Dr. med. Gabi Hoffbauer Das Anti-Hormon-Buch Dr. med. Gabi Hoffbauer Das AntiHormonBuch Ein kritischer Ratgeber für Frauen und Männer Kösel Wichtiger Hinweis: Alle Aussagen, Empfehlungen und Übungsvorschläge in diesem Buch sind von der Autorin sorgfältig recherchiert und geprüft worden. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Autorin und Verlag weisen ausdrücklich darauf hin, dass jegliche Form von Hormonbehandlung stets in Absprache mit einem Arzt, einer Ärztin und durch deren Kontrolle erfolgen sollte. Eine Haftung irgendwelcher Art von Seiten der Autorin und des Verlages wird hiermit ausgeschlossen. Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Munken White liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden. Copyright © 2007 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlag: fuchs-design, Ottobrunn Umschlagmotiv: Bruce Heinemann / Getty Images Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN: 978-3-466-34507-6 www.koesel.de 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Hormone – eine Einführung 9 15 Krankheiten durch Hormonmangel . . . . . . . . . . . . . . . 23 Geschlechtshormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2 Hormonbehandlung der Frau in den Wechseljahren – Segen, Fluch oder einfach nur nutzlos? 31 Die verschiedenen Phasen in den Wechseljahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Wie sich die hormonellen Veränderungen auf den Körper auswirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Wie sich die hormonellen Veränderungen auf die Psyche auswirken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Typische psychosoziale Veränderungen in der Zeit der Wechseljahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Wechseljahre in anderen Kulturkreisen . . . . . . . . . . . 44 Die Vorteile der Wechseljahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Durch den Hormonmangel bedingte Veränderungen bzw. Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Blutungsstörungen 49 Nachlassen der Fruchtbarkeit 50 Das typische klimakterische Syndrom: Hitzewallungen und Schweißausbrüche 51 Abnahme der Knochenmasse und mögliche Entwicklung einer Osteoporose 55 6 Inhalt Häufige Beschwerden, die nicht immer hormonell bedingt sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Hautalterung 83 Haarausfall 87 Und noch ein Schreckgespenst: der Damenbart 90 Trockene Schleimhäute 91 Trockene Schleimhäute und erhöhte Verletzlichkeit der Geschlechtsorgane 93 Harnwegsinfektionen 96 Harninkontinenz 99 Schlafstörungen 105 Depressive Verstimmungen 110 Gewichtszunahme, »metabolisches Syndrom«, Fettstoffwechselstörungen, Entwicklung einer Zuckerkrankheit 114 Herzklopfen 118 Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit 120 Geistige Leistungseinschränkungen / AlzheimerDemenz 122 Gelenkbeschwerden, Muskelschmerzen 123 Geschichte der Hormonbehandlung in den Wechseljahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Gefahren der Hormonersatztherapie . . . . . . . . . . 144 Erhöhtes Brustkrebsrisiko 144 Thrombosen und Embolien 146 Gallenblasenerkrankungen 147 Das gibt es auch: Vorteile der Hormonersatztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Das Drama: Die Ergebnisse der Studien kommen bei vielen Ärzten und Patientinnen gar nicht an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Wann ist eine Hormontherapie nach den heutigen Erkenntnissen noch gerechtfertigt? . . . . . . . . . . . . . . . 151 Wann sollten Sie auf eine Hormontherapie verzichten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Inhalt Wie wird die Hormonersatztherapie heute durchgeführt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 155 Alleinige Behandlung mit Gestagenen 157 Alleinige Östrogentherapie nach operativer Entfernung der Gebärmutter 159 Lokale Behandlung mit Östrogenen 160 Kombinationsbehandlung mit Östrogenen und Gestagenen 162 Fraglicher Nutzen und potenzielle Risiken durch pflanzliche Hormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Wechseljahre des Mannes – eine echte Krankheit? Woran »leiden« Männer in den Wechseljahren? . . . . . 163 173 176 Vermindertes sexuelles Verlangen und Potenzprobleme 178 Übergewicht 181 Zuckerstoffwechsel 183 Fettstoffwechsel 184 Herz-Kreislauf-Erkrankungen 186 Schlaffe Muskeln 188 Brüchige Knochen 189 Nebenwirkungen und Risiken der Testosteronbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Prostatakrebs 191 Gutartige Prostatavergrößerung 192 Schlaf-Apnoe-Syndrom 193 Vermehrte Bildung von roten Blutkörperchen 194 Hautveränderungen 194 Wann sollte ein Mann mit Testosteron behandelt werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Wer darf auf keinen Fall mit Testosteron behandelt werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 8 Inhalt Wie »behandelt« man männliche Wechseljahrsbeschwerden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Macht Testosteron wirklich jung und schön? . . . . . . . 199 4 Anti-Aging – können Hormone das Alter wirklich aufhalten? 201 Alter ist keine Krankheit!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Warum bekommt die Anti-Aging-Industrie so enormen Zuspruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Warum werden wir älter?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Die zweifelhaften Anti-Aging-Hormone . . . . . . . . . . . 209 DHEA – das »Superhormon« 210 Wachstumshormon – und Sie müssen nie mehr Diät halten? 213 Melatonin – der Jungbrunnen aus der Zirbeldrüse 215 Weitere zweifelhafte Anti-Aging-Versprechen . . . . . . . 217 Viel besser: Was Sie selbst tun können, um jung, gesund und fit zu bleiben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 9 Vorwort Hormone kommen heutzutage nicht nur in den Fällen zum Einsatz, denen ein krankhafter Hormonmangel zugrunde liegt. Heute werden von Frauen wie von Männern geradezu hemmungslos Hormone geschluckt, und zwar zur Verbesserung des Befindens, des Aussehens, der Leistungsfähigkeit und Fitness, zum Aufhalten des Alterungsprozesses und um viele andere Dinge zu vermeiden, die gewiss keine Krankheiten sind. Oder sind Sie der Meinung, dass die Wechseljahre eine Krankheit sind oder dass es ein krankhafter Prozess ist, wenn man mit den Jahren älter wird? Im Gegenteil: Es entspricht natürlichen Gesetzmäßigkeiten, dass Frauen um das 50. Lebensjahr ihre Fähigkeit, Babys zu bekommen, allmählich verlieren, was sich darin zeigt, dass die Menstruation unregelmäßig auftritt und schließlich ganz ausbleibt. Bisher ist jede Frau in diese Lebensphase eingetreten, genauso wie sie viele Jahre zuvor die Pubertät durchlebt hat. Selbst wenn weder Pubertät noch die Wechseljahre generell nur angenehme Seiten haben, so handelt es sich doch um ganz natürliche Vorgänge im Körper eines Menschen, die nichts mit Krankheiten zu tun haben. Auch die Tatsache, dass jeder Mensch Tag für Tag älter wird, ist weder eine Tragödie noch eine Krankheit, auch wenn man damit rechnen muss, dass verschiedene Beschwerden und Erkrankungen im Alter häufiger auftreten als in der Jugend. Andere hingegen, das vergisst man leider zu oft, kommen im Alter viel seltener oder gar nicht mehr vor, wie zum Beispiel die klassischen Kinderkrankheiten Masern, Röteln usw. Jede Lebensphase hat also ihre Besonderheiten: angefangen von den speziellen Erfahrungen und Erlebnissen jedes Lebensabschnittes über die altersentsprechenden körperlichen Veränderungen bis hin zu altersspezifischen Erkrankungen. Kein Mensch würde behaupten, dass es komisch ist, dass Babys erst 10 Vorwort nach einiger Zeit Zähne bekommen, Kleinkinder erst langsam laufen lernen und alle Kinder dabei ständig wachsen. Warum soll es dann eigenartig sein, dass ältere Menschen weiße Haare bekommen, ihre Haut faltig wird und viele von ihnen eine Brille brauchen, um die Zeitung zu lesen? Besonders in den fortschrittlichen Ländern der Welt hat man den Alterungsprozess zu einer leidvollen Schmach degradiert, nicht selten wird das Altern an sich schon als Krankheit angesehen, die uns schwach und hilfsbedürftig macht. Gewiss ist das Älterwerden nicht nur eine reine Freude. Wie schon gesagt, gibt es tatsächlich einige Krankheiten, die in dieser Lebensphase häufiger auftreten, und schließlich müssen viele Menschen in sehr hohem Alter einige Einschränkungen in Kauf nehmen. Doch sollte niemand vergessen, wie beschwerlich das Leben in den ersten Tagen und Monaten auf dieser Erde war. Keiner hätte dies überlebt, wäre er nicht von liebevollen Erwachsenen umsorgt und aufopfernd gepflegt worden. Und nur für die wenigsten Menschen war die Pubertät ein reines Zuckerschlecken. Ebensowenig ist das Erwachsenenalter mit all seinen Verpflichtungen für jedermann ein Füllhorn reinsten Glücks. Doch warum entwickeln so viele Menschen eine nahezu irrationale Angst vor dem Älterwerden? Diese Angst hat man uns eingeflößt, damit wir die verschiedensten Dinge kaufen, um uns wieder jünger, besser, leistungsfähiger, attraktiver, schlanker und fitter zu fühlen. Doch was die Anti-Aging-Industrie in jedermann vor allem anzusprechen vermag, ist vermutlich die tief verborgene Angst vor der Endlichkeit des Seins, die wir lieber verdrängen, als uns mit ihr auseinanderzusetzen. Und es mag auch die Angst davor sein, ausgegrenzt zu werden, nicht mehr dazuzugehören, ins moderne Abseits der Altenpflege abgeschoben zu werden. Schließlich ahnen wir alle, dass wir im Alter nicht wie das Neugeborene nur von liebenden Menschen umsorgt und aufopferungsvoll gepflegt werden, falls es uns nicht mehr gelingt, all unsere Körperabläufe und Tätigkeiten selbst zu organisieren. Vorwort Diese und viele andere Ängste greift die Anti-Aging-Industrie auf und schürt sie hemmungslos, sodass vor allem immer mehr Frauen Hormone einnehmen, um die vermeintlich alt und krank machenden Wechseljahre aufzuhalten. Aber auch mehr und mehr Männern in den fragwürdigen männlichen Wechseljahren werden Hormone angeboten und von ihnen liebend gern angenommen. Letztendlich soll die Wunderdroge wie ein warmer »Anti-Aging-Regen« auf alle Menschen niedergehen, die älter werden, dabei eine Menge Einbußen ihrer Lebensqualität befürchten und diese hinzunehmen nicht bereit sind. Nun endlich hat die Industrie für das Älterwerden – sei es im Hinblick auf den Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit oder auf den allgemeinen Alterungsprozess des menschlichen Körpers – einen Schuldigen gefunden und damit auch eine Möglichkeit, dieses Älterwerden aufzuhalten, vielleicht sogar umzukehren oder wenigstens zu bremsen: Der Hormonmangel soll es sein, der all die Unbill des Älterwerdens über uns hereinbrechen lässt – die schütteren, grauen Haare, den immer größer werdenden Bauchansatz, die schwindende Muskelkraft, die trockenen Schleimhäute, die herabfallenden Schultern, die schmerzenden Knie, den mehrfach unterbrochenen Schlaf, die hängenden Lider und Tränensäcke und eventuell sogar den fehlenden Lebensmut … Tatsächlich lässt die Produktion vieler Hormone mit zunehmendem Alter, oft sogar schon ab den Zwanzigerjahren, mehr und mehr nach. Doch auch dies ist mit Sicherheit kein Mangel und schon lange keine Krankheit, wie es uns immer wieder eingeredet wird, sondern ebenfalls ein ganz natürlicher Prozess, der bisweilen sogar schützende Funktionen hat. Dieses Buch möchte darüber informieren, wie wichtig Hormone für die Abläufe in unserem Körper sind, aber auch darüber aufklären, dass Veränderungen in der Hormonbildung uns beim Älterwerden weder krank noch unattraktiv machen. 11 12 Vorwort Dennoch ist gerade für viele Frauen der relativ abrupte Abfall der Östrogenproduktion mit einigen unangenehmen bis quälenden Beschwerden verbunden. Daher möchte ich klarstellen: Generell soll jede Frau – und natürlich auch jeder Mann – selbst entscheiden, ob sie oder er Hormone einnehmen möchte, um Hitzewallungen und Schweißausbrüchen in den Wechseljahren zu entgehen und eventuell auch weiteren Alterserscheinungen entgegenzuwirken. Dass die Behandlung mit Hormonen jedoch nicht immer ungefährlich und in vielen Fällen sogar vollkommen nutzlos ist, sollten alle wissen, bevor sie sich für eine Hormontherapie entscheiden. Schließlich gibt es eine ganze Reihe von Ressourcen im Körper und Geist jedes Menschen, mit deren Hilfe sich sowohl Wechseljahrsbeschwerden als auch einige weniger angenehme Alterserscheinungen ganz vertreiben, zumindest aber erheblich lindern und das Alter selbst als eine kostbare Zeit des Lebens erfahren lassen. Und wenn Beschwerden aufgrund natürlicher hormoneller Umstellungen im Körper auftreten, sind die natürlichsten Behandlungsmethoden meist die besten und wirksamsten. Damit sind keinesfalls pflanzliche Hormone gemeint, sondern natürliche und für jeden greifbare Mittel wie Bewegung, eine gesunde genussreiche Ernährung, ausreichende Entspannungsmöglichkeiten, aber auch sinnvolle Aufgaben und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung sowie eine optimistische, gelassene und humorvolle Betrachtung des Lebens. Doch bevor es um die Beurteilung von hormonellen Veränderungen im Alter, ihre Auswirkungen und ihre Behandlungsmöglichkeiten geht, erfahren Sie in Kapitel 1 zunächst einmal, welche Bedeutung Hormone überhaupt haben, welche Aufgaben sie übernehmen, wie sie aufgebaut sind und wo sie gebildet werden. Um die Bedeutung von Hormonen weiter zu verdeutlichen, lesen Sie dann, welche Krankheiten entstehen, wenn von einem Hormon zu viel oder zu wenig produziert wird und dadurch die reibungslose Funktion aller Körpervorgänge beeinträchtigt ist. Vorwort In Kapitel 2 über die Wechseljahre der Frau wird genau beschrieben, welche hormonellen Veränderungen in dieser Zeit auftreten, welche Folgen sie haben und welche Beschwerden sie möglicherweise hervorrufen. Hier werden auch die Möglichkeiten einer Hormonersatztherapie erläutert, kritisch betrachtet und natürliche Alternativen angeboten. Auf die Wechseljahre des Mannes, die neuerdings verstärkt ins öffentliche Interesse rücken, geht Kapitel 3 ein. Anschließend folgt in Kapitel 4 eine kritische Betrachtung der gängigen Anti-Aging-Methoden. 13 1 Hormone – eine Einführung 16 Hormone – eine Einführung Das aus dem Griechischen stammende Wort Hormon bedeutet in Bewegung setzen oder aufwecken. Tatsächlich bringen Hormone eine ganze Menge in Bewegung: Mit ihrer Hilfe steuert der Körper praktisch jeden seiner Lebensvorgänge. Hormone regeln die Fortpflanzung, das Wachstum im Mutterleib und das Heranwachsen in Kindheit und Jugend, sie steuern Hunger und Verdauung, halten den Blutdruck und die Menge des im Körper zirkulierenden Blutes aufrecht und bewirken noch vieles, vieles mehr. Das Hormonsystem, oder richtiger ausgedrückt das endokrine System, dient wie das Nervensystem der Übermittlung von Informationen oder Signalen. Die beiden Systeme der Informationsübermittlung unterscheiden sich vor allem darin, dass das Nervensystem Signale sehr schnell weiterleitet, während Hormone von dem Ort, an dem sie gebildet werden, und dem Organ oder Gewebe, an dem sie ihre Wirkung entfalten, oft einen längeren Weg zurücklegen müssen und deshalb ihre Informationen langsamer weitergeben. Entdeckung der Hormone Oskar Minowski, ein Assistent an der Medizinischen Hochschule in Straßburg, und Josef von Mering vom Hoppe-Seyler-Institut in derselben Stadt diskutierten im Jahr 1889 darüber, ob die Bauchspeicheldrüse von Hunden bei deren Fettverbrennung von Bedeutung sei. Um diese Frage zu klären, entnahmen sie einem Hund operativ die Bauchspeicheldrüse. Bevor sie jedoch ihre geplanten Versuche zur Verdauung von Fetten durchführen konnten, bemerkte Minowski etwas anderes: Der nun ohne Bauchspeicheldrüse lebende Hund produzierte viel mehr Urin, und dieser Urin enthielt auch viel mehr Zucker als der Urin eines gesunden Hundes. Beides waren typische und auch damals schon gut bekannte Symptome einer Zuckerkrankheit. Daraus schloss Minowski, dass der Mangel eines von der Bauchspeicheldrüse hergestellten Stoffes die Ursache der Zuckerkrankheit war, den Hormone – eine Einführung wir heute alle als Insulin kennen. Minowskis Schlussfolgerung war zwar richtig, doch schaffte er es nicht, diesen Mangel zu beheben, weil er dem Hund über das Futter einen Extrakt aus der Bauchspeicheldrüse zuführte. Denn er wusste damals noch nicht, was die Medizin heute weiß: dass nämlich Insulin ein Eiweiß ist, das im Magen zerstört wird, sodass es keine Wirkung mehr entfalten kann, wenn es über die Nahrung zugeführt wird. Trotz vieler weiterer Bemühungen konnte Minowski also das Geheimnis des »antidiabetischen Faktors« nicht lüften. Erst im Sommer 1921 kamen Frederick G. Banting und sein Assistent Charles Best im Labor von J.J.R. MacLeod an der Universität von Toronto der Lösung des Rätsels näher. Sie entdeckten Gruppen von Zellen in der Bauchspeicheldrüse als Produzenten des »antidiabetischen Faktors«. Banting und Best gelang es Ende 1921, einen gereinigten Bauchspeicheldrüsenextrakt herzustellen, der zudem vor der Zerstörung durch eiweißspaltende Enzyme geschützt war. Mit diesem Extrakt gelang es endlich, einen wiederum bei einem Hund künstlich provozierten Diabetes zu heilen. Schon einen Monat später wurde dieser Extrakt einem schwer zuckerkranken Jugendlichen gespritzt, was ihm das Leben rettete. 1923 erhielten Banting und MacLeod für die Isolierung von Insulin den Nobelpreis. Bald darauf wurde Insulin industriell aus der Bauchspeicheldrüse von Schweinen gewonnen, und viele Diabetiker konnten nun weltweit mit diesem »antidiabetischen Stoff« behandelt werden. Seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts ist es möglich, unbegrenzte Mengen Insulin, das sich nicht von menschlichem Insulin unterscheidet, gentechnisch herzustellen. Hormone sind sehr unterschiedlich aufgebaut: Einige bestehen aus einzelnen Aminosäuren (daraus werden Eiweiße aufgebaut), andere sind kleinere oder größere Eiweiße und schließlich gibt es noch die Steroidhormone, die in der Nebenniere aus Cholesterin synthetisiert werden. 17 18 Hormone – eine Einführung Hormone werden in erster Linie in Drüsen gebildet, die man endokrine Drüsen nennt, weil sie nicht wie Talg- oder Schweißdrüsen einen Ausführungsgang haben, über den die von der Drüse gebildete Substanz an die Oberfläche, zum Beispiel der Haut oder auch des Verdauungstraktes, gelangen. Endokrine Drüsen geben die von ihnen produzierten Hormone direkt ins Blut (endo = nach innen, krin = absondernd) ab. Über das Blut gelangen die Hormone dann zu ihrem Zielorgan oder Zielgewebe, wo sie ihre Wirkung entfalten. Für diese Aufgabe reicht schon eine sehr geringe Menge eines Hormons aus. Wichtige hormonproduzierende Drüsen sind die Schilddrüse, die Nebenschilddrüsen, die Hirnanhangsdrüse (Hypothalamus), die Nebennieren, die Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse und schließlich die Eierstöcke sowie die Hoden als Produzenten der Geschlechtshormone. Ist ein Hormon an seinem Zielorgan bzw. seiner Zielzelle angelangt, bindet es sich dort an speziell für dieses Hormon ausgebildete Bindungsstellen, so genannte Rezeptoren, die sich auf der Oberfläche der Zellen befinden. Dabei passt das jeweilige Hormon wie ein Schlüssel in das Schloss des Rezeptors. Jede Zelle im Körper ist mit einer Reihe unterschiedlicher Hormonrezeptoren ausgestattet, an die sich jeweils ein spezielles Hormon binden kann. Die Bindung eines Hormons an den dafür spezifischen Rezeptor löst im Inneren der Zelle bestimmte biochemische Reaktionen aus. Auch hier gibt es wieder eine Ausnahme: Einige Hormone, insbesondere die in der Nebenniere gebildeten fettlöslichen Steroidhormone, binden sich nicht an Rezeptoren der Zelloberfläche, sondern dringen durch die aus Fetten bestehende Zellhülle ins Zellinnere ein und binden sich dann dort an spezielle Rezeptoren. Neben dieser klassischen Hormonsteuerung – Bildung des Hormons in einer Drüse und Wirkung des Hormons an einem anderen Ort – gibt es so genannte Gewebshormone, die nicht in einer speziell für diese Aufgabe bereitgestellten Drüse gebildet Hormone – eine Einführung werden, sondern meist im gleichen Organ und/oder Gewebe, in dem sie – auf andere Zellen – ihre Wirkung ausüben. Zu diesen Gewebshormonen gehören zum Beispiel die Prostaglandine. Diese Hormone kommen in nahezu allen Organen vor und werden vor allem bei einer Entzündung freigesetzt, wodurch sie den Kampf des Körpers gegen die Ursache der Entzündung, beispielsweise Viren oder Bakterien, unterstützen. Leider rufen sie bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe oft auch Schmerzen und Fieber hervor. Wenngleich unangenehm, ist diese Prostaglandinwirkung dennoch sinnvoll, da Schmerzen und Fieber uns dazu zwingen, etwas gegen eine Erkrankung zu unternehmen – selbst wenn dies nur darin besteht, uns ins Bett zu legen und dem Organismus im Kampf gegen die Entzündung seine Kraft nicht für andere Dinge zu rauben. Daneben haben Prostaglandine noch zahlreiche weitere Wirkungen an verschiedenen Organen: Sie vermindern zum Beispiel im Magen die Produktion von Magensäure und hemmen die Bildung eines Blutgerinnsels, indem sie die Zusammenballung von Blutplättchen verhindern; außerdem erweitern sie arterielle Blutgefäße, um nur die wichtigsten Effekte zu nennen. Viele Hormone beeinflussen also nicht nur die Funktion eines, sondern gleich mehrerer Organe. Besonders Schilddrüsenhormone binden sich an viele Gewebe und Organe und üben dabei eine vorwiegend stimulierende Wirkung aus. Das wird ganz deutlich bei Menschen, die unter einer Schilddrüsenüberfunktion leiden. Sie haben meist einen beschleunigten Puls, sind nervös und aufgeregt, der obere Blutdruckwert ist oft erhöht, und ihr Stoffwechsel läuft auf Hochtouren. Deshalb sind sie ständig hungrig, nehmen aber trotz großer Essensmengen eher ab. Außerdem ist ihnen aufgrund der vermehrt umgesetzten Energie oft zu warm, sie schwitzen leicht und haben manchmal auch eine erhöhte Körpertemperatur. Darüber hinaus haben sie weiches, dünnes Haar, gelegentlich auch Haarausfall, schlafen schlecht, und bei weiblichen Patienten treten nicht selten Zy- 19 20 Hormone – eine Einführung klusstörungen auf. Dies zeigt, wie viele Organe und Gewebe von Schilddrüsenhormonen beeinflusst werden. Die Bildung und Ausschüttung vieler Hormone wird über einen so genannten Regelkreis gesteuert. Bleiben wir hier beim Beispiel der Schilddrüsenhormone: Die beiden Hormone Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3) werden vermehrt aus der Schilddrüse ins Blut abgegeben, wenn sie dazu durch das Steuerungshormon TSH (Thyreoidea [= Schilddrüse] stimulierendes Hormon) angeregt werden, das in der Hirnanhangsdrüse gebildet wird. Über diesen Regelkreis wacht noch ein weiterer: Es muss nämlich außerdem die TSH-Ausschüttung durch TRH (= TSH-Releasing-Hormone = TSH freisetzendes Hormon) stimuliert werden, das im Hypothalamus, einem Bereich des Zwischenhirns, produziert und ins Blut abgegeben wird. So kompliziert sich diese Steuerung anhört, so wichtig ist es doch zu erkennen, dass Stoffe wie die Schilddrüsenhormone mit ihrer Wirkung auf eine Vielzahl von Organen einer sehr exakten Steuerung unterliegen. Sinkt der Spiegel der im Blut zirkulierenden Schilddrüsenhormone ab, setzt die Hirnanhangsdrüse mehr TSH frei. Dieses Hormon gelangt über das Blut zur Schilddrüse und bindet sich dort an spezielle Bindungsstellen – die TSH-Rezeptoren auf der Oberfläche der Schilddrüsenzellen. Dadurch werden in der Zelle Mechanismen in Gang gesetzt, die wiederum zu einer vermehrten Bildung und Abgabe von Schilddrüsenhormonen an das Blut führen. Ein weiterer Regulationsmechanismus für die Freisetzung von Hormonen besteht darin, dass eine Drüse die Höhe eines bestimmten Stoffes im Blut messen kann. Dies ist zum Beispiel bei der Insulinfreisetzung aus den Inselzellen der Bauchspeicheldrüse der Fall. Steigt der Blutzuckerspiegel, beispielsweise nach dem Essen, stark an, dann reagieren die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse darauf mit einer vermehrten Freisetzung von Insulin. Schließlich ist Insulin notwendig, um den Zucker (Glukose) aus dem Blut in die Zellen zu schleusen, die ihn zur Hormone – eine Einführung Energiegewinnung benötigen. Fällt der Blutzuckerspiegel nach einer vermehrten Insulinfreisetzung wieder ab, dann drosselt auch die Bauchspeicheldrüse die Ausschüttung von Insulin. Darüber hinaus kann die Freisetzung von Hormonen durch das unwillkürliche autonome Nervensystem geregelt werden. HORMONE UND IHRE AUFGABEN IM KÖRPER Hormone Funktion Adrenalin Stresshormon Aldosteron Regelt zusammen mit Renin und Angiotensin den Wasser- und Mineralstoffhaushalt Antidiuretisches Hormon (ADH = Vasopressin) Wassersparendes Hormon, vermindert die Urinproduktion Cortisol Stresshormon, beteiligt an der Regulation des Kohlenhydrat-Stoffwechsels Erythropoietin (EPO) In der Niere hergestelltes Hormon, das die Bildung von roten Blutkörperchen im Knochenmark anregt Gastrin Gewebehormon, das im Magen unter anderem die Bildung von Salzsäure stimuliert Glukagon Von den Inselzellen der Bauchspeicheldrüse gebildetes Hormon, das den Blutzuckerspiegel erhöht, Gegenspieler von Insulin Insulin Von den Inselzellen (daher der Name!) der Bauchspeicheldrüse gebildetes Hormon, das den Blutzuckerspiegel senkt Leptin In den Fettzellen gebildetes Appetit und Gewicht regulierendes Hormon 21 22 Hormone – eine Einführung Hormone Funktion Melatonin Beteiligt an der Steuerung des Tag-NachtRhythmus Noradrenalin Stresshormon Östrogene Weibliche Sexualhormone Parathormon Reguliert zusammen mit den Hormonen Calcitonin und Vitamin D den Kalziumstoffwechsel Progesteron Gelbkörperhormon, steuert zusammen mit Östrogenen den Menstruationszyklus, fördert die Einnistung einer befruchteten Eizelle und deren Weiterentwicklung in der Schwangerschaft Prolactin Sorgt für das Wachstum der weiblichen Brust in der Schwangerschaft und das Einsetzen der Milchproduktion nach der Geburt, fördert auch die Pigmentbildung Schilddrüsenhormone Regulieren beim Kind die körperliche und geistige Entwicklung und beeinflussen zahlreiche Körperfunktionen Somatotropin (STH) Stimuliert das Wachstum beim Kind und = Wachstumshorsorgt beim Erwachsenen für Zellwachstum mon und Zellerneuerung Testosteron Männliches Sexualhormon In dieser Liste sind nur die wichtigsten Hormone aufgeführt. Es gibt jedoch noch weitaus mehr dieser unterschiedlichen Stoffe, die zusammen mit dem Nervensystem die Funktionen des Körpers optimal koordinieren.