Mensch“ entfernen sollte. Denn wer dort mit wem gemeinsame Sache macht, ist kaum
erforscht. Der Bakterienklüngel im Darm sollte deshalb eher als Ökosystem gesehen
und auch so behandelt werden.
13. O-Ton - Dirk Haller:
Und wenn man versteht, wie sich so ein komplexes Ökosystem verändert in der
Krankheit versteht man vielleicht auch, wie man das unterbinden kann.
Beziehungsweise vielleicht auch, ob man in der Lage ist, durch Zugabe guter Bakterien
in so ein Gefüge einzugreifen.
Sprecherin:
Als „gute“ Keime gelten zum Beispiel Milchsäurebakterien. Ihnen wird ein regulierender
Effekt auf die Mikrobengemeinschaft im Darm nachgesagt. Sie schaffen ein Milieu, in
dem schädliche Keime nicht überleben können. Andere konkurrieren mit „schlechten“
Bakterien um Nahrung und sind deshalb nützlich. Bei entzündlichen Darmerkrankungen
gibt es Hinweise, dass manche Bakterien die Darmwand schädigen, andere eher
schützen. Bestimmte Stämme des Bakteriums Escherichia Coli werden schon jetzt als
Medikament zur Behandlung des Morbus Crohn eingesetzt. Doch wirklich
nachgewiesen ist der Nutzen solcher „Probiotika“, also Mittel, die lebende Bakterien
enthalten, nicht. Die Europäische Behörde EFSA (European Food and Safety Authority)
hat deshalb allen Firmen solcher Probiotika untersagt, für ihr Produkt zu werben.
Dennoch räumt der Münchner Biologe Dirk Haller der Idee gewisse Zukunftschancen
ein.
14. O-Ton - Dirk Haller:
Auch dahin gehend geht unsere Forschung: Was charakterisiert eigentlich ein gutes
Bakterium, so dass man auf Basis dieser Forschung auch neue Probiotika entwickeln
und charakterisieren kann. Das klappt in bestimmten Patientengruppen, aber in anderen
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nicht. Also bisher gibt es da immer noch viel wishful thinking. Man ist immer noch weit
davon entfernt, ein Bakterium zu nehmen, wo man genau weiß, dass dieses Bakterium
für bestimmte Patienten protektiv wirkt.
Sprecherin:
Bisher wissen die Forscher auch nicht genau, warum die Bakteriengemeinschaft bei
manchen Menschen durcheinander gerät und krank macht. Die Forscher beobachten
aber eine Tendenz: Je mehr Arten in diesem Ökosystem leben, desto seltener gerät es
aus dem Gleichgewicht.
15. O-Ton - Dirk Haller:
Eigentlich sieht man bei allen chronischen Krankheiten, dort, wo die Mikrobiota eine
Rolle spielt, dass im Krankheitszustand die Diversität der Mikrobiota abnimmt. Dass
heißt, wenn man mal platt redet, dann sind die komplexen Ökosysteme mikrobieller Art
sind eigentlich immer stabil, je weniger komplex, umso unstabiler wird es.
Sprecherin:
Diese Vielseitigkeit sieht der US-amerikanische Professor Martin Blaser in Gefahr. Er ist
davon überzeugt, dass den Menschen in Industrienationen inzwischen wichtige Keime
abhanden gekommen sind. Einseitige Ernährung, zu viel Hygiene und
Antibiotikamissbrauch machen manchen Bakterien das Leben schwer. Sie sterben aus
oder werden seltener.
16. O-Ton - Martin Blaser:
So our hypothesis is that over the 20th century…
...Because of extinctions as a result of antibiotic use.
Übersetzung:
Wir gehen davon aus, dass wir unsere Bakteriengemeinschaft im Darm seit dem 20.
Jahrhundert sehr verändert haben. Vor ein paar Jahren habe ich die Idee entwickelt,
dass immer mehr Arten aus dieser Mikrobiota verschwinden, weil wir zu häufig und zu
unkontrolliert Antibiotika verwenden.
Sprecherin:
Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Asthma könnten auch damit
zusammenhängen, dass die Vielfalt im Darm schmaler wird, so Blaser. Tatsächlich
haben Studien diesen Zusammenhang schon nachgewiesen. Für die Entwicklung des
Immunsystems scheint es wichtig zu sein, dass der Körper Kontakt zu möglichst vielen
Bakterien bekommt. Nun untersucht Blaser, ob den Menschen in Industrienationen
tatsächlich schon ein paar Keime verloren gegangen sind. Gemeinsam mit einer
Kollegin erforscht er die Bakteriengemeinschaften im Darm von Ureinwohnern des
Amazonas. Eine Art mikrobielle Ahnenforschung.
17. O-Ton - Martin Blaser:
Our goals are several fould...
...What are the important ones and gonna replace them.
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Übersetzung:
Wir verfolgen dabei mehrere Ziele. Einmal möchten wir herausfinden, ob sich bei
Urvölkern andere Organismen im Darm finden als bei uns. Zum anderen möchten wir
eine Art Bibliothek von dieser ursprünglichen und unveränderten Bakteriengesellschaft
anlegen. Mithilfe dieser Datenbank könnten wir dann langfristig verloren gegangene
Organismen in unserer Darmflora wieder ersetzen.
Sprecherin:
Außerdem könnte Blasers Forschung dabei helfen zu klären, ob sich die Vielfalt im
Darm wieder herstellen lässt. Oder ob Ärzte die Mikrobiota eines kranken Menschen
ersetzen können. Zum Beispiel, indem sie ihm die Bakterien eines Gesunden
übertragen. In Einzelfällen hat das tatsächlich funktioniert. Doch die meisten
Keimforscher sind kritisch, weil bei einer solchen Transplantation auch Risiken
übertragen werden könnten. Unerkannte Infektionen beispielsweise. Oder Viren, die
nicht nur menschliche Zellen, sondern auch Bakterien befallen können. Im Gegensatz
zu Bakterien sind Viren keine Zellen und nicht dazu in der Lage, selbstständig zu leben.
Sie können sich nur vermehren, indem sie ihre Erbinformation in fremde Zellen
einschleusen und diese umprogrammieren. Außerdem haben sie im Gegensatz zu den
Bakterien keinen eigenen Stoffwechsel. Daher gelten Viren auch nicht als Lebewesen.
Was diese Partikel im Darm machen ist bisher so gut wie unbekannt. Auch deshalb sind
Forscher wie Dirk Haller skeptisch, die ganze Darmflora eines Menschen zu
transplantieren. Noch wisse man zu wenig über die Folgen solcher Experimente.
18a. O-Ton - Dirk Haller:
Im Prinzip sind diese Fäkaltransplantationen unglaublich spannend. Aber es gibt nicht
viel wirklich seriöse Literatur dazu. Man hat angefangen, bei Infektionen jetzt ganz
speziell bei Infektionen mit Clostridium difficile, wo es Patienten gibt, die kurz vorm
Sterben sind. Da gibt es Daten, dass die Fäkaltransplantationen wirksam sind. Und das
bedeutet, dass Bakterien im Darm was machen.
Sprecherin:
Dirk Haller gibt aber zu bedenken, dass die fremden Keime in unterschiedlichen
Patienten auch unterschiedlich wirken. Denn das Getümmel im Darm ist so individuell
wie der menschliche Fingerabdruck.
18b. O-Ton - Dirk Haller:
Und im Grunde genommen zeigen das die Fäkaltransplantationen auch. Das heißt,
wenn man den Darm spült und eine neue komplette Mikrobiota einbringt, dann ist das
eigentlich nur eine transiente Verschiebung im Ökosystem. Und die eigene Mikrobiota
kommt wieder zurück. Das heißt, unsere Mikrobiota ist recht stabil und hat nur wenige
Fenster, wo wir sie tatsächlich massiv beeinflussen können.
Sprecherin:
Nicht jeder Mensch eignet sich als Bakterienspender, als „Donor“. Und nicht in jedem
Empfänger, also „Rezipienten“, wirken die gespendeten Bakterien auf die gleiche Weise.
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19. O-Ton - Dirk Haller:
Man weiß, dass es gute Rezipienten und schlechte gibt. Das heißt auch da die
Abstimmung: Was ist eine gute Flora, von welchem Donor rekrutiere ich diese Bakterien
und in welchem Rezipienten wirkt die dann tatsächlich. Das macht die Sache sehr
kompliziert.
Sprecherin:
Zumindest Mäuse können aber auch ganz ohne Bakterien recht gut überleben. Im Labor
werden sie sogar oftmals älter als ihre verkeimten Artgenossen. Dieses Phänomen ist
genauso wenig verstanden wie viele andere Aspekte der wechselvollen Beziehung
zwischen Mensch und Mikrobe. Den Forschern wird aber immer klarer, dass das
Schicksal dieser beiden Symbionten viel enger verknüpft ist, als gedacht: Die Bakterien
gehören zum Menschen wie andere Organe auch.
20. O-Ton - Dirk Haller:
Wir werden steril geboren und können gar nicht verhindern, dass wir kolonisiert werden.
Jede Körperoberfläche wird kolonisiert und der Darm scheint mit seinem Milieu extrem
gut kolonisierbar zu sein, weil wir im Darm auch das dichteste mikrobiologische
Ökosystem überhaupt auf diesem Planeten finden.
Sprecherin:
Auch Professor Sven Pettersson hat sich mit der Frage beschäftigt, wie wichtig die
Bakterien für den Menschen sind. Der Forscher vom Karolinska Institut in Stockholm
argumentiert, dass im Grunde wir ein Teil der Bakterien sind. Der Mensch musste sich
im Laufe der Evolution an die Bakterien anpassen. Und nicht umgekehrt.
21. O-Ton - Sven Pettersson:
Bakterierna kom före oss...
…som ett hus för bakterierna.
Übersetzung:
Die Bakterien waren schon vor uns Menschen da. Wir sind also ein Teil der Evolution
der Keime, und damit wir als selbstständige Art überleben konnten, mussten wir eine
Möglichkeit finden, mit den Bakterien zusammen zu leben. Nach ihren Vorgaben. Man
kann den Menschen deshalb auch als Haus für Bakterien sehen.
Sprecherin:
Herr in diesem Haus sei aber nicht der Mensch, sagt Sven Pettersson. Im Laufe der
Evolution hätten sich die Bakterien in unserem Körper ein Milieu geschaffen, in dem sie
sich wohl fühlten und vor Hunger geschützt waren.
22. O-Ton - Sven Pettersson:
Och med sådant synsätt kan man titta:...
...och vi har tacksam tagit emot processer som är av värde för oss.
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Übersetzung:
Wenn man es aus dieser Perspektive angeht, kann man sehen: Wir sind nützlich für die
Bakterien und haben unsererseits dankbar ihre Dienste in Anspruch genommen.
Sprecherin:
Petterssons Team hat tatsächlich konkrete Hinweise dafür gefunden, dass Bakterien bei
Mäusen die Körpertemperatur regulieren: Ihre Stoffwechselprodukte wirken offenbar auf
das braune Fettgewebe. Dieses Gewebe funktioniert wie ein schneller Brüter: Es kann
Nahrung direkt in Wärme verwandeln. Kühlt der Körper aus, zapft er diese Reserve an.
Dadurch verhindert er, dass Organe geschädigt werden. Vor allem das Gehirn ist
temperaturempfindlich.
23. O-Ton - Sven Pettersson:
När bakterierna åstakommer den här säkerställning av temperaturen och att man börja
laga fat och de är 2 viktiga mechanismer som man har redovisad är en förutsättning att
komplexa organismer kan tillatas väldigt energikrävande organ. T.ex mag-tarm kanalan
och utvecklingen av hjärnan. (5:15) Och da lats energikrävande vävnader expandera.
Och det är en förkläring för varför att mäniskor har en så välutvecklad hjärna.
Übersetzung:
Bakterien sichern die Temperatur und die Energieversorgung in ihrem Haus. Damit
waren in der Evolution zwei wichtige Voraussetzungen erfüllt, dass wir uns Organe
leisten konnten, die so viel Energie verbrauchen wie der Magen-Darm-Trakt oder das
Gehirn. Ohne Energiespeicher und konstante Körpertemperatur hätte das nicht
funktioniert. Das ist eine Erklärung, warum der Mensch ein so gut entwickeltes Gehirn
hat.
Sprecherin:
Doch wie würde Leben aussehen, wenn wir uns niemals mit den Keimen eingelassen
hätten? Eine müßige Frage, meint Professor Mathias Hornef von der Medizinischen
Hochschule in Hannover. Er arbeitet am Institut für Mikrobiologie und
Krankenhaushygiene und hat erforscht, wie sich der Organismus mit seinen Bakterien
arrangiert.
24. O-Ton - Mathias Hornef:
Ich mein, im Prinzip ist es evolutionär ja vorgegeben. Die Bakterien waren zuerst da,
evolutionär sind die ja viel viel älter. Das heißt alle mehrzelligen Organismen und
letztendlich auch der Mensch sind entstanden unter der permanenten Anwesenheit von
Bakterien. Für den Wirt gab es nie die Option, keimfrei aufzuwachsen, wie diese Mäuse
in diesen speziellen Containern. Insofern ist immer eine Auseinandersetzung in der
Entwicklung zwischen dem mehrzelligen Wirt und den einzelligen Viren, Bakterien, oder
Protozoen, die zum allergrößten Teil nicht pathogen sind, also die im Prinzip den Wirt
nicht angreifen. Und einer Minderzahl von Bakterien, die professionelle Pathogene
geworden sind.
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Sprecherin:
Alles in allem profitiert der Organismus von seiner Beziehung mit den Keimen. Doch
Mensch und Mikrobe sind nur „ziemlich beste Freunde“. Der Körper muss auch lernen,
sich von den Bakterien abzugrenzen. Schon kurz nach der Geburt muss sich das
Neugeborene mit einer Flut von Keimen auseinandersetzen. Darunter nützliche und
schädliche. Der Körper muss den guten Mikroben Zutritt verschaffen. Andererseits krank
machenden den Zutritt verwehren. Mathias Hornef konnte zeigen, dass neugeborene
Mäuse einen riskanten Weg wählen: Sie heißen Freund und Feind gleichermaßen
willkommen.
Zwei Wochen lang lassen sie Einwanderer unbehelligt. Dann erst kehrt die Fähigkeit des
Immunsystems zurück, Bakterien zu erkennen.
25. O-Ton - Mathias Hornef:
Wir interpretieren das so, dass tatsächlich nach der Geburt der Wirt ein Problem hat.
Weil er nicht weiß, welche Bakterien kommen. Und die Taktik, die er da gewählt hat ist
im Prinzip, dass er erst mal sein angeborenes Immunsystem zurück fährt.
Sprecherin:
Kurz nach der Geburt ist also im Prinzip jeder Keim willkommen im „Ökosystem
Mensch“. Doch die Gästeliste ist nicht zufällig: Auf dem Weg durch den Geburtskanal
geben Mütter ihren Babys eine Gründerpopulation an Bakterien mit. Es sind vor allem
Milchsäurebakterien, die aus der Vaginalflora stammen. Per Kaiserschnitt geborenen
Kindern fehlen diese Pionier-Keime. Auf ihrem Körper entdeckten Forscher vor allem
Bakterien, die sie der Haut der Mutter und des Arztes zuordnen konnten. Noch Monate
später unterscheidet sich die Mikrobiota von schnitt- und vaginal entbundenen Babys.
Offenbar werden also schon bei der Geburt wichtige Weichen gestellt.
26. O-Ton - Mathias Hornef:
Wir wissen, dass bei Neugeborenen die Oberfläche des Darms sehr schnell besiedelt
wird. Das gilt dann für die erste postnatale Zeit, wird dann natürlich durch die Ernährung
beeinflusst und dann, wenn die Kinder anfangen, feste Nahrung zu sich zu nehmen,
entwickelt sich sowas wie eine reife adulte physiologische Darmflora, die sehr individuell
ist. Also jeder von uns trägt eine andere Flora, die dann aber in irgendeiner Form
reguliert zu sein scheint. Das ist zumindest die Vorstellung, die man heute hat.
Sprecherin:
Wer und was diese Flora reguliert, beginnen die Forscher erst langsam zu verstehen.
Noch bis vor kurzem war daran kaum zu denken: Nur die wenigsten Körperkeime ließen
sich in der Petrischale züchten und konnten so identifiziert werden. Erst seit wenigen
Jahren können Forscher die Identität der Bakterien durch genetische Analysen
nachweisen. Diese modernen Sequenziermethoden haben den Blick der Forscher
geschärft, und sie haben das Tor zu einer unbekannten Welt geöffnet.
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