Vorlesungsreihe Basiswissen KJP WS 2012/2013 ADHS – Hyperkinetische Störungen Nikolaustag, 6. Dezember 2012 Prof. Dr. med. Andrea G. Ludolph Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm ADHS und ihre Behandlung in den Schlagzeilen Hyperaktive Kinder im Pillenrausch Der kleine Kreis. 34 Kilo. Die Menge, die 1993 in Deutschland verschrieben wurde. Ilustration F.A.S. Der große Kreis. 1,8 Tonnen. Die Menge an Wirkstoff, die 2010 in Deutschland verschrieben wurde. Sonntagszeitung vom 12. Februar 2012 „Das ist eine Zeitdiagnose. Eine moderne Definition, die man für überforderte Schüler, Eltern und Lehrer erfunden hat.“ FAZ 4. April 2012 DER SPIEGEL 31 / 2012 DER SPIEGEL 31 / 2012 Je jünger die Erstklässler, desto häufiger ADHS Vancouver - Bei früh eingeschulten Kindern wird besonders häufig eine Aufmerksamkeitsstörung ADHS diagnostiziert und behandelt. Ihr im Verhältnis zu älteren Klassenkameraden unreiferes Verhalten wird häufig irrtümlich als krankhaft interpretiert, wie kanadische Forscher in einer Studie mit fast einer Million Grundschulkindern herausgefunden haben. Besonders hoch sei das Risiko für Fehldiagnose und falsche Behandlung bei Kindern, die kurz vor dem Stichtag für das Einschulungsalter Geburtstag hatten. Sie seien typischerweise die jüngsten und unreifsten ihrer Klasse, berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin "Canadian Medical Association Journal". Der Spiegel 5.3.2012 Influence of relative age on diagnosis and treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder in children Abstract BACKGROUND: The annual cut-off date of birth for entry to school in British Columbia, Canada, is Dec. 31. Thus, children born in December are typically the youngest in their grade. We sought to determine the influence of relative age within a grade on the diagnosis and pharmacologic treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) in children. METHODS: We conducted a cohort study involving 937 943 children in British Columbia who were 6-12 years of age at any time between Dec. 1, 1997, and Nov. 30, 2008. We calculated the absolute and relative risk of receiving a diagnosis of ADHD and of receiving a prescription for a medication used to treat ADHD (i.e., methylphenidate, dextroamphetamine, mixed amphetamine salts or atomoxetine) for children born in December compared with children born in January. Morrow RL, Garland EJ, Wright JM, Maclure M, Taylor S, Dormuth CR. CMAJ, 2012 Apr 17;184(7):755-62. Epub 2012 Mar 5. Influence of relative age on diagnosis and treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder in children Abstract RESULTS: Boys who were born in December were 30% more likely (relative risk [RR] 1.30, 95% confidence interval [CI] 1.23-1.37) to receive a diagnosis of ADHD than boys born in January. Girls born in December were 70% more likely (RR 1.70, 95% CI 1.53-1.88) to receive a diagnosis of ADHD than girls born in January. Similarly, boys were 41% more likely (RR 1.41, 95% CI 1.33-1.50) and girls 77% more likely (RR 1.77, 95% CI 1.57-2.00) to be given a prescription for a medication to treat ADHD if they were born in December than if they were born in January. INTERPRETATION: The results of our analyses show a relative-age effect in the diagnosis and treatment of ADHD in children aged 6-12 years in British Columbia. These findings raise concerns about the potential harms of overdiagnosis and overprescribing. These harms include adverse effects on sleep, appetite and growth, in addition to increased risk of cardiovascular events Morrow RL, Garland EJ, Wright JM, Maclure M, Taylor S, Dormuth CR. CMAJ, 2012 Apr 17;184(7):755-62. Epub 2012 Mar 5. 9. Ausbildung, Weiterbildung, Fortbildung Bundesärztekammer Angesichts der Bedeutung der Störung muss gefordert werden, dass sie sowohl im Studium als auch in der Weiterbildung und Fortbildung verschiedener Berufsgruppen verankert wird. Für die Ärzteschaft ist die zertifizierte Fortbildung hierfür ein geeignetes Medium (vgl. (14)). 9.1 Medizinstudium, ärztliche Weiterbildung und Fortbildung Es ist zu fordern, dass die ADHS / HKS, ebenso wie andere psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters, sowohl im Curriculum für Studierende der Humanmedizin stärker verankert als auch in die Weiter- und Fortbildung der Kinder- und Jugendpsychiater, Kinder und Jugendärzte, Allgemeinärzte und aller anderen Arztgruppen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, stärker einbezogen wird. Auch in den Prüfungsfragen für die verschiedenen Abschnitte der ärztlichen Prüfung muss die ADHS / HKS stärker berücksichtigt werden. Sie ist ebenso umfassend in die Weiterbildungsgänge der oben genannten Facharztgruppen einzubeziehen und in Fortbildungsveranstaltungen stärker zu berücksichtigen. http://www.bundesaerztekammer.de ADHS Definition Epidemiologie Diagnostik Pathophysiologie Therapie DER SPIEGEL vom 15.7.2002 Diagnoseverteilung Institutsambulanz (Anzahl Diagnosen) Diagnosenverteilung im Jahr 2010 Anzahl Patienten im Jahr 2010 Was kennzeichnet ADHS / ADS oder HKS? Unaufmerksamkeit Hyperaktivität Impulsivität Symptome treten mindestens in zwei unterschiedlichen settings auf (meist Schule und zu Hause) Manifestation vor dem 7. Lebensjahr und Dauer von mindestens 6 Monaten Nach DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual, American Psychiatric Association, 1994) gibt es 3 Subtypen: Der unaufmerksame Typ (IN), der hyperaktive-impulsive Typ (HI), der kombinierte Typ (CB) CB entspricht am ehesten der hyperkinetischen Störung nach ICD 10 (F 90) In der ICD 10 kann die häufige Komorbidität mit Störung des Sozialverhalten extra diagnostiziert werden Symptomatik Die zehn wichtigsten Symptome bei ADHS: Unaufmerksamkeit und leichte Ablenkbarkeit Hyperaktiv und/oder verträumt Impulsivität Vergesslichkeit und schlechtes Kurzzeitgedächtnis das Kind wirkt zerstreut und chaotisch große Probleme beim Einhalten von Regeln Schul- und Lernprobleme, Vermeidungsverhalten beim Lernen Große Stimmungsschwankungen in kurzer Zeit Geringer Selbstwert Problematisches Sozialverhalten, gliedert sich nicht in Gruppen ein Häufigste Komorbiditäten und Differentialdiagnosen Teilleistungsstörungen* Lernbehinderung Störung des Sozialverhaltens oppositionelle Verhaltensstörung Angststörung Zwangstörung posttraumatische Belastungsstörung Depression bipolare Störung Tic-Störungen Anpassungsstörungen * - Rezeptive Sprachstörungen - Lese- und Rechtschreibstörung - Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen Pathophysiologie Krankheitsgene Umweltfaktoren Neurobiologische Abweichungen Endophänotypen Neuropsychologische Abweichungen Phänotyp Keine ADHS ADHS Unterschiedlicher Ausprägungsgrad Modifiziert nach Williams et al., Am J Psychiatry, 2012 Bio-psycho-soziales Entwicklungsmodell Aus: Resch et al. Gene Proteine/ Proteinexpression Neurone und neuronale Netzwerke Verhalten Genes code for proteins not for behaviors. (Landis & Insel, Science Nov 2008) ADHS: Genetik Zwillingsstudien zeigen eine hohe genetische Vulnerabilität (> 2000 Paare, monozygote 50-80% Konkordanz, Dizygote 35%) Adoptionsstudien zeigten einen stärkeren Genetischen Einfluss als gemeinsame Umwelt. Geschwister: Prävalenz 2-4x höher Eltern: Prävalenz 8 – 10x höher Kinder von Eltern mit ADHS: 60% ADHS: Genetik Polymorphismen korreliert mit ADHS: 10-repeat Allel des DAT 1 (Dopamintransporter) und 7-repeat Allel des DRD4 (und DRD5) Rezeptors GRIN2A BDNF SNAP 25 – NMDA glutamate receptor subtype – brain derived neurotrophic factor - synaptosomal-associated protein of 25 kDa, is an integral part of SNARE (soluble N-ethylmaleimide-sensitive factor attachment protein receptor), a docking complex for synaptic vesicle exocytosis and neurotransmitter release Integrated Genome-Wide Association Study Findings: Identification of a Neurodevelopmental Network for ADHD Ergebnisse: 45 von 85 der „top-ranked“ ADHS Kandidatengene lassen sich in ein neuronales Entwicklungsnetzwerk einfügen, das direkt in Neuritenwachstum involviert ist. Poelmans et al., Am J Psychiatry, 2011 ADHS: Umweltfaktoren - Frühgeburtlichkeit (Hypoxie) - Nikotin und Alkohol, Drogen, Medikamente in utero - psychosozialer Stress in der Schwangerschaft - Blei (?) - Diät(?) NATURE or NURTURE NATURE AND NURTURE Das Dopaminerge Belohnungssystem Bei ADHS - The frontal lobes The frontal lobes play important roles in a variety of higher psychological processes - like planing, decision making, impulse control, language, memory, and others. There is mounting evidence that neuronal circuitry in the frontal lobes is shaped and fine tuned during adolescence, and that experience plays a prominent role in these changes. (Aaron M. White, PhD, Dep of Psychiatry, Duke University Medical Center, Durham, NC, USA) Dopamin-Metabolismus H+Cl- DA Ca++ DA Ca++ ATP MPH DA MPH Na+ Na+ Cl- DAT Na+ DA Na+ ClDA DA DA DA ANATOMIE UND ZELLBIOLOGIE Mechanismus des MPH Effekts DIAGNOSTIK I Psychiatrische Anamnese des Kindes Psychopathologischer Befund Fremdanamnese der Bezugspersonen Familiengespräch Körperlich – neurologische Untersuchung EEG, EKG, MRT, Labor Anamnese: Familienanamnese: genetische Belastung (Heritabilität 70-80%) Risikofaktoren in der Schwangerschaft: psychosozialer Stress (Cortisolausschüttung, epigenetische Beeinflussung der embryonalen HPA Achse, veränderte Cortisol-Rezeptor-Expression) Nikotin- oder Alkoholkonsum, Substanzkonsum Medikamenteneinnahme Geburtsanamnese: Frühgeburtlichkeit, Hypoxie, Apgar-Index, Nabelschnur-pH DIAGNOSTIK II Kurze Projektive Verfahren 3 – Wünsche Probe Satzergänzungstest „Familie in Tieren“ -------------------------------------------------------------------------------------- Häufig eingesetzte Fragebögen - YSR / CBCL / TRF ILK, BDI, EDI (Beschwerdefragebogen, Depressionsfragebogen, Essstörung) ADHS – Fragebogen (DYSIPS, Döpfner, Köln) Kiddie-SADS (Standardisiertes Interview) DIAGNOSTIK III Testpsychologische Untersuchungen: – Leistungstests: Intelligenztests (K-ABC, HAWIK IV) – Aufmerksamkeitstests (d2, TAP) Therapiemöglichkeiten in der KJP ambulante, teilstationäre, stationäre Behandlung MULTIMODALES THERAPIEKONZEPT: - Psychotherapie, psychosoziale Interventionen, Medikation Psychotherapie: verbal Psychoedukation VT/ CBT, analytisch Familientherapie nonverbal Kunsttherapie Musiktherapie Ergotherapie tiergestützte Therapie Bewegungstherapie Psychosoziale Interventionen - Elterntraining - Schule - ambulante oder stationäre Jugendhilfemassnahmen (sozialpädagog. Familienhilfe, Erziehungsbeistand, Jugendhilfeeinrichtung) - Gruppentrainingprogramme - Konzentrationstraining Psychopharmakologische Therapie: Ethische Bedenken „I´d rather be myself,” he said. “Myself and nasty. Not somebody else, however jolly.” [Aldous Huxley, 1932] Methylphenidat Pharmakotherapie „Primäre Pharmakotherapie ist meist dann indiziert, wenn eine stark ausgeprägte, situationübergreifende hyperkinetische Symptomatik mit krisenhafter Zuspitzung vorliegt.“ (z.B. Umschulung in Sonderschule, massive Belastung der Eltern-Kind-Beziehung) PSYCHOPHARMAKA bei ADHS - Psychostimulanzien Methylphenidat (Ritalin®, Medikinet®, Equasym®, Methylphenidat Hexal®, Retardpräparate: Ritalin SR®, Concerta®, Medikinet ret® Equasym ret®) Amphetamine (D-Amphetaminsaft) - Selektive Noradrenalin Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin (Strattera®) [Reboxetin (Edronax®)] - Adrenerger alpha2-Agonist Clonidin (Catapresan®), Guanfacin (zentral u peripher, Aktivitätshemmung noradrenerger Neurone im LC) - Antidepressiva Bupropion (Zyban®, Wellbutrin®(USA)) METHYLPHENIDAT Wirkmechanismus: nicht genau bekannt! - Dopamintransporterblocker, darüber Veränderung der Signaltransduktion im dopaminergen System? Weiteres??? Präparate: Ritalin®, Medikinet®, Equasym®, Methylphenidat Hexal®, Retardpräparate: Ritalin SR®, Concerta®, Ritalin LA®, Medikinet ret®, Equasym ret® Patches METHYLPHENIDAT Dosierung: kaum kontrollierte Studien für Kinder unter 6 Jahren - Alter über 6 Jahre: Beginn morgens 5mg, zweite mittägliche Dosis 5 mg allmähliche Dosissteigerung um 5-10 mg pro Woche, maximale Tagesdosis liegt bei 60 mg. übliche optimale Dosis: 0,5 – 1,0 mg/kg, verteilt auf 2-3 Tagesgaben Unerwünschte Wirkungen: Häufig: Schlafstörungen, Einschlafstörungen, verminderter Appetit, unspezifische gastrointestinale Beschwerden, Reizbarkeit, erhöhte Herzfrequenz Selten: Sozialer Rückzug, Depressive Verstimmung, Auslösung von Tics, erhöhter Blutdruck, Schwindel, Übelkeit, Obstipation, Kribbelparästhesien, eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit bei sehr hohen Dosen (> 1mg/kg/d), z.B. Einengung der Aufmerksamkeit, verminderte Flexibilität im Denken, schlechtere Problemlösestrategien Nebenwirkungserfassung nach Barkley Probleme beim Einschlafen und andere Schlafstörungen Alpträume Starrt ins Leere, Tagträume Spricht wenig mit anderen Interessiert sich wenig für andere Hat wenig Appetit Ist empfindlich und reizbar Hat Magenschmerzen Hat Kopfschmerzen Klagt über Schwindel Ist traurig; weint schnell Ist ängstlich Kaut exzessiv Fingernägel Ist über die Maßen fröhlich oder euphorisch Ist müde Hat nervöse Zuckungen, Tics Hat Haarausfall Nebenwirkungen im Langzeitverlauf In der MTA Studie führte die Exposition über 6 Jahre bis in die frühe Adoleszenz – nicht zu Effekten auf Puls und Blutdruck – Das Gewicht war im 3 Jahresverlauf geringer aber nicht mehr am Ende des 6 Jahres Zeitraums – zu einem Wachstumsverminderungseffekt (height z-scores both by medication quartile and by original group assignment, with maximum affect at 3 years) Kontraindikationen relative absolute Schwangerschaft/ Stillzeit Manifeste Psychosen Akute Angstzustände Arterieller Hochdruck Kardiale Arrhythmien Tic-Störung, Tourette Syndrom Anfallsleiden Medikamenten- und Drogenabusus Atomoxetin - Selektiver Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Blockade des NERTs sofort, Wirkeintritt dauert bis zu 8 Wochen - unterscheidet sich in der chemischen Struktur kaum von Fluoxetin - war primär ebenfalls als Antidepressivum entwickelt - dann als Mittel für ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter getestet und zugelassen - Gravierendste NW ähnlich wie SSRIs: Suizidalität - Gute Alternative zu Methylphenidat bei komorbiden Ticstörungen und natürlich auch bei emotionalen Störungen des Kindesalters Evidenzgrade I Harte Evidenz, systematisches Review, verschiedene randomisierte Studien mit gutem Design II Harte Evidenz, mindestens eine randomisierte Studie mit gutem Design III Evidenz beruhend auf nicht-randomisierten Studien mit gutem Design IV Evidenz beruhend auf nicht-experimentellen Studien mit gutem Design, mehr als 1 Zentrum oder Forschergruppe V Meinung respektierter Experten, deskriptive Studien, Berichte von Expertenkomitees Nichtmedikamentöse Therapie bei ADHS Multimodale Behandlung der hyperkinetischen Symptomatik Psychoedukation (Aufklärung und Beratung) (III) Elterntraining / Familieninterventionen (I) Schul-/Kindergarten-Interventionen (I) Selbstinstruktionstraining / Selbstmanagementtraining (II) Pharmakotherapie (I) Behandlung komorbider Störungen Soziales Kompetenztraining (opp./aggr. Verhalten) (II) Einzel- / Gruppentherapie (Selbstwertgefühl, Kontaktstörungen)(V) (tiefenpsychologisch / non-direktiv / verhaltenstherapeutisch) Übungsbehandlungen (Teilleistungsstörungen) (I-V) (Evidenzgrad) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Andrea G. Ludolph e-mail: [email protected]