Geschichte und Gesellschaft, 2014, 40. Jahrgang, Heft 3

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Druck- und Bindearbeit: q Hubert & Co, GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6,
D-37079 Göttingen.
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000, ISSN (E-Journal): 0340-613X
1 Beilage: V&R Academic
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Geschichte und Gesellschaft
Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft
Herausgegeben von
Jens Beckert / Christoph Conrad / Sebastian Conrad / Ulrike Freitag /
Ute Frevert / Svenja Goltermann / Dagmar Herzog / Wolfgang Kaschuba /
Simone Lässig / Paul Nolte / Jürgen Osterhammel / Margrit Pernau /
Sven Reichardt / Stefan Rinke / Rudolf Schlögl / Manfred G. Schmidt /
Martin Schulze Wessel / Adam Tooze / Hans-Peter Ullmann
Geschäftsführend
Christoph Conrad / Ute Frevert / Paul Nolte
Vandenhoeck & Ruprecht
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Geschichte und Gesellschaft
40. Jahrgang 2014 / Heft 3
Lebensraum Meer
Herausgegeben von
Christian Kehrt und Franziska Torma
Vandenhoeck & Ruprecht
Inhalt
Christian Kehrt und Franziska Torma
Einführung: Lebensraum Meer. Globales Umweltwissen und Ressourcenfragen in den 1960er und 1970er Jahren
Introduction: Lebensraum Sea. Global Environmental Knowledge and
Resources in the 1960s and 1970s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Ariane Tanner
Utopien aus Biomasse. Plankton als wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Projektionsobjekt
Utopia Out of Biomass. Plankton as an Object of Scientific and Societal
Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Franziska Torma
Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital. Westdeutsche Fischereiexperten am Golf von Thailand (1959 – 1974)
Living Resources and Symbolic Capital. West German Fisheries Experts in
the Gulf of Thailand (1959 – 1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Sven Asim Mesinovic
Globale Güter und territoriale Ansprüche. Meerespolitik in der Bundesrepublik Deutschland und den USA in den 1960er Jahren
Global Common Spaces and Territorial Requests. Ocean Politics in the
Federal Republic of Germany and the United States in the 1960s . . . . . . 382
Christian Kehrt
„Dem Krill auf der Spur“. Antarktisches Wissensregime und globale
Ressourcenkonflikte in den 1970er Jahren
Krill Research. The Antarctic Knowledge Regime and Global Resource
Conflicts in the 1970s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
Sabine Höhler
Die Weltmeere. Science und Fiction des Unerschöpflichen in Zeiten
neuer Wachstumsgrenzen
The World’s Oceans. The Science and the Fiction of the Inexhaustible in a
Time of New Limits to Growth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
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Einführung: Lebensraum Meer.
Globales Umweltwissen und Ressourcenfragen
in den 1960er und 1970er Jahren
von Christian Kehrt und Franziska Torma*
Abstract: This thematic issue advances the theory that the oceans should be considered part of the contemporary history of West Germany. Three main aspects guide
this proposal: oceans are spaces of global history ; their study could enhance the
understanding of the global processes and conflicts which affected the Federal Republic of Germany during the long 1970s; the oceans were considered to be one of
humanity’s last reservoirs of inexhaustible resources in times of planetary scarcity.
The Federal Republic of Germany was interested in exploring and using oceanic
resources for economic, scientific, and political purposes. The entanglement of science, technology and politics played a crucial role in ocean exploration, and generated
a specific form of environmental knowledge which has not been investigated.
1968 analysierte der amerikanische Ökologe Garrett Hardin mit seinem
scharfsinnigen und weit rezipierten Beitrag „The Tragedy of the Commons“
das Problem der Überbevölkerung und die daraus resultierenden AllmendeDilemmata.1 Gegen alle technisch-wissenschaftlichen Versuche, die Versorgung einer dramatisch wachsenden Weltbevölkerung sicherzustellen, betonte
er die grundsätzliche Beschränktheit weltweiter Ressourcen. Die damals
verheißungsvollen Zukunftsprojekte der Weltraumfahrt, der Kernenergie oder
der Industrialisierung der Landwirtschaft stellten für ihn keine Lösung dar.
Auch die Nutzung von Meeresressourcen verstand er als Beleg für die
unkontrollierte, zerstörerische Verwertung globaler Gemeingüter. Dieser
umstrittene Essay Hardins, der sich für ein radikales Nullwachstum der
Weltbevölkerung aussprach, ist zeitdiagnostisch aufschlussreich, da er die
Versorgung der Menschheit im Kontext globaler Ressourcenfragen diskutierte
* Die in diesem Themenheft behandelten Fragestellungen und Kooperationen wurden
durch das Rachel Carson Center for Environment and Society motiviert und gefördert.
Für wichtige Hinweise, Anregungen und Kritik danken wir Martina Heßler, Gotthilf
Hempel und Volker Siegel.
1 Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons, in: Science 162. 1968, S. 1243 – 1248, hier
S. 1243; vgl. Ingo Heidbrink, „Deutschlands einzige Kolonie ist das Meer!“ Die deutsche
Hochseefischerei und die Fischereikonflikte des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2004,
S. 185 – 187; vgl. zu Global Commons: Michael Goldman, Privatizing Nature. Political
Struggles for the Global Commons, New Brunswick 1998; Cornelis Disco u. Eda
Kranakis (Hg.), Cosmopolitan Commons. Sharing Resources and Risks Across Borders,
Cambridge, MA 2013.
Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 313 – 322
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
314
Christian Kehrt und Franziska Torma
und gerade jene wissenschaftlich-technischen Lösungsansätze hinterfragte,
die in den 1960er und 1970er Jahren Konjunktur hatten.
Als eine der Global Commons standen die Ozeane im Zentrum von internationalen Debatten, die das Meer mit Fragen der Welternährung, mit geostrategischen Überlegungen des Kalten Krieges sowie der Umweltausbeutung und
-verschmutzung verknüpften.2 Obwohl die Meere als Transportwege, als
Ressourcenreservoir, als Lebensraum und als Schlachtfeld zentrale Aspekte
einer Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts berühren, hat sie die deutsche
Zeitgeschichte bisher so gut wie nicht beachtet.3 Als Interaktionsräume
bringen sie verschiedene Kulturen miteinander in Kontakt und sind, so Jürgen
Osterhammel, durch länderübergreifende Verflechtungen und Austauschbeziehungen geprägt. Bislang jedoch wurden diese „Lieblingsräume von Globalhistorikern“ vor allem für die Frühe Neuzeit untersucht, während sie für das
19. Jahrhundert undeutlich geblieben sind.4 Gleiches gilt für das 20. Jahrhun2 Dazu auch: Elisabeth Mann Borghese, Die Zukunft der Weltmeere. Ein Bericht für den
Club of Rome, Zürich 1985.
3 Vgl. zu den verschiedenen Räumlichkeiten, Nutzungsformen und politischen Regimen
der Meere: Philipp E. Steinberg, The Social Construction of the Ocean, Cambridge, MA
2001.
4 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts,
München 2009, S. 157. Eines der ersten Werke über die Rolle der Ozeane in der
Geschichte ist Fernand Braudels dreibändige Studie zur mediterranen Welt („La
Mditerrane et le monde mditerranen l’poque de Philippe II“), die als seine
Habilitationsschrift im Jahr 1949 in französischer Sprache erschienen ist. In deutscher
Übersetzung: Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche
Philipps II., Frankfurt 1990. Davon ausgehend hat sich die Wissenschaft, neben dem
Mittelmeer, mit spezifischen Ozeanen wie zunächst dem Atlantik befasst. Dazu
exemplarisch: David Armitage u. Michael J. Braddick (Hg.), The British Atlantic
World, 1500 – 1800, Houndsmills 2002. Mit der Atlantic History waren Fragen der
Imperienbildung durch Handelsbeziehungen, die maritime Kontrolle von Stützpunkten, der Ausbau der Plantagenwirtschaft und Fragen des Sklavenhandels verbunden, vgl.
dazu methodisch und programmatisch: Alison Games, Atlantic History. Definitions,
Challenges, and Opportunities, in: American Historical Review 111. 2006, S. 741 – 757.
Die atlantische Welt gewann auch im Licht postkolonialer Fragestellungen Gestalt.
Exemplarisch sei hier auf das Black Atlantic Writing verwiesen: Paul Gilroy, The Black
Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London 1993; Ian Baucom, Specters of
the Atlantic. Finance Capital, Slavery, and the Philosophy of History, Durham 2005.
Zuletzt mehren sich Beiträge, die den Atlantik als umwelthistorischen Geschichtsraum
entwerfen, z. B.: Jeffrey Bolster, Putting the Ocean in Atlantic History. Maritime
Communities and Marine Ecology in the Northwest Atlantic, 1500 – 1800, in: American
Historical Review 113. 2008, S. 19 – 47 und ders., The Mortal Sea. Fishing the Atlantic in
the Age of Sail, Cambridge, MA 2012. In den letzten Jahren rückte auch der Pazifik in den
Fokus der Forschung, vgl. Matt K. Matsuda, The Pacific, in: American Historical Review
111. 2006, S. 758 – 780; ders., Pacific Worlds. A History of Seas, Peoples, and Cultures,
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Einführung
315
dert, in dem weite Teile der Meere erschlossen wurden und im Zentrum
globaler wirtschaftlicher, politischer und militärischer Strategien und Konflikte standen.
Dieses Themenheft zeigt auf, warum es sich lohnt, die Weltmeere als
Untersuchungsgegenstände einer globalgeschichtlich orientierten Zeitgeschichte zu entdecken. Die Autorinnen und Autoren argumentieren darüber
hinaus, dass die Betrachtung der Meere in den 1960er und 1970er Jahren
umwelt- und wissenschaftshistorische Ansätze für die Zeitgeschichte anschlussfähig macht. Die Weltmeere galten zwar rhetorisch als Gemeingut der
Menschheit, das zu schützen und allenfalls wissenschaftlich zu erschließen sei.
Als vermeintlich staatsfreie Räume schürten sie jedoch auch Kolonisationsphantasien in Ost und West. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Gemeingütern und staatlichen Besitzansprüchen berührt drei übergeordnete Aspekte
der Zeitgeschichte. Erstens sind Meere für eine globalgeschichtlich orientierte
Zeitgeschichte unmittelbar relevant, da sie Bruchlinien und Konfliktfelder der
Weltpolitik in den 1960er und 1970er Jahren offenlegen. Fragen der Meeresnutzung und Meerespolitik eröffnen, wie die Beiträge dieses Heftes zeigen,
auch neue Wege für eine Globalgeschichte der Bundesrepublik. Zweitens
kommt den Meeren als Lebensraum und Ressource eine besondere Bedeutung
in Zeiten globaler Knappheit zu. Durch ihre scheinbar immensen und
unerschöpflichen lebenden und mineralischen Ressourcen wie Krill, Plankton,
Öl, Gas oder Manganknollen leisteten sie wirtschaftlichen und politischen
Erwartungen und Utopien der Nutzung und Erschließung Vorschub, die auch
für die Bundesrepublik von Interesse waren. Drittens spielten Meeresforschung und Meerestechnik bei der Erschließung und zukünftigen Nutzung
dieser globalen Umwelten eine zentrale Rolle. Die historische Bedeutung des
Umweltwissens der Meeresforschung im Spannungsfeld von Politik, Ökonomie und Ökologie ist bislang allerdings erst ansatzweise erforscht.
Diesen genannten Querschnittsbereichen widmet sich das Heft aus umwelt-,
wissens- und politikhistorischer Perspektive. Damit beleuchtet es nicht nur
den Stellenwert des Meeres in der Zeitgeschichte, sondern wirft auch neue
Perspektiven auf die Geschichte der Bundesrepublik in den „langen 1970er
Jahren“.5 Die Beiträge umspannen die Zeit ungebremster Machbarkeits- und
Cambridge, MA 2012. In umwelthistorischer Perspektive: Ryan Tucker Jones, Running
into Whales. The History of the North Pacific from Below the Waves, in: American
Historical Review 118. 2013, S. 349 – 377.
5 Im Bereich der Wissenschafts- und Technikforschung markieren die „langen 1970er
Jahre“ eine stärkere Markt- und Innovationsorientierung und die Einbeziehung
gesellschaftlicher Problemlagen in die Wissenschaften sowie eine aktiv steuernde
Forschungspolitik. Vgl. zum Begriff und Forschungsfeld der 1970er Jahre: Frank
Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 57; Konrad
H. Jarausch, Zwischen „Reformstau“ und „Sozialabbau“. Anmerkungen zur Globalisierungsdebatte in Deutschland, 1973 – 2003, in: ders. (Hg.), Das Ende der Zuversicht?
316
Christian Kehrt und Franziska Torma
Wachstumsphantasien bis zu den ökologischen Krisenjahren und verorten
Westdeutschland in dieser sich wandelnden Welt. Das Themenheft fokussiert
speziell auf die Erwartungen, Konfliktlinien und Strategien, die mit der
Erschließung neuer Nahrungsquellen und Ressourcen verknüpft waren. Für
Staaten wie die Bundesrepublik, die nach dem Zweiten Weltkrieg erst wieder
auf die internationale Ebene zurückgelangen mussten, waren maritime
Ressourcenfragen von strategischer Bedeutung und eröffneten Zugang zur
internationalen Politik.
I. Meere als Räume des Globalen in der Bundesrepublik
Im letzten Jahrzehnt sind Forschungsfelder entstanden, die die Bundesrepublik in globalgeschichtliche Zusammenhänge einbinden.6 Unter der Perspektive des „Lebensraums Meer“ fragen die Autorinnen und Autoren, welche
Bedeutung der Ozean als globaler Raum für die Bundesrepublik hatte.7 Dieser
Fokus entspricht dem hohen Stellenwert, den Staat, Experten und Wissenschaft den Ozeanen in den 1960er und 1970er Jahren beigemessen haben. Wie
sich am Beispiel des Meeresbodens oder anhand von Fischereikonflikten
analysieren lässt, entziehen sich weite Bereiche der offenen See nationalen
Zugriffen und Souveränitätsansprüchen. Diese staatsfreien Räumlichkeiten
erforderten deshalb internationale Nutzungsregime, in deren Konfliktlagen
sich politische Eigeninteressen widerspiegelten.
Der Begriff der Meerespolitik, den Sven Mesinovic vorschlägt, beschreibt
dieses genuin politische Handlungsfeld, das die Akteure der Meeresforschung
zu Trägern machtpolitscher Kalküle und Strategien auf internationaler Ebene
machte.8 Katalysiert durch den Kalten Krieg und die Entstehung der sogeDie siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 330 – 349; Anselm DoeringManteuffel, Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. Zur historischen
Einordnung der siebziger Jahre, in: ebd., S. 315 – 329; ders. u. Lutz Raphael, Nach dem
Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 20102.
6 Die Geschichte der Entwicklungspolitik und damit einhergehend ein neues Verständnis
des Kalten Krieges, der sich nicht nur an der deutsch-deutschen Grenze, sondern auch in
Asien, Afrika und Lateinamerika abspielte, macht globalhistorische Ansätze notwendig.
Vgl. Hubertus Büschel u. Daniel Speich (Hg.), Entwicklungswelten. Globalgeschichte
der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt 2009; Hubertus Büschel, In Afrika helfen.
Akteure westdeutscher „Entwicklungshilfe“ und ostdeutscher „Solidarität“ 1955 – 1975,
in: AfS 48. 2008, S. 333 – 365. Zu den Chancen und Herausforderungen der Globalität in
der Bundesrepublik Deutschland vgl. Eckart Conze (Hg.), Die Herausforderung des
Globalen in der Ära Adenauer, Bonn 2012.
7 Zur Verknüpfung global- und raumhistorischer Perspektiven vgl. Sabine Höhler u. Iris
Schröder (Hg.), Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900,
Frankfurt 2005.
8 Vgl. den Beitrag von Sven Mesinovic in diesem Heft, S. 382 – 402.
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Einführung
317
nannten „Dritten Welt“, deren Vertreter Sitz und Stimme in den internationalen Organen der Vereinten Nationen erhielten, intensivierte sich weltweit
das Interesse am Meer.9 Zugleich führte die gestiegene Ausbeutung der Ozeane
zur globalen Problematik der Überfischung und Umweltverschmutzung.10 Die
zukünftige Nutzung der Meeresressourcen rief Fragen der Regulierung des
Zugangs zu diesen Gemeingütern hervor. Neue, internationale und durch
wissenschaftliche Expertise begründete Nutzungsformen rückten auf die
weltpolitische Agenda und wurden in den Debatten um den Antarktisvertrag
und das Internationale Seerecht thematisiert. Während Völkerrechtler früh auf
die schwierigen Verhandlungen der UN-Seerechtskonvention in den 1970er
Jahren aufmerksam wurden, haben Historiker diese globalen Problemlagen an
der Schnittstelle von Umwelt, Recht, Politik und Wissen bislang kaum
untersucht.11 Als Kurzküstenstaat verlor die Bundesrepublik im Zuge der
Neuregelungen des Internationalen Seerechts den Zugang zu wichtigen
Fischgründen und Ressourcenvorkommen und war auf alternative Strategien
der Nutzung und Kooperation angewiesen. Der Beitrag von Franziska Torma
über westdeutsche Fischereiforscher am Golf von Thailand, Sven Mesinovics
Vergleich der Meerespolitik der Bundesrepublik und der USA sowie Christian
Kehrts Betrachtung der Krillforschung der Bundesrepublik in den langen
1970er Jahren sind in diesem Kontext zu verorten.
II. Das Meer als Lebensraum und Ressource
Mit „Lebensraum“ steht ein Begriff im Zentrum, der unterschiedliche
politische Konnotationen vereint. In der Geografie des 19. Jahrhunderts
stand er im Kontext kolonialpolitischer Diskussionen, in der nationalsozialistischen Ideologie legitimierte er rassistische Besiedlungsutopien. Der am
Ozean orientierte Lebensraumbegriff eröffnet weniger beladene, jedoch nur
auf den ersten Blick unpolitische Bedeutungsfelder. Er bezeichnet ökologische
9 Zur postkolonialen Dimension der Meeresforschung im Kalten Krieg: Jacob Darwin
Hamblin, Science and North-South Sentiment. International Oceanography in the
Pacific and Indian Oceans, 1950 – 1966, in: Historisch-Meereskundliches Jahrbuch
8. 2001, S. 89 – 102.
10 Dass diese Probleme auch eine lange Vorgeschichte haben, zeigt: Bolster, The Mortal
Sea, insb. S. 223 – 264.
11 Vgl. Wolfgang Graf von Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens, Berlin 1972;
ders., Aspekte der Seerechtsentwicklung. Die Bundesrepublik Deutschland und die
Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen, München 1980; ders. (Hg.), Die
Plünderung der Meere. Ein gemeinsames Erbe wird zerstückelt, Frankfurt 1981; Rüdiger
Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume. Die Entwicklung einer internationalen Verwaltung für Antarktis, Weltraum, Hohe See und Meeresboden, Berlin
1984.
318
Christian Kehrt und Franziska Torma
und meeresbiologische Zusammenhänge und Prozesse und verweist auf
lebenswissenschaftliche Debatten.12 Konzepte der Meeresökologie oder der
Biomasse mögen relativ jung erscheinen, doch dieses Heft zeigt, dass auch sie
ihre Geschichte haben. Arianne Tanners Beitrag befragt die zeithistorischen
Diskussionen um Ökologie und Welternährung auf ihre historischen Kontinuitäten. In ihrer longue dure-Studie der Planktonforschung wird ersichtlich,
dass aktuelle Debatten um Lebensräume und Ressourcen in der Labor- und
Feldforschung des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen.13 Die Planktonforschung legte den Grundstein zur Wahrnehmung der Meere als dynamischem Lebensraum. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie meeresbiologische und
ozeanografische Erkenntnisse in ökonomische und politische Entscheidungsprozesse eingespeist werden konnten. Plankton galt bereits im 19. und frühen
20. Jahrhundert als Grundlage maritimer Stoffkreisläufe, deren ökonomisches
Potential wissenschaftlich erschlossen werden sollte.14 Das Verständnis des
Meeres als Ressourcenlager nimmt somit mit der Meeres- und Fischereiforschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und der darin einsetzenden
Rede von den Produktions- und Stoffkreisläufen der Ozeane seinen Ausgang.15
Ein umwelthistorischer Zugang zu Ressourcenfragen erweitert die bislang in
der Wirtschaftsgeschichte dominante Sichtweise auf den Marktwert von
Rohstoffen. Wie Joachim Radkau und Ingrid Schäfer am Schlüsselbeispiel des
Holzes festgestellt haben, „schreiben Rohstoffe“ Geschichte.16 Als Energiequelle oder als Ausgangsbasis wirtschaftlicher Wertschöpfungsketten haben
sie eine große gesellschaftliche Bedeutung.17 So wie ein Naturgut erst durch
12 Vgl. zum Begriff des Lebensraumes in der deutschen Geschichte: Ulrike Jureit, Das
Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert,
Hamburg 2012, S. 127 – 158; Woodruff D. Smith, „Weltpolitik“ und „Lebensraum“, in:
Sebastian Conrad u. Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational.
Deutschland in der Welt 1871 – 1914, Göttingen 2006, S. 29 – 48. Der in der Biologie
gebräuchliche Begriff des Lebensraums beziehungsweise des Habitats geht bis in das
18. Jahrhundert auf Carl von Linn zurück.
13 Zur Rolle der Ozeane im langen 19. Jahrhundert liegt nun folgender neuer Band vor:
Alexander Kraus u. Martina Winkler (Hg.), Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im
langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2014.
14 Vgl. dazu den Beitrag von Ariane Tanner in diesem Heft, S. 323 – 353.
15 Eric L. Mills, Biological Oceanography. An Early History, 1870 – 1960, Ithaca, NY 1989.
16 Joachim Radkau u. Ingrid Schäfer, Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt,
München 2012. Jüngst ist auch Erdöl als Ressource unter wissenshistorischer Perspektive untersucht worden: Rüdiger Graf, Ressourcenkonflikte als Wissenskonflikte.
Ölreserven und Petroknowledge in Wissenschaft und Politik, in: GWU 63. 2012,
S. 582 – 599; Rüdiger Graf, Das Petroknowledge des Kalten Krieges, in: Bernd Greiner
u. a. (Hg.), Macht und Geist im Kalten Krieg, Hamburg 2011, S. 201 – 222.
17 Vgl. zur Wertschöpfung aus dem Meer in Zeiten des Nationalsozialismus: Ole
Sparenberg, „Segen des Meeres“. Hochseefischerei und Walfang im Rahmen der
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Einführung
319
wissenschaftliche, politische und ökonomische Praktiken zur Ressource wird,
so existiert auch das Meer nicht jenseits der Geschichte. Ressourcen besitzen
aber auch stoffliche Qualitäten, die sich oftmals den Nutzungskalkülen
beharrlich widersetzen konnten.
Dieses Verständnis der Weltmeere als scheinbar unendliches Ressourcenlager
ist Ergebnis historischer und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse.18 Die
vielschichtigen Wechselbeziehungen von Mensch und Meer haben nach dem
Zweiten Weltkrieg einen grundlegenden Wandel erfahren. Der dänische
Wissenschafts- und Technikhistoriker Poul Holm beschrieb dies als „große
Beschleunigung“. Damit bezeichnete er die massiven anthropogenen Veränderungen der maritimen Ökosysteme.19 Lebende Ressourcen wie Fische, Wale
oder Krill sowie mineralische Ressourcen wie etwa Öl oder Gas wurden
Bestandteil von Nutzungs- und Erschließungsregimen, die auf deren Verwertung abzielten. Unter dieser ökonomischen Perspektive lässt sich für die zweite
Hälfte des 20. Jahrhunderts analysieren, wie Plankton, Krill, Fische und
Meeressäuger als „lebende Ressourcen“ in Wertschöpfungskreisläufe eingebunden worden sind.20
III. Globales Umweltwissen:
Meeresforschung – Meeresnutzung
Bereits im 19. Jahrhundert rückten die hohe und die tiefe See als Wissensraum
in den Fokus ozeanografischer Expeditionen.21 In dieser frühen Phase war
Meeresforschung staatlich subventionierte Großforschung, die Wissenschaft
eng an intendierte Ressourcennutzung band. Erste internationale Zusammenschlüsse der Meeresforschung im späten 19. Jahrhundert fanden vor allem im
18
19
20
21
nationalsozialistischen Autarkiepolitik, Berlin 2012; Reinhold Reith u. Birgit PelzerReith, Fischkonsum und „Eiweißlücke“ im Nationalsozialismus, in: VSWG 96. 2009,
S. 4 – 30. In internationaler Perspektive und mit Fokus auf das 20. Jahrhundert liegt ein
Themenheft der Environmental History unter dem Titel „Marine Forum“ vor, vgl.
Environmental History 18. 2013, H. 1.
Vgl. Jeffrey Bolster, New Opportunities in Marine Environmental History, in: Environmental History 11. 2006, S. 567 – 597.
Poul Holm, World War II and the „Great Acceleration“ of North Atlantic Fisheries, in:
Global Environment 10. 2012, S. 66 – 91.
Karen Oslund, Protecting Fat Mammals or Carnivorous Humans? Towards an
Environmental History of Whales, in: Historical Social Research 29. 2004, S. 63 – 81;
Carmel Finley, All the Fish in the Sea. Maximum Sustainable Yield and the Failure of
Fisheries Management, Chicago 2011. Vgl. dazu auch die Beiträge von Franziska Torma
und Christian Kehrt in diesem Heft, S. 354 – 381 u. S. 403 – 436.
Helen M. Rozwadowski, Fathoming the Ocean. The Discovery and Exploration of the
Deep Sea, Cambridge, MA 2005.
320
Christian Kehrt und Franziska Torma
Bereich der Fischereiforschung statt.22 Diese Tradition der Meeresforschung,
dass Wissenschaftler als Berater für die Politik auftraten und somit zu
politischen Akteuren wurden, findet im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung.
Im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg war das Meer als Machtraum von
enormer strategischer Bedeutung.23 Das Meer wurde technisch, wissenschaftlich und militärisch bis in die letzten Tiefen erfasst, kontrolliert und
erschlossen.24 Die USA bauten ihren globalen Herrschaftsraum auf ein
technopolitisches Netzwerk von kleinen Inseln auf, die als Basis für Militärflugzeuge und U-Boote dienten. Dieses erdumspannende Netz ermöglichte die
geostrategische Kontrolle des Pazifiks und Atlantiks.25 Es standen jedoch nicht
nur militärstrategische Fragen der Passagerechte auf den Weltmeeren oder
militärisch relevantes Wissen im Fall der atomaren Kriegsführung im
Zentrum.26 Auch gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Fragen der
(Welt-) Ernährung bezeichneten zentrale gesellschaftliche Konfliktlinien des
Kalten Krieges.27
Um das Meer zu erschließen und zu kontrollieren, sammelten Forschungsschiffe, Tauchkapseln und U-Boote riesige Datenmengen über die Ozeane, den
22 Im Jahr 1902 schlossen sich Dänemark, Finnland, Deutschland, die Niederlande,
Norwegen, Schweden, Russland und Großbritannien zum International Council for the
Exploration of the Sea zusammen. Den Vorsitz hatte der deutsche Meeresforscher und
Fischereibiologe Walther Herwig. Vgl. Helen M. Rozwadowski, The Sea Knows No
Boundaries. A Century of Marine Science Under ICES, Seattle 2002.
23 Die Geschichte der deutschen Meeresforschung im Zweiten Weltkrieg und auch im
Kalten Krieg stellt ein großes Forschungsdesiderat dar.
24 John Krige, American Hegemony and the Postwar Reconstruction of Science in Europe,
Cambridge, MA 2008; ders. u. Kai-Henrik Barth, Introduction. Science, Technology and
International Affairs, in: dies. (Hg.), Global Power Knowledge. Science and Technology
in International Affairs, Chicago 2006, S. 1 – 21; Bernd Greiner, Macht und Geist im
Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick, in: ders., Macht und Geist, S. 7 – 27, hier S. 14; John
R. McNeill u. Corinna R. Unger, Introduction. The Big Picture, in: dies (Hg.),
Environmental Histories of the Cold War, Cambridge, MA 2010, S. 1 – 18; John R.
McNeill, The Biosphere and the Cold War, in: Melvyn P. Leffler u. Odd Arne Westad
(Hg.), The Cambridge History of the Cold War, Bd. 3: Endings, Cambridge, MA 2010,
S. 422 – 444; Bolster, Opportunities in Marine Environmental History, S. 572 – 577.
25 Ruth Oldenziel, Islands. The United States as a Networked Empire, in: Gabrielle Hecht
(Hg.), Entangled Geographies. Empire and Technopolitics in the Global Cold War,
Cambridge, MA 2011, S. 13 – 41.
26 Zur Bedeutung der Ozeanografie im Kalten Krieg: Jacob Darwin Hamblin, Oceanographers and the Cold War. Disciples of Marine Science, Seattle 2005.
27 Vgl. zur gesellschaftlichen Dimension des Kalten Krieges insbesondere: Bernd Greiner,
Kalter Krieg und „Cold War Studies“, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.
de/zg/Cold_War_Studies; ders., Wirtschaft im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick, in:
ders. u. a. (Hg.), Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 7 – 29.
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Einführung
321
Meeresboden und die hier auftretenden Stoffströme. Die Ergebnisse flossen in
natur- und lebenswissenschaftliche Modelle ein.28
Das globale Umweltwissen der Meeresforschung geht über den Bereich der
naturwissenschaftlichen Wissensproduktion hinaus.29 Dieses Heft zeigt, wie
dieses Umweltwissen ökologische Belange mit strategischen Fragen der
Meerespolitik und Ressourcennutzung verbindet. In den 1970er Jahren erhielt
Wissen eine neue gesellschaftliche Bedeutung und wurde stärker auf seine
Folgen für Mensch und Umwelt, aber auch seinen ökonomischen Nutzen
hinterfragt.30 Der Beitrag zur Krillforschung behandelt das für diese Zeit
charakteristische Spannungsmoment von Ökonomie und Ökologie und fragt
nach der Herausbildung eines neuen Wissensregimes.31
Wissen über den Ozean ermöglichte zwar neue Ausbeutungsmöglichkeiten,
die kurz- und langfristigen Folgen waren jedoch nicht abschätzbar. Die durch
menschliche Eingriffe verursachten Veränderungen wurden häufig erst anhand ihren Schäden sichtbar. Mit den langen 1970er Jahren steht genau jener
Zeitraum im Fokus, in dem sich globale Problemfelder der maritimen Umwelt
durch Überfischung und Umweltverschmutzung herauskristallisierten. Über
die Funktionsweise maritimer Ökosysteme lag jedoch noch wenig Wissen vor,
was einerseits neue Erkenntnisziele der Meeresforschung als Umweltforschung definierte. Andererseits änderte sich auch die Deutung und Wahrnehmung des Meeres. Debatten über die „Grenzen des Wachstums“ sowie das
naturwissenschaftliche, politische und kulturelle Wissen über den Planeten
28 Eric L. Mills, The Fluid Envelope of Our Planet. How the Study of Ocean Currents
Became a Science, Toronto 2009.
29 Zu größeren Debatten um Wissensgesellschaft und Wissensgeschichte: Margit SzöllösiJanze, Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zu einer Neubestimmung der
deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: GG 30. 2004,
S. 277 – 313. Auch Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine
Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: GG 30. 2004, S. 639 – 660. Jüngst Frank
Uekötter, Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen
Landwirtschaft, Göttingen 2010.
30 Vgl. Gernot Böhme u. a., Die Finalisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für
Soziologie 2. 1973, S. 128 – 144; Peter Weingart, From „Finalization“ to „Mode 2“. Old
Wine in New Bottles?, in: Social Science Information 36. 1997, S. 591 – 613; Helmuth
Trischler, Hoffnungsträger oder Sorgenkind der Forschungspolitik? Die bundesdeutsche Großforschung in den „langen“ siebziger Jahren, in: Rüdiger vom Bruch u. Eckart
Henning (Hg.), Wissenschaftsfördernde Institutionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 200 – 214.
31 Vgl. Peter Wehling, Wissensregime, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 704 – 712.
322
Christian Kehrt und Franziska Torma
Erde trugen zur Wahrnehmung der Ozeane als fragile und endliche Räume bei,
die durch anthropogene Einflüsse bedroht waren.32
In diesem Zusammenhang versteht sich der Beitrag von Sabine Höhler als ein
zusammenfassender Kommentar und Ausblick. Die Meere verhießen nahezu
unbegrenzte Ressourcenpotentiale. Ob Proteinmasse aus Fisch, Plankton oder
Krill, ob Meeresbodenschätze, ob Lebensraum, ob Abfallbecken – als Ressourcenspeicher und Ergänzungsraum spiegelten sie die neuen Ängste des
Umweltzeitalters, in dem das Wuchern der Weltbevölkerung einer maßlosen
Umweltverschmutzung und dem Schwund natürlicher Ressourcen gegenübergestellt wurde. Die Ozeane stellten, so Sabine Höhler, gleichsam den
imaginierten Anfang und das Ende eines perfekten Metabolismus dar, der die
belebte und unbelebte Umwelt restlos in Stoffwechselprozesse einbezog. Die
Wahrnehmung der Weltmeere als Ressourcenspeicher und Ökosystem stellt
keinen Widerspruch dar, sondern basiert auf globalen Verflechtungen und
machtpolitischen Konfliktlinien, deren Geschichte noch zu schreiben ist.
Dr. Christian Kehrt, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Neuere Sozial-,
Wirtschafts- und Technikgeschichte, Holstenhofweg 85, 22039 Hamburg
E-Mail: [email protected]
Dr. Franziska Torma, Universität Augsburg, Europäische Kulturgeschichte,
Universitätsstraße 10, 86159 Augsburg
E-Mail: [email protected]
32 Donella H. Meadows u. a., The Limits to Growth, New York 1972; Peter H. Moll, From
Scarcity to Sustainability. Futures Studies and the Environment. The Role of the Club of
Rome, Frankfurt 1991; Paul Martin Neurath, From Malthus to the Club of Rome and
Back. Problems of Limits to Growth, Population Control, and Migrations, Armonk 1994.
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Utopien aus Biomasse
Plankton als wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches
Projektionsobjekt
von Ariane Tanner
Abstract: A crucial moment in the history of plankton research came during the 1920s
with the introduction of the notion of biomass. Biomass links the 19th century aspirations elicited by plankton as the bottom of the food chain with the technocratic
dreams of the perfect metabolic loop between aquatic mass and terrestrial needs of
human beings during the 20th century. This article shows that the history of plankton
research can be told as succession of historically bound epistemic hopes and societal
utopia. It becomes evident that plankton as an individual organism is fragile yet
simultaneously unchanging and able to resist most technical interventions and notions of optimization.
Fische mit Silberglanz? Schimmernde Medusen, die den Tieren in der Tiefsee
den Weg weisen? Um 1800 wurde über die Gründe einer bei Seefahrten
beobachteten Lumineszenz nahe der Wasseroberfläche gerätselt. Die Vermutung, das sogenannte Meeresleuchten sei den „bis dahin weniger beachteten
mikroskopischen Thieren, die bald zahlreich einzeln zerstreut, bald haufenweis das Meer erfüllen, bald schwimmen, bald kriechen“1 zuzuschreiben,
wurde jedoch erst an Land in den 1840er Jahren durch die Arbeit am
Mikroskop bestätigt.2 Tierisches wie pflanzliches Plankton gilt heute als in
ihren Dimensionen noch nicht vollständig ausgemessene, aber gigantisch
große Biomasse, deren ökonomisch-ökologisches Potenzial es optimal zu
1 Christian Gottfried Ehrenberg, Das Leuchten des Meeres. Neue Beobachtungen nebst
Übersicht der Hauptmomente der geschichtlichen Entwicklung dieses merkwürdigen
Phänomens, Berlin 1835, S. 55.
2 Der deutsche Anatom und Physiologe Johannes Müller (1801 – 1858), welcher die
Erforschung der Kleinstorganismen seit den 1840er Jahren vorangetrieben hatte,
entdeckte die Organismen quasi als Nebeneffekt beim Studium von Präparaten in
anatomischen Sammlungen; vgl. hierzu Brigitte Lohff, The Unknown Wonders of the
Sea. Johannes Müller’s Research in Marine Biology, in: Walter Lenz u. Margaret Deacon
(Hg.), Ocean Sciences. Their History and Relation to Man, Hamburg 1990, S. 141 – 148,
hier S. 141 u. S. 143 f. Zu frühen Arbeiten über die sogenannten Infusionstierchen,
welche später auch als Planktonten identifiziert wurden vgl. Christian Gottfried
Ehrenberg, Organisation, Systematik und geographisches Verhältniss der Infusionsthierchen. Zwei Vorträge, Berlin 1830.
Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 323 – 353
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
324
Ariane Tanner
nutzen gilt.3 „Offshore Membrane Enclosure for Growing Algae“ (OMEGA)
nennt sich das aktuell größte Plankton-Züchtungsprojekt der NASA.4 In den
Häfen von Großstädten wie San Francisco sollen schwimmende Plastikmembranen mit Algen und Abwasser angefüllt werden, um Treibstoff zu gewinnen.
Aber nicht nur zukünftige Energieengpässe sollen mit solchen großangelegten
Phytoplankton-Projekten vermieden werden, sondern auch das Schmutzwasser gereinigt, der Säuregehalt der Ozeane reguliert und der für die Klimaerwärmung verantwortliche Ausstoß von Kohlenstoffdioxid reduziert werden.
Darüber hinaus stellt die Anlage neue Habitate für ozeanische Fauna bereit
und steht der Fischzucht zur Verfügung, während kombinierte erneuerbare
Energiequellen wie Wind, Sonnenlicht und Wellen den Betrieb der Anlage
sicherstellen, ohne dass Land- und Frischwasserressourcen strapaziert werden.
Das Projekt OMEGA verspricht buchstäblich die ultimative Antwort auf die
den Planeten bedrohenden Szenarien vom Artensterben, Bevölkerungswachstum und Energienotstand über den Klimawandel und Nahrungsmangel hin
zur Umweltverschmutzung und Wasserknappheit. Industriell gezüchtetes
Phytoplankton soll die globalen Nährstoff- und Stoffwechselzyklen auf
perfekte Art und Weise regulieren und so letztlich zur Erhöhung der
nationalen Sicherheit beitragen.5
Die aktuellen Algen-Projekte vereinen sämtliche utopischen Aspekte, welche
seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit Plankton verknüpft wurden.
Gestützt auf die Beobachtungen, dass Phytoplankton als erste Stufe des Lebens
und der Nahrungskette über eine riesige Formenvielfalt verfügt und zum
schnellen Wachstum ein faktisch unerschöpfliches Reservoir, das Sonnenlicht,
nutzt, wurde Plankton immer wieder zum verheißungsvollen Gegenstand
erklärt, an dem sich wissenschaftliche Hoffnungen, technologische Fiktionen
und gesellschaftliche Utopien festmachten. Eine Geschichte der Forschungen
an den Kleinstorganismen, wie sie hier vorgestellt wird, erlaubt es somit,
Plankton als wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Projektionsobjekt zu identifizieren. Für diese Interpretation ist, wie gezeigt werden wird, der
Begriff der Biomasse wesentlich, welcher in den 1920er Jahren erstmals
auftauchte. Erstens gingen im Biomasse-Begriff die epistemologischen Hoffnungen der Planktonforschung des 19. Jahrhunderts auf. Zweitens behob er
3 Die jüngsten Resultate des Projekts Earth System Science Data stellen die These auf, dass
es fast gleich viel tierisches wie pflanzliches Plankton in den Meeren gibt. Terrestrische
pflanzliche Biomasse ist bedeutend größer. Für diese Datensammlungen, welche den
Klimawandel qua Plankton untersuchen wollen vgl. http://www.earth-syst-sci-data.net/
volumes_and_issues.html.
4 Vgl. TED-Talk Jonathan Trent, Energy from Floating Algae Pods, 27. Juni 2012, http://
www.youtube.com/watch?v=X-HE4Hfa-OY.
5 NASA, OMEGA – Offshore Membrane Enclosure for Growing Algae, http://www.nasa.gov/centers/ames/research/OMEGA.
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Utopien aus Biomasse
325
die Schwierigkeit, das einzelne pelagische Individuum zu erforschen, indem
Plankton als eine Masse und energetisches Potential gedacht werden konnte.
Drittens erlaubte die Quantifizierung von aquatischem organischem Material,
die Menschen an Land als komplementären Faktor zum Plankton im Wasser zu
denken; eine Relation, die Ziel von technokratischen Optimierungs- und
utopischen Regulierungsversuchen wurde. In der nachfolgenden Darstellung
werden die wichtigsten Phasen aus 150 Jahren Planktonforschung vorgestellt
und die wichtige epistemische Schwelle durch den Biomasse-Begriff verdeutlicht.
Anhand der Arbeiten der deutschen Zoologen Richard Hertwig (1850 – 1937)
und Ernst Haeckel (1834 – 1919) wird im ersten Abschnitt „Tiefe Einblicke
oder der transzendente Planktont“ das grundlegende Dilemma präsentiert,
welches die Planktonforschung stets begleitet: Einmal seinem angestammten
Milieu entnommen, geht der Planktont schlicht kaputt. Der vermutete
Aufschlussreichtum korrespondiert nicht mit den technischen Möglichkeiten,
die immer wieder angepasst werden müssen, um der Sache selbst buchstäblich
habhaft zu werden. Eine Antwort auf die forschungspraktische Problematik
bestand darin, nicht das einzelne pelagische Individuum zu betrachten,
sondern den Kollektivsingular Plankton, also eine Menge von vielfältigen,
artenreichen Organismen. Die deutsche Plankton-Expedition im Jahre 1889,
welche maßgeblich vom Physiologen Victor Hensen gestaltet wurde, steht für
erste Arbeiten in diese Richtung, wie der zweite Abschnitt „Dies Blut der
Meere: Victor Hensen und die Plankton-Expedition“ zeigt. Hensens stark von
der Physiologie beeinflusste Methode sollte die „Urnahrung“ Plankton, „dies
Blut der Meere“,6 quantifizieren helfen, um letztlich in Erfahrung zu bringen,
wie es um die Prosperität der norddeutschen Fischerei stand. Der in diesem
Zusammenhang dargestellte Disput zwischen Haeckel und Hensen über
Methode und Sinn der Planktonforschung zeigt die Differenzen in ihren
naturphilosophischen und statistischen Ansätzen. Gleichzeitig wird deutlich,
dass beide Forscher am Ausgangspunkt eines Denkens standen, das die
Relationen zwischen Wasser und Land qua Plankton miteinbezog. Hensen
sprach vom „Stoffwechsel der Ozeane“, Haeckel nannte dies „Oecologie“.7 Im
dritten Abschnitt „Dynamiken zwischen Wasser und Land“ wird veranschaulicht, dass die metaphernreiche Sprache von Hensen die menschliche Physis
mit dem Ozean analogisierte, während für Haeckel die physiologischen
6 Victor Hensen, Das Leben im Ozean nach Zählung seiner Bewohner. Übersicht und
Resultate der quantitativen Untersuchungen, Kiel 1911, S. 5.
7 Zum Begriff der Oecologie vgl. Ernst Haeckel, Allgemeine Entwickelungsgeschichte der
Organismen. Kritische Grundzüge der mechanischen Wissenschaft von den entstehenden Formen der Organismen, begründet durch die Deszendenz-Theorie [1866], Berlin
1988, S. 286. Vom Stoffwechsel der Ozeane sprachen vor allem Victor Hensen, Über die
Bestimmung des Plankton’s oder des im Meere treibenden Materials an Pflanzen und
Thieren, Kiel 1887; Karl Brandt, Über den Stoffwechsel im Meere, Kiel 1919.
326
Ariane Tanner
Methoden als überholt galten und die Planktonforschung den wissenschaftlichen Imaginationsraum schlechthin verkörperte. Hensens und Haeckels
Konzeption können jedoch, wie an dieser Stelle argumentiert wird, durch den
Begriff der Biomasse in den 1920er Jahren zusammengedacht werden. Die
Biomasse erlaubte, die Kleinstorganismen zu quantifizieren und in Bezug auf
ihre Funktion in einem Ökosystem zu operationalisieren. Nach dem Zweiten
Weltkrieg schienen eine hungernde Menschenmasse und pessimistische
Interpretationen des Bevölkerungswachstums perfekt zu einer vermuteten
unerschöpflichen Ressource der Meere zu passen. Die „Algen-Utopien auf dem
Teller“, wie der vierte Abschnitt darstellt, fußten auf dem technokratischen
Ansatz, der Plankton als Nährstofflieferanten auffasste, der die ebenso
technokratisch eruierten menschlichen Bedürfnisse stillen sollte.
Die Algen-Züchtungsprojekte der 1950er und 1960er Jahre hatten zum Ziel,
eine globale Eiweißressource für den Menschen sicherzustellen, scheiterten
aber an technischen Schwierigkeiten, ökonomischen Zwängen und kulinarischen Ansprüchen. Die industrielle Produktion von Algen zur Linderung des
Welthungers implodierte zum Ende der 1960er Jahre und der Begriff der
Biomasse erfuhr eine Neugewichtung, was im fünften Abschnitt „Die Biomasse
Plankton“ thematisiert wird. Die quantifizierte organische Masse wurde zu
einer möglichen Treibstoffressource. Biomasse gilt seither als Pendant für alles
Organische, was energetisch verwertbar ist. Mit dieser Umdeutung ging auch
eine neue Zielvorstellung der Plankton-Züchtungsprojekte einher. Nicht mehr
die Befriedung der Welt durch Nahrung für alle stand im Fokus, sondern der
Erhalt des energietechnischen Status quo in industrialisierten Ländern.
Radikal interpretiert, schreckt ein solcher Biomassebegriff, wie der Kinofilm
„Soylent Green“ von Anfang der 1970er Jahre zeigt, auch nicht vor der
Einspeisung der menschlichen Biomasse in den Nahrungszyklus zurück, um
den unausweichlichen Umweltkollaps (vermeintlich) abzuwenden. Der
Schlussteil fasst die wichtigsten Erkenntnisse aus der Geschichte von über
150 Jahren Planktonforschung zusammen und endet bei einer noch unentschiedenen Frage nach dem Verhältnis zwischen Biomassenutzung und Macht.
I. Tiefe Einblicke oder der transzendente Planktont
Im Jahre 1881 beschrieb der Zoologe Richard Hertwig, wie die Entdeckung der
marinen Fauna die Forschungslandschaft seines Fachbereiches buchstäblich
umkrempelte.8 Gegenzyklisch zu den einheimischen Temperaturen ziehe es
seine Berufskollegen winters in die milderen Mittelmeergefilde und sommers
8 Richard Hertwig, Der Zoologe am Meer. Ein Vortrag gehalten in Jena, in: Rudolf
Virchow u. Franz von Holtzendorff (Hg.), Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, Berlin 1881, S. 343 – 374.
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Utopien aus Biomasse
327
an die Nordsee.9 Den Gedanken, dass die „noch immer steigende Wanderlust“10 innerhalb seiner Zunft mit einer etwaigen Entfremdung von der
einheimischen Tierwelt zu tun habe, verwarf Hertwig. Vielmehr ortete er die
Gründe für die nicht nur geografische Neuorientierung der Zoologie in der
Darwin’schen Vorstellung, dass sämtliche Tiere aus gemeinsamen Urformen
hervorgegangen seien.11 Denn um diese Annahme zu überprüfen, sei nicht
jeder Gegenstand gleich geeignet: „[A]n günstigen und wichtigen Untersuchungsobjecten ist aber das Meer außerordentlich viel reicher als das Festland
mit Einschluß seiner Flüsse, Seen und Teiche.“12 Gerade an den Meerestieren,
so Hertwig, ließen sich die Urformen, aus denen die jetzigen lebenden
Organismen im Verlaufe von unermesslichen Zeiträumen hervorgegangen
seien, besser ablesen. Auf der einen Seite trage das Meer den „Charakter
größerer Ursprünglichkeit“ und sei überhaupt „die Wiege jeglicher Organisation“, auf der anderen Seite seien die marinen Organismen das Repräsentationsobjekt ihrer Umgebung. Diese mimetischen Eigenschaften würden von
Plankton aufs Beste erfüllt: „Die pelagischen Thiere sind der Stolz und das
Abbild des Meeres, dessen Eigenart, wenn ich so sagen darf, sich in ihnen am
meisten verkörpert.“13 Als ob sie aus Kristall gefertigt seien, hätten sie die
Transparenz des sie umgebenden Stoffes für ihren Körperbau assimiliert und
dessen Farbe angenommen. Die frei schwebenden Tiere werden zum transzendierenden Objekt ihres Milieus, woraus wiederum sie selbst hervorgegangen sind, und damit zum doppelten Träger von Informationen.14 Die ideale
Durchlässigkeit von Milieu und Habitant, die Transparenz, so musste jedoch
auch Hertwig einräumen, geht genau dann verloren, wenn man das Tier aus
dem Wasser nimmt:
9 Zur kulturhistorischen Bedeutung der „Entdeckung“ des Meeres und vor allem auch
seiner Küsten als touristische Destinationen vgl. Helen M. Rozwadowski, Fathoming the
Ocean. The Discovery and Exploration of the Deep Sea, Cambridge, MA 2005.
10 Hertwig, Der Zoologe am Meer, S. 4.
11 Ebd., S. 5; Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten [1859], in: ders.,
Gesammelte Werke, Frankfurt 2006, S. 355 – 691.
12 Für dies und das folgende vgl. Hertwig, Der Zoologe am Meer, S. 5 f. u. S. 9.
13 Ebd., S. 11 f.
14 Diese Interpretation des „Milieus“ steht, wie weiter unten deutlich werden wird,
derjenigen von Claude Bernard (und auch Hensen) gerade entgegen. Bernard prägte den
Begriff „milieu intrieur“ für eine von der Außenwelt unabhängige Regulierung von
Körperfunktionen; vgl. Claude Bernard, Principes de mdecine exprimentale, Paris
1947. Zur aktuellen Forschung über das Milieu und Umgebungswissen: Kijan
Espahangizi, Wissenschaft im Glas. Eine historische Ökologie moderner Laborforschung, Diss. ETH Zürich 2010; vgl. das Themenheft „Der Ozean im Glas. Aquaristische
Räume um 1900“, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 36. 2013, H. 2, hg. v. Christina
Wessely u. Thomas Brandstetter.
328
Ariane Tanner
Sucht man ein solches Geschöpf mit der Hand zu greifen, so hat man Nichts als eine weiche,
zitternde Gallerte, die aus dem Meere herausgenommen rasch zerfließt; denn die Gewebe des
Körpers bestehen fast nur aus Wasser […], so dass selbst ein verhältnismäßig grosses Thier
beim Trocknen zu einem dünnen, unscheinbaren Häutchen zusammenschrumpft.15
Im selben Dilemma befand sich auch der deutsche Zoologe Ernst Haeckel, der von
den 1850er Jahren bis Ende der 1880er Jahre die Kleinstorganismen erforschte.
Haeckel stand wie Hertwig ganz im Banne der Darwin’schen Überlegungen zur
Abstammungslehre und Artenbildung. Seine bekannte Arbeit über die PlanktonGruppe der Radiolarien bildet dieses Interesse ab,16 weil er nebst taxonomischer
Aufbauarbeit und Untersuchung der Anatomie und Lebensfunktionen letztlich die
Deszendenztheorie zu untermauern versuchte.17
Haeckels Faszination für die Radiolarien erklärte sich durch ihre Ästhetik, ihre
„phantastische Mannigfaltigkeit der Erfindung, […] unübertroffene Eleganz
und […] mathematische Regelmässigkeit“.18 Eine praktische Erklärung gesellte
sich jedoch sofort dazu. Derweil die festen Bestandteile der Radiolarien, ihre
Kieselpanzer, den Transport in Flaschen mit Liqueur conservative überstanden,19
um sie nach der Rückkehr von der Expeditionsreise zu untersuchen, galt dasselbe
nicht für die Weichteile der Tiere. Deren Analyse konnte nur direkt am Meer, und
auch dort nur unter größten Schwierigkeiten stattfinden. Wie Haeckel beschrieb,
waren die lebendigen Radiolarien meist „nicht durchsichtig genug“, um unter dem
Mikroskop betrachtet werden zu können und nicht groß genug, um einer
anatomischen Methode zugänglich zu sein. Ganz zu schweigen von dem Problem,
diese „zarten mikroskopischen Körperchen aus dem dichten Gemenge des
pelagischen Mulders zu isoliren“, um sie überhaupt zu sehen.20
Das von Hertwig beschworene „Ursprüngliche“ an den pelagischen Tieren,
gewährleistet durch die Transparenz zwischen Wasser und Organismus,
erwies sich für Haeckels Zwecke als hinderlich. Mit „ein Paar Tropfen
concentrirte[r] Schwefelsäure“, wie er in einer Fußnote unsentimental
erwähnte, zerstörte er das organische Material.21 Nicht nur waren damit die
ihn am meisten interessierenden Teile, die Kieselpanzer, freigelegt, sondern die
15 Hertwig, Der Zoologe am Meer, S. 11.
16 Ernst Haeckel, Die Radiolarien (Rhizopoda Radiaria). Eine Monographie, Berlin 1862;
ders., Die Radiolarien (Rhizopoda Radiaria). Atlas von fünf und dreissig Kupfertafeln,
Berlin 1862; ders., Die Radiolarien (Rhizopoda Radiaria.) Zweiter Theil, Berlin 1887;
ders., Die Radiolarien (Rhizopoda Radiaria.) III. und IV. Theil. (Acantharia und
Phaeodaria), Berlin 1888.
17 Erika Krausse, Johannes Müller und Ernst Haeckel. Erfahrung und Erkenntnis, in:
Michael Hagner u. Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie,
Berlin 1993, S. 224 – 237, hier S. 228.
18 Haeckel, Monographie, S. 1.
19 Ebd., S. 32.
20 Ebd., S. viii.
21 Ders., Atlas, S. vii (Anm.).
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Utopien aus Biomasse
329
Methode hatte darüber hinaus den Vorteil, dass durch die Applikation der
Schwefelsäure und die gleichzeitige Gasentwicklung und veränderte Lichtbrechung dem betrachtenden Forscher die höchst verwickelten labyrinthischen
Kanäle und Hohlräume der Kieselgebäude für einen Augenblick einsichtig
wurden.22 In dieser nassen Methode sah Haeckel auch einen Fortschritt
gegenüber der Technik, die er von seinem Lehrer Johannes Müller kennen
gelernt hatte. Dieser hatte die Weichteile jeweils mit einer Lötrohrflamme
weggeglüht, was aber nicht selten das ganze Untersuchungsobjekt verkohlt
oder ins Glasplättchen eingeschmolzen habe.
Was sich dem Betrachter des Radiolarien-Atlasses von 1862 zeigt, sind die
durch den Kupferstecher kunstvoll umgesetzten Zeichnungen der Hartteile
der Radiolarien, ihre meist symmetrischen Kieselpanzer oder die Spinen
beziehungsweise Stacheln, die den Radiolarien ihren Namen verleihen.
Haeckel dokumentierte mit dem Radiolarien-Atlas nicht nur seine mikroskopischen Beobachtungen, sondern in der Anordnung ausgewählter Exemplare
auf einzelnen Seiten sollte auch „der Prozess, in dem die Natur sich selbst zur
Entfaltung gebracht hat: die Evolution“ anschaulich werden.23 Haeckel
exemplifizierte die These der Verwandtschaft zwischen Arten und der
Varietäten innerhalb einer Art durch die Tableaus der Festkörper.
Wenn Haeckel in der Einleitung vorausschickte, dass er die „Struktur“ der
Radiolarien (einmal die Weich- und einmal die Hartteile) beschreiben möchte
und erwähnte, dass der zweite Abschnitt länger ausfallen werde,24 dann hing
die Ausführlichkeit der Resultate von der Materialität des Gegenstandes ab, der
den Techniken des wissenschaftlichen Zugriffs enge Grenzen setzte. Haeckel
blieb in einem gewissen Sinne gar nichts anderes übrig, als davon auszugehen,
dass durch die Formenähnlichkeit der Hartteile die Varietäten zwischen den
Organismen am besten zur Geltung kämen.25
22 Ders., Monographie, S. vii.
23 Ernst Haeckel. Kunstformen der Natur, Kunstformen aus dem Meer, hg. v. Olaf
Breidbach, München 2012, S. 9. Haeckels systematische visuelle Ordnung der Radiolarien-Hartteile wird besonders deutlich, wenn man sie mit den frühen Arbeiten von
Ehrenberg vergleicht, der ebenfalls Tableaus von winzigen Wasserlebewesen erstellte,
aber noch nicht zwischen Tier oder Pflanze unterschied. Haeckel hielt im Vorwort zu
seiner Radiolarien-Monographie fest, dass ihm die Arbeiten Ehrenbergs erst im Jahre
1860 bekannt waren und dass einige taxonomische Korrekturen vorzunehmen seien;
vgl. hierzu Gottfried Christian Ehrenberg, Atlas von vier und sechzig Kupfertafeln zu
Christian Gottfried Ehrenberg über Infusionsthierchen, Leipzig 1838; Haeckel, Monographie, S. viii.
24 Ebd., S. vii.
25 Ich würde demnach Breidbachs These von Haeckels Überzeugung, dass die Hartteile
über die Formenvielfalt am besten Auskunft geben könnten, durch einen forschungspraktischen Zwang ergänzen; vgl. Olaf Breidbach, Die allerreizendsten Tierchen.
330
Ariane Tanner
Die Arbeiten von Hertwig und Haeckel aus den 1860er bis zu den 1880er Jahren
verweisen auf die grundlegende Konstellation der Forschung an den Kleinstorganismen. Plankton soll einen direkten Zugang zu neuem Wissen erlauben,
das weit über den Gegenstand hinausgeht, während das Objekt selbst durch die
wissenschaftliche Handhabung verloren geht. Laut Hertwig gibt Plankton in
seiner perfekten Symbiose mit der Umgebung Wasser gerade über die
Entstehung des Lebendigen auf der Erde Auskunft, wovon es selbst Zeugnis ist.
Bei Haeckel bestärkt die Formenvielfalt der Radiolarien die Triftigkeit der
Annahme einer graduellen Evolution. Gleichzeitig entzieht sich die Materialität von Plankton dem erwünschten wissenschaftlichen Zugriff. Der pelagische Organismus ist fragil, das epistemische Objekt verliert seine Eigenschaften oder verschwindet gänzlich, sobald es seiner gewohnten Umgebung
entnommen wird.26 Was sichtbar gemacht werden kann und dem forschenden
Auge als Untersuchungsmaterial vorliegt, ist meist nur ein Fragment.
Der folgende Abschnitt stellt die Herangehensweise des deutschen Physiologen Victor Hensen dar. In der Planung und Auswertung der von ihm
begleiteten deutschen Plankton-Expedition im Jahre 1889 zählte zwar das
einzelne pelagische Individuum, nicht aber aus Gründen der Schönheit oder
der Formenvielfalt, sondern als abgezähltes Individuum in einem aufaddierten
Kollektiv.
II. „Dies Blut der Meere“: Victor Hensen und die
Plankton-Expedition
Blutkörperchen, das Gehör, aber auch die Reproduktion bei Meerschweinchen
und Fischen gehörten zu Hensens Spezialgebieten.27 Durch die Ernennung
zum Ordinarius für Physiologie in Kiel im Jahre 1868 musste er auf seinen Sitz
im preußischen Landtag für die liberale Partei Schleswig-Holsteins verzichten,
den er erst gerade vier Monate vorher errungen hatte. Dies war aber nicht
gleichbedeutend mit dem Ende seines politischen Engagements, das in seinen
meeresbiologischen Forschungen Ausdruck fand. Insbesondere beschäftigte
Haeckels Radiolarien-Atlas von 1862, in: Haeckel, Kunstformen der Natur, S. 15 – 29,
hier S. 16.
26 Zum wissenschaftshistorischen Begriff „epistemisches Objekt“ und dem „Ding“, worauf
sich das Erkenntnisinteresse richtet, vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme,
Epistemische Dinge, Experimentalkulturen. Zu einer Epistemologie des Experiments,
in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42. 1994, S. 405 – 417; ders., Toward a History of
Epistemic Things. Synthesizing Proteins in the Test Tube, Stanford 1997; Lorraine
Daston, Biographies of Scientific Objects, Chicago 2000; dies. (Hg.), Things That Talk.
Object Lessons from Art and Science, New York 2004.
27 Rüdiger Porep, Der Physiologe und Planktonforscher Victor Hensen. Sein Leben und
sein Werk, Neumünster 1970, S. 23 – 36.
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Utopien aus Biomasse
331
ihn, dass der relative Beitrag der Fischerei und Landwirtschaft für die
preußische Wirtschaft, zu der auch Schleswig-Holstein gehörte, im Abnehmen
begriffen war.28 Bereits im Jahre 1867 schlug Hensen vor, wissenschaftliche
Untersuchungen über die deutsche Küsten- und Hochseefischerei anzustellen,
eine weitere Anregung rührte von dem 1870 gegründeten Deutschen Fischerei
Verein, wonach noch im selben Jahr die „Commission zur Erforschung der
deutschen Meere“ ins Leben gerufen wurde.29 Das Mandat beinhaltete im
Allgemeinen, Informationen über die Tiefe, die Gezeiten, den Salzgehalt, die
chemische Zusammensetzung des Preußischen Meeres zu sammeln, des
Weiteren Tiere und Pflanzen, die in den Fischgründen vorhanden waren, zu
bestimmen sowie im Besonderen Verteilung, Häufigkeit, Nahrung, Reproduktion und Wanderungen von kommerziellen Fischen zu eruieren.30 Ziel war
die Belebung und Steigerung der Fischerei, was es, laut Hensen, quantitativ zu
belegen galt.31
In dieser Hinsicht konnte er auf verschiedene Forschungserfahrungen zurückgreifen. In den 1870er Jahren versuchte er von der Anzahl eingefangener
Fischeier pro Volumen in Relation zu den Daten über die Intensität der
Fischerei32 auf den Bestand der erwachsenen Nutzfische zu schließen. Bei den
eintägigen Ausfahrten setzte Hensen Glasblasen auf die Wasseroberfläche und
beobachtete die Regelmäßigkeit ihres Auseinanderdriftens. Dies führte ihn zur
Annahme, dass der Wellengang und der Wind Fischeier gleichmäßig verteilten
und es somit möglich wäre, durch punktuelle Fänge die zukünftigen Bestände
der erwachsenen Tiere abzuschätzen.33 Durch diese Resultate erhoffte er sich,
die Produktionskraft des Meeres insgesamt zu kalkulieren; eine Idee, die er im
Jahre 1874 der Commission vortrug.34 Das Tier des Meeres sollte als Maß für
den Stofffluss von organischem Material durch den Ozean betrachtet werden.35
Und am Ende der Stoffkette würde sich der Mensch befinden, der seinen
Wohlstand von ökonomisch verwertbaren Fischen abhängig machte. Dies traf
besonders auf Hensens Wirkungsort Kiel zu.
28 Knut Borchardt u. Carlo M. Cipolla (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte,
1700 – 1914, 5 Bde., Stuttgart 1983 – 1986.
29 Gerd Wegner, 125 Jahre Deutsche Fischereiforschung, in: Informationen für die
Fischwirtschaft aus der Fischereiforschung 42. 1995, S. 128 – 133, hier S. 128 – 130.
30 Eric L. Mills, Biological Oceanography. An Early History, 1870 – 1960, Ithaca 1989, S. 14.
31 Porep, Victor Hensen, S. 97.
32 Hensen arbeitete mit Fragebögen, auf denen Fischer die Fangtage, Bootanzahl, Anzahl
der Fischer sowie Art und Menge des Fanges angaben.
33 Mills, Biological Oceanography, S. 16.
34 Porep, Victor Hensen, S. 98 f.
35 Victor Hensen, Über die Befischung der deutschen Küsten. Jahresbericht der Commission zur wissenschaftlichen Untersuchung der deutschen Meere in Kiel für 1872, 1873. I.
u. II. Jahrgang, Tafeln I – IX, Berlin 1874, S. 341 – 380, hier S. 343 – 345.
332
Ariane Tanner
In den 1880er Jahren entwickelte Hensen ein spezielles Netz, um beim
Sammeln von Fischeiern eine genau definierte Wassersäule zu durchsieben
und so die Anzahl mit dem Volumen korrelieren zu können. Bei dieser
Optimierung fiel ihm „regelmäßig ein[en] störender[n] Beifang“ auf.36 Die
relative Konstanz der Beimischung von mikroskopisch kleinen Tieren und
Pflanzen ließ Hensen vermuten, dass hier noch ein anderes, für die Gesamtproduktion des Meeres bedeutungsvolles Reservoir vorhanden war. Nach
weiteren, eintägigen Exkursionen führte Hensen im Jahre 1887 für den
„störenden Beifang“ den Begriff Plankton ein: „Ich verstehe darunter Alles was
im Wasser treibt, einerlei ob hoch oder tief, ob todt oder lebendig“.37 Bald
sollte sich Hensens Forschungsinteresse auf das Plankton konzentrieren, das
er auch „Dies Blut der Meere“38 oder die „Urnahrung“39 nannte. Analog dem
„Lebenssaft“ im menschlichen Körper sollten die pelagischen Organismen
eine ubiquitäre Nahrungsverteilung in den großen Gewässern garantieren.
Deshalb versprach sich Hensen von der Analyse derselben auch ein „Verständnis des Lebens-Getriebes innerhalb der Meereswüste“ und Antworten auf
die Fragen nach der „Produktion des Meeres“.40
Die einzelnen, selten auf Hochsee stattfindenden Fahrten schienen Hensen für
diesen Zweck ungeeignet. Zusammen mit anderen Forschern wie Karl Brandt
und Franz Schütt regte er an, die Planktonuntersuchungen auf den offenen
Ozean auszudehnen. Mit finanzieller Unterstützung vom Kuratorium der
Humboldt-Stiftung für Naturforschung, die ihre verfügbare Stiftungssumme
unter dem Vorsitz des bekannten Physiologen Emil Du Bois-Reymond zur
Verfügung stellte, sowie weiteren Geldquellen und einer Defizitgarantie bis
70.000 Mark konnte im Jahr 1889 die einmalige Forschungsfahrt Deutschlands,
die in erster Linie auf die pelagischen Organismen ausgerichtet war, durchgeführt werden.41 Zwischen Juli und November wurden auf dem Atlantik mit
der „National“ 126 Plankton-Fänge durchgeführt.42 Die Expedition beinhaltete
36 Porep, Victor Hensen, S. 103.
37 Hensen, Bestimmung des Plankton’s, S. 1. In dieser Definition, die vor allem auf die
Tatsache abstellt, dass zum Plankton zählt, was „willenlos“ im Wasser treibt, sind genau
genommen auch Fischeier einbegriffen.
38 Hensen, Leben im Ozean, S. 5.
39 Hensen, Bestimmung des Plankton’s, S. 1.
40 Ebd., S. 102.
41 Die Expedition dauerte vom 15. Juli bis zum 7. November 1889 und legte 15.600
Seemeilen zurück. Für eine Kurzfassung der Reise siehe o. A., Hensen’s PlanktonExpedition im Sommer 1889, in: Naturwissenschaftliche Wochenschrift 5. 1890,
S. 31 – 33; ausführlicher Victor Hensen, Einige Ergebnisse der Plankton-Expedition der
Humboldt-Stiftung, Berlin 1890.
42 Victor Hensen, Methodik der Untersuchungen (= Ergebnisse der Plankton-Expedition
der Humboldt-Stiftung, Bd. 1 b), Kiel 1895, S. 8 f. Für eine Kartenansicht, welche die
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Utopien aus Biomasse
333
auch hydrologische Messungen wie die der Salinität und Temperatur des
Wassers, jedoch wurde auf die Auslotung der Tiefe verzichtet.43
Die von Hensen entwickelte Fangmethode mit einem Vertikalnetz erwies sich
als geeignet.44 Das kegelförmige Netz wurde bei Stillstand des Schiffes
senkrecht heruntergelassen, das obere Ende in einer bestimmten Tiefe geöffnet
und eine berechenbare Wassersäule filtriert. Weitere Faktoren wie die
Porenweite des Netzes, eine mögliche Abdrift des Schiffes und ein Fehlerquotient gingen in die nachträgliche Bestimmung der Planktonmasse pro
Wasservolumen ein.45 An Land wurde das in Pikrinschwefelsäure eingelegte
Plankton nach genauen Volumenverhältnissen mit Wasser verdünnt und in
kleinen Mengen auf eine linierte Glasplatte unter dem Mikroskop appliziert.
Unter Zuhilfenahme von Pfennig- und Zweipfennigstücken, die man in
verschiedene Schachteln ablegte, wurden die Arten, die sich in einem kleinen
Glasplättchenfeld befanden, abgezählt, wobei die häufigste Art zunächst
wirklich gezählt, dann extrapoliert wurde.46 Hensen war von dieser Methode
überzeugt, auch wenn sie pro Fang durchschnittlich 98 Stunden und gar einmal
420 Stunden dauern sollte:47 „Dass derartige Zählungen sehr genau werden
können, hat bereits die Erfahrung über die Zählung der Blutkörperchen zur
Genüge gelehrt.“48 Die numerischen Resultate wurden in Kolonnen aufgetragen.
Der Vorsitzende der Plankton-Expedition zog aus den quantitativen Erhebungen zwei Schlüsse. Erstens seien die Planktonten gleichmäßig verteilt und
nicht in „Schaaren“ anzutreffen,49 und zweitens sei überhaupt die Masse des
Planktons nicht groß und die Tierwelt dieser geringen Dichte angepasst,50 das
43
44
45
46
47
48
49
50
Schiffsstrecke auf dem Atlantik und die jeweiligen Fangorte verzeichnet, vgl. ebd.,
Tafel I.
Hensen, Methodik der Untersuchungen. Bezüglich der gleichzeitigen Eruierung der
Meerestiefe sind widersprüchliche Aussagen überliefert. Einerseits wurde berichtet,
dass man zur Anwendung der Netze die Tiefe des Meeresbodens habe bestimmen
müssen, vgl. o. A., Hensen’s Plankton-Expedition. Hensen hielt es, wie er 1891
erwähnte, während der Fahrt nicht für nötig, den ausgezeichneten Expeditionen der
„Challenger“ in dieser Hinsicht neue Daten hinzuzufügen; vgl. Victor Hensen, Die
Plankton-Expedition und Haeckel’s Darwinismus. Ueber einige Aufgaben und Ziele der
beschreibenden Naturwissenschaften, Kiel 1891, S. 20.
Ders., Methodik der Untersuchungen, Tafel VI u. Tafel VII.
Ebd., S. 136 – 176.
Ders., Bestimmung des Plankton’s, S. 15 u. S. 18.
Vgl. die Tabelle mit den Stundenaufwendungen für das Auszählen: Hensen, Methodik
der Untersuchungen, S. 152.
Ders., Bestimmung des Plankton’s, S. 18.
Ders., Ergebnisse der Plankton-Expedition, S. 244.
Ders., Bestimmung des Plankton’s, S. 46.
334
Ariane Tanner
heißt die größeren pelagischen Tiere trügen „den ausgesprochenen Charakter
schwerer Lebensverhältnisse, ich möchte sagen, des Hungerlebens“.51
Bei einem ästhetischen Vergleich zwischen Hensens nüchternen Zahlenkolonnen und Haeckels künstlerisch anspruchsvollen Zeichnungen vermag es
nicht recht zu verwundern, dass letzterer den Enthusiasmus verschiedener
Gelehrter über die deutsche Plankton-Expedition nicht teilte. Wo andere einen
Reputationszuwachs für Deutschland und die an der Forschungsfahrt beteiligten Wissenschaftler ausmachten, bemitleidete Haeckel den „bedauernswerthen Plankton-Zähler“ und raufte sich rhetorisch die Haare: „Wie eine solche
arithmetische Danaiden-Arbeit ohne Ruin des Geistes und Körpers durchzuführen ist, kann ich nicht begreifen.“52 Die angewandte Methode sei nicht nur
„völlig nutzlos“, sondern werfe auch ein falsches Licht auf die wichtigsten
Fragestellungen der pelagischen Biologie, ganz zu schweigen davon, dass
Hensens Aussagen zu Verbreitung und Zusammensetzung des Planktons in
„schneidendem Widerspruch“ zu allem bisherigen Wissen stünden, er
aufgrund von ungenügender Erfahrung irrige Schlüsse gezogen und darüber
hinaus widersprüchliche Resultate weggelassen habe.53 Dem vernichtenden
Urteil wegen Missachtung grundlegender wissenschaftlicher Regeln, verpuffter Arbeitskraft und Geld stellte Haeckel einen ausführlichen Bericht über
seine Lehr-, Wander- und Forscherjahre als Planktonkenner zur Seite, die
denjenigen von Hensen sogar vorausgegangen waren, um sein Urteil durch
jahrzehntelange Erfahrung zu unterstreichen.54
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Hensen noch vor dem
Auslaufen des Schiffes tatsächlich eine Hypothese festgezurrt hatte, die er
unter allen Umständen beweisen wollte:
[Die Expedition] ging von der rein theoretischen Ansicht aus, daß in dem Ocean das
Plankton gleichmäßig genug vertheilt sein müsse, um aus wenigen Fängen über das
Verhalten sehr großer Meeresstrecken sicher unterrichtet zu werden, und diese Voraussetzung hat sich weit vollständiger bewahrheitet, als gehofft werden konnte.55
51 Ders., Ergebnisse der Plankton-Expedition, S. 250.
52 Ernst Haeckel, Plankton-Studien. Vergleichende Untersuchungen über die Bedeutung
und Zusammensetzung der Pelagischen Fauna und Flora, Jena 1890, S. 89.
53 Haeckel, Plankton-Studien, S. 10.
54 Im Herbst 1854, auf einer Ferienreise zusammen mit Johannes Müller auf Helgoland,
habe er zum ersten Mal Netze eingesetzt und die „pelagischen Glasthiere“ gesehen,
weitere Stationen waren Villafranca (1856), Neapel und Capri (1859), Lanzarote (1866),
das Rote Meer (1873), Ceylon (1882) sowie Norwegen, England und Frankreich.
Zusätzlich zu den Beobachtungen am lebenden Plankton hätten ihm die Funde der
„Challenger“-Meeresexpedition zur Verfügung gestanden. Insgesamt ergibt dies drei
Dezennien Plankton-Forschung und 12 Jahre „Challenger“-Material, vgl. ders., Plankton-Studien, S. 11 – 16.
55 Hensen, Ergebnisse der Plankton-Expedition, S. 243 u. S. 253; ders., Methodik der
Untersuchungen, S. 172; ders., Leben im Ozean, S. 2.
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Utopien aus Biomasse
335
Divergenzen von diesem Muster, das heißt weit vom statistischen Mittel
abweichende Auszählungen, erklärte Hensen durch ungewöhnliche Meeresströmungen oder hielt sie für „zufällige Beimengungen, die ich nicht weiter
beachtet habe“.56 Er wog zwar ab, dass es „lokale Störungen“ durch Wärme,
Kälte, Regen oder andere wechselnde Einflüsse geben könnte. Solche Ungleichmäßigkeiten seien aber dem Zufall geschuldet, der, „wie die Mathematik
nachweist, ein ganz vorzugsweise, ich möchte sagen, gesetzlicher Geselle“ ist,
der in seiner Summe selbst wieder auf „die Gleichmässigkeit der Mischung“
verweise.57
Hensen zeigte nicht, dass das Plankton üppig und überall vorhanden, sondern
vielmehr teilweise sehr karg und dünn gesät sei. Wie verträgt sich diese
Interpretation mit dem kräftigen Bild vom Plankton als „Blut des Meeres“? Die
Antwort liegt meines Erachtens in einer methodischen Zwangslage. Die
Hypothese und ihre Bestätigung durch die quantitativen Ergebnisse mussten
gleichzeitig den Beweis für die Richtigkeit der angewandten Mittel erbringen.
Nur wenn Hensens Auszählungen auf die homogene Verteilung der Planktonten deuteten, konnte überhaupt seine Methode der punktuellen Fänge im
Atlantik aussagekräftig und ein 70.000 Mark teures Unterfangen legitimiert
werden.58 Ansonsten hätte man einfach Zahlen über unverbundene Fänge mit
geringem prognostischem Wert für die Ökonomie. Seiner Methode jedoch treu
bleibend, konnte Hensen in Aussicht stellen, für die Fischerei relevante
Resultate generiert zu haben. Zusätzlich hätte ein Ergebnis, das die Üppigkeit
von Plankton nachgewiesen hätte, die rückgängigen Fischerei-Erträge um
1870 nicht erklären können. Hensen wollte jedoch mit den Zahlen lediglich die
Richtung der Interpretation anzeigen, ohne fischereipolitische Implikationen
abzuleiten. Die Deutung der Resultate, so hielt Hensen in der Replik auf
Haeckel gleichzeitig rechtfertigend und kämpferisch fest, gehörte nicht zu
seinen Pflichten: „Die Aufgabe der Expedition war eine statistische Feststellung; was mit dieser später gefolgert wird, muss sich doch erst zeigen!“59
Hensens Verteidigungsschrift in Reaktion auf Haeckels Vorwürfe ist im Gestus
einer großen Anstrengung gehalten. Jede einzelne Anschuldigung knöpfte er
sich vor, um sie zu entkräften, wozu er sich jedoch gezwungen gesehen habe,
weil Haeckel „ohne einen frischen, fröhlichen Krieg nicht leben zu können“
schiene.60 Seinen Stil passte er durchaus demjenigen seines Kontrahenten an
56 Ders., Bestimmung des Plankton’s, S. 46. Für „Anhäufungen“ und zufällige Beimengungen vgl. ders., Haeckel’s Darwinismus, S. 7.
57 Ders., Methodik der Untersuchungen, S. 172.
58 Ders., Haeckel’s Darwinismus, S. 85. An jener Stelle verglich Hensen seine Expeditionskosten denjenigen der „Challenger“-Expedition, die zwar länger dauerte und mit
einem Kriegsschiff – was Kosten sparen könne – unternommen wurde. Dennoch
verwahrte sich Hensen gegen den Vorwurf, er sei im Verhältnis zu teuer gefahren.
59 Ebd., S. 29.
60 Ebd., S. 9.
336
Ariane Tanner
und schickte voraus: „Eine ängstliche und beschönigende Vertheidigung wäre
in dem vorliegenden Fall weit übler, als eine gründliche Abfertigung, desshalb
habe ich die letztere erfolgen lassen.“61 Für sich selber reklamierte Hensen den
„Freigeist“, während Haeckels Forschung von Dogmen durchdrungen und
seine Meinung „nur auf Sand gebaut“ sei und überhaupt „in völligem
Widerspruch mit den Thatsachen“ stehe. Den Vorwurf der mangelnden
Wissenschaftlichkeit und Professionalität sandte Hensen in vielfältiger Form
postwendend an den Absender zurück: Haeckel habe ungenau gelesen,
Aspekte seiner Resultate weggelassen, es mangle ihm an Erfahrung auf offener
See und an Stil, weil er sogar nicht davor zurückschrecke, den Sekretär der
Expedition anzugreifen. Nicht einmal Haeckels Malerei einer Tiefseequalle
habe man vertrauen können, weshalb man diese auf der Fahrt habe
wiederholen lassen.62
Letztlich ging es in diesem Disput aber ebenso wenig um die Frage, wer nun an
Küsten oder auf dem offenen Meer gearbeitet hatte oder wie beim Zählen ein
halber von einem ganzen Planktont unterschieden werden konnte und ob die
beiden an die kleinen Fische oder die großen Wale dachten, wenn sie von
Plankton als Nahrung sprachen. Der Schlagabtausch über Hypothesen,
Fakten, wissenschaftliches Ethos, Stil und Methode war im Grunde nur ein
Scheingefecht. Die wesentliche Frage, in der sich Hensen und Haeckel nicht
einig werden konnten, war nämlich, zu welchem Zwecke diese Organismen
überhaupt erforscht werden sollten. Dahinter verbargen sich wichtige konzeptionelle Differenzen, die aber nur scheinbar nicht vereinbar waren.
Scheinbar deswegen, weil sich die beiden Wissenschaftler im ausgehenden
19. Jahrhundert zwar nicht verständigen konnten, ihre Ansichten aber im
Grunde gar nicht so weit auseinanderlagen. Im folgenden Abschnitt wird
gezeigt, dass ihre Zugangsweisen durch die wissenschaftlichen Entwicklungen
der 1920er Jahre sinnfällig verknüpft werden konnten. Wesentlich war hierzu
die Etablierung des Begriffs Biomasse.
III. Dynamiken zwischen Wasser und Land
Mit den Protagonisten Haeckel und Hensen kollidierten beispielhaft zwei
verschiedene Herangehensweisen zur Erforschung ein und desselben Gegenstandes. Ihr Disput war symptomatisch für eine wissenschaftshistorische
Situation, in der numerisch-statistische Methoden (Quantifizierung, Durch61 Ebd., für das Folgende ebd. u. S. 6.
62 Ebd., S. 20 – 22. Im Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit sah sich Hensen durch
Zeitgenossen bestärkt, die kritisierten, dass Haeckel für die Darstellung von tierischen
wie menschlichen Embryonen dieselben Zeichenvorlagen benutzt hatte. Für eine
wissenschaftshistorische Darstellung dieser Debatte vgl. Lorraine Daston u. Peter
Galison, Objektivität, Frankfurt 2007, S. 201 – 206.
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Utopien aus Biomasse
337
schnittswerte) mit klassisch naturhistorischen Darstellungsweisen (Zeichnungen, Artenbestimmung, anatomische und morphologische Untersuchungen) konfligierten. Die Wahl ihrer Methoden lag aber in ihrer jeweiligen
Vorstellung der Physiologie begründet.63
Haeckel legte Wert darauf zu betonen, dass der Untersuchungsgegenstand und
die dazugehörige Methodik von seinem Lehrer, dem Physiologen Johannes
Müller, ganz maßgeblich vorangetrieben wurden. Die starke Anlehnung der
eigenen Forschung an Müller durch die Aufzählung der gemeinsamen Reisen,
die Arbeit mit der Müller-Gaze und die Art der Fragestellungen aus der
vergleichenden Anatomie kann aber noch weitergehend gedeutet werden.
Müllers nachhaltiges Interesse an den mikroskopisch kleinen Tieren war nicht
etwa nur der zufälligen Entdeckung geschuldet, sondern die frei flottierenden,
einzufangenden Objekte passten sich in sein forschungsphilosophisches Ziel:
Physiologie und Philosophie sollten eine enge Beziehung, die Erfahrung mit
der Reflexion eine ideale Verbindung eingehen.64 Die Imagination erhielt in
dieser wissenschaftsphilosophischen Haltung eine besondere Rolle, in der
etwas gefunden werden sollte, was noch nicht gewusst war. Das von Müller
entwickelte und eingesetzte Netz zum Fangen der Kleinstorganismen konnte
genau diese Stelle einnehmen und es verlieh der wissenschaftlichen Maxime
der Imagination eine konkrete, materiale Form: „With the system of ,pelagic
fishery‘, Müller created an instrument that ,exteriorised‘ the imagination.“65
Für Hensen wiederum war die Physiologie nicht nur Vorbild für die Methode
des Auszählens der einzelnen Planktonten. Wenn er die Metapher des „Bluts
der Meere“ verwendete, so sprach er auch als Forscher, der fast gleichzeitig mit
dem Mediziner Claude Bernard die Isolation des Glycogens der Leber bekannt
gab.66 Beide konnten damit beweisen, dass der Blutzuckerspiegel in der Leber
unabhängig von der Nahrungszufuhr reguliert wird. Bernard sprach in dieser
Hinsicht von einem „milieu intrieur“, einem regulatorischen Binnensystem,
das den Körper über verschiedenen Bedarf informiert. Dieses „milieu
intrieur“ stabilisiert den Organismus unabhängig von äußeren Veränderungen. Hensen verfolgte eine solche physiologische Vorstellung und wandte, wie
wir gesehen haben, eine Methode der Physiologie an, um eine konstante
Verteilung des Planktons zu beweisen. Plankton wird hier zu einer Gewähr63 Weitere Differenzen, die hier nur kurz genannt werden, betreffen den evolutionären
oder entwicklungsbiologischen Ansatz sowie ihr jeweiliges Verständnis von „Ökonomie“.
64 Hans-Jörg Rheinberger, From the „Originary Phenomenom“ to the „System of Pelagic
Fishery“. Johannes Müller (1801 – 1858) and the Relation Between Physiology and
Philosophy, in: Kurt Bayertz u. Roy Porter (Hg.), From Physico-Theology to BioTechnology. Essays in the Social and Cultural History of Biosciences, Amsterdam 1998,
S. 133 – 152, hier S. 137, für das Folgende ebd., S. 144.
65 Ebd., S. 145.
66 Vgl. dazu genauer Porep, Victor Hensen, S. 78 – 81.
338
Ariane Tanner
leistung von – wenn auch nicht üppiger – Nahrung und zum Regulator des
ozeanischen Stoffwechsels. Haeckel hingegen ging es gerade nicht um das
Aufzeigen einer Stabilität, sondern um eine Dynamik. Gerade weil das
Plankton abhängig sei von temporalen Schwankungen wie Wetter, Meeresströmungen, Tages- und Jahreszeit, müsse man davon ausgehen, dass das
Plankton „eine höchst variable und oscillante Grösse sei.“
Eine umfassende und unbefangene Würdigung aller dieser öcologischen Verhältnisse muss
uns daher schon a priori zu der Ueberzeugung führen, dass die Vertheilung des Plankton im
Ocean höchst ungleichmässig sein muss […].67
Haeckel konnte mit der Metapher des Stoffwechsels der Meere nur etwas
anfangen, weil er an die Zuflüsse der Ozeane, das Absinken von abgestorbenen
Organismen und die von ihm sogenannten „Proviant-Transporte“ von
oberflächennahen Nährstoffen in tiefere Gefilde durch das Plankton dachte.
Darin identifizierte er den „Kreislauf der organischen Materie im Weltmeere“.68 Besonders an den „interessanten und verwickelten Lebensbeziehungen
der pelagischen Organismen, ihre[r] Lebensweise und Oeconomie“, die als
ökologische Probleme bezeichnet werden müssten, könne dieser abgelesen
werden.69 Zum einen kann man hier Haeckels Hinwendung zu dem erkennen,
was er nach den ersten zwei Radiolarien-Bänden „Oecologie“ nannte, zum
anderen fällt damit sein Abschied von der zeitgenössischen Physiologie
zusammen.70 Gerade die klassische Physiologie verknüpfte Haeckel mit der
mathematischen Methode, die eine falsche Sicherheit verspreche und Fakten
zu Unrecht (numerisch) festlege.71 Etwas, was in Müllers Forschungsphilosophie, die sich zwischen Empirie, Nachdenken und Imagination bewegte, nicht
erwünscht war. In dessen Sinne beendete Haeckel auch seine Kritik an Hensen
und mahnte das Diktum der „Beobachtung und Reflexion“ an.72 Haeckels
Planktonforschung war also von einem forschungsphilosophischen Ansatz
charakterisiert, der die Physiologie hinter sich ließ, indes Hensen auf einem
reduktionistischen Ansatz insistierte.73
Haeckels dynamische Interrelationen und Hensens statistische Bestandsaufnahme der metabolischen Abhängigkeiten waren jedoch auf lange Sicht
vereinbar. Beide Konzeptionen ließen sich in der sich allmählich etablierenden
Ökologie integrieren, welche die Strukturen von Tiergemeinschaften in ihrer
67
68
69
70
71
72
73
Haeckel, Plankton-Studien, S. 90.
Ebd., S. 99.
Ebd., S. 19.
Ders., Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen, S. 286.
Ders., Plankton-Studien, S. 91.
Ebd., S. 103.
Von daher erklärt sich auch der von Hensen gewählte Untertitel seiner Verteidigungsschrift: „Ueber einige Aufgaben und Ziele der beschreibenden Naturwissenschaften.“
Vgl. Hensen, Haeckel’s Darwinismus.
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Utopien aus Biomasse
339
Umgebung durch die metabolischen Abhängigkeiten zu verstehen begann, was
eine Ökonomisierung und Dynamisierung des Forschungsgegenstandes mit
sich brachte.74 Die Meeresbiologie gilt als eines der ersten Spezialgebiete,
worin statistische Methoden zur Erforschung von Nahrungsrelationen angewandt wurden.75 Der Ozeanografiehistoriker Eric L. Mills stützt sich auf
Hensens Arbeiten, um zu zeigen, wie sich die Meeresbiologie im ausgehenden
19. Jahrhundert von der Tiefsee-Erforschung allmählich den marinen Produktionszyklen zuwandte.76 Die deutsche Plankton-Expedition bezeichne den
Übergang von der deskriptiven Wissenschaft hin zu einem Ansatz der
„production cycles“, der in einer quantitativen, modellgestützten biologischen
Ozeanografie mündete. Das Meer wurde zunehmend als Reservoir, als
„standing crop“ wahrgenommen. In dieser Ansicht verschwindet der einzelne
Organismus als taxonomisches und anatomisches Objekt und geht in einem
Kollektiv auf, das in den größeren Zyklus von Masse und Energie eingebunden
ist. Ein Standpunkt, der in der Zeit nach 1910 und für die Grundlegung der
modernen Ozeanografie entscheidend war und als Symptom der zunehmenden Ökonomisierung der ökologischen Betrachtungsweise interpretiert werden kann.77
Die 1920er Jahre waren aber nicht nur wichtig für die allmähliche Etablierung
der Vorstellungen von Nahrungsketten,78 die vom Wasser bis ans Land
reichten, sondern beinhalteten auch Konzepte wie Gleichgewicht und zyklische Phänomene,79 Mathematisierungen von ökologischen Interdependenzen80 und den Begriff der Biosphäre.81 Hatte lange Zeit die Pflanzenökologie
74 Charles S. Elton, Animal Ecology, New York 1927, S. 55 – 70.
75 Durch Sarah Jansens Monografie wird der Eindruck bestärkt, dass die Geschichte einer
„Mathematisierung der Biologie“ bei der Meeresforschung anzusetzen hat. Vgl. Sarah
Jansen, Schädlinge. Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts
1840 – 1920, Frankfurt 2003, S. 146.
76 Für dies und das Folgende vgl. Mills, Biological Oceanography, S. 1 f. u. S. 39.
77 Donald Worster, Nature’s Economy. A History of Ecological Ideas, New York 1990.
78 Die ersten visuellen Repräsentationen von Nahrungsketten gehen vermutlich auf
Camerano zurück, Elton definierte den Begriff; vgl. Lorenzo Camerano, Dell’equilibrio
dei viventi merc la reciproca distruzione, in: Atti della Reale Accademia delle Scienze di
Torino 15. 1879 / 1880, S. 393 – 414; Elton, Animal Ecology.
79 Silvia Berger, Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen
Bakteriologie in Deutschland, 1890 – 1933, Zürich 2007, S. 399 – 413.
80 Alfred James Lotka, Elements of Physical Biology, Baltimore 1925, S. 88 – 98; Vito
Volterra, Variazioni e fluttuazioni del numero d’individui in specie animali conviventi,
in: Memorie della Reale Accademia dei Lincei 6. 1926, S. 31 – 113. Das von Lotka und
Volterra unabhängig voneinander publizierte Differentialgleichungssystem erlaubt die
exakte, das heißt mathematische Beschreibung eines idealen sogenannten RäuberBeute-Verhältnisses, heute bekannt als „Lotka-Volterra-Gleichungen“.
81 Vladimir Ivanovich Vernadsky, La biosphre, Paris 1929.
340
Ariane Tanner
dominiert, die zu erklären suchte, wie ein aktueller Bestand von Arten sich
formiert hatte, so verschob sich der Fokus der Ökologie allmählich auf die
Momentaufnahmen einer Dynamik, die Interdependenzen zwischen den
Arten und ihre Funktionen für ein ökologisches System.82 Solche Ansätze
binden die Interaktionen zwischen Arten an die Nahrungsrelationen zurück.
Nahrung wird zur „burning question in animal society“, und die ganze
Struktur und die Aktivitäten der Tiergemeinschaft hängen vom Versorgungsangebot ab.83 Oder, wie es der englische Ökologe Charles Elton ausdrückte: Er
suche nicht mehr nach der Adresse eines Tiers, sondern wolle dessen Beruf
kennen lernen, wobei das betreffende Berufsbild durch die Körpergröße des
Tiers und seine Nahrungsgewohnheiten definiert wird.84 Die arbeitsteilige
Spezialisierung der industriellen Gesellschaft findet hier ihren Widerhall in
der ökologischen Definition einer Tiergemeinschaft.
In dieser Phase der hier nur grob angedeuteten Entwicklungen innerhalb der
Ökologie und Biologie fällt auch die vermutlich erste Nennung des Begriffs
„Bio-Masse“.85 Sie geht auf den deutschen Zoologen Reinhard Demoll zurück,
der sich mit der Physiologie von Fischen und Vögeln sowie der Gewässerqualität und der Fischereiwirtschaft beschäftigte. Demoll führte 1927 das
Konzept Biomasse in Abgrenzung zu Begriffen wie „Produktion“ oder
„Ertrag“ ein. Mit Biomasse sei die „in einem bestimmten Augenblick“ lebende
Masse in einem abgegrenzten Bereich, zum Beispiel in einem See, bezeichnet.
Hingegen meinten die Produktion oder der Ertrag, so Demoll, eine jährliche
Masse, die einem Feld oder See entnommen wird, womit Fragen des
Gleichgewichts, der Höchstproduktion ohne Störung, der Reserven und
Neubildung verbunden sind. Die Biomasse allein sage über diese Fragen noch
nichts aus, denn aus zwei gleich großen Biomassen in zwei unterschiedlichen
Seen müsse nicht die gleich hohe Produktion erfolgen. Die Masseberechnung
gebe aber an, wie viel von dem für den Aufbau von Aminosäuren und
Proteinen notwendigen Stickstoff in lebender Masse gebunden ist.
Die Biomasse tauchte also in diesem Text in zweifacher Bedeutung auf: einmal
als situativ gemessene Masse in einem Teich und einmal als vorhandene
Stoffressource, die potentiell in einen Kreislauf eingebunden ist. Vor diesem
Hintergrund mussten die Primärproduzenten der Gewässer, die Planktonten,
fast gezwungenermaßen eine Hauptrolle spielen. Zum einen binden Phyto82 Arthur G. Tansley, The Use and Abuse of Vegetational Concepts and Terms, in: Ecology
16. 1935, S. 284 – 307; Frank Benjamin Golley, A History of the Ecosystem Concept in
Ecology. More Than the Sum of the Parts, New Haven 1993.
83 Elton, Animal Ecology, S. 56.
84 Charles S. Elton, The Ecology of Animals, London 1933, für diese Interpretation vgl.
Ludwig Trepl, Geschichte der Ökologie vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart,
Frankfurt 1987, S. 170.
85 Reinhard Demoll, Betrachtungen über Produktionsberechnungen, in: Archiv für
Hydrobiologie 18. 1927, S. 460 – 463, für das Folgende S. 460 u. S. 462.
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Utopien aus Biomasse
341
plankton und Mikroorganismen anorganische Stickstoffverbindungen und
wandeln sie in organische Proteinverbindungen, die als Ressource in Betracht
kommen. Zum anderen boten die Gegenstände der Limnologie, Teiche oder
Seen, die Möglichkeit, von einem klar abgegrenzten Ökosystem zu sprechen
und die darin stattfindenden Zyklen und Materialumwälzungen zu analysieren. Die Quantifizierung der lebenden Masse wird zum wichtigen Indikator für
die Prosperität der ganzen Nahrungskette.
Der Begriff „Ökosystem“ aus dem Jahre 1935 sowie die Vorstellung von
trophischen Levels aus dem Jahre 1942 unterstützten weiter abstrahierende,
systemische Betrachtungsweisen, welche die funktionale und vor allem
energetische Bedeutung von Populationen über die systematisch-taxonomische Bestimmung von Arten stellten.86 Anhand der Quantifizierung der
Primärproduzenten, metabolischen Raten und Konsumenten konnte die
ökologische Stratifizierung ermittelt werden. Arten spielten in dieser Ansicht
keine Rolle, sondern die Massen und Energien der jeweiligen Levels.87 Hier ist
der Ort, wo sich Hensens quantitative und Haeckels ökologische Betrachtungsweise von Plankton verbinden lassen. Die statistischen Erhebungen von
pelagischen Ressourcen und die dynamische Veränderung von Stoffzyklen
sind im Biomasse-Begriff aufgehoben.
Die Perspektive auf die energetischen Potentiale und funktionalen Dynamiken
innerhalb eines aquatischen Ökosystems, das die Basis der größten Nahrungskette bildet, brachte auch den Menschen als terrestrischen Faktor ins
Bild. Der Homo sapiens und Plankton traten in ein energetisches Wechselverhältnis. Im Laufe der 1940er und 1950er Jahren begann sich die Vorstellung
einer in Gewässern vorhandenen Biomasse von Primärproduzenten, von
denen der Mensch abhängig ist, mit pessimistischen Interpretationen von
Bevölkerungsprognosen zu verbinden. Die wachsende Menschenmasse mit
einem lebenserhaltenden Energiebedarf sollte mit einer der größten vorhandenen Biomassen, dem Phytoplankton, kurzgeschlossen werden.
IV. Algen-Utopien auf dem Teller
Der Biologe Lewis H. Tiffany bemerkte bereits 1922, dass drohende Überbevölkerung mit gleichzeitig drastisch ansteigendem Nahrungsbedarf durch
Phytoplankton zu mindern sei: „In the future, therefore, we may have to turn
more of our attention to the cultivation of the waters for food supplies. […] As
that time comes, the cultivation of algae will be a first step toward greater fish
86 Raymond L. Lindeman, The Trophic-Dynamic Aspect of Ecology, in: Ecology 23. 1942,
S. 399 – 417.
87 Für die Beschreibung sämtlicher Prozesse (anorganische, organische, soziale, industrielle) als Massetranslationen, die sich energetisch quantifizieren lassen, vgl. Lotka,
Elements of Physical Biology.
342
Ariane Tanner
production.“88 Eine neue Berufsgattung, „der Landwirt des Meeres“, könne
hier Abhilfe verschaffen. Ähnliches stellte sich der Ozeanograf Gordon Riley
25 Jahre später vor : Das Meer sei ein die Vorstellungskraft anregendes, noch
unausgeschöpftes Lagerhaus von potentieller Nahrung, weil die marine
Produktion von organischem Material diejenige auf dem Land bei Weitem
übersteige; man müsse annehmen, dass in den Wassertiefen „at least part of
the solution to the world’s increasingly acute food problem“ liege.89 Riley
sprach dem Plankton in der Bekämpfung des Hungers eine mittelbare Rolle zu,
es ging ihm darum, auf die mögliche Steigerung von Fischerei-Erträgen qua
Einflussnahme aufs Plankton zu sensibilisieren. Zum Referenzpunkt wurde
ihm hierbei der Eiweiß-Konsum im globalen Vergleich. Die von ihm sogenannte „Oriental Diet“ zeichnete sich durch ein Proteindefizit aus, welches
durch die Erweiterung der Fischkulturen wettgemacht werden könnte.
Zu Beginn der 1950er Jahre wurde zunehmend die Erwartung geweckt, dass
der Mensch nicht nur als Endverbraucher von Fischen und Meeresfrüchten
indirekt von einer gesteigerten Planktonmasse profitieren, sondern sich selbst
auf der ersten Stufe der marinen Nahrungskette einschalten könnte. Derart
würde die Nahrungskette abgekürzt und die energieverschleißenden, verlustreichen metabolischen Zwischenschritte bis hin zum Hering vermieden. Der
Mensch sollte da mitessen, wo im Allgemeinen das Zooplankton frisst.
Eine schnell wachsende Süßwasseralge, Chlorella, leistete dieser Idee Vorschub. Ihre im Vergleich zu Landpflanzen zwanzigmal größere photosynthetische Umsatzrate wurde angepriesen und das Bild einer photosynthetischen
Wundermaschine gepflegt. Mit Chlorella sollte ein Stoff zur Verfügung stehen,
der fabelhafterweise ohne Investitionen rasend schnell wachse: „It costs
nothing, or less than nothing, to raise.“90 Die Bekämpfung des Hungers auf
globaler Skala schien möglich.
Die Diskussion um Nahrungssicherheit in Anbetracht der Bevölkerungsentwicklung, also das Zusammenspiel von Ressourcen und Menschenzahl, ist
klassischerweise vom englischen Gelehrten Thomas Robert Malthus geprägt.91
Die Befürchtungen, dass Böden erodieren, Menschen hungern und die Welt –
mitunter von den „falschen“ Menschen – übervölkert würde, welche wiede88 Lewis H. Tiffany, Some Algal Statistics Cleaned from the Gizzard Shad, in: Science 56.
1922, S. 285 f., hier S. 286, zit. n. Lotka, Elements of Physical Biology, S. 172.
89 Gordon A. Riley, Food From the Sea. Marine Life Outweighs Terrestrial Life, so it Has
Been Suggested That Man Turn to the Oceans to Ease his Food Shortage, a Statement of
the Problem’s Biological Basis, in: Scientific American 181. 1949, S. 16 – 19, hier S. 17,
für das Folgende S. 19.
90 Thomas E. Stimson, Algae for Dinner, in: Popular Mechanics 106. 1955, S. 134 – 136, hier
S. 134.
91 Thomas Robert Malthus, An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future
Improvement of Society. With Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M.
Condorcet, and other Writers, London 1798.
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Utopien aus Biomasse
343
rum mehr Nahrung brauchten, waren bereits im Amerika der Zwischenkriegszeit weit verbreitet92 und tauchten in Wellen immer wieder auf.93
Während sich Malthus in seiner Analyse der Populationsentwicklung darauf
konzentrierte, was das Bevölkerungswachstum hemmen könnte (Freiwilligkeit, moralische Bedenken, kriegerische Ereignisse und Engpässe), war das
Algenprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg optimistisch motiviert. Aufbruchstimmung und Fortschrittsglaube überwogen die Besorgnis.
Die Alge Chlorella, „the grass of the sea“ und Basis der Nahrungspyramide94
eroberte sowohl die Imaginationen als auch die Labore in verschiedenen
Ländern wie den USA, Japan, England, Deutschland und Venezuela.95 Wie die
Alliierten während des Zweiten Weltkriegs um die Welternährung besorgt
waren, kann die Algen-Züchtung als Anliegen der hochindustrialisierten
Länder interpretiert werden, den Frieden zu sichern und ganz allgemein den
Wohlstand auch in die sogenannte Dritte Welt zu bringen.96 Die Alge wurde
zum „Malthusian Antidot“.97
Der industrielle Anbau von Algen versprach mehrere Probleme an der
Schnittstelle zwischen Bevölkerungswachstum und Ressourcenknappheit
gleichzeitig zu lösen:98Algen-Fabriken könnten auch in der Wüste stehen,
konkurrieren dementsprechend nicht mit herkömmlich genutzten Flächen
und erzwingen keine Rodungen; Rohstoffe werden geschont, weil die Alge auf
ein ubiquitäres und faktisch unendliches Energiereservoir, das Sonnenlicht,
abstellt; der Ertrag wird durch den weit höheren Umsatz des Lichts gesteigert;99 die Ernte kann wetter- und jahreszeitenunabhängig täglich erfolgen;100
92 Warren Belasco, Algae Burgers for a Hungry World? The Rise and Fall of Chlorella
Cuisine, in: Technology and Culture 38. 1997, S. 608 – 634, hier S. 611.
93 Zur Rezeption von Malthus, vor allem auch im 20. Jahrhundert, vgl. Philip Appleman
(Hg.), An Essay on the Principle of Population. Influences on Malthus’ Work NineteenthCentury Comment, Malthus in the Twenty-First Century, New York 2004; William
Stanton, The Rapid Growth of Human Populations, 1750 – 2000. Histories, Consequences, Issues, Nation by Nation, Brentwood 2003; Thomas Etzemüller, Ein ewigwährender
Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld
2007.
94 Francis Joseph Weiss, The Useful Algae. Ranging from Single Cells to Treelike Colonies,
these Primitive Plants Support a Whole Hierarchy of Marine Life and also Contribute
Directly to the Needs of Man, in: Scientific American 187. 1952, S. 15 – 17, hier S. 15.
95 Howard W. Milner, Algae as Food. The One-Celled Plant Chlorella May Become an
Important Part of the World’s Food Supply. An Account of the First, Promising Attempts
to Grow it Economically on a Mass Scale, in: Scientific American 189. 1953, S. 31 – 35.
96 Belasco, Algae Burgers, S. 614.
97 Ebd., S. 609.
98 Für die folgende Auflistung vgl. ebd., S. 610 u. S. 623.
99 Howard W. Milner, Some Problems in Large-Scale Culture of Algae, in: The Scientific
Monthly 80. 1955, S. 15 – 20, hier S. 16. Milner spricht von achtmal effizienterer
Umsatzrate.
344
Ariane Tanner
Abfallstoffe würden vermieden und ein extrem hoher Eiweißgehalt erreicht.101
Gerade Proteine waren ein wichtiges Argument für die Algen-Zucht, denn sie
wurden von der Food and Agriculture Organization (FAO) 1943 als Richtlinie
herangezogen, um festzustellen, dass fünfzig Prozent der Menschheit unterernährt seien.102 Die Landwirtschaft hingegen galt in den 1950er Jahren als
konservatives Gegenstück, an deren Innovationsfreudigkeit erhebliche Zweifel
bestanden.103
Die Algen wurden zunächst gleich einer Essigmutter in einem Reagenzglas
angezogen, um dann in Kolben verbracht zu werden, worin eine größere
Algenlösung hergestellt wurde.104 Diese wurde schließlich in ein Röhrensystem
abgefüllt, das auch auf dem Dach eines Gebäudes mitten in einer Großstadt
installiert werden konnte.105 Der Traum vom zeitsparenden und sauberen,
synthetischen Nahrungsmittel, das ohne Kontaminierungen aus dem vergrößerten Reagenzglas kommt, schien greifbar. Die push-button-Mentalität fand
eine Entsprechung in der Algen-Anlage, die von Einzelpersonen mit wenigen
Handgriffen bedient wird.106
Chlorella, wie der amerikanische Pionier der Algen-Forschung Herman A.
Spoehr festhielt, hatte als Nahrungssubstitut verschiedene Vorteile: Ganz
allgemein ließe sich das Wachstum dieser in speziellen Behältnissen herangezogenen Ressource weitaus besser kontrollieren als dies bei Landpflanzen
der Fall sei,107 und zudem könne durch die gezielte Veränderung des
Mineralstoffgehalts des Wassers eine optimale Nährstoffzusammensetzung
der Alge erwirkt werden.108 Technokratischer Eifer unter Berufung auf die
100 Herman A. Spoehr, Chlorella as a Source of Food, in: Proceedings of the American
Philosophical Society 95. 1951, S. 62 – 67, hier S. 64. Spoehr würde das aus der Sicht des
Ingenieurs so ausdrücken, dass man auf der Suche nach einem kontinuierlichen Prozess
im Vergleich zum sehr diskontinuierlichen des Pflanzenwachstums an Land ist; Milner,
Large-Scale Culture of Algae, S. 16.
101 Ebd., S. 15.
102 FAO, World Food Survey, Washington 1946; FAO, The State of Food and Agriculture
1948. A Survey of World Conditions and Prospects, Washington D. C. 1948, S. 2 u. S. 21;
George A. Reay, The Ocean as a Potential Source of World Food Supply, in: Food
Technology 8. 1954, S. 65 – 69.
103 Siehe auch Spoehr, Chlorella, S. 63.
104 Robert W. Krauss, Mass Culture of Algae for Food and Other Organic Compounds, in:
American Journal of Botany 49. 1962, S. 425 – 435, hier S. 427.
105 Vgl. z. B. das Bild der Versuchsanlage auf dem Dach des Departements für Pflanzenbiologie in Cambridge, Massachusetts Anfang der 1950er Jahre in Milner, Algae as Food,
S. 32.
106 Belasco, Algae Burgers, S. 611; ders., Meals to Come. A History of the Future of Food,
Berkeley 2006, v. a. S. 197 – 204.
107 Spoehr, Chlorella, S. 65.
108 Ebd., S. 64 u. 67; John S. Burlew (Hg.), Algal Culture. From Laboratory to Pilot Plant,
Washington D. C. 1953, S. iii.
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Utopien aus Biomasse
345
Durchschnittswerte der zum Leben notwendigen Kalorien und Nährstoffe pro
Mensch und Tag lieferten dieser Ansicht Argumente. Wenn das Essen, so die
Erwartung, erst einmal in seine chemischen Bestandteile zerlegt worden war –
Proteine, Kohlenhydrate, Fette, Mineralstoffe, Vitamine und Spurenelemente –
schien der adäquaten Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse im
globalen Maßstab nichts mehr im Wege zu stehen. Eine biochemische
Sichtweise auf die thermodynamische Maschine Mensch ging in dieser
Rhetorik eine ideale Verbindung mit dem Steuerungs- und Machbarkeitswillen des prozessoptimierenden Ingenieurs ein.
Die Gründe für den Enthusiasmus und die Popularität, die Chlorella zwanzig Jahre lang genoss, identifiziert der Historiker Warren Belasco auch im
Aspekt des Amüsements: „Let them eat kelp. […] Will somebody pass the
ketchup?“109 In diesem Sinne erdachte sich auch der Begründer des BiomasseBegriffs Demoll im Jahre 1956 eine ganze Menüfolge aus Phytoplankton, die
dem jeweiligen Fortschritt der Experimentierphase angepasst war :
Algenpaste und Algensuppe bilden den Anfang der Algenepoche. Man wünscht Abwechslung und wird sie bieten: Algensuppe, Algen la Schweinsbraten mit Algengemüse und
Algenknödel. Prinzregenten-Algentorte. Und falls man sich übergegessen hat, dann in der
Apotheke als sicherstes Brechmittel Algentropfen.110
Auf der Strecke blieb dabei die Einsicht, dass der Mensch nicht nur Nahrung zu
sich nimmt, sondern auch essen will. Die Algen, die zum größten Proteinlieferanten werden sollten, befriedigten aus amerikanisch-europäischer Sicht
keine hohen kulinarischen Ansprüche, ihre Konsistenz war zu spröde und ihr
Geschmack ließ zu wünschen übrig. Der Algen-Forscher Howard W. Milner
beispielsweise ließ sich von seinem japanischen Kollegen erzählen, wie das
neueste Produkt schmecke.111Auch hatte der ungeübte Verdauungsapparat
seine Mühe mit den harten Zellschalen der Alge und profitierte also kaum von
den vielen vorhandenen Nährstoffen, welche wiederum von der Alge selbst
nicht so zuverlässig aufgebaut wurden wie zunächst angenommen. Die
Essgewohnheiten erwiesen sich als resistent gegenüber chemischen Träumereien von synthetischer Nahrung; die Innovation überholte die Tradition
nicht. Nur sehr versteckt, in Eiscreme oder als Gelatine (Agar Agar), wurden
Algen in der westlichen Welt in kleinen, unbemerkbaren Mengen verzehrt.112
109 Dean Burk, Let Them Eat Kelp, in: Fortune 54. 1956, S. 72, zit. n. Belasco, Meals to Come,
S. 204; vgl. auch ebd., S. 208 zum „gag factor“ der Alge.
110 Reinhard Demoll, Früchte des Meeres, Berlin 1957, S. 136 f.
111 Krauss, Mass Culture of Algae, S. 431 f.; Klaus Müntz, Die Massenkultur von Kleinalgen,
bisherige Ergebnisse und Probleme, in: Die Kulturpflanze 15. 1967, S. 311 – 350; Milner,
Large-Scale Culture of Algae, S. 19.
112 Eigentlich erstreckten sich die primären Anwendungsbereiche der Alge wieder auf die
bereits im Jahre 1941 beschriebenen Bereichen: Tierfutter, medizinische Anwendungen,
direkte Ernte aus dem Meer, wo dies bereits traditionellerweise geschah, Gewinnung von
346
Ariane Tanner
Das Ziel, ein weit verbreitetes Nahrungsmittel zu produzieren, wurde verfehlt;
das gezüchtete Phytoplankton wurde zum nährstoffreichen Nahrungszusatz
für hartgesottene Vegetarier oder für Astronauten, die im weiten All ohnehin
auf vieles verzichten mussten.113
Zu den fehlenden Absatzmärkten wegen kulinarischer Vorlieben traten
handfeste technische Schwierigkeiten, die sich finanziell auswirkten: Temperaturschwankungen erwiesen sich als großes Hindernis für die AlgenKulturen, während es permanent diffizil war, die optimale Tiefe des Algenbeckens oder die Lichtintensität sowie den Rhythmus des Rührens und der
Abernte zu bestimmen und die Sterilität der Mischung zu gewährleisten. Es
stellte sich heraus, dass die anspruchslose Chlorella gezüchtet nicht etwa „mit
weniger als nichts“ wuchs, sondern Unmengen von Energie und Geld in Form
von Frischwasser, Sauerstoff, Kohlendioxid, gegebenenfalls Heizung oder
Kühlung verschlang. Ein Pfund in Japan produziertes Algentrockenmehl, so
die ernüchternde Bilanz im Jahre 1967, kostete einen Dollar, im Vergleich dazu
die gleiche Menge Soja sechs Cents.114 Die Algen-Forschung, die sich auch nach
zwei Jahrzehnten immer noch in der Pilotphase befand, wurde von Soja,
effizienten Düngemitteln sowie Hybridformen von Getreide überholt. Die vor
allem in populärwissenschaftlichen Foren gepflegte Utopie, die Algen könnten
gleich einem alchemistischen Wunderwerk mehr Teile Nahrung schöpfen als
Energie investiert wurde, hielt den ökonomischen Realitäten nicht stand. Die
Technik scheiterte an der Widerständigkeit des Objekts.
War Amerika einmal an vorderster Front gewesen, dem Welthunger beizukommen, so wurden in der Phase des sichtbar gewordenen ökonomischen
Scheiterns der Algen-Projekte neue Stimmen laut, die diese Rolle der USA
infrage stellten. „Famine, 1975! America’s decision: Who Will Survive?“
titelten die Gebrüder Paddock 1967 und schlugen vor, Entwicklungshilfe nach
dem Triage-Verfahren im Ersten Weltkrieg anzuwenden. Demnach gäbe es
förderungswürdige Staaten oder zur Selbstheilung fähige Staaten und als dritte
Sparte diejenigen, in welche sich Investitionen nicht lohnten und die man mit
Vorteil sich selbst überließ.115 Zum neuerlichen Übervölkerungsdiskurs trat
ein zunehmendes Bewusstsein für die Umweltverschmutzung. Monografien
wie „Das Selbstmordprogramm“ oder „The Population Bomb“ von Anfang der
1970er Jahre machten steigende Populationszahlen für die Aushöhlung der
chemischen Stoffen; vgl. Florence Meier Chase, Useful Algae, in: Annual Report of the
Board of Regents of the Smithsonian Institution, Washington D. C. 1941, S. 401 – 461.
113 Zur „Alge im All“ vgl. speziell Robert A. Wharton u. a., Algae in Space, in: Carole A.
Lembi u. J. Robert Waaland (Hg.), Algae and Human Affairs, New York 1988,
S. 485 – 509.
114 Belasco, Meals to Come, S. 211.
115 William Paddock u. Paul Paddock, Famine, 1975! America’s Decision: Who Will
Survive?, Boston 1967.
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Utopien aus Biomasse
347
Rohstoffreserven verantwortlich.116 Die ersten computerbasierten Prognosen
zum Wohlergehen des Planeten wurden publiziert und stellten in Aussicht, die
„Grenzen des Wachstums“ zu berechnen.117 Das ehemalige Ziel, die aus
europäisch-amerikanischer Perspektive bestehenden Eiweißdefizite des Ostens aufzufangen, wurde ins Gegenteil verkehrt. Der vermutete Mangel an
Eiweiß in der „Asian Diet“ wurde zum Vorbild. Der Chemiker und Ökonom
Colin Clark kritisierte den Parameter der FAO über den täglichen Eiweißbedarf
scharf und stellte diesem internationalen Berechnungswerkzeug lokale Unterschiede in Ernährungsgewohnheiten, Klima und geleisteter Arbeit gegenüber. Gleichzeitig etablierte er aber mit dem Bruttosozialprodukt eine
Kennziffer, welche die weltweite Vergleichbarkeit von Staaten unter ökonomischen Gesichtspunkten ermöglichte.118 Nur zog Clark aus dieser Vergleichbarkeit andere Schlüsse als die von ihm sogenannten Pessimisten. Entgegen
der Geschwister Paddock, die in Anbetracht der unterschiedlichen Entwicklungslevels eine eigentliche Abkapselung Amerikas vorschlugen, blieb Clark
ein unerschütterlicher Optimist. Mit Investitionen und technischer Innovation
stünde einer ausreichenden Ernährung für alle nichts entgegen. Auch auf die
drängenden Umweltprobleme wie die Luft- und Wasserverschmutzung hatte
er Antworten: Steuern auf traditionellen Ressourcen sollten den Rohstoffverbrauch auf erneuerbare Energien umlenken. Er hielt an der Idee einer „Asian
Diet“ fest und berechnete, dass bei einer asiatischen Kost 146 Milliarden
Menschen ausreichend ernährt werden könnten.119 Plankton spielte in dieser
fortschritts- und technikgläubigen Vision immer noch eine Rolle, nur schlug
116 Gordon Rattray Taylor, Das Selbstmordprogramm. Zukunft oder Untergang der
Menschheit, Frankfurt 1971; Paul Ehrlich, Die Bevölkerungsbombe, München 1971.
Genannt seien auch ders. u. Anne H. Ehrlich, Bevölkerungswachstum und Umweltkrise.
Die Ökologie des Menschen, Frankfurt 1972; Heinz Haber, Stirbt unser blauer Planet?
Die Naturgeschichte unserer überbevölkerten Erde, Reinbek 1975.
117 Jay W. Forrester, World Dynamics, Cambridge, MA 1971; Donella H. Meadows u. a., The
Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of
Mankind, London 1972. Die berühmt gewordene Schrift „Limits to Growth“ basierte auf
einem World Model, das Forrester mitentwarf. Laut Forrester (World Dynamics, S. 1)
sind folgende Faktoren für eine sinnvolle Simulation der Dynamik im Weltsystem
maßgeblich: „a model which interrelates population, capital investment, geographical
space, natural resources, pollution, and food production.“
118 Sabine Höhler u. Rafael Ziegler, Nature’s Accountability, in: Science as Culture 19. 2010,
S. 417 – 430; zur Geschichte des Bruttosozialprodukts vgl. Daniel Speich Chass, Die
Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der
Ökonomie, Göttingen 2013.
119 Colin Clark, Die Menschheit wird nicht hungern. Programm zur Ernährung der
Weltbevölkerung, Bergisch-Gladbach 1970, S. 195. Clark korrigierte diese Ziffer später
nach unten, setzte sie aber immer noch bei beachtlichen 47 Milliarden fest. Vgl. ders.,
Population Growth and Land Use, London 19772, S. 153.
348
Ariane Tanner
Clark nicht die Züchtung einer Alge an Land wie bei Chlorella vor, sondern
verlegte diese mögliche Industrie ins Meer. Einerseits nahm er den Vorschlag
wieder auf, dass man Plankton züchtete, um die Fischereierträge zu steigern,
andererseits untermauerte er das Ziel, sich davon direkt, durch ein „Abgrasen
der Meere“ zu ernähren. Auch für das Temperaturproblem, mit dem die
Algenforschung stets zu kämpfen hatte, hielt er eine, wenn auch in ihren
Nebenerscheinungen noch nicht zu Ende gedachte, Lösung bereit: Mittels
Kernenergie sollte das Tiefenwasser der Meere erwärmt und so das Planktonwachstum angekurbelt werden.120 An dieser Stelle hätte sich Clark wohl den
Vorwurf des inzwischen verstorbenen Algen-Experten der ersten Stunde,
Herman Spoehr, gefallen lassen müssen. Dieser bemerkte im Jahre 1951: „True,
vision is necessary, but the vision must be a disciplined and practicable one.“121
Ob Zoo- oder Phytoplankton, es wurde trotz Clarks Visionen nicht Teil unseres
Speiseplans. Es ist aber bemerkenswert, dass Clark in einer verbreiteten
Weltuntergangsstimmung, die isolationistischen Tendenzen das Terrain bereitete, eine international koordinierte Abfederung des Welthungerproblems
anstrebte. Dies tat er nicht primär aus Altruismus, aber in seiner Eigenschaft
als Technik-Optimist.
Auf industrieller Ebene wurde die Algen-Züchtung von circa 1970 an
denjenigen Sparten zugeordnet, die von Beginn an mitgedacht worden
waren: Analyse der Photosynthese, Tierfutterherstellung, Gewinnung von
medizinisch nutzbaren Substanzen.122 Die Algen-Forscher der zweiten Generation teilten mit Clark die Meinung über die politisch notwendigen Maßnahmen. Vor allem die Lenkung von technischer Entwicklung und Fördergeldern schwebte ihnen vor, damit eine neue Zeit anbrechen könnte, „a new, more
productive and more gentle age for Mankind – the Age of Microalgae.“123
Abgesehen von diesem pathetischen Ausspruch waren jedoch die AlgenWissenschaftler der zweiten Generation nüchterner. Vergleicht man ihre
Einschätzungen und den ersten systematischen Text über die Nutzbarkeit von
Phytoplankton aus dem Jahre 1941, dann fallen die Ähnlichkeiten und auch
der moderate und pragmatische Ton auf.124 Ihrer Meinung nach waren die
Algen vorbestimmt für Tierfutter, Abwasserreinigung und nur ganz zuletzt als
möglicher Rohstoff für Treibstoff. Bezüglich des letzteren Anwendungsbereiches, der Suche nach alternativen Treibstoffen, sahen sie bemerkenswerterweise die Krux zwischen Mobilität und Grundversorgung voraus. Sie mahnten,
dass flankierende Maßnahmen notwendig sein werden, um zu verhindern,
120
121
122
123
Ders., Die Menschheit wird nicht hungern, S. 197.
Spoehr, Chlorella, S. 62.
Burlew, Algal Culture, S. 3 f.; Müntz, Massenkultur von Kleinalgen, S. 334 – 336.
William J. Oswald, Algal Production. Problems, Achievements and Potential, in: Shelef
Gedaliah u. Carl J. Soeder (Hg.), Algae Biomass. Production and Use, Amsterdam 1980,
S. 1 – 8, hier S. 8.
124 Chase, Useful Algae.
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Utopien aus Biomasse
349
dass die Produktion von auf Biomasse basierendem Treibstoff mit dem
Nahrungsbedarf in Konflikt gerate.
Mit den Algen-Züchtungsprojekten der 1950er und 1960er Jahre hatte der
utopische Charakter der Planktonforschung einen ersten Höhepunkt erreicht,
während technologische, ökonomische und kulinarische Schwierigkeiten
ungelöst blieben. Trotz dieses Scheiterns ebnete die erste Algen-Zucht-Phase
den Boden für alle weiteren Projekte. Die in den Gewässern vorhandene
organische Masse wurde direkt mit dem menschlichen Organismus an Land
korreliert. Dies war möglich durch die Übersetzung von Plankton in
energetische Nutzbarkeit und durch die Reduktion des Menschen auf seinen
Metabolismus. Das Konzept der Biomasse passt in diesen Kontext des
funktionalen ökologischen Denkens. Die Operationalisierbarkeit des Biomasse-Begriffs hat aber auch ihren Preis. Die ontologischen Unterschiede
zwischen Entitäten werden durch die funktional-technische Aufzählung der
Komponenten eines Systems kassiert. Sind Systemkomponenten erst einmal
quantifiziert und in nutzbare Energie übersetzt, dann können sie an unterschiedlichen Stellen der Nahrungskette eingesetzt werden. Der letzte Abschnitt
wird diesen Punkt noch deutlicher machen.
V. Die Biomasse Plankton
„Food or Fuel from Algae?“ war Mitte der 1950er Jahre schon gefragt
worden.125 Heute lautet die Antwort darauf eindeutig Treibstoff. Aktuelle
Plankton-Projekte fußen auf der Idee, neue Energieressourcen zu erschließen
und Unabhängigkeit von als unsicher empfundenen Öl-Förderstaaten zu
gewinnen. In diesem Sinne ist auch der „Energy Independence and Security
Act“ (EISA) der USA aus dem Jahre 2007 zu interpretieren, worin unter
anderem 800 Millionen Dollar für Algenforschung enthalten sind. Vergleicht
man das neue Phytoplankton-Projekt mit dem alten, dann springen die
rhetorischen Ähnlichkeiten ins Auge: schnelles Wachstum, Unabhängigkeit
von landwirtschaftlich genutztem Boden, technische Machbarkeit, die Alge als
photosynthetisches Wunderwerk, perfekter Loop zwischen Input und Output.
„Pack die Wunder-Alge in den Tank“ scheint das Losungswort der Stunde.126
Wieder wird das Bild der männlichen Einzelperson im weißen Laborkittel
beschworen, die unter geringem Arbeitsaufwand eine riesige, sterile Plantage
mit unvergleichlicher Produktivität allein managen kann. Wieder sind es
namhafte Forschungsinstitutionen, welche die neuen Phytoplankton-Projekte
medial unterstützen. Ebenso fehlt der Unterhaltungseffekt nicht, auch wenn es
125 Harold W. Milner, Food or Fuel from Algae?, in: Science Digest, April 1954, S. 65 – 67.
126 Silvia von der Weiden, Turbo-Algen sollen den Sprit der Zukunft liefern, http://
www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article13539595/Turbo-Algen-sollen-den-Sprit-derZukunft-liefern.html.
350
Ariane Tanner
sich beim „Plankton Manifest“ eines deutschen Journalisten und bei „Urban
Algae“, woraus die Fassaden unserer Häuser der Zukunft sein sollen, um
durchaus ernsthafte Alternativvorschläge handelt.127
„Algae’s Second Try“ zeichnet sich jedoch vor allem durch neue Techniken
aus, die durch genetic engineering und die synthetische Biologie zur Verfügung
stehen.128 Zum Beispiel behebt die Veränderung von genetischen Eigenschaften ein Problem des ersten Phytoplankton-Projekts, welches darin bestand, die
bestmögliche Tiefe des Algen-Beckens zu eruieren. Neu soll ein sogenanntes
„set of metabolic instructions“ die Alge altruistischer, das heißt „more
community-oriented“ machen.129 Die Manipulation der Antennen von Diatomeen soll gewährleisten, dass das Individuum im Algen-Becken bloß vierzig
Prozent des ihm verfügbaren Sonnenlichts aufnimmt. Derart würde der
einzelne Organismus nicht auf Kosten der im Becken benachbarten Diatomeen
die externe Energiequelle nützen und ein stabileres Wachstum aller Algen
vorhandenen garantieren.
Die Algen-Arten, welche in den aktuellsten Züchtungsanlagen zum Einsatz
kommen, werden jedoch nicht nur als Kerosin- und Treibstoffersatz beworben,
sondern gleichzeitig als Regulatoren im großen Maßstab. Vom Klima über die
Energie, die Nahrungsproduktion oder das Wasser – durch die Algen-Zuchten
sollen faktisch die wichtigsten Faktoren für den Fortbestand der Menschheit
optimal beeinflusst werden. Der Stoff Plankton wird aber nicht mehr als
Eiweißsubstitut oder Nahrungsmittel für die Weltbevölkerung propagiert, was
mit einer Neugewichtung des Biomasse-Begriffs zu tun hat.
Die 1970er Jahre waren in Bezug auf die Geschichte der Planktonforschung
nicht nur von den „Limits to Growth“ geprägt, sondern auch von großen
Erschütterungen an den Ölmärkten. In die gleiche Phase fiel auch die feste
Etablierung des Begriffs Biomasse für nicht-fossile, nachwachsende Energieressourcen, der bis heute Gültigkeit hat. In einer Monografie von 1980 mit dem
Titel „Biomass“, stellten die Autoren einleitend fest, dass nach Krieg, Hunger
und Epidemien die Menschheit nun mit einem neuen schwerwiegenden
Problem konfrontiert sei, der „Energiekrise“.130 In dieser Darstellung verschwindet das Phytoplankton in einer Auflistung und Bezifferung von
gespeicherter, alternativ zu fossilen Brennstoffen verwertbarer Sonnenergie.
Die rund um 1980 publizierten Bücher mit Titeln „Energy from Biomass“ oder
„Biomass for Energy“ sind zwar noch in den Ideen der Umweltbewegung und
127 Axel Limberg, Das Plankton Manifest. Wie ein Rohstoff die Welt verändern wird,
Hamburg 2007; Stephen Lacey, Beyond Biofuels. Integrating Algae in the Built
Environment, http://www.greentechmedia.com/articles/read/algae-as-an-energy-efficiency-play.
128 Robert F. Service, Algae’s Second Try, in: Science 333. 2011, S. 1238 f.
129 Ebd., S. 1239.
130 Nicholas P. Cheremisinoff u. a., Biomass. Applications, Technology, and Production,
New York 1980, S. 1.
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Utopien aus Biomasse
351
der notwendigen Schonung der Ressourcen verankert, gleichzeitig ist in ihnen
aber der rein energietechnische Biomasse-Begriff, das Rechnen mit TreibstoffRessourcen angelegt.131 Die rezenten Erforschungen von Algen zur Gewinnung
von Treibstoff sind in diesem Kontinuum zu sehen. Plankton wurde vom
potentiellen Welternährungsprogramm zu einem Additionsterm in der Gleichung zur Berechnung verwertbarer Energiespeicher. Die Rolle des Menschen
hat sich in diesem neuesten Algen-Projekt verändert. Der Homo sapiens ist
nicht mehr angesprochen, um den metabolischen Zyklus zu verkürzen,
sondern soll mittelbar von der neuen Energiequelle zur Sicherstellung der
Mobilität profitieren.
Die Verengung des Biomasse-Begriffs auf die energetische Nutzbarkeit von
organischem Material ist nicht folgenlos. In den Quantifizierungen der Natur
unter Energiegesichtspunkten wird, wie wir in den letzten Jahren verfolgen
konnten, kein Unterschied zwischen den Rohstoffen für menschliche Nahrung
oder für Mobilitätsansprüche gemacht. In einer radikalen Auslegung der
aktuellen Bedeutung von Biomasse, so Thomas Lemke, wird auch das
Rechtssubjekt letztlich zu einem möglichen Reservoir an Arbeitskraft, oder,
wenn diese im neoliberalen Zeitalter nicht mehr verwendet wird, zum
organischen Ersatzteillager.132
Die Entwicklung des Planktons von einem möglichen Nahrungsmittel hin zum
verbreiteten Rechnen mit energetisch verwertbarem Material hatte der Film
„Soylent Green“ 1973 kongenial vorweggenommen. In einer heillos übervölkerten Welt im Jahre 2022, in der die Natur nur noch auf Filmen existiert,
welche man sich vor dem freiwilligen Ableben vorspielen lassen kann, wohnen
vierzig Millionen Menschen in New York. Der Konzern Soylent Corporation
übernimmt die Funktion, die Bevölkerung mit Plankton-Chips zu versorgen,
während andere Nahrungsmittel, Gemüse und Fleisch, absolute Mangelware
und unerschwinglich sind. Das Publikum wird mit der Zeit gewahr, dass auch
diese ehemals endlos scheinende Ressource, das Plankton, inzwischen
aufgebraucht und heimlich durch ein anderes, vielleicht das letzte noch
vorhandene Reservoir, ersetzt wurde. Der Mensch als Teil der Biomasse wird,
hat er das Zeitliche gesegnet, dem Industrie-Komplex Soylent Corporation
zugeführt.133
Der Film „Soylent Green“ setzte die ontologische Nivellierung der an der
Nahrungskette Teilnehmenden apokalyptisch um. Biomasse ist alles, was
131 Wolfgang Palz u. a. (Hg.), Energy from Biomass. First E. C. Conference, London 1981.
132 Thomas Lemke, Rechtssubjekt oder Biomasse? Reflexionen zum Verhältnis von
Rassismus und Exklusion, in: Martin Stingelin (Hg.), Biopolitik und Rassismus,
Frankfurt 2003, S. 160 – 183.
133 Soylent Green, Metro-Goldwyn-Mayer, USA 1973. Der Film basiert auf der ScienceFiction-Romanvorlage von Harry Harrison, Make Room! Make Room!, London 1966.
Zwischen Buch und Film wird das inhaltliche Schwergewicht vom Platz- hin zu einem
Ernährungsproblem verschoben.
352
Ariane Tanner
verwertbar ist. Ein Ansatz, der auch nicht vor dem Recycling der toten
menschlichen Körper als Ultima Ratio in Anbetracht der zu ernährenden
Menschenmassen haltmacht. Auch wenn dieser Film ins Genre der Dystopien
gehört, so macht er nur allzu deutlich, dass die Qualität der Nahrung und die
Distribution derselben eine Frage des Zugangs zu Ressourcen wie Energie,
Technologien und Geld, also letztlich auch eine Frage der Verteilung der Macht
ist.
VI. Schluss
Die Geschichte der Planktonforschung weist Kontinuitäten und Verschiebungen in der Wahrnehmung von Plankton als wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Projektionsobjekt auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhoffte sich der Zoologe Richard Hertwig Einsichten in den
Ursprung des Lebens durch die Kleinstorganismen, welche buchstäblich nicht
greifbar waren. Ernst Haeckels programmatischer Ansatz ging davon aus, dass
sich durch das Fischen von Plankton ein eigentlicher Imaginationsraum
eröffne, der durch einen physiologisch-reduktionistischen Ansatz, wie er ihn
durch Hensen vertreten sah, unerreicht bliebe. Jedoch nicht nur die Ansprüche
Hertwigs und Haeckels, mit der Planktonforschung an den Ursprüngen des
Lebens oder der Evolution zu operieren, wurden ins 20. Jahrhundert transportiert, sondern auch Haeckels Idee einer Ökologie und Hensens Metapher
des Stoffwechsels des Ozeans. Dadurch wurde im Übergang zum 20. Jahrhundert der Mensch in den Imaginationsraum Plankton mit hineinprojiziert. Dass
der Homo sapiens aber in einem globalen Stoffwechselkreislauf, der unmittelbar mit den Kleinstorganismen verbunden ist, denkbar wurde, hat mit der
Begrifflichkeit der Biomasse zu tun. Der Biomasse-Begriff aus den 1920er
Jahren verschob den epistemologischen Fokus des 19. Jahrhunderts auf die
Ökonomie und Ökologie, welche die Planktonforschung bis heute dominieren. Nicht mehr die authentische Erfassung des einzelnen Organismus oder die
statistische Erhebung eines Kollektivs stand im Vordergrund, sondern die
Funktion einer pelagischen Masse in Bezug auf den Menschen. Mensch und
Plankton traten in ein operationalisierbares und regulierbares metabolisches
Wechselverhältnis ein.
Dieser funktionalistische Ansatz setzte utopische Kräfte der möglichen
technologischen Regulierung und Optimierung der wechselseitigen Abhängigkeiten von Plankton und Weltbevölkerung frei. In den Algen-ZüchtungsProjekten der zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sollte der
menschliche Metabolismus direkt mit dem Plankton kurzgeschlossen werden.
Die erwünschte ideale Nutzbarmachung von Plankton sah sich aber, wie
bereits im 19. Jahrhundert, mit der Sperrigkeit des Objekts Plankton konfrontiert. Aber nicht nur gehorchte Plankton nicht den technischen Manipulationen, sondern auch der europäisch-amerikanische Mensch erwies sich als
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Utopien aus Biomasse
353
resistent gegenüber kulinarischen Innovationen. Die Übersetzung des gewonnenen Wissens über Plankton in eine politisch gewünschte Praxis
scheiterte an der Materialität des Objekts.
Die technischen Mittel, um Plankton nutzbar zu machen, haben sich jedoch im
hier beobachteten Zeitraum drastisch geändert. War es früher die Pikrinschwefelsäure, die einen Einblick in den Organismus ermöglichen oder die
Statistik, welche die Masse beherrschbar machen sollte, so ist es heute die
Gentechnik, die den wissenschaftlichen Traum des nachhaltigen globalen
Stoffwechsels erfüllen soll. In den neuesten Algen-Züchtungs-Projekten
nimmt sich der Mensch jedoch nur vermeintlich aus den metabolischen
Abhängigkeiten heraus. Denn er manipuliert qua Plankton die Grundlagen der
Nahrungsproduktion beziehungsweise des Nahrungstransports. Darüber
hinaus wurde deutlich, dass der heute prognostizierte Nutzen von Biomasse
unter höchstem technologischem Aufwand im weltweiten Maßstab ungleich
verteilt ist. Damit „Planktons zweiter Versuch“ als ein Erfolg auf globaler Skala
gewertet werden kann, wird es wohl etwas mehr benötigen als einen genetisch
eingeführten Altruismus auf der Ebene der Antennen von Mikroorganismen.
Ariane Tanner, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich,
Clausiusstraße 59, 8092 Zürich, Schweiz
E-Mail: [email protected]
Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
Westdeutsche Fischereiexperten am Golf von Thailand
(1959 – 1974)
von Franziska Torma
Abstract: This essay deals with fisheries development in Thailand between 1959 and
1974 / 1975. The case-study of West German experts, who remodeled the Thai fishing
industry, shows that fish was not only viewed as a living resource during the development projects, but was of symbolic value as well. Shared cultures of Thai and
German exploitation created a basis for cooperation in the 1960s. The overexploitation of fish-stocks during the project revealed different ways of dealing with
this problem. West German experts recommended managing the fish-stocks whereas
the Thai partners feared losing the opportunity to improve their country. The different
meanings of fish as symbolic capital showed that development and environment were
two entangled fields of negotiation in the 1970s.
„An island is a body of land entirely surrounded by fish.“1 Diese Einschätzung
des Meeres als Rohstoffkammer findet sich in einem UNESCO-Dokument als
Begründung, warum es sich lohne, die Fischerei in Südostasien auszubauen.
Hoffnungen auf unerschlossene Rohstoffquellen machten die Küsten, Inseln
und Meere Südostasiens ab den 1950er Jahren zu einem Hauptschauplatz der
internationalen Entwicklungsplanung. Dieser Aufsatz befasst sich mit einem
spezifischen Projekt, dem Einsatz der Bundesforschungsanstalt für Fischerei
am Golf von Thailand. Zwischen 1959 und 1974 sollten westdeutsche Experten
die thailändische Fischerei modernisieren, wie es im zeitgenössischen Verständnis hieß, die dort ansässigen Fischer mit Ausrüstung ausstatten und
ihnen technisches Wissen vermitteln.
Dieser Einsatz westdeutscher Fischereiexperten am Golf von Thailand legt
weiterführende Fragen nahe: Was war die Basis für derartige entwicklungspolitische Interessenkoalitionen, die das Meer als Rohstofflieferant entdeckten? Welche Rolle spielte Fisch sowohl in Entwicklungsprogrammen als auch
während der Umsetzung der Projekte im Einsatzland? Welche kurz- und
langfristigen Folgen zeigten entwicklungspolitische Initiativen?
Die These dieses Aufsatzes ist, dass die Ausbeutung von Fisch der Schlüssel zu
zwei Wertschöpfungsketten war, die in entwicklungspolitischen Projekten
zentral sind: Als lebende Ressource ermöglichte Fisch ökonomischen Gewinn.
Die auf Effizienz ausgerichteten Ausbeutungspraktiken und die aus dem
1 UNESCO Archives, 36 A 653 (914) 39, GIFT Project Group, Philippines, Institute of
Fisheries Technology, Manila, S. 1.
Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 354 – 381
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
355
wirtschaftlichen Wachstum abgeleiteten Modernisierungsvisionen begründeten die deutsch-thailändische Zusammenarbeit in den 1960er Jahren. Als
symbolisches Kapital eröffnete Fisch eine zweite, soziokulturelle Wertschöpfungskette, in der Ansehen, Vertrauen und Prestige zur außenpolitischen
Währung im Kalten Krieg werden konnten. In den 1970er Jahren wurde jedoch
das Grundmaterial dieser beiden Wertschöpfungsketten knapp: Die thailändischen Fischbestände waren überfischt und die ökologischen Schäden, die
das Projekt verursacht hatte, wurden sichtbar. Zeitgenössische Versuche, die
Ökonomie der Entwicklungspolitik und die Ökologie der thailändischen
Meere auszutarieren, zeigten Bruchlinien der Entwicklungskoalition. In Zeiten
des Rückgangs der Ressource stellte sich die prinzipielle Frage, welcher Wert
mehr zählte: das Recht auf Entwicklung oder der Schutz der Natur.
Mit dieser Themenwahl betritt der Aufsatz ein kaum untersuchtes Feld. Bislang
hat sich die Forschung schwerpunktmäßig mit Entwicklungsinitiativen im
Bereich der Industrialisierung, der Infrastrukturplanung oder der Gesundheitsfürsorge befasst.2 In den letzten Jahren sind auch umwelthistorisch
orientierte Veröffentlichungen zu land- oder forstwirtschaftlichen Initiativen
entstanden.3 Die Rolle der Meere in der Entwicklungspolitik ist jedoch kaum
erforscht, was sich mit dem prinzipiellen Fokus der Geschichtsschreibung auf
das Festland erklären lässt. Außerdem bedingen die verfügbaren Quellen die
Themenwahl und die Analyseebenen der Forschung. Internationale Organi2 Z. B. Amy L. S. Staples, The Birth of Development. How the World Bank, Food and
Agriculture Organization, and World Health Organization Changed the World,
1945 – 1965 (= New Studies in U. S. Foreign Relations, Bd. 1), Kent 2007; Tania Murray
Li, The Will to Improve. Governmentality, Development, and the Practice of Politics,
Durham, NC 2007; Timothy Mitchell, Rule of Experts. Egypt, Techno-Politics,
Modernity, Berkeley 2002; Dirk van Laak, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen
für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn 2004. Ein aktueller Überblick
über die in Deutschland in der Geschichte der Entwicklungspolitik behandelten
Themen findet sich in folgenden Werken: Hubertus Büschel u. Daniel Speich (Hg.),
Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt
2009; Themenheft „Modernizing Missions. Approaches to ,Developing‘ the NonWestern World after 1945“, Journal of Modern European History 8. 2010, H. 1, hg. v.
Andreas Eckart u. a. Vgl. auch folgende aktuelle Forschungsberichte: Hubertus Büschel,
Geschichte der Entwicklungspolitik, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.
de/zg/Geschichte_der_Entwicklungspolitik; Corinna R. Unger, Histories of Development and Modernization. Findings, Reflections, Future Research, http://hsozkult.
geschichte.hu-berlin.de/forum/type=forschungsberichte&id=1130.
3 Richard Grove u. a. (Hg.), Nature and the Orient. The Environmental History of South
and Southeast Asia, Oxford 1998; Akhil Gupta, Postcolonial Developments. Agriculture
in the Making of Modern India, Durham 1998; Joseph Morgan Hodge, Triumph of the
Expert. Agrarian Doctrines of Development and the Legacies of British Colonialism,
Athens 2007; John Robert McNeill u. Corinna R. Unger (Hg.), Environmental Histories
of the Cold War, Cambridge 2010.
356
Franziska Torma
sationen wie die Vereinten Nationen haben Aktenbestände aus maritimen
Einsatzregionen selten vollständig und umfassend aufbewahrt.4 Die Tatsache,
dass Forschungsarbeiten zur Entwicklungspolitik zudem häufig auf die
politische Planungsebene fokussieren und selten umwelt- oder kulturhistorisch argumentieren, ist mitunter dem Mangel an Quellenbeständen
geschuldet, die Einblicke in die Situation vor Ort geben.5 Für das deutschthailändische Fischereiprojekt liegen dagegen im Bundesarchiv Koblenz
umfangreiche und vielfältige Quellen vor. Die Akten reichen von Verwaltungsdokumenten,6 Zeitungsartikeln7 und Feldnotizen8 bis hin zur persönlichen Korrespondenz der am Projekt Beteiligten.9 Diese Überlieferungslage
erlaubt Rückschlüsse darauf, wie Entwicklungsprojekte von der Planungsphase bis zur Implementierung vor Ort abliefen. Damit lässt sich nicht nur
nachvollziehen, in welchen Kontexten Wissen und Technologien zwischen
Westdeutschland und Thailand zirkulierten, sondern auch die Frage untersuchen, welche Rolle die maritime Umwelt in der Entwicklungspolitik spielte.10
4 So findet sich zu dem hier vorgestellten Projekt in den Akten der Vereinten Nationen
keine ausführliche Überlieferung, sondern nur eine Erwähnung in Übersichtsdokumenten.
5 Z. B. Richard Jolly u. a. (Hg.), UN Contributions to Development Thinking and Practice
(= United Nations Intellectual History Project Series, Bd. 5), Bloomington 2004;
Stephen Browne, The United Nations Development Programme and System, Abingdon
2011; Mark Mazower, No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological
Origins of the United Nations, Princeton 2009.
6 Z. B. Bundesarchiv Koblenz [im Folgenden BArch], B 278 / 86, Klaus Tiews, Schlussbericht über die Tätigkeit der nach Thailand entsandten Fischereisachverständigengruppe, 15. 12. 1961.
7 Z. B. BArch, B 278 / 84, Krabbenfischer Eggers half entwickeln, in: Deutsche Nachrichten
Sao Paulo, 23. 11. 1961; BArch, B 278 / 88, In Thailand kennt jeder den „Mister Fritz“ aus
Deutschland. Fritz Eggers zeigt ihnen das Fischen mit Grundschleppnetzen, in:
Hamburger Abendblatt, 27. 12. 1968.
8 Z. B. ebd., Hans-Hermann Engel an Klaus Tiews, Bangkok, 8. 9. 1961; BArch, ebd., Deb
Sanan an Klaus Tiews, 5. 8. 1968.
9 Z. B. BArch, B 278 / 86, Berliner Ausstellungen Sonderschau „Partner des Fortschritts“
an Klaus Tiews, 12. 8. 1963; BArch, B 278 / 88, Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews,
24. 9. 1965.
10 Zum Technologietransfer und der Wissenszirkulation: Artur Rommel, Technologietransfer als Entwicklungshilfe, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 19. 1968, S. 389 – 403;
Austin Robinson (Hg.), Appropriate Technologies for Third World Development.
Proceedings of a Conference Held by the International Economic Association at
Teheran, Iran 1979; Georg Menache, Wissenschaft und Technologie für die Dritte Welt.
Relevanz, Probleme und Perspektiven des Technologietransfers von Industrieländern in
Entwicklungsländer, München 1983; Manas Chatterji, Technology Transfer in the
Developing Countries, London 1990; Pierre-Yves Donz u. a., Technologietransfer aus
historischer Sicht. Relevanz der Schweizer Situation, in: Traverse 17. 2010, S. 16 – 20;
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
357
Während die Natur und die ökologischen Folgelasten gut fassbar sind, sind mit
dieser Quellenauswahl auch blinde Flecken verbunden. Die thailändischen
Projektpartner werden zwar als Akteure greifbar, doch es fehlen letztendlich
die „Stimmen“ der einheimischen Fischer und Antworten auf die Frage, wie
lokales Wissen die Entwicklungsprogramme beeinflusste und modifizierte.11
Dieser Aufsatz erzählt somit in erster Linie ein Stück bundesrepublikanischer
Geschichte aus der Perspektive der südostasiatischen Meere.12 Er folgt den
westdeutschen Experten durch Zeiten überzogener Aufbau- und Modernisierungshoffnungen bis hin zum Eintritt der ökologischen Wende, in der die
Grenzen der Wachstumseuphorie zum Thema wurden.
Zunächst steht die Geschichte des Projekts im Vordergrund, während ich im
zweiten Abschnitt zeige, wie entwicklungspolitische Praktiken Fisch als
lebende Ressource erschufen. Der dritte Abschnitt skizziert dann das symbolische Kapital, das Thailand und Westdeutschland aus dem Ausbau der
Fischerei gewinnen konnten. Schließlich befasse ich mich mit der Frage, wie
ökonomischer und symbolischer Wert in die moralisch konnotierten Werte
von Umwelt und Entwicklung einfließen, und welche Konfliktlinien daraus
entstehen konnten.
I. Das Projekt
In den 1950er Jahren hatten nicht nur die Vereinten Nationen den Rohstoffreichtum der südostasiatischen Meere bemerkt. Auch der deutsche Fischereibiologe Klaus Tiews hatte auf einer Dienstreise nach Südostasien im Golf von
Thailand reiche Fischvorkommen gesehen.13 Einerseits sprachen aus diesen
Beobachtungen koloniale Träume von unerschlossenen Ressourcen, die
unterhalb des Meeresspiegels lagen. Andererseits traten in der Ära der
Philipp H. Lepenies, Lernen vom Besserwisser. Wissenstransfer in der „Entwicklungshilfe“ aus historischer Perspektive, in: Büschel u. Speich, Entwicklungswelten,
S. 33 – 59; Renate Mayntz (Hg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer. Wissen im
Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Bielefeld 2008.
11 Zur methodischen Frage, wie europäische Akten im Hinblick auf koloniale und
postkoloniale Fragestellungen gelesen werden können: Ricardo Roque u. Kim A.
Wagner, Engaging Colonial Knowledge. Reading European Archives in World History,
Basingstoke 2012, insb. S. 1 – 32.
12 Während globalgeschichtliche Ansätze in der Geschichte des Kaiserreiches gut etabliert
sind, ist die Bundesrepublik in Bezug auf globalhistorische Perspektiven, jenseits der
transatlantischen oder europäischen Beziehungen, bislang nicht so gut untersucht.
Folgender Band bezieht globalhistorische Fragen in zeithistorische Forschung ein:
Eckart Conze (Hg.), Die Herausforderung des Globalen in der Ära Adenauer, Bonn 2010.
13 Zum Beginn des Projekts: BArch, B 278 / 84, Reinhard Finke an das Bundesministerium
für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Bericht, Betr.: Fischereiförderungsvorhaben Thailand, Bremen, 11. 4. 1960.
358
Franziska Torma
Entwicklungsplanung neuartige Problemlagen hinzu. Im Vergleich zu (spät-)
kolonialen Verbesserungsmissionen stand nicht mehr die europäische oder
westliche Macht über bisher unerschlossene Räume und Rohstoffe im
Mittelpunkt. Die neuen globalpolitischen Rahmenbedingungen der Jahre
nach dem Zweiten Weltkrieg weckten in den Ländern Afrikas, Lateinamerikas
und Südostasiens den Wunsch nach Entwicklung. Politisch standen die
ehemaligen Kolonien an der Schwelle zu ihrer Unabhängigkeit und sozioökonomisch an der Schwelle zur Industrialisierung. Neue global orientierte
Agenturen wie die Vereinten Nationen schienen die Belange der entstehenden
Dritten Welt zu vertreten, deren Emissäre in der Generalversammlung und in
den Kommissionen Sitz und Stimme erhielten.14
In der Ära der Entwicklungspolitik blieben die Traditionslinien des Spätkolonialismus präsent:15 Der Glaube, dass Entwicklung bessere Lebensbedingungen ermögliche, hatte bereits die Regierungstechniken des Trusteeship und
des Dual Mandate geprägt, wobei die ehemaligen Kolonialvölker gewisse
Mitspracherechte erhalten hatten.16 Im Januar 1949 erhob Harry Trumans
Inaugural Address Entwicklungsplanung zu einem außenpolitischen Programm: Die Modernisierung vermeintlich rückständiger Gesellschaften
könne durch den Einsatz von Technik, Expertise oder Kapital beeinflusst
und beschleunigt werden. Chinas Botschafter bei den Vereinten Nationen
fasste die außereuropäischen Hoffnungen der Entwicklungspolitik in die
Formel vom „Hunger des Südens nach Industrialisierung“. Ideen der Selbsthilfe, die bereits spätkoloniale Arrangements geprägt hatten, machten die
ehemaligen Kolonialvölker zu Akteuren im Entwicklungsprozess.17
14 Aus der vielfältigen Literatur zu den Vereinten Nationen und der Geburt der
Entwicklungsidee sei hier nur auf einige neuere Veröffentlichungen verwiesen: Craig
N. Murphy, The United Nations Development Programme. A Better Way?, Cambridge
2006; Olav Stokke, The UN and Development. From Aid to Cooperation, Bloomington
2009. Den Begriff der „Dritten Welt“ verwende ich hier als Quellenterminus und
verzichte im Folgenden auf Anführungen und eine weitere Kennzeichnung dieses
Gebrauchs.
15 Kontinuitätslinien des Spätkolonialismus in die Geschichte der Vereinten Nationen
zeigt: Mazower, No Enchanted Palace. Zum Begriff des Spätkolonialismus: Jürgen
Osterhammel, Spätkolonialismus und Dekolonisation, in: Neue Politische Literatur 37.
1992, S. 404 – 426.
16 Benedikt Stuchtey, Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik
vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, München 2010, S. 264; Frederik D. Lugard, The Dual
Mandate in British Tropical Africa, Edinburgh 1923; Michael Cowen u. Robert W.
Shenton, Doctrines of Development, London 1996; Daniel Webster, Development
Advisors in a Time of Cold War and Decolonization. The United Nations Technical
Assistance Administration, 1950 – 1959, in: Journal of Global History 6. 2011,
S. 249 – 272.
17 Webster, Development Advisors, S. 250 – 255.
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
359
In den 1950er Jahren avancierten vor allem die südostasiatischen Staaten zu
„developmentalist states“.18 Triebfeder war der eigene Aufbauwille, Katalysatoren waren Länderprogramme internationaler und nationaler Entwicklungsagenturen. Die an Überzeugungskraft gewinnende Modernisierungstheorie
westlicher Prägung wies für die aufstrebenden Staaten Asiens den Weg in die
Zukunft.19 Indonesien zum Beispiel hatte Entwicklung praktisch zu einer
Staatsdoktrin erhoben.20 Auch Thailand suchte nach einem Weg in die
Moderne. Das Land bot sich als Zielregion westlicher entwicklungspolitischer
Initiativen an. Verfassungsrechtlich war Thailand zwar Königreich, de facto
aber eine Militärdiktatur, politisch war es antikommunistisch und deshalb aus
westlicher Sicht als Partner in Südostasien attraktiv.21
Mitte der 1950er Jahre fragte Thailand bei der Bundesrepublik Deutschland
um „Entwicklungshilfe“ an.22 Da Klaus Tiews’ Beobachtung der reichen
Fischschwärme im Golf von Thailand auch bei den offiziellen Stellen in der
Bundesrepublik Aufmerksamkeit erregt hatte, schlossen Deutschland und
Thailand am 1. Januar 1960 ein entwicklungspolitisches Abkommen im
Fischereibereich ab.23 Auf deutscher Seite war der Hauptprojektträger die
Bundesforschungsanstalt für Fischerei, die dem Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Forsten unterstellt war. Der thailändische
Projektpartner war das neu gegründete Department for Fisheries.
18 Ebd., S. 271.
19 Nils Gilman, Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America,
Baltimore 2003; David C. Engerman (Hg.), Staging Growth. Modernization, Development, and the Global Cold War, Amherst 2003; Michael E. Latham, Modernization as
Ideology. American Social Science and Nation Building in the Kennedy Era, Chapel Hill
2000; Unger, Histories of Development and Modernization. Speziell in Bezug auf
Südostasien: Marc Frey, Indoktrination, Entwicklungshilfe und „State Building“. Die
USA in Südostasien 1945 – 1960, in: Boris Barth u. Jürgen Osterhammel (Hg.),
Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 335 – 362.
20 Webster, Development Advisors, S. 271 f.; Brad Simpson, Indonesia’s „Accelerated
Modernization“ and the Global Discourse of Development, 1960 – 1975, in: Diplomatic
History 33. 2009, S. 467 – 486. Ragna Boden, Die Grenzen der Weltmacht. Sowjetische
Indonesienpolitik von Stalin bis Breznev, Stuttgart 2006.
21 Forschung liegt vor allem zu den Beziehungen zwischen Thailand und den Vereinigten
Staaten von Amerika vor: Daniel Fineman, A Special Relationship. The United States
and Military Government in Thailand, Honolulu 1997. Marc Frey, Dekolonisierung in
Südostasien. Die Vereinigten Staaten und die Auflösung der europäischen Kolonialreiche, München 2006. Zum Antikommunismus in Südostasien und der Gründung der
ASEAN: Amitav Acharya, Constructing a Security Community in Southeast Asia.
ASEAN and the Problems of Regional Order, London 2001.
22 Der Begriff „Entwicklungshilfe“ ist dem zeitgenössischen Verständnis entlehnt und wird
als Quellenterminus im Folgenden ohne weitere Kennzeichnung gebraucht.
23 BArch, B 278 / 86, Dr. Klaus Tiews, Schlussbericht, 15. 12. 1961, S. 1.
360
Franziska Torma
Dieses Projekt der „Fischereilichen Entwicklungshilfe“, um den Quellenterminus zu benutzen, war Bestandteil der „Technischen Hilfe“, die neben der
Kapitalhilfe eine der tragenden Säulen entwicklungspolitischer Initiativen
war.24 Mit der fünfzehnjährigen Laufzeit, die in vier Phasen unterteilt war, war
es eines der langfristigsten Projekte der bundesdeutschen Entwicklungspolitik.25 In der ersten Phase von 1959 bis 1961 reisten zunächst die Experten an,
der Netzmacher Hans-Hermann Engel, der hanseatische Krabbenfischer Fritz
Eggers und der Fangtechniker Rolf Steinberg.26 Bis in die 1950er Jahre hatten
die thailändischen Fischer mit Handleinen und Reusen gefischt, wobei ihre
Fänge in erster Linie dem eigenen Unterhalt dienten; den Überschuss
verkauften sie auf dem Binnenmarkt. Der Auftrag der westdeutschen Experten
bestand nun darin, mechanisierte Fang- und Verarbeitungstechniken einzuführen und die thailändischen Fischer darin zu unterweisen. Die Schleppnetzfischerei, die als effektive Technologie galt, sollte der thailändischen
Fischerei den Weg vom Binnenmarkt zum Weltmarkt ebnen.27
Die erste Aufgabe bestand darin, zu überprüfen, ob die an den Golf von
Thailand gelieferte deutsche Fangtechnik tatsächlich für die südostasiatischen
Gewässer geeignet sei. Aus den Erfahrungswerten sollten deutsch-thailändische Teams schließlich passgenaue Ausrüstungsgegenstände entwerfen und
bauen. Nachdem die Pilotphase im Frühjahr 1962 erfolgreich zu Ende
gegangen war, hatten sich Westdeutschland und Thailand für die Fortsetzung
des Projekts ausgesprochen.
In der zweiten Phase von 1962 bis 1964 galt es, die Technologien und Methoden
der Schleppnetzfischerei in Thailands Fischereipraxis zu verankern.28 Zeitgleich zu den deutschen Experten boten jedoch auch amerikanische und
japanische Stellen ihre Geräte an, da diese Staaten im Golf von Thailand
ebenfalls ein lohnendes entwicklungs- und wirtschaftspolitisches Einsatzge-
24 Zur Entwicklungspolitik der Bundesrepublik allgemein: Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen
Reform und Revolte 1959 – 1974, München 2006.
25 Eine schematische Darstellung der Phasen findet sich bei: Klaus Tiews, Fishery
Development and Management in Thailand. An Example of Advantageous Bilateral
Development Aid in the Fisheries Sector, Tübingen 1973, S. 46 f.
26 Z. B. BArch, B 278 / 86, Technische Instruktionen für die Tätigkeit von Herrn Fritz Eggers
in Thailand.
27 Tiews, Fishery Development, S. 45 – 47.
28 BArch, B 278 / 84, Vermerk über die Besprechung am 13. Juli 1959, Betr.: Technische
Hilfeleistung für Thailand; ebd., Bundesforschungsanstalt für Fischerei an den Herrn
Bundesminister für Ernährung, 15. 10. 1959; ebd., Reinhard Finke an das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, 11. 4. 1960; ebd., Dr. Klaus Tiews
an die Deutsche Wirtschaftsförderungs- u. Treuhand GmbH, Hamburg, 15. 11. 1960;
ebd., Klaus Tiews to Nai Boon Indrambarya, 7. 12. 1959.
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
361
biet erkannt hatten.29 Gemessen an diesen Wahlmöglichkeiten war die
thailändische Seite nicht nur passiver Empfänger der Technischen Hilfe,
sondern durchaus selbst Entscheidungsträger. Thailands Regierung nutzte die
internationale Konkurrenz, um sich den Projektpartner für die weitere
Zusammenarbeit auszusuchen. Deshalb mussten die westdeutschen Experten
die Effizienz ihrer Technik und ihr Wissen unter Beweis stellen. HansHermann Engel und Fritz Eggers besuchten abgelegene Fischerdörfer, um den
Fischern die Vorzüge der deutschen Technik zu demonstrieren. Wie HansHermann Engel in einem Brief an Klaus Tiews beschreibt, liefen sie vor aller
Augen zum Fischen aus:
Auf dieser Reise begleitete uns ein zweiter Fischkutter mit ca. 30 – 40 Fischern, Journalisten
und Kameraleuten. Wir demonstrierten die Schleppnetzfischerei, welche großes Interesse
bei den Fischern fand. Es wurde ein Film gedreht, der 30 Minuten lang vom Thai TV gesendet
wurde. Auch viele Zeitungen berichteten von der neuen Fischereimethode.30
An diesen Vorführungen des Schau- und Probefischens ist bemerkenswert,
dass Medien als genuine Bestandteile des Vermittlungsprozesses von Wissen
und Technik erscheinen. Durch sie wurde die maritime Umwelt am Golf von
Thailand als kompetitive Arena inszeniert, in der westdeutsche Experten ihr
Können erst unter Beweis zu stellen hatten, um als Projektpartner „Entwicklung“ in das Land bringen zu dürfen. Diese mediale und performative
Überzeugungsarbeit zeigte aus westdeutscher Sicht das gewünschte Ergebnis:
Die thailändischen Partner setzten die Kooperation fort, sie rüsteten ihre
Kutter nach westdeutschen Konstruktionsplänen um und sie errichteten eine
Netzmacherei, in der vor Ort Netze nach westdeutschen Plänen gebaut werden
konnten.31
Nachdem die passenden Technologien des Fischfangs gefunden waren, rückte
die Ressource Fisch selbst in den Fokus. Deutsch-thailändische Gruppen
sollten in Surveys die Qualität und Quantität der Fischbestände, die zu
erwartende Ausbeute und damit die Wirtschaftlichkeit des Golfs von Thailand
beurteilen. Gleichzeitig nahmen Ausmaß und Umfang der mechanisierten
Fischerei zu. Bereits im August 1962 waren „ungefähr 300 Fahrzeuge in der
Schleppnetzfischerei tätig“,32 die bis dahin Ringwaden-Fischerei betrieben
hatten und nun umgerüstet worden waren.33 Ein Jahr später fischten 2.500
29 BArch, B 278 / 84, Presseausschnitt Life on Ocean Wave. Marine Survey of Thai Golf, in:
Bangkok World, 13. 9. 1959.
30 BArch, B 278 / 84, handschriftlicher Zettel, Hans-Hermann Engel an Klaus Tiews, Reise
Nr. 6, 8. 9. 1961. Zum Stellenwert von Medien in der Entwicklungspolitik: BArch, B
278 / 86, Klaus Tiews an die Partaa, 25. 7. 1963, S. 2.
31 BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an Herrn Dr. G. Schaar, 9. 3. 1962, S. 1 f.
32 Ebd., Klaus Tiews an Mesek, Abschrift, Bangkok, 4.8.1962, S. 1.
33 Ebd., Klaus Tiews, Bericht über die im Rahmen der Entwicklungshilfe nach Thailand
durchgeführte Dienstreise, 27. 7. – 18. 8. 1962, S. 1.
362
Franziska Torma
Schiffe mit Schleppnetzen.34 Die deutsch-thailändische Entwicklungsinitiative
verband das Festland und das Meer in einem Zirkulationsnetzwerk aus
Wissen, Technologien und Gütern. Es entstand eine Infrastruktur aus
Bootsbaubetrieben, Netzmachereien, fischverarbeitenden Industrien und
Ausbildungsstätten für einheimische Fischer.35 Thailändische Wissenschaftler
besuchten im Rahmen von Stipendienprogrammen die Bundesforschungsanstalt für Fischerei. Dieser Wissenschaftleraustausch diente einerseits der
Fortbildung, andererseits sollten auch die kulturellen Beziehungen gefestigt
werden.36
Zwar spielte sich oberhalb der Wasseroberfläche eine Aufbauvision ab, doch
die neuen Techniken veränderten auch die Welt unter Wasser : Korallenriffe
starben ab und mit ihnen ein Basiselement der Nahrungskette in den
tropischen Meeren. Die heftige Ausbeutung führte zur Überfischung.37 Fast
nur noch Jungfische gingen in die Netze, ausgewachsene Fische waren immer
seltener. Mit den Fischarten Makrele, Barsch und Hai verschwand auch die
Artenvielfalt aus den thailändischen Gewässern.38 Die in das Astronomische
steigenden Wachstumsraten nährten beim Projektleiter Klaus Tiews bereits in
den 1960er Jahren Skepsis:
Das bedeutete eine 30 %ige [sic!] Steigerung der Seefischereianlandungen. Mit einer
Verdoppelung ist wahrscheinlich schon in diesem Jahr zu rechnen […]. Damit dürfte
allerdings zunächst die Produktionskraft des Golfs von Thailand ausgenutzt sein.39
Zwischen Wachstumseuphorie und dem Erkennen der potentiellen Grenzen
verstetigten sich in der dritten Phase des Projekts (1966 – 1971) meeresbiologische Forschung und ökonomische Ausbeutung als zwei Expertenkulturen.
Um die Auswirkungen der Fischerei zu verstehen, hatten Klaus Tiews und sein
Kollege Prida Karnasut, der Direktor des thailändischen Department for
Fisheries, bereits 1963 ein meereswissenschaftliches Forschungsprogramm
initiiert.40 Als institutionellen Grundstein richteten sie ein Forschungslabo34 BArch, B 278 / 87, Klaus Tiews, Bericht über eine im Rahmen der Entwicklungshilfe nach
Thailand durchgeführte Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 7.
35 BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an G. Schaar, 30. 3. 1962, S. 1.
36 Zur Praxis der Entsendung der Stipendiaten nach Westdeutschland: z. B. BArch, B
278 / 88, Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, 4. 9. 1967, S. 1 f.
37 Zur Überfischung als Quellenbegriff: ebd., Seefischerei-Labor-Thailand, Frankfurt / Main, Dezember 1966, S. 2.
38 Zu diesen Vorgängen geben vor allem die Briefe und Berichte des Biologen Georg
Kühlmorgen-Hille Auskunft, BArch, B 278 / 87 – 90.
39 BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an Mesek, Abschrift, Bangkok, 4. 8. 1962, S. 1; auch: ebd.,
Tiews, Bericht über die Dienstreise, 27. 7. – 18. 8. 1962, S. 2.
40 Der lange zeitliche Abstand zwischen der zweiten und der dritten Phase erklärt sich aus
dem Umstand, dass die bilateralen Vertragsverhandlungen dementsprechend lange
gedauert hatten, vgl. BArch, B 278 / 87, Dr. Schmidt-Dahlenburg, Botschaft der
ipabo_66.249.64.190
Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
363
ratorium ein, das der Fischereibiologe Georg Kühlmorgen-Hille leitete. Dem
Bangkoker Fischmarkt angegliedert, ergänzte es die bereits bestehenden
Forschungseinrichtungen in Ban Phe, Phuket und Songkla und bildete die
Zentrale der meeresbiologischen Fischereiforschung in Thailand.41 Das Ziel
des neuaufgelegten Forschungsprogramms bestand darin, Basisdaten über die
Biologie des Golfs von Thailand zu erheben und herauszufinden, wie die
Fischerei die Größe und Zusammensetzung der Fischbestände beeinflusste.
Die Ergebnisse dienten als Anhaltspunkte für das immer dringlicher werdende
Ökosystem-Management42 und gleichermaßen als Hinweise, wie die Fischerei
ausgebaut werden könne.43 So beriet Fritz Eggers „weiterhin die Fischindustrie
in allen Fragen der Schleppnetzfischerei“.44 Auch in Zeiten schwindender
Ressourcen blieb Wirtschaftlichkeit ein wesentliches Kriterium der Entwicklungspolitik. Zentral war es, die „Produktionskraft“ des Golfs von Thailand zu
erhalten. Unter wirtschaftlicher Perspektive beschrieb der Begriff den Golf von
Thailand als Ressourcenarsenal, wobei die Fische der ökonomischen Wertschöpfung dienten. Diese Produktionskraft hing jedoch von den natürlichen
Kreisläufen im Ökosystem ab, das allmählich aus dem Gleichgewicht geriet.
Paradoxerweise machten erst die ökologischen Schäden die Funktionsweise
und feineren Zusammenhänge des tropischen maritimen Ökosystems sichtbar. Der Rückgang bestimmter Fischarten wie der Barschart Snapper, so Georg
Kühlmorgen-Hille, könnte wohl „auf die Zerstörung […] der großen pfifferlingsartigen Schwämme […] durch die Schleppnetzfischerei zurückzuführen
sein.“45
Das prekäre Gleichgewicht zwischen Ökologie und Ökonomie prägte die vierte
Phase des Projekts von 1972 bis 1975, in der die Folgelasten nun vollends
sichtbar wurden. Nicht nur das Ökosystem des Golfs von Thailand war stark
beschädigt, die fischverarbeitenden Industrien hatten zudem die Binnengewässer verschmutzt. Im Jahr 1972 reisten der Taxonom Wolfgang Klausewitz
und die Biologin Elisabeth Huschenbeth vom Forschungsinstitut Senckenberg
an. Ihre Aufgabe bestand darin, die volle Tragweite der ökologischen
Veränderungen zu analysieren und daraus Vorschläge zu erarbeiten, wie mit
41
42
43
44
45
Bundesrepublik Deutschland, Wirtschaftsreferat an Dr. Klaus Tiews, Bangkok, den
2. 9. 1965, S. 1. De facto lief das Projekt vor Ort ohne Unterbrechung durch.
BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an Prida Karnasut, 8. 8. 1963, S. 1 f. Dazu und zur
Arbeitsteilung innerhalb der einzelnen Labore: BArch, B 278 / 87, Klaus Tiews, Third
Report to the Director General of the Department of Fisheries on Marine Fisheries
Research Programming, Bangkok, 2. 3. 1966, S. 17 – 20; ebd., Tiews, Bericht über die
Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 6.
Dazu in aller Kürze: Tiews, Fishery Development, S. 47.
Eine exakte Auflistung der geplanten Forschungsprogramme findet sich hier : BArch, B
278 / 87, Tiews, Third Report, 2. 3. 1966, S. 6 f.
Ebd., Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 7.
Ebd., Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, 4. 9. 1967, S. 3.
364
Franziska Torma
den Folgeschäden des entwicklungspolitischen Projekts umzugehen sei.
Wolfgang Klausewitz untersuchte das Ausmaß der Überfischung,46 und
Elisabeth Huschenbeth analysierte den größeren Zusammenhang zwischen
Entwicklungspolitik und Umweltzerstörung. Die rapide „Industrialisierung
und Verstädterung“47 Thailands habe die aquatischen Ökosysteme stark in
Mitleidenschaft gezogen: „Es existieren noch keinerlei Auflagen für die
Industrie. […] Mit dem vorgebrachten Vorschlag, den Müll an der Küste ins
Meer zu leiten, […] kann man nicht einverstanden sein.“48 Huschenbeth sollte
ein neues Forschungsprogramm initialisieren, um Wissen zu sammeln, wie
gegen die Meeresverschmutzung vorgegangen werden könne.49 In der Zeit, als
die Umweltexperten ihre Arbeit aufnahmen, zogen sich die technischen
Experten aus Thailand zurück. Die deutsche und die thailändische Regierung
schlossen 1974 / 1975 Partnerschaftsverträge, um die Zukunft der Zusammenarbeit zu regeln. Mit diesen Abkommen erhielt Thailand zwar die alleinige
Verantwortung für das Projekt, sie regelten aber auch die zukünftige
Kooperation zwischen dem Seefischereilaboratorium in Bangkok und der
Bundesforschungsanstalt für Fischerei in Hamburg. Diese Absprachen waren
nicht ohne innere Widersprüche. Einerseits sollten als Zukunftsprojekte die
Tiefseefischerei ausgebaut, die Aquakultur eingeführt sowie Fischfangtechnologien entwickelt werden, die auch in Zeiten schwindender Fischbestände
noch ökonomischen Gewinn versprachen. Diese Maßnahmen stellten die
Zeichen weiterhin auf Wachstum und Expansion der Fischerei. Andererseits
regelte das Abkommen das genaue Gegenteil: Es verankerte das Ökosystemmanagement und den Umweltschutz, sogar auf überregionaler südostasiatischer Ebene, als zentrale Aufgaben einer zukunftsweisenden Entwicklungspolitik.50 Welche Prozesse und Bruchlinien standen hinter den sich zuwiderlaufenden Tendenzen am Ende des Projekts? Der Schlüssel zu dieser Frage liegt
in den Bedeutungsebenen, die die Fische und die Fischerei zwischen
Ökonomie und Ökologie einnahmen.
46 BArch, B 278 / 90, Dr. Wolfgang Klausewitz, Bericht über den Verlauf der Thailand-Reise,
15. 12. 1972; bereits auch BArch, B 278 / 89, Dr. Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews,
23. 4. 1971.
47 BArch, B 278 / 90, Elisabeth Huschenbeth, Bericht über eine im Rahmen der Entwicklungshilfe nach Thailand durchgeführte Dienstreise, 20. 8. – 17. 9. 1972, S. 3.
48 Ebd.
49 Ebd., S. 1.
50 BArch, B 278 / 90, Klaus Tiews, Bericht über eine im Rahmen der Entwicklungshilfe nach
Thailand durchgeführte Dienstreise, 11. 9. – 15. 9. 1974; ebd., Report on the Meeting
Between Thai and German Officers on the Situation of Thai Marine Fisheries and the
Beginning of the 4th Phase of the Thai-German Bilateral Aid Programme on Marine
Fisheries Development Held at Ban Pae [Ban Phe] Marine Fisheries Station.
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
365
II. Fisch als lebende Ressource
Die politische Semantik des Fisches als lebender Ressource entstand im
Umfeld der Vereinten Nationen. Im Jahr 1955 hatten die UNESCO und die
Food and Agriculture Organization (FAO) die „International Technical
Conference on the Conservation of the Living Resources of the Sea“
abgehalten. Sinkende Erträge und die drohende Überfischung der Weltmeere
machten diese Zusammenkunft auf internationaler Ebene nötig.51 Diese
Konferenz war die zweite UNESCO-Veranstaltung, auf der der Schutz von
Meeresressourcen diskutiert wurde.52 Bereits im Jahr 1949 waren die Weltmeere Thema einer Tagung gewesen, die den Schutz und die Nutzung von
Ressourcen als zwei Seiten einer Medaille behandelt hatte.53
Diese Konferenzen prägten den modernen Ressourcenbegriff nachhaltig. Sie
unterschieden mineralische und fossile Ressourcen sowie natürliche und
lebende Ressourcen nach ihrem jeweiligen Nutzungspotential.54 Mineralische
und fossile Ressourcen seien nicht erneuerbar und müssten aus diesem Grund
zunehmend schonend ausgebeutet werden. Die natürlichen und lebenden
Ressourcen dagegen erneuerten sich von selbst, sodass die menschliche
Nutzung weder ihr Vorkommen reduzieren noch ihre Regenerationsfähigkeit
beeinträchtigen könne.55 Aus diesen Ausführungen spricht die utopische
Auffassung, dass nachwachsende Rohstoffe diejenigen Ressourcenengpässe
kompensieren könnten, die der jahrhundertelange Verbrauch von fossilen und
mineralischen Rohstoffen geschaffen habe. Diese Verhandlungen legen vier
Facetten des Ressourcenbegriffs offen: Unter den Begriff der „Ressource“
fielen, erstens, neben der unbelebten Materie die belebte Natur und die
Tierwelt. Zweitens entsprach die Idee, dass Fische sich als Rohstoffquelle
ständig selbst erneuerten, kulturell gewachsenen Vorstellungen, dass die
Weltmeere ein utopisches Rohstofflager seien. In Zeiten planetarischer
Rohstoffknappheit erschienen die Meere damit praktisch unerschöpflich.
Drittens wird durch diese Diskussionen ersichtlich, dass das Ressourcenverständnis bis in die 1970er Jahre vor allem von ökonomischen Überlegungen
geprägt war. Damit erscheint das Konfliktfeld des Thailandprojekts – das
51 Die Vorträge wurden von den Vereinten Nationen veröffentlicht: Papers Presented at the
International Technical Conference on the Conservation of the Living Resources of the
Sea, Rome, 18 April to 10 May 1955, New York 1956, S. v.
52 Ebd., S. iii.
53 Proceedings of the United Nations Scientific Conference on the Conservation and
Utilization of Resources, 17 August to 6 September 1949, Bd. VII: Wildlife and Fish
Resources, New York 1950.
54 Milner B. Schaefer, The Scientific Basis for a Conservation Programme, in: Papers
Presented at the International Technical Conference on the Conservation of the Living
Resources of the Sea, S. 14 – 55.
55 Ebd., S. 15.
366
Franziska Torma
Spannungsfeld zwischen Ausbeutung und Schutz – als allgemeines Problem
des zeitgenössischen Ressourcenbegriffs. Viertens untermauerte die Idee der
Umwelt als Ressourcenlager auch technokratische Naturbilder. Sie festigte
Vorstellungen einer berechenbaren und steuerbaren Natur, deren Eigendynamiken durch mathematische Modelle zu verstehen und zu kontrollieren seien.
Wie gelangte nun dieses abstrakte Wissen von lebenden Ressourcen aus den
internationalen Agenturen in den Kontext der thailändischen Fischerei? Wie
setzte sich in den Köpfen beider Projektteams die Vorstellung fest, dass der
Weg in die Moderne über die Wertschöpfung lebender Rohstoffe führte?
Welche neuen Dimensionen erhielten Ressourcen in diesen Nutzungskontexten?
Wie das hier untersuchte Beispiel zeigt, verließ dieses Wissen die Ebene der
Begriffsdefinition auf dem Weg personeller Netzwerke. Die Fischereiexperten,
die zwischen internationalen Organisationen und nationalen Einrichtungen
vermittelten, brachten es in die Einsatzregion.56 Um zu verstehen, wie Fische
letztlich zur lebenden Ressource wurden, sind somit neben den Semantiken im
Umfeld der Vereinten Nationen die Praktiken der Ausbeutung bedeutsam. Erst
diese definierten Ressourcen in sich wandelnden Anwendungskontexten.
Dazu bedurfte es spezifischer wissenschaftlicher Kulturtechniken. Wie James
Scott festgestellt hat, fielen die Jahre der Entwicklungszusammenarbeit in eine
Zeitspanne hochmodernistischer Planungskultur.57 Die Frage, wie Planungskulturen Tiere und die Umwelt in Rohstoffe umwandelten, lässt sich anhand
von Fallbeispielen untersuchen. Der große Wert von Projekten wie dem
deutsch-thailändischen Fischereiprojekt für Forschungen zur Entwicklungspolitik liegt eben darin, dass sie zeigen, wie Planungskulturen Umwelten
veränderten, Planung aber auch in der Umwelt an ihre Grenzen stieß.
Außerdem wird ersichtlich, dass Entwicklungsprojekte kein bloßes Mittel
postkolonialer Beherrschung vermeintlich unterentwickelter Regionen waren.
In diesen Projekten entstanden vielmehr internationale Expertenkulturen, die
auf gemeinsamen Praktiken der Ressourcenausbeutung basierten.58
Die deutschen Experten brachten im Jahr 1959 nicht nur Fischereitechnologien nach Thailand. Bereits das Schau- und Probefischen in den ersten
Projektphasen erschuf Fische als lebende Ressourcen: Um das effektivste Netz
zu finden, katalogisierten die westdeutschen Experten während ihrer Fischereiversuche, wie viele Fische sie in einer Stunde gefangen hatten. Im
56 BArch, B 278 / 84, Tiews, Deutsche Wirtschaftsförderungs- u. Treuhand GmbH,
15. 11. 1960, S. 2; ebd., Klaus Tiews an G. Schaar, Botschaft der Bundesrepublik
Deutschland, 11. 10. 1961; ebd., Hans-Hermann Engel an Klaus Tiews, Bangkok,
8. 9. 1961; BArch, B 278 / 87, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966.
57 James Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition
Have Failed, New Haven 1999.
58 Zu Expertenkulturen: Themenheft „Wissensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte“,
GG 34. 2008, hg. v. Wolfgang Kaschuba.
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367
Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
Fischereifachjargon hieß diese Quote „Stundenfang“. Sie zog als Maßeinheit in
die Fischerei des Golfs von Thailand ein und lieferte Anhaltspunkte über die
Produktivität des Ökosystems und damit über die intendierte Rentabilität der
aufzubauenden Fischerei. Sie initialisierte damit auch eine spezifische Repräsentation von aquatischen Lebewesen, indem sie die Perspektive des Planes auf
die Natur übertrug. Die thailändischen Projektpartner übernahmen nicht nur
die Methoden des Fischfangs, sondern verwendeten auch die Maßeinheit des
Stundenfangs, mit der sich die Natur als purer Rohstofflieferant verstehen ließ.
Diese Praxis zog sich durch alle Ebenen der Projekthierarchie, von den
Direktoren des Departments for Fisheries über die thailändischen Fischereibiologen bis hin zum einfachen Fischer. Ein Brief des thailändischen
Wissenschaftlers Deb Sanan an Klaus Tiews zeigt, wie das Umrechnen von
Fischereistunden in Kilogramm zum festen Bestandteil der geteilten Ausbeutungspraxis wurde: „1 hour can be catch 300 kgs“, wobei Deb Sanan den
zukünftigen Nutzen abschätzte: „I think these area can be utilize 8 – 10 year.“59
Tabelle 1: Durchschnittlicher Stundenfang in Kilogramm, R. V. Pramong Bestandsaufnahme
der Schleppnetzfänge 1963, 1968 – 1971
Year
Area
1963
1966
1967
1968
1969
1970
1971
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
342.5
229.7
264.2
255.8
200.6
286.4
189.7
246.8
211.7
112.38
57.64
109.22
152.77
138.91
137.48
120.75
182.97
165.13
127.18
40.93
95.35
86.50
151.93
90.50
101.16
181.73
179.87
66.05
54.50
67.94
71.97
95.57
187.45
32.64
171.57
141.50
57.08
64.20
73.58
89.80
122.67
114.52
112.67
147.50
149.44
81.66
49.45
51.80
95.79
122.49
98.83
109.95
123.84
116.71
33.22
49.87
46.08
69.97
86.63
76.31
96.83
75.15
82.17
I – IX
248.9
130.77
115.95
135.92
102.74
97.41
56.25
Quelle: Tiews, Fishery Development and Management in Thailand, S. 46.
Aus den Rohdaten der Stundenfänge erstellten die Beteiligten Tabellen. Im
Verwendungskontext des Projekts waren die Tabellen als Repräsentationen der
natürlichen Gegebenheiten und ihres Entwicklungspotentials gedacht. Aus
heutiger Lesart erzählen sie Geschichten über die von der zeitgenössischen
Planungskultur ausgelösten Umweltveränderungen. Tabellen ließen und lassen sich – wie Ressourcen – zunächst ökonomisch und dann auch ökologisch
59 BArch, B 278 / 88, Deb Sanan an Klaus Tiews, 5. 8. 1968, S. 1.
368
Franziska Torma
verstehen. Stellvertretend stehen hier zwei Tabellenarten. Die erste Art von
Tabelle verdeutlicht die Ressourcennutzung in ihrem zeitlichen Verlauf. Sie
war nach der Fangzeit und den Fanggründen organisiert, wobei diese
Einteilung den Gebieten der bestandserhebenden Surveys entsprach. Für
jeden dieser Abschnitte notierten die Experten die Stundenfänge per Jahr
sowie die jährlichen Durchschnittswerte. Diese Kalkulationen dienten im
zeitgenössischen Kontext der Rentabilitätskontrolle.60 Die hier ersichtlich
werdende Rückläufigkeit der Erträge machte jedoch auch die durch die
Überfischung ausgelöste Veränderung des Ökosystems deutlich.
Tabelle 2: Durchschnittlicher Stundenfang in Kilogramm, gelistet nach Spezies
Catch per
hour in kg
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
Leiognathidae
Carangidae
Nemipteridae
Rays and Sharks
Synodontidae
Trichiduridae
Tachysuridae
Lutianidae
Polynemidae
Priacanthidae
Scolopsidae
Sepia and Loligo
Caesiodidae
Sphyraenidae
53
44
35
17
15
10
10
8
7
5
4
4
3
3
Catch per
hour in kg
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
Thenus sp.
Serranidae
Plectorhynchidae
Lactaridae
Megatopsidae
Sciaenidae
Mullidae
Lethrinidae
Scomberomoridae
Triacanthidae
Chaetodontidae
Scombridae
Other Fishes
(Gerridae etc.)
Total
3
2
2
2
2
1
1
0.3
0.2
0.1
0.1
0.1
66
297.8
Quelle: Tiews, Experimental Trawl Fishing, S. 41.
Die zweite Art von Tabelle war nach den unterschiedlichen Spezies organisiert,
die pro Stunde gefangen wurden.61 Im zeitgenössischen Verwendungskontext
ergab sie einen Überblick über Quantität und Qualität der Ressource Fisch. Die
Tatsache, dass manche Spezies im Lauf der Zeit verschwanden, lieferte jedoch
60 Tiews, Fishery Development, S. 46.
61 Ders., Experimental Trawl Fishing in the Gulf of Thailand and Its Results Regarding the
Possibilities of Trawl Fisheries Development in Thailand (= Veröffentlichungen des
Instituts für Küsten- und Binnenfischerei, Bd. 25), Hamburg 1962, S. 41.
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
369
nicht nur ökonomisch relevante Einsichten in Prozesse der Überfischung,
sondern hätte auch den Rückgang der Biodiversität erkennen lassen können.
Die Anwendungskontexte zeigten deutlich eine andere Facette des Ressourcenbegriffs als die politische Semantik der Planungskulturen. Sie legten offen,
dass auch lebende Ressourcen nicht unendlich waren, sondern jenseits
ökonomischer Hochrechnungen und entwicklungspolitischer Kalküle durchaus ein ökologisches Eigenleben führten. Es stellt sich die Frage, warum die
ökologischen Problemlagen, die diese Tabellen bereits frühzeitig zeigten, lange
Zeit keine ernsthafte Besorgnis bei den Expertenteams erregten.62 Begründen
lässt sich diese Sicht durch ein Spezifikum hochmodernistischer Planungskulturen. Die Übersetzung von Lebewesen in Ressourcen modellierte geradezu
eine Umwelt, die nur noch als berechenbare Simulation bestand. Auf dieser
modellierten Natur ließen sich Hochrechnungen aufbauen, die die Bodenhaftung zur materiellen Umwelt des Golfs von Thailand komplett zu verlieren
drohten. Hier gilt, dass nicht nur westliche Planungseuphorie die Umwelt als
kontrollierbare Illusion neu erschuf. Die thailändische Seite teilte diese
Praktiken und Weltbilder. Charoon Phasukavanich, der Direktor der Fish
Marketing Organisation of Thailand, lieferte Ende der 1960er Jahre eine
regionale Hochrechnung der jährlichen Fangstatistiken für den Bangkoker
Fischmarkt. Sie umfasste den Zeitraum von 1953 bis in das Jahr 2004. Auf dem
Papier stieg die intendierte Fangquote von 27.661 metrischen Tonnen im Jahr
1953 auf 580.957 im Jahr 2004.63 Die Berechnung der nationalen Fangquoten
Thailands war noch optimistischer : Sie steigerten sich von 148.000 metrischen
Tonnen im Jahr 1953 auf 4.055.784 im Jahr 2004.64
Diese Hochrechnungen machten Entwicklung zu einer statistischen Rechenaufgabe. In ihrem Kern stand Wachstum durch Ressourcenausbeutung.
Ziffern aus dem Bereich der natur- und lebenswissenschaftlichen Welt der
Modelle erlangten damit politische Brisanz. Für Klaus Tiews gaben Ausbeutungszahlen einen direkten Hinweis auf das Entwicklungstempo des Landes:
„These figures show that the Thai fisheries and fundamentally the marine
fisheries are passing a period of rapid development.“65 Fisch diente in diesen
Planspielen als eine Schlüsselressource, die sich in andere Arten von
ökonomischen Ressourcen umsetzen ließ. Klaus Tiews und der thailändische
Fischereidirektor sahen in den natürlichen Ressourcen Exportgüter und somit
62 BArch, B 278 / 85, Aktenvermerk über den bisherigen Verlauf der Entwicklungshilfe für
Thailand auf dem Gebiet der Seefischerei, S. 2.
63 BArch, B 278 / 88, Charoon Phasukavanich, A Project on the Establishment of the New
Bangkok Fish Market in Accordance with the Economic Development Plan of Thailand
for 1969 – 1973, S. 6.
64 Ebd., S. 7.
65 BArch, B 278 / 87, Tiews, Third Report, 2. 3. 1966, S. 2.
370
Franziska Torma
Möglichkeiten, Gewinne zu erwirtschaften.66 Doch auch die untere und
mittlere Ebene der thailändischen Fischer und Wissenschaftler erkannten eine
Art Wertschöpfungskette, an deren Anfang der Rohstoff Fisch stand. Deb
Sanan rechnete anläßlich einer Ausfahrt zum Fischfang vor:
1 TRIP = 10 Day (6 Days fishing and 4 days for go and back […].
1 TRIP = 15 Days
4 Day = Travel
11 Day = for fishing
1 Day = 1.2 Tons of fish
11 Day = 80 Tons
1 month = 160 Tons one boat (100 – 120 Tons)
160 tons = 160 x 2000
= 320,000 BAHTS (16,000 US$).67
Zwar teilten die deutsche und die thailändische Seite dieselbe Kultur der
Planung und Ausbeutung. Sie verfolgten das gemeinsame Ziel, Fisch als
lebende Ressource möglichst effizient zu verwerten, um daraus ökonomisches
Kapital zu gewinnen. Als symbolisches Kapital erfüllte Fisch für beide Seiten
jedoch unterschiedliche Funktionen. In dieser symbolischen und politischen
Bedeutungsebene von Fisch liegt eine weitere Antwort auf die Frage, warum
die ökologischen Probleme nur zu zögerlichen Lösungsstrategien führten.
III. Fisch als symbolisches Kapital
In der Entwicklungspolitik zirkulierten mehrere Arten von Ressourcen:
Rohstoffe, Wissen und Technologien sowie Kapital. Unter den Begriff des
Kapitals fielen einerseits die Geldmittel, die in entwicklungspolitische Initiativen investiert wurden, andererseits diejenigen Gewinne, die am Ende einer
intendierten Wertschöpfungskette standen. Kapital konnte wirtschaftlich und
politisch wirksam werden, zählte doch das Bruttosozialprodukt als Kenngröße
der Entwicklungsfähigkeit eines Landes.68
Der Begriff des Kapitals hat noch weitere Bedeutungsdimensionen, welche die
Bereiche des Sozialen und der Kultur in den Ressourcenkreislauf einbanden.
Als soziales Gut ist Kapital eng mit dem Namen Pierre Bourdieu verknüpft, der
zwischen vier Kapitalsorten unterscheidet: Ökonomisches Kapital stützt sich
auf materielle Ressourcen wie Reichtum. Kulturelles Kapital umfasst den
66 Ebd.; BArch, B 278 / 86, Auszug aus der thailändischen Tageszeitung „Siam Rath“ vom
29. 8. 1963.
67 BArch, B 278 / 88, Deb Sanan an Klaus Tiews, 18. 7. 1968, S. 2.
68 Daniel Speich, Travelling with the GDP Through Early Development Economics’
History, hg. v. LSE, Department of Economic History, http://www.tg.ethz.ch/dokumen
te/pdf_files/2008_Speich_Travelling_GDP.pdf.
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
371
Besitz von Kulturgütern sowie kulturelle Fertigkeiten und Wissensformen.
Soziales Kapital ergibt sich aus einem Netzwerk von institutionalisierten
Beziehungen. Symbolisches Kapital ist den anderen Kapitalformen übergeordnet, da ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen zum Gewinn von
Prestige eingesetzt werden können. Diese verschiedenen Kapitalformen sind
voneinander abhängig und ineinander übersetzbar.69 Obwohl bisher in der
Forschung kaum thematisiert, spielten diese sozialen und kulturellen Ressourcen in der Entwicklungspolitik eine ebenso große Rolle wie Rohstoffe und
Finanzen.
Projekte der Technischen Hilfe erschufen zusätzlich zur ökonomischen eine
zweite Wertschöpfungskette, zu der die Ressource Fisch als symbolisches
Kapital der Schlüssel ist. Unzählige Unterlagen zu Fischereiabkommen zeugen
von dieser großen Bedeutung, die die lebenden Ressourcen des Meeres
einnahmen. Meerestiere hatten nicht nur Eingang in die staatlichen Verwaltungsvorgänge und deren Aktenüberlieferung gefunden, sondern Fisch wurde
auch zu einem Bestandteil der offiziellen deutschen Außenpolitik.70 Für
Westdeutschland eröffnete Fisch den Zugang zur internationalen politischen
Arena im Kalten Krieg. Insgesamt war Entwicklungspolitik ein Bestandteil der
deutschen Außenhandelspolitik und einer humanitär gefärbten Außenpolitik
im Kalten Krieg.71 Als Entwicklungshilfe trug sie eine eindeutige Stoßrichtung gegen die beobachtete „Wirtschaftsoffensive des Ostblocks“.72 Der
westdeutsche Außenminister Heinrich von Brentano warnte in einer Grundsatzrede im Jahr 1956 vor den vermeintlichen entwicklungspolitischen
69 Zu den Kapitalsorten: Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital,
soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983,
S. 183 – 198; ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft,
Frankfurt 1982; Ingo Mörth (Hg.), Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur
Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt 1994.
70 Zu Formen auswärtiger Politik und Repräsentation der Bundesrepublik grundlegend:
Johannes Paulmann (Hg.), Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie
nach 1945, Köln 2005; ders., Die Haltung der Zurückhaltung. Auswärtige Selbstdarstellungen nach 1945 und die Suche nach einem erneuerten Selbstverständnis in der
Bundesrepublik, Bremen 2006.
71 Zur Entwicklungspolitik der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen
Republik in Afrika und Vorderasien: Hubertus Büschel, In Afrika helfen. Akteure
westdeutscher „Entwicklungshilfe“ und ostdeutscher „Solidarität“ 1955 – 1975, in: AfS
48. 2008, S. 333 – 365; Massimiliano Trentin, Modernization as State Building. The Two
Germanies in Syria, 1963 – 1972, in: Diplomatic History 33. 2009, S. 487 – 506. Zur
bundesdeutschen Südasien- bzw. Indienpolitik: Amit Das Gupta, Handel, Hilfe,
Hallstein-Doktrin. Die bundesdeutsche Südasienpolitik unter Adenauer und Erhard
1949 bis 1966, Husum 2004.
72 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes [im Folgenden PA AA], B 56 / 64, Außenpolitische Fragen der Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern. Rede des Herrn
Bundesministers des Auswärtigen am 24. 11. 1956 in Stuttgart, S. 14.
372
Franziska Torma
Intentionen des „Ostblocks“. Die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas,
die politische Freiheit und Rechte gewonnen hätten, setzten nun alles daran,
ihren Lebensstandard zu sichern sowie die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik für sich zu nutzen:73
Diesen Entwicklungsprozess versucht […] die Sowjetunion auszunutzen […]. Unter
Anwendung der verschiedenen Methoden bemüht sie sich hierbei, ihr Endziel, den
Weltbolschewismus, zu erreichen. Mit einer Propaganda gegen den kapitalistischen
Imperialismus und einer Wirtschaftsoffensive geht sie zum Angriff über und versucht den
eigenen Einfluss in diesen Gebieten zu stärken.74
In von Brentanos Einschätzung war die Technische Hilfe eine der größten
Trumpfkarten des „Ostblocks“, da sich damit ein umfassendes personelles und
ideologisches Netzwerk aufbauen ließ. Der Technik folgten Ausbilder und
Experten in die Einsatzregion, die nicht nur Wissen und technologische
Fertigkeiten vermittelten, sondern auch für das politische System „Sympathien erwerben sollen.“75 Für von Brentano spielten in diesem Kontext Faktoren
wie Vertrauen und Sympathie eine Rolle, und wie könne der Kampf um diese
Ressourcen besser gewonnen werden als durch die Präsenz von Staaten, die
jenseits kolonialer Interessen zu stehen schienen? Gerade diese Dimension
prädestiniere die Bundesrepublik zu einer Sonderstellung in der entwicklungspolitischen Allianz des Westens:76 „Die Bundesrepublik besitzt bei den
Entwicklungsländern einen ,good-will‘“, der auf zwei Säulen beruhe. Die
entstehende Dritte Welt erkenne das „wirtschaftliche, technische und organisatorische Können“ Westdeutschlands an. Der Wiederaufbau und das
Wirtschaftswunder, die „Westdeutschland wieder zu einer führenden Industrienation Europas“ nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hätten, galten ihm
als Hoffnung der sogenannten Entwicklungsländer, dass sich die westdeutsche
Erfolgsgeschichte auch in ihrer Heimat wiederholen könne.77 Im Zeitalter der
Dekolonisation und der damit verbundenen gewaltsamen Konflikte war ein
weiterer Faktor wichtig: Das „Fehlen einer kolonialen Vorbelastung“ mache
Westdeutschland zu einem favorisierten Partner und gebe dem Land einen
Vertrauensvorschuss.78 Damit war ein Verständnis des deutschen Kolonialismus verbunden, das von der neueren Forschung widerlegt ist.79 Im zeitge73
74
75
76
77
Ebd., S. 2.
Ebd.
Ebd., S. 10.
Ebd., S. 17.
Im Folgenden verzichte ich auf den Verweis, dass der Begriff „Entwicklungsländer“ die
westliche Perspektive beschreibt und verwende ihn als Quellenbegriff.
78 PA AA, B 56 / 64, Außenpolitische Fragen der Zusammenarbeit, S. 18.
79 Diese zeitgenössische Einschätzung deutscher kolonialer Herrschaft entspricht der
Denkhaltung, die Sebastian Conrad als „doppelte Marginalisierung“ des deutschen
Kolonialismus beschrieben hat. Grundlage dafür war ein politisches Verständnis von
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
373
nössischen Selbstverständnis jedoch galt Westdeutschland als lebender Beweis, dass die Entwicklungspolitik des Westens nicht bedeute, die politische
Abhängigkeit des kolonialen Systems in der wirtschaftlichen Abhängigkeit des
Kapitalismus fortzusetzen.80
In der Arena symbolischen Kapitals vermischte sich die politische Ebene mit
humanitären Motiven. In Debatten um den Kampf gegen den Welthunger, die
entwicklungspolitische Initiativen begleiteten, verschmolzen Ängste des 19.
und des 20. Jahrhunderts. Dem malthusianischen Szenario, dass die Lebensmittelreserven der Erde nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten
könnten, könne durch die Ausdehnung der Wachstumsgrenzen in bisher kaum
ausgebeutete Regionen begegnet werden. Dieses Weltbild bezog die Meere in
spezifischer Weise in Nutzungsregime ein.81 Fisch als eines der zentralen
Nahrungsmittel für Ozeananrainerstaaten in Asien, Lateinamerika und Afrika
war Bestandteil der größer angelegten Welt-Ernährungspolitik, die im Zeitalter des Kalten Krieges eine brisante Dimension bekam. Die Ausbeutung
scheinbar unendlich verfügbarer Ressourcen im Meer sollte den Hunger in den
Entwicklungsländern stillen helfen. Aus westlicher Sicht schien ein Erfolg die
kommunistischen Initiativen in ihre Schranken zu verweisen.82
Dieser weltpolitische Rahmen schlug sich in den einzelnen Projekten nieder.
So wurden im deutsch-thailändischen Projekt Ansehen und Vertrauen zur
Währung in den bilateralen Beziehungen: „Die zwischen dem thailändischen
Department [of Fisheries] und den in Thailand tätigen deutschen Sachverständigen bestehenden Beziehungen sind sehr eng und freundschaftlich.“83
Diese freundschaftlichen Beziehungen, die durch entwicklungspolitische
Projekte geformt worden waren, schlugen sich wiederum im Ausbau der
auswärtigen Vertretung nieder. Die thailändische Botschaft in Bonn war nach
Washington die stärkste diplomatische Vertretung des Landes im Ausland.84
Auf dem diplomatischen Parkett wurde Fisch Bestandteil der außenpolitischen
80
81
82
83
84
Kolonialismus als Territorialherrschaft, in dem Formen von Einflussnahme und
kultureller und sozialer Abhängigkeit nicht gesehen wurden. Dazu grundlegend:
Sebastian Conrad, Doppelte Marginalisierung. Plädoyer für eine transnationale Perspektive auf die deutsche Geschichte, in: GG 28. 2002, S. 145 – 169.
PA AA, B 56 / 64, Außenpolitische Fragen der Zusammenarbeit, S. 8.
Vgl. Fritz Baade, Welternährungswirtschaft, Hamburg 1956, insb. S. 7 – 14 u. S. 61 – 68;
Heinrich Hartmann u. Corinna R. Unger, Bevölkerungswissenschaften im 20. Jahrhundert. Diskurse und Praktiken in transnationaler Perspektive, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33. 2010, S. 235 – 245. Für die 1970er Jahre: Sabine Höhler, Die
Wissenschaft von der „Überbevölkerung“. Paul Ehrlichs „Bevölkerungsbombe“ als
Fanal für die 1970er Jahre, in: Zeithistorische Forschungen 3. 2006, S. 60 – 64.
Vgl. zum größeren Kontext: William Glenn Gray, Germany’s Cold War. The Global
Campaign to Isolate East Germany, 1949 – 1969, Chapel Hill 2003.
BArch, B 278 / 86, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 27. 7. – 18. 8. 1962, S. 4 f.
BArch, B 278 / 87, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 9.
374
Franziska Torma
Inszenierung. Der Einweihung des Seefischereilaboratoriums in Bangkok
wohnten der thailändische Landwirtschaftsminister und der deutsche Botschafter bei, der zudem in einem symbolischen Akt die von Deutschland
gestifteten Ausrüstungsgegenstände übergab. Presse, Rundfunk und Fernsehen begleiteten und übertrugen diese Festlichkeit.85 Wenn westdeutsche
Politiker Thailand besuchten, war das Fischereiprojekt fester Bestandteil des
Programms. Im November 1962 kam der Bundespräsident Heinrich Lübke
nach Thailand. Zu diesem Anlass entschied sich die Deutsche Botschaft, Fisch
als den Rohstoff, auf dem der Prestigegewinn basierte, als Mittel der
auswärtigen Repräsentation einzusetzen: „Es ist daran gedacht, im Besuchsprogramm einen der von uns im Vorjahre benutzten Kutter mit voller
Fischladung am Fischmarkt in Bangkok zu besichtigen.“86 Im Sommer 1966
reiste ein Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Entwicklungsausschusses
nach Thailand. Georg Kühlmorgen-Hille und der Presseattach der Deutschen
Botschaft, Dr. Volkmar Zühlsdorff, setzten die Projektarbeit bewusst in Szene:
„Wir werden die Sache so regeln, daß der Abgeordnete am 30. 7. von Sattahib
aus an einer Ausfahrt mit ,Pramong 2‘ teilnehmen kann.“87
Der Erfolg des deutsch-thailändischen Fischereiprojekts sollte nicht nur die
westdeutsch-thailändischen Beziehungen, sondern auch die deutsche Präsenz
in Südostasien verstetigen. Der Grundstein dieser Art von überregionaler
Diplomatie lag im Vertrauensvorschuss, den sich die Westdeutschen über die
Jahre in Entwicklungsinitiativen erarbeitet hatten. Deutsche Experten hätten
sich „in Südostasien durch die erfolgreiche Tätigkeit in den Philippinen und in
Thailand einen guten Namen gemacht […] und vielleicht von allen Nationen,
die hier einschlägig tätig sind, am besten abgeschnitten.“88 Zwar prägten
wirtschaftspolitische Ambitionen den Hintergrund entwicklungspolitischer
Initiativen, was sich auch an den ökonomischen Floskeln in der Sprache der
Entwicklungsexperten ablesen lässt. So war zum Beispiel in den Akten davon
die Rede, dass in kaum einem anderen Projekt ein „so hoher Wirkungsgrad“
erzielt worden sei wie im Fischereiprojekt. Der gute Ruf jedoch galt als
zusätzlicher, nicht zu unterschätzender Türöffner nach Südostasien und damit
in neue Einflusssphären und Wirtschaftsräume.89 Bereits am Anfang des
Projekts hofften Klaus Tiews und der Wirtschaftsattach der Deutschen
Botschaft, Dr. G. Schaar, auf die überregionale Ausstrahlung des Projekts in
den südostasiatischen Wirtschaftsraum.90 In diesem Kontext dienten Fische
85
86
87
88
89
Ebd., S. 6.
BArch, B 278 / 86, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 27. 7. – 18. 8. 1962, S. 5.
BArch, B 278 / 87, Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, 21. 7. 1966, S. 2.
BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an Mesek, Abschrift, Bangkok, 4. 8. 1962, S. 2.
BArch, B 278 / 88, Dr. Klaus Tiews an die Deutsche Förderungsgesellschaft für
Entwicklungsländer (GAWI), 9. 1. 1967, S. 1.
90 BArch, B 278 / 84, Tiews, Deutsche Wirtschaftsförderungs- u. Treuhand GmbH,
15. 11. 1960, S. 1.
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
375
und das diplomatische Instrument der Fischereiforschungsabkommen als
Grundsteine einer zu errichtenden westdeutschen Präsenz in Südostasien,
wobei diese Region als Wirtschaftsmarkt der Zukunft bewertet wurde.
Das aus Fisch gewonnene symbolische Kapital floss jedoch auch in die
Bundesrepublik zurück. Erfolgsgeschichten konnten die Kritik, die an entwicklungspolitischen Projekten seit den 1960er Jahren lauter wurde, widerlegen.91 Presseartikel wie „In Thailand kennt jeder den Mister Fritz“ legitimierten die finanziellen Ausgaben der Entwicklungspolitik innenpolitisch
durch die medienwirksam inszenierte Geschichte des Krabbenfischers Fritz
Eggers, der als Durchschnittsbürger die globale Präsenz der Bundesrepublik
verkörperte.92 Ein anderer Artikel, „Krabbenfischer Eggers half entwickeln“,
hob nicht auf abstrakte Zahlungsvorgänge ab, sondern entwarf persönliche
Kontakte als Räume der Wissensvermittlung: „In der Entwicklungshilfe ist es
nicht mit Millionenbeträgen getan. […] Menschen sind genauso wichtig.“93
Die Geschichten dieser Menschen sollten auch die Bundesbürger vom Sinn
humanitärer Missionen überzeugen. Der Film „Partners in Progress“, der 1973
über Entwicklungshilfe in Asien produziert worden war, inszenierte in
großangelegter Weise, wie sich aus maritimen Ressourcen symbolisches
Kapital im Dienst der gesamten Menschheit erwirtschaften ließ. So lauteten die
letzten Sätze im Filmskript, das in englischer Sprache an eine Weltöffentlichkeit gerichtet war :
It is encouraging to have met the biologists, technicians, businessmen and farmers who are
working to close the gap between rich and poor. Their success is a challenge to us to help
wherever we can to establish the dignity of all mankind.94
Auch für die thailändische Seite lassen sich aus den ausgewerteten Quellen
spezifische Hoffnungen skizzieren, die an den Ausbau der Fischerei geknüpft
waren. Für Thailand sollte die Ressource Fisch den Weg in eine industrialisierte Konsumgesellschaft nach westlichem Vorbild ebnen. Die Ausbeutung
dieser Ressource brachte den Fortschritt mit sich. Insofern war das symbolische Kapital, das Thailand gewinnen konnte, die Moderne selbst. Mechanisierte Fischereitechnologien dienten der Industrialisierung des Landes und
bekräftigten das Selbstbild Thailands als moderner Staat. Die Tatsache, dass
thailändische Medien das Projekt seit der Frühphase begleiteten, zeugt nicht
nur vom Aufbau einer Informations- und Medienkultur, die sich an westlichen
Standards orientierte. Thai TV hatte das Schau- und Probefischen gefilmt, um
mit der Übernahme dieser Fischereimethoden den Aufbruch des eigenen
91 Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt, S. 97 – 103 u. S. 129 – 146.
92 BArch, B 278 / 88, In Thailand kennt jeder den „Mister Fritz“.
93 BArch, B 278 / 84, Krabbenfischer Eggers half entwickeln, in: Deutsche Nachrichten Sao
Paulo, 23. 11. 1961.
94 BArch, B 278 / 90, Dr. J. Haese, Deutsche Gesellschaft für Film- und Fernsehproduktion
mbH an Klaus Tiews, 8. 12. 1972, S. 15.
376
Franziska Torma
Staates in die Moderne zu inszenieren. Die Ausbeutung immer neuer
Rohstoffquellen durch Wissen und Technik ebnete in den Augen des
thailändischen Fischereidirektors, Prida Karnasut, den Weg in die Zukunft.95
Die eigene Entwicklung prädestinierte das Land somit zu einer Vorreiterrolle
in Südostasien. Dieser Aufbruch in die Industriegesellschaft gab Thailand die
nötigen Fähigkeiten, aber auch das erforderliche Prestige in der Region, um
selbst Motor der Entwicklungsplanung in Südostasien zu werden.96 Zusammen
mit den westdeutschen Experten plante das thailändische Department for
Fisheries „exploratory fishing operations to unknown or little explored fishing
grounds such as the continental shelves of South Vietnam, North of Borneo, in
the Bay of Bengal, and in the Andaman Sea.“97 Der thailändische Entwicklungsfortschritt schuf symbolisches Kapital gegenüber den Nachbarstaaten,
der sich in konkreten Projektinitiativen niederschlug.98 Als nächster Schritt
sollte die Fischerei Malaysias ausgebaut werden, und ein thailändisches
Forschungsschiff die erste Bestandsaufnahme der malaysischen Gewässer
übernehmen. Geografisch teilten sich diese beiden Staaten Fischereigründe,
und das gemeinsame lokale Wissen legte dieses Vorgehen nahe. Eine Analyse
der Gewässer Malaysias half darüber hinaus, die Dynamiken der Nutzfischbestände in dieser Region zu verstehen. Die Rolle, die Thailand beim Aufbau
der Fischerei in Malaysia spielen sollte, ging jedoch über diese pragmatischen
Begründungen hinaus. Im Vordergrund stand das technokratische Wissen, das
sich Thailand durch das entwicklungspolitische Projekt erworben hatte:
„Malaysia would greatly profit from such a survey, since no other nation could
offer similarly quick and conclusive information on the size of demersal fish
stocks in these waters.“99 Führungsrollen in überregionalen Initiativen galten
als Thailands Chance, um vom Kreis der Empfängerländer in den Kreis
derjenigen Länder zu gelangen, die selbst Technische Hilfe leisteten.100
Thailand wurde in der Tat zu einem Motor der Entwicklungspolitik im
Fischereibereich. Das Land war Mitglied des von der FAO organisierten IndoPacific Fisheries Council.101 In der Association of Southeast Asian Nations, zu
der sich die Regierungen von Thailand, Malaysia, Indonesien, Singapur und
den Philippinen zusammengeschlossen hatten, versprach die regionale Zusammenarbeit gute Erfolgschancen, den „sehr unterschiedliche[n] Entwick95 BArch, B 278 / 86, Auszug aus der thailändischen Tageszeitung Siam Rath vom
29. 8. 1963.
96 Hinter diesen technokratischen Visionen von Entwicklung und den damit verbundenen
Modellen von Entwicklungsstufen standen Ideen der Pfadabhängigkeit, die im Technologietransfer als Handlungsanleitung galten.
97 BArch, B 278 / 87, Tiews, Third Report, 2. 3. 1966, S. 5.
98 Ebd., S. 23.
99 Ebd.
100 Ebd.
101 BArch, B 278 / 87, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 8.
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
377
lungsstand in den Fischereien in der Region“ zu nivellieren.102 Thailand galt als
ein geeigneter Stützpunkt entwicklungspolitischer Initiativen, um die Fischerei in den Indischen Ozean auszudehnen.103 Basierend auf symbolischem
Kapital wurde das Land selbst zu einem Zentrum der regionalen Technischen
Hilfe. In Bangkok fanden Tagungen und internationale Verhandlungen zum
Ausbau der Fischerei in Südostasien statt, und das Land wurde zum
Fortbildungsplatz von Fischereibiologen aus angrenzenden Regionen. Finanziert von der UNESCO kamen zwei Biologen aus Malaysia in das deutschthailändische Laboratorium zur Ausbildung.104 Auch der FAO galt die
Entwicklung Thailands als eine Art Muster, wie sich internationale Kooperationen im südostasiatischen Raum anregen ließen.105 Thailands symbolischem
Kapital in Form internationaler Wertschätzung mag es auch zuzuschreiben
sein, dass die FAO das regionale Fischereibüro für Südostasien in Thailand
einrichtete.106 Im Jahr 1967 gründete sich als regionaler Zusammenschluss das
Southeast Asian Fisheries Development Center in Bangkok, über das internationale Organisationen ihre Kooperationen mit Südostasien abwickelten.107
Die Wertschöpfungsketten von lebenden Ressourcen und symbolischem
Kapital funktionierten so lange, wie ihre Basis, der Fisch, und das daraus
abgeleitete Wachstum verfügbar waren. Das Projektende zeigt, dass mit dem
Versiegen dieser Ressourcen die Widersprüche und Konfliktlinien zwischen
Wachstumseuphorie und Ressourcenschonung in der entwicklungspolitischen Initiative aufbrachen.
Was hatten Deutschland und Thailand jeweils zu verlieren, wenn die Ressource
Fisch versiegte? Die westdeutschen Experten hätten ein außenpolitisches
Betätigungs- und Außenhandelsfeld verloren, eventuell Ansehen und Vertrauen und im schlimmsten Fall eine Region an die Systemkonkurrenz.
Thailand hätte dagegen nicht nur symbolisches Kapital verloren, sondern auch
eine der Grundlagen der Entwicklungspolitik selbst,108 wie Klaus Tiews
feststellte:
102 Ebd.
103 BArch, B 278 / 88, Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, Bangkok, 24. 10. 1969, S. 2.
104 BArch, B 278 / 87, Dr. Georg Kühlmorgen-Hille, Projekt FE 544, Bericht über die Zeit
vom 1. 9. bis 30. 11. 1966, S. 3.
105 Ebd., Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 3.
106 Ebd., S. 4.
107 Zur Kooperation des Southeast Asian Fisheries Development Center (SEAFDEC) mit der
Intergovernmental Oceanic Commission (IOC): UNESCO Archives, 551.46 A 02 IOC 8
SEAFDEC.
108 BArch, B 278 / 84, Tiews, Deutsche Wirtschaftsförderungs- u. Treuhand GmbH,
15. 11. 1960, S. 1 f.
378
Franziska Torma
Es mag erwähnt werden, dass als Folge der Fischereientwicklung ein starker Anstieg des
Lebensstandards in der Fischereibevölkerung entlang der gesamten Küste beobachtet
werden kann. Viele Fischer haben sich neue Häuser gebaut.109
Der Rückgang der Fischbestände gefährdete eine Einnahmequelle, an die ein
kompletter Industriezweig und die sozialpolitische Vision eines Weges in die
sogenannte Erste Welt geknüpft waren. Die in den 1970er Jahren geforderten
Schutzmaßnahmen brachten somit nicht nur Wertschöpfungsketten und
Zukunftsutopien in Konkurrenz. Es standen darüber hinaus das Recht auf
Entwicklung und der Schutz der Natur zur Verhandlung.110
IV. Umwelt und Entwicklungspolitik
Klaus Tiews und Andhi P. Isanakura, sein Kollege im Bangkoker Department
for Fisheries, hatten bereits im Jahr 1967 anlässlich einer offiziellen
Bewertung der Schleppnetzfischerei festgestellt, dass die Bodenfischbestände zu sehr ausgebeutet worden seien. Die Fischerei zahle sich zwar gerade
noch aus, jedoch sei es nun höchste Zeit für Regulierungsmaßnahmen.111
Auch Georg Kühlmorgen-Hille befasste sich seit Mitte der 1960er Jahre
verstärkt mit dem Problem der Überfischung. Seine Berichte und Briefe, die
aus dem Fischereilaboratorium Bangkok in Hamburg und Bonn eintrafen,
dokumentieren ausführlich die ökologischen Veränderungen vor Ort. Eine
seiner brennenden Kernfragen lautete: „Was kann getan werden, um
Fischerei und Fischbestand gegeneinander aus zu bilanzieren?“112 Einerseits
überlegten die westdeutschen und thailändischen Experten auf lokaler Ebene
drastische Schutzmaßnahmen, wie zum Beispiel zwei extrem überfischte
Gebiete für bis zu zwei Jahre komplett zu sperren.113 Andererseits basierte
das gesamte Projekt immer noch auf den Zauberformeln der Wirtschaftlichkeit und des Wachstums.114
Der Glaube an die Planbarkeit natürlicher Prozesse machte beide Seiten für
die Folgeschäden blind. Diese komplexe Situation spiegelt darüber hinaus
Bruchlinien Technischer Hilfsprojekte wider. Sie verliefen zwischen
109 BArch, B 278 / 87, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 4.
110 Zum prinzipiellen Problem, dass die Dritte Welt die Umweltpolitik der westlichen Welt
nicht teilte: Kai F. Hünemörder, Vom Expertennetzwerk zur Umweltpolitik. Frühe
Umweltkonferenzen und die Ausweitung der öffentlichen Aufmerksamkeit für Umweltfragen in Europa (1959 – 1972), in: AfS 43. 2003, S. 275 – 296, hier S. 294.
111 Klaus Tiews, Fishery Development, S. 53.
112 BArch, B 278 / 88, Georg Kühlmorgen-Hille, Seefischereiforschung in Thailand, November 1969, S. 3.
113 BArch, B 278 / 90, Staff Meeting Ban Pae [Ban Phe] Marine Fisheries Station, 1972, S. 5.
114 BArch, B 278 / 88, Seefischerei-Labor, Dezember 1966; BArch, B 278 / 90, Tiews, Bericht
über die Dienstreise, 11. 9. – 15. 9. 1974, S. 4.
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
379
Deutschland und Thailand, aber auch zwischen den unterschiedlichen
Ebenen des Projekts. Die Planer am Schreibtisch und die Menschen vor Ort
hatten jeweils eine andere Perspektive auf das Meer. Klaus Tiews und die
thailändischen Experten im Department for Fisheries verfochten Regulierungsmaßnahmen. Georg Kühlmorgen-Hille war aber mit den lokalen
Problemen konfrontiert. Ihn beschäftigte die Frage, ob und wie sich diese
Schutzmaßnahmen, die zu einem sinnvollen Ressourcenmanagement führen
sollten, überhaupt umsetzen ließen. Ministerien und Expertenteams in den
Städten hingegen blickten auf die Entwicklungspolitik durch die Perspektive
der Jahrespläne und erarbeiteten davon ausgehend Vorschläge. Vor Ort
funktionierte diese Vogelperspektive der abstrakten Zahl jedoch nur bedingt. Denn nicht nur die Planungskultur der Entwicklungshilfe, auch die
materielle Kultur der Fischerei war aus dem Ruder gelaufen. Nicht einmal die
Zahl der thailändischen Fischereikutter war festzustellen, obwohl sie alle
registriert sein sollten.115 Zwischen den Entwicklungsexperten und den
lokalen Fischern öffneten sich weitere Konfliktlinien. Die Umsetzung des von
der Planungsebene geforderten Stopps der Schleppnetzfischerei sorgte bei
den Fischern für „böses Blut“,116 da sie damit ihren mühsam erarbeiteten
Lebensstandard zu verlieren drohten.
Letztlich scheiterte dann auch die Einführung der geforderten Schutzmaßnahmen am Golf von Thailand an der politischen Situation, wie Georg
Kühlmorgen-Hille vor Ort beobachtete117 und Klaus Tiews in einer seiner
Schlusspublikationen aus dem Jahr 1973 festhielt: „The political situation in
Thailand did not permit implementing regulation measures.“118 Wie Klaus
Tiews bemerkte, war Thailand in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Er bewertete
die Überfischung als allgemeines Problem der Dritten Welt. Durch die
Entwicklungspolitik hätten diese Länder gerade die Stufe der großangelegten
Fischerei erreicht. Keiner könne sie nun dafür beschuldigen, wenn sie lieber
die Überfischung riskierten, als diese Ressource nicht zu nutzen.119
In diesem Spannungsfeld endete das Projekt mit einem Kompromiss, der beide
Werte, die schützenswerte Umwelt und das Recht auf Entwicklung, auszutarieren suchte. Für die Zeit der Partnerschaftsverträge ab Mitte der 1970er Jahre
entwarf das deutsch-thailändische Planungsteam eine Art von Ökosystemmanagement, das die Produktivität der Fischerei garantierte, um Thailands
Wertschöpfungsketten aufrechtzuerhalten. Das war nicht nur geschickt, weil
es den Erfolg der westdeutschen Mission bestätigte. Auch die wichtigen
BArch, B 278 / 88, Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, 1. 6. 1967, S. 2.
Ebd., Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, Bangkok, 6. 6. 1969, S. 1 f.
Ebd.
Tiews, Fishery Development, S. 56. In Thailand herrschten Ende der 1960er Jahre und
Anfang der 1970er Jahre ohnehin politische Unruhen, die zu einer Demokratisierung
Thailands bis 1976 führten. Danach folgte wiederum eine Militärdiktatur.
119 Ebd.
115
116
117
118
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Ressourcen Vertrauen, Prestige und Anerkennung konnten in Zeiten des
Kalten Krieges und der Wahlfreiheit der Entwicklungsländer, mit wem sie in
Zukunft kooperieren wollten, durch dieses Entgegenkommen gesichert werden.
V. Fazit
Dieser Aufsatz hat sich mit einem spezifischen Projekt westdeutscher
Entwicklungspolitik in Thailand befasst, nämlich dem Einsatz von Fischereiexperten am Golf von Thailand. Zwischen 1959 und 1974 sollten sie
gemeinsam mit ihren thailändischen Partnern die Fischerei des Landes
modernisieren, wie es im entwicklungspolitischen Weltbild hieß. Im Rahmen
der Technischen Hilfe entstand eine deutsch-thailändische Kultur der Wertschöpfung, die Fisch zur lebenden Ressource machte. Aus den internationalen
Organisationen und den Diskussionsräumen der Vereinten Nationen kommend, hatte der Ressourcenbegriff zunächst eine rein ökonomische Bedeutung. Erst die Anwendungskontexte im Einsatzland ergänzten das Verständnis
der lebenden Ressource in ökologischer Hinsicht. An den verursachten
Schäden wurde deutlich, dass Ressourcen auch Bestandteile der Natur waren
und damit eigenen Dynamiken folgten. Die Tatsache, dass diese Einsichten
nicht in stringenter Form zu einem Stopp der Fischerei führten, lässt sich
durch eine weitere Ebene des Ressourcenbegriffs erklären: Zwar stieß das
technische Planungswissen im Golf von Thailand an seine Grenzen, doch es
war trotzdem entwicklungspolitisch nötig und nützlich. In Wertschöpfungsketten ließ sich aus der Ressource Fisch ökonomisches, politisches, soziales
und symbolisches Kapital gewinnen. Als Lieferant von symbolischem Kapital
eröffnete Fisch für beide Projektpartner unterschiedliche Bedeutungskontexte: Für die westdeutsche Seite war Fisch Bestandteil einer Außenpolitik, die auf
dem Gewinn von Prestige und Vertrauen in Südostasien basierte. Im Kalten
Krieg galt dieser weiche Faktor der Politik als Möglichkeit, die Dritte Welt an
den Westen zu binden. Für Thailand hatte Fisch jedoch weitaus substantiellere
Bedeutung: Fisch war der Nukleus, von dem ein Entwicklungspfad des Landes
abhing.120 Der Ausbau der Fischerei versprach den Weg in die Moderne zu
weisen, wobei sich daraus Ansehen und politische Macht in Südostasien
gewinnen ließen.
Das Fallbeispiel lässt darüber hinaus übergreifende Aussagen zu. Zwischen
Wachstumseuphorie und dem Erkennen ökologischer Problemlagen standen
die Werte von Umwelt und Entwicklung zur Verhandlung. Einerseits waren
trotz aller Rhetorik von Partnerschaft und aktiver Partizipation entwick120 Zum zeitgenössischen Verständnis der Wachstumspfade und Pfadabhängigkeit in der
Entwicklungspolitik: Rommel, Technologietransfer als Entwicklungshilfe, S. 389 – 403,
insb. S. 393.
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Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital
381
lungspolitische Initiativen nicht frei von eurozentrischen Annahmen. Aus
thailändischer Sicht mochte Umweltschutz als westliche Projektion und
(erneute) Bevormundung erscheinen und zudem als Einschnitt in die eigene
Zukunftsplanung, da das Land mit dem Stopp des Projekts die Chance auf
seine Entwicklung zu verlieren drohte. Anderseits verliefen die Bruchlinien
und Konfliktfelder nicht ausschließlich zwischen Westdeutschland und Thailand, sondern lassen die Umrisse transnationaler Koalitionen erahnen, die
jeweils von gruppenspezifischen Interessen geprägt waren. So hatten deutschthailändische Expertenteams in den Planungsbüros der Hauptstädte abstraktere Vorstellungen von Entwicklungsprozessen und Umweltschutz als die
Wissenschaftler vor Ort, die Entwicklungspolitik und ihre ökologischen
Folgen täglich auf lokaler Ebene erlebten. Entwicklung durch Ressourcenausbeutung sicherte auch die Wirtschaftsgrundlage für die Fischer, die ihren
mühsam erarbeiteten Lebensstandard nicht mehr zugunsten von Schutzmaßnahmen aufgeben wollten.
Mit dem Mitte der 1970er Jahre geschlossenen Kompromiss zwischen
Ökonomie und Ökologie wäre die Geschichte vorüber, wenn es nicht ein
weiteres Archiv gäbe: In der Umwelt sind bis heute die ökologischen
Folgeschäden sichtbar, die die Technische Hilfe im Einsatzland verursacht
hat. Veränderungen der Natur sind mitunter die irreversibelsten Konsequenzen entwicklungspolitischer Missionen. Das Ziel, diese Veränderungen maritimer Ökosysteme durch den Menschen besser zu verstehen, macht umwelthistorische Perspektiven auf die Geschichte der Entwicklungspolitik notwendig. Der Versuch nachzuvollziehen, wie die Projektbeteiligten die soziale und
natürliche Umwelt ummodellierten, erfordert darüber hinaus auch kulturhistorische Perspektiven, die die Kulturtechniken der Entwicklungspolitik selbst
zum Thema machen.
Dr. Franziska Torma, Universität Augsburg, Europäische Kulturgeschichte,
Universitätsstraße 10, 86159 Augsburg
E-Mail: [email protected]
Globale Güter und territoriale Ansprüche
Meerespolitik in der Bundesrepublik Deutschland und den
USA in den 1960er Jahren
von Sven Asim Mesinovic
Abstract: The idea of installing an underwater laboratory in 1968 to run experiments
was connected with the international debate about the sovereignty of the seabed
beyond national borders. After a US consortium had occupied parts of the international seabed, international experts and the United Nations were concerned, that
claiming parts of the seabed were under national jurisdiction might lead international
law towards allowing such appropriation. In 1969, the German Government and the
US Administration set up state agencies responsible for ocean research. The paper
argues that underwater laboratories were partly organized in order to influence upcoming regulations on the use of the seabed.
I. Die 1960er Jahre: Meerespolitik als Territorialpolitik
1960 erscheint das populäre Sachbuch „Der Griff nach dem Meer. Amerika und
Rußland im Kampf um die Ozeane der Welt“ des Wissenschaftsjournalisten
Cord-Christian Troebst. Darin beschreibt er die Ozeane als Eiweiß- und
Rohstoffschatzkammer.1 In der Gliederung seines Buches tauchen schon die
Begriffe auf, die die Diskussion um die Eroberung der Meere in der Dekade von
1960 bis 1970 dominieren sollten: „Zu viele Menschen?“, „Brot und Heilmittel
aus dem Meeresgrund“ sowie „Bergwerke am Meeresgrund“. Troebst warnte
vor einer drohenden Überbevölkerung der Erde, die die Ausnutzung sowohl
der lebenden als auch der geologischen Schätze im Meer notwendig mache.
Schon 1956 hatte der deutsche Meeresforscher Friedrich Hermann, Direktor
des Institutes für Meeresforschung in Kiel, die Nutzung von Meeresalgen für
die Ernährung der wachsenden Bevölkerung vorgeschlagen. Triebkräfte der
1 Cord-Christian Troebst, Der Griff nach dem Meer. Amerika und Rußland im Kampf um
die Ozeane der Welt, Düsseldorf 1960; Eberhard Czaya, Aquanauten erobern die Tiefsee,
Berlin 1977; Franz Kurowski, Unsere Zukunft – das Meer, Wien 1970; Alexander F.
Marfeld, Zukunft im Meer, Berlin 1972; Rüdiger Proske, Auf der Suche nach der Welt
von morgen. Ein erster Überblick, Köln 1968; Ulrich Schippke, Die Besiedlung der
Kontinente unter Wasser, in: ders. u. Roland Gööck (Hg.), Zukunft. Das Bild der Welt
von morgen, Gütersloh 1975, S. 112 133; Pierre Simonitsch, Die Entdeckung der
Ozeane, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 20. 1969, S. 173 177; Harris B. Stewart,
The Ocean. A Scientific and Technical Challenge, in: Arthur B. Bronwell (Hg.), Science
and Technology in the World of the Future, New York 1970, S. 13 31.
Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 382 – 402
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
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Globale Güter und territoriale Ansprüche
383
Meereswissenschaften seien, so fasste 1969 Fred Osten zusammen, die
Sicherstellung der Welternährung und die Erschließung maritimer Rohstoffe.2
Mit solchen Rohstoffen waren nicht nur Erdöl oder Gasfelder in den
Kontinentalschelfen gemeint, sondern zum Beispiel auch Manganknollen,
erzhaltiges kartoffelförmiges Gestein mit einem hohen Gehalt an Metallen, das
an bestimmten Stellen des Meeresbodens vorkam und dessen Förderung in der
Energiekrise Anfang der 1970er Jahre attraktiv erschien.3 Und Hermann,
Troebst und Osten waren bei weitem nicht die Einzigen, die die Rohstoffreichtümer des Meeresbodens beschrieben.4
Die Debatte um die Eroberung des Meeresbodens führte folgerichtig auch zu
einer Diskussion über eine neue Rechtsordnung des Meeresbodens außerhalb
staatlicher Grenzen.5 Dabei handelte es sich im Kern um die Frage einer neuen
globalen Besitzordnung. Wem sollten diese bislang noch nicht als Landgebiete
in Erscheinung getretenen Orte gehören? Bisher waren diese noch nicht der
Jurisdiktion der Staaten unterworfen und nicht als Gebiete definiert worden.
In ganz ähnlicher Weise gilt dies auch für den Weltraum oder die Antarktis.
Alle diese Räume wurden zu Territorien, sie gerieten zu Landflächen mit
Besitzordnungen.
Es ging dabei um die Frage der gerechten Verteilung der im Meeresboden
befindlichen Bodenschätze. Sollte der Meeresboden außerhalb der bestehenden nationalen Hoheiten demjenigen gehören, der es zu erobern vermochte,
oder sollte man diese Gebiete dem gemeinsamen Erbe der Menschheit
unterstellen? In dieser Weise verbanden sich konkrete wirtschaftliche Fragen
mit allgemeinen politischen Forderungen nach einer gerechteren Aufteilung
zwischen reichen und armen Ländern. Wegen der technologischen Herausforderungen der Förderung von Meeresbodenschätzen war die Frage der
politischen Verteilungsgerechtigkeit auch an den Besitz von Technologien und
technologischem Wissen gebunden. Die Förderung von Rohstoffen aus dem
Meer erforderte hohe Investitionen, die sich Entwicklungsländer nicht leisten
konnten. Allerdings stand außer Frage, dass Entwicklungsländer bei der
Aufteilung des Meeresbodens nicht unberücksichtigt gelassen werden konnten.
2 Fred Osten, Wasser statt Wind vorm Fenster, in: Jugend und Technik 17. 1969, S. 746.
3 Jürgen Schneider, Manganknollen. Der „run“ auf die Tiefseeböden, in: Umschau in
Wissenschaft und Technik 23. 1975, S. 724 726.
4 Rudolf Schemainda, Rohstofflager Weltmeer. Unerschöpfliche Quellen in Ozeanen und
auf Meeresgründen, in: Neues Deutschland, 18. 9. 1965.
5 Günter Dietrich u. a., Denkschrift zur Lage der Meeresforschung. Deutsche Meeresforschung 1962 – 1973, Bd. 2: Fortschritte, Vorhaben und Aufgaben, Wiesbaden 1968.
384
Sven Asim Mesinovic
Im Rahmen der Meeresbodenpolitik rangen Staaten um territoriale Ansprüche
in einer sich wandelnden dekolonisierten Welt.6 Meerespolitik verband
geopolitische mit wirtschaftlichen Erwägungen. Dies wirft die Frage auf, ob
die Debatte um die Eroberung des Meeresbodens einen Wendepunkt in der
Territorialpolitik darstellte.7
Im Folgenden wird die Meeres- und Territorialpolitik der USA und der
Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren in Verbindung mit der
Entstehung der Unterwasserlaboratorien beider Länder erörtert. Diese Unterwasserlaboratorien waren in den 1960er Jahren zahlreich und populär. Sie
entstanden in einer wirtschafts- und rechtspolitischen Gemengelage: Erst die
Debatte um die Eroberung des Meeresbodens führte in den USA und der
Bundesrepublik zu der Behauptung, man müsse auch den Meeresboden
technologisch erobern.8 Unterwasserlaboratorien gerieten zu technologischen
Vorposten für solche unbesiedelten Gebiete. So dienten die Laboratorien, die
von über achtzig Industriestaaten seit Mitte der 1960er Jahre errichtet worden
sind, auch als Modell der Raumaneignung.9 Technisch boten sie – dies war ihr
Spezifikum – gerade für tauchende Forscher neue Möglichkeiten, da der Druck
in den Laboratorien dem Außendruck im Wasser entsprach, und die Taucher –
ohne Dekompression – länger im Wasser arbeiten konnten.10
Die Betrachtung der Geschichte der Unterwasserlaboratorien in der Bundesrepublik Deutschland muss auch die USA mit einbeziehen, denn die
Entwicklungen deutscher und US-amerikanischer Unterwasserlaboratorien
waren auf vielfältige Art und Weise miteinander verknüpft.11 Zum einen diente
das amerikanische Unterwasserlaboratorium als Vorbild, zum anderen waren
die Entwicklungen des deutschen und des amerikanischen Unterwasserlaboratoriums personell eng miteinander verwoben. Diese enge Verbindung beider
Unterwasserlaboratorien liegt nicht nur darin begründet, dass sich die
Bundesrepublik als enger Kooperationspartner der USA verstand, sondern
auch darin, dass die Unterwasserlaboratorien von Luft- und Raumfahrtme6 1955 waren nur 13,2 Prozent der UN-Mitgliedsstaaten ehemalige Kolonien, 1960 bereits
45 Prozent. Siehe David A. Kay, The Politics of Decolonization. The New Nations and the
United Nations Political Process, in: International Organization 21. 1967, S. 786 811.
7 Siehe auch: Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Alternative
Narratives for the Modern Era, in: The American Historical Review 105. 2000,
S. 807 831.
8 National Archive and Record Administration, College Park, MD [im Folgenden NARA],
RG 303, Records on the National Council on Marine Resources and Engineering
Development (COMSER), A Summary of a National Man-in-the-Sea Program,
10. 9. 1969, S. 3 – 11.
9 James W. Miller u. Ian G. Koblick, Living and Working in the Sea, New York 1984.
10 Eine Anpassung an den „normalen“ Luftdruck der Erdoberfläche wurde nur noch am
Ende der Unterwassermission nötig.
11 Miller u. Koblick, Living and Working in the Sea, S. 382.
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Globale Güter und territoriale Ansprüche
385
dizinern initiiert wurden, die durch ein personelles Netzwerk miteinander
verflochten waren. Führende Raumfahrtmediziner wie Hubertus Strughold
wurden nach 1945 im Rahmen des „Project Paperclip“ aus Deutschland in die
USA gebracht, um im dortigen Raketenprogramm mitzuarbeiten. Dieser
Aufsatz soll herausstellen, wie Unterwasserlaboratorien mit der Debatte um
die Eroberung der Meere in der Bundesrepublik und den USA zusammenhingen und wie sich dies in der Meerespolitik beider Länder darstellte.
II. Wem gehört der Meeresboden? Drei Strategien zur
Aneignung staatsferner Räume
Die Wahrnehmung des Meeresbodens als wirtschaftlich auszubeutendes
Territorium war ein Ergebnis der insbesondere seit den 1960er Jahren
boomenden Meeresforschung. Teilweise waren schon dreißig Jahre zuvor die
technischen und auch die rechtlichen Möglichkeiten erprobt worden.12
Vorreiter dieser Technologie waren die USA, die schon 1926 begonnen hatten,
aus Meerwasser Brom zu gewinnen, das als Zusatz zu Kraftstoffen (gegen das
Klopfen) beliebt wurde. Ab 1941 förderten die Amerikaner im Zuge der
Kriegsrüstung Magnesium aus dem Meerwasser, denn dieses wurde wichtig als
leichter Baustoff für den Flugzeugbau. Die US-amerikanische Firma Dow
Chemicals nahm damals in Freeport, Texas die erste derartige Anlage in
Betrieb.13 Der technologische Fortschritt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ließ zudem eine Exploration der unter See gelegenen Erdölfelder realistisch
erscheinen.
Denn obgleich es schon seit dem 19. Jahrhundert ein profundes Wissen über
die Ozeane gab, begünstigte erst das Interesse des Militärs im Kalten Krieg an
einer besseren Kontrolle des Meeres die Wissenschaft der Ozeanografie als
empirisch-quantitative Wissenschaft.14 Die dafür gesammelten erdphysikali-
12 So wurde seit 1938 Öl aus dem Meeresboden vor der Küste des US-amerikanischen
Bundesstaates Louisiana gefördert. Am 30. September 1945 hatte US-Präsident Harry S.
Truman eine Festlandproklamation erlassen, die das künftige Besitzrecht der USA an
dem unterseeisch liegenden Festlandsockel sichern sollte. Wolfgang Schott, Das Meer
und der Meeresboden als mineralische Rohstoffquelle, in: Peter Halbach (Hg.), Marine
Rohstoffgewinnung, Bd. 1: Marine Rohstoffe und Meerestechnik, Essen 1979, S. 2 17.
13 Harald Steinert, Lebensraum der Zukunft das Meer, in: Westermann Monatshefte
111. 1970, S. 18 26.
14 Paul N. Edwards, The World in a Machine. Origins and Impacts of Early Computerized
Global Systems Models, in: Agatha C. Hughes u. Thomas P. Hughes (Hg.), Systems,
Experts, and Computers. The System Approach in Management and Engineering, World
War II and After, Cambridge, MA 2000, S. 221 254.
386
Sven Asim Mesinovic
schen Daten halfen, mineralische Rohstoffe im Meeresboden zu finden.15
Daher schien die Exploration von im Meer gelegenen Bodenschätzen mit
dem Beginn der 1960er Jahre in greifbare Nähe zu rücken. Diese Explorationen
erschienen umso attraktiver, als das Meer, zumindest die Tiefsee, frei von
nationalen Beschränkungen war. Es handelte sich um submarines Niemandsland, das rechtsfrei war, bis sich erstmals die Genfer Seerechtskonferenz von
1958 dieser Frage annahm. Bis dahin hatte es keine völkerrechtliche Regelung
für den Abbau von Mineralien im Meeresboden internationaler Gewässer
gegeben. Erst durch die beiden Seerechtskonferenzen der Vereinten Nationen
1958 und 1960 wurden Versuche unternommen, die Gebiete der internationalen See, auf der das Prinzip der Freiheit der Meere galt, schärfer von den
nationalen Hoheitsgebieten abzutrennen, die den jeweiligen Küstenstaaten
unterstanden.
In dieser Zeit hatte sich die Wahrnehmung der Ozeane verändert: von einem
Überquerungs- zu einem Explorationsgebiet. Dieser Prozess der Verräumlichung der Meere ließ die Ozeane als neue Ressource, als Hort von „living“ und
„mineral resources“, in den Vordergrund treten.
Gerade aber die Ausrichtung auf die Gewinnung von Rohstoffen aus dem
Meeresboden zwang dazu, diesen juristisch dem Land gleichzustellen. Dies
war problematisch. Die Rohstoffe, zum Beispiel Gas oder Erdöl, befinden sich
an einer ortsfesten lokalisierbaren Stelle, sie sind nicht – wie Fischschwärme –
ortsunabhängig. Solange sich die Fördergebiete innerhalb der Seerechtsgrenzen der Staaten befanden, stellte dies kein Problem dar ; im Falle der Gebiete in
internationalen Gewässern änderte sich dieser Umstand. Entsprechend kam es
zu der Frage, wem der Meeresboden außerhalb der nationalen Seerechtsgrenzen gehöre. Die Frage stellte sich vor allem deshalb, weil eine technologische
Förderung der Schätze des Meeresbodens nunmehr möglich schien.
In den Verhandlungen der UN-Seerechtskonferenzen ab 1958 positionierten
sich zwei konträre Gruppen. Auf der einen Seite gab es die Akteure, die aktiv
die Internationalisierung des bislang staatsfernen Raumes Tiefsee vorantreiben wollten und die daran interessiert waren, die Schätze der internationalen
See für die Weltgemeinschaft zu nutzen. So gab es sogar innerhalb der
Vereinten Nationen die Überlegung, sich von den Erträgen des Meeresbodenbergbaus zu finanzieren.16 In diesem Fall hätte man die Vereinten Nationen von
15 Warren S. Wooster, The Ocean and Man, in: Scientific American 221. 1969, S. 218 233,
hier S. 225.
16 Food and Agriculture Organization of the United Nations Archives, Rom, Italien [im
Folgenden FAO], UN-3 / 45, Letter Roy I. Jackson, 12. 6. 1967: „During a conversation on
9 June with the Director General he asked me to put up a note setting up the history of the
concept that the resources for the sea should be turned over to the UN […], a book by
Christy and Scott on Marine Fisheries puts forward the basic idea. Also a commission to
study the Organization of Peace, funded by the Carnegie Foundation, supported this
idea. Clark Eichelberger has published several articles to this topic. It is also apparent
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Globale Güter und territoriale Ansprüche
387
den Zuschüssen der reichen Länder unabhängig machen können. Im Rahmen
der Welternährungsbehörde der Vereinten Nationen (FAO) überlegte man,
„living resources“ wie etwa Algen für die Ernährung der ansteigenden
Weltbevölkerung zu nutzen.17 Schließlich gab es auch eine Gruppe von
Entwicklungsländern, die eine Eroberung des Meeresbodens durch die
Industrieländer als „kolonial“ anprangerten und angesichts des zu erwartenden Meeresbodenbergbaus eine finanzielle Schlechterstellung ihrer eigenen
Rohstoffexporte befürchteten.18
Auf der anderen Seite standen einzelne Staaten, die aus den unterschiedlichsten Gründen eine Internationalisierung des Meeres ablehnten. Darunter
fanden sich die Küstenstaaten, die an der Ausweitung ihrer eigenen Küstenmeere interessiert waren, aber auch industrialisierte Binnenländer oder
Kurzküstenstaaten, die selbst an einem Meeresbodenbergbau interessiert
waren und daher sowohl die Internationalisierung als auch eine Ausweitung
der Nationalisierung der Meere ablehnten. Eine Sonderrolle spielten die USA,
die sich einer eindeutigen Zuordnung enthielten, weil sie die internationalen
Regelungen als für sie nicht zuständig erachteten.19 Die Frage nach einer neuen
Ordnung für den Meeresboden entwickelte sich in den späten 1960er Jahren zu
einem globalen Thema. Dazu gehörte auch die Angst vor einer Militarisierung
des Meeresbodens, die insbesondere die blockfreien Staaten beschäftigte. Zu
that Mr de Seynes of the UN Secretariat is interested in the possibility of using such a
method as a source of financing for the UN. This may be difficult to document, but it can
be inferred from some of the correspondence in our files and from the contents of earlier
versions of the UN Resolution 2172 and possibly from the debates which preceded its
adoption.“
17 Ebd.
18 Damon C. Morris, Bolivia Sea Access (BOLSEA Case), http://www1.american.edu/ted/
bolsea.htm; Francis Gerard Adams, The Effects of Possible Exploitation of the Sea-Bed
on the Earnings of Developing Countries from Copper Exports (United Nations
Conference on Trade and Development, TD / B / 484), Geneva 1974.
19 Diese Aussage bedarf einer Präzisierung. Die Delegation der USA kam den Forderungen
der Entwicklungsländer entgegen und die USA waren nicht die einzige Nation, die eine
200-Seemeilen-Zone forderten. 1980, kurz vor Abschluss der Verhandlungen der Law of
the Sea Conference, verweigerten sich die USA einer Ratifizierung. Die Gründe dafür
erklärt die Politikwissenschaftlerin Sheila Jasanoff mit einem Regierungswechsel. Der
1980 gewählte Ronald Reagan wollte die Interessen der amerikanischen Minenindustrie
nicht gefährden. Erst 1994 unter der neuen Regierung Bill Clintons wurde eine revidierte
Fassung von den USA ratifiziert, da diese den USA einen Sitz in Schlüsselkomitees, ein
Vetorecht sowie die Bestätigung der Explorationen der amerikanischen Firmen erlaubt
habe. Insgesamt, so Jasanoff, seien die Ergebnisse der Konferenz ein Triumph nationaler
claims über internationale Visionen. Vgl. Sheila Jasanoff, Image and Imagination. The
Formation of Global Environmental Consciousness, in: Clark A. Miller u. Paul N.
Edwards (Hg.), Changing the Atmosphere. Expert Knowledge and Environmental
Governance, Cambridge, MA 2001, S. 309 – 337, hier S. 326 f.
388
Sven Asim Mesinovic
ihrem Sprachrohr wurde Arvid Pardo, der Botschafter der kleinen, ehemals
zum britischen Kolonialreich gehörenden Mittelmeerinsel Malta. Dieser
Botschafter brachte in der 22. Sitzung der Vollversammlung der UN am
17. August 1967 einen Antrag zur friedlichen Nutzung des Meeresbodens
(exclusively peaceful uses of the seabed) ein.20 1970 veranstaltete das private
Center for the Study of Democratic Institutions in Malta die erste Pacem-inMaribus-Konferenz. Auch in Deutschland befassten sich Wissenschaft und
Verwaltung mit dieser Frage.21
Auf internationaler Ebene veranstaltete das Istituto Affari Internazionali vom
30. Juni bis 5. Juli 1969 in Rom ein Rechtssymposium, um Lösungen und
Antworten auf die Frage nach dem Besitztum des Meeresbodens zu finden.22
An diesem Rechtssymposium, dessen Beiträge ein Jahr darauf publiziert
wurden, nahmen 51 Teilnehmer aus 22 sozialistischen und nichtsozialistischen
Ländern teil, wobei kaum Vertreter aus Nichtindustrieländern anwesend
waren. Auf diesem Symposium debattierten Völkerrechtler, aber auch Ökonomen Möglichkeiten und Bedingungen der Meeresbodennutzung. Dabei
standen drei Meinungen im Vordergrund:
1. Oda-Theorie: Die nach Professor Shigeru Oda benannte Theorie befürwortete die komplette Aufteilung der Weltmeere unter den Küstenstaaten, denn, so
Oda: „All the submerged lands of the world are necessarily part of the
continental shelf by the very definition of the Convention.“23 Dieser Vorschlag
belohnte Länder mit langer Küste und bestrafte solche ohne Küstenzugang,
unterschied dafür aber nicht zwischen Industrie- und Entwicklungsländern.
2. First come, first serve: Dieser Vorschlag bezeichnete die Schätze des
Meeresbodens als terra nullius, das heißt keinem zugehörig, doch jedem
zugänglich, der sie technisch ausbeuten könne. Dies war die konservative
Position – konservativ in dem Sinne, dass diese Rechtsauffassung gelten
würde, wenn man keine internationale Regelung fände. Sie machte keinen
Unterschied zwischen Binnen- und Küstenländern, bevorzugte aber die
20 FAO, UN-3 / 45, Memorandum, A / 6695, English, S. 2: „this is likely to result in the
militarization of the accessible ocean floor through the establishment of fixed military
installations.“
21 Vom 25. bis 28. 3. 1969 versammelten sich in Kiel führende Vertreter der deutschen
wissenschaftlichen Ozeanografie mit Vertretern des Bundeslandwirtschafts-, Verkehrs-,
Verteidigungs- und Bildungsministeriums und der Preussag AG, um Probleme und
Lösungsmöglichkeiten zu erörtern. Siehe dazu Eberhard Menzel, Die drei Grundtypen
einer Rechtsordnung für den Meeresgrund der Tiefsee, in: ders. (Hg.), Die Nutzung des
Meeresgrundes außerhalb des Festlandsockels (Tiefsee). Vorträge und Diskussionen
eines Symposiums veranstaltet vom Institut für Internationales Recht an der Universität
Kiel 25. 28. 3. 1969, Hamburg 1970, S. 171 194.
22 Jerzy Sztucki (Hg.), Symposium on the International Regime of the Sea-Bed. Proceedings, Rom 1970.
23 Evan Luard, The Control of the Sea-Bed. A New International Issue, London 1974, S. 41.
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Globale Güter und territoriale Ansprüche
389
Industriestaaten und gründete auf der Annahme, dass behauptete freie Gebiete
auf der Erde automatisch demjenigen gehören, der sie technologisch erschließen und benutzen kann.
3. Common heritage: Diese Idee sah vor, den internationalen Meeresboden
unter eine internationale Verwaltung zu stellen.24 Auch wenn die meisten
Staaten diesem Vorschlag zustimmten, ergaben sich jedoch Detailprobleme,
ob nun die internationale Verwaltung Schürfrechte erteilen (dies war der
Vorschlag der meisten Industrieländer) oder ob eine internationale Behörde
selbst schürfen solle. In letzterem Fall, so fürchteten einige Experten, würde
dies auf ein Moratorium hinauslaufen, denn die meisten Entwicklungsländer,
vor allem diejenigen, die bereits Rohstoffe in ihrem Land abbauten, hatten kein
Interesse an einem Meeresbergbau, befürchteten sie doch, dass die zusätzlichen Explorationen ihre Exporterlöse schmälern könnten.25
Während das erste Prinzip, die Oda-Theorie, die vollkommene Aufteilung der
Meere durch die Ausweitung der Jurisdiktion der Küstenstaaten bedeutet
hätte, standen die beiden anderen Vorschläge für zwei sich widersprechende
Prinzipien: zum einen die Idee, dass staatsfreie Räume (beyond borders of
national jurisdiction) wie die Antarktis, die internationale See oder der
Weltraum frei, also noch zu erobern seien (terra nullius), zum anderen die
Vorstellung, dass solche Räume außerhalb der Staatsgrenzen bereits allen
Staaten gehörten (terra communis). Auch in den darauf folgenden Seerechtskonferenzen wurde diese Frage behandelt. Die Terranisierung verwandelte die
Meere in den Debatten der Zeit in neue Kolonien. Der Meeresboden wurde zu
einem neuen, noch nicht unterworfenen Landgebiet. „Das Meer wird vom
letzten freien Raum zum kolonisierbaren siebten Kontinent“, führte Wolfgang
Graf Vitzthum in seinem Artikel von 1976 aus,26 während ein Kommentar auf
der Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. Juli 1976 zur
Seerechtskonferenz noch deutlichere Worte fand: „Um diese Bodenschätze
wird ein Kampf geführt, der in seiner Bedeutung den Vergleich mit dem
imperialistischen Wettrennen um die Kolonien im vorigen Jahrhundert leicht
aushält.“27 In derselben Ausgabe sah Fernando Wassner angesichts der
Seerechtskonferenz das Ende der Freiheit der See kommen.28 Die Artikel und
Kommentare der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bezogen sich auf eine
Bundestagssitzung vom 2. Juli 1976, in der die Ergebnisse der internationalen
24 Jerzy Sztucki, Working Group III. Present Legal Regime of the Sea-Bed, in: ders.,
Symposium on the International Regime, S. 469 497.
25 Adams, The Effects of Possible Exploitation of the Sea-Bed.
26 Wolfgang Graf Vitzthum, Wem gehört das Meer?, in: Die Zeit, 30. 11. 1973, S. 56.
27 Heinz Heck, Wie lange noch Freiheit der Meere? Zur 3. Seerechtskonferenz, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. 3. 1976, S. 11.
28 Fernando Wassner, Die Gier nach den Schätzen der See. Anfang und Ende der Freiheit
der Meere, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 7. 1976, S. 3.
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Sven Asim Mesinovic
Seerechtskonferenz debattiert wurden.29 Die Argumentationen von 1976
zeigen eine veränderte Sichtweise auf die Meere. Durch die Hoffnung auf
Gewinnung von Rohstoffen erhielt der Meeresboden einen ökonomischen
Wert.
Die Hoffnung auf frei verfügbare Rohstoffe setzte eine Flut von Zeitungsartikeln in Gang, die im Falle des rohstoffarmen Kurzküstenstaates Bundesrepublik auch ihre Wirkung auf die Politik zeigte. Die Meeresboden-RohstoffEuphorie basierte auf zwei Ideen: zum einen auf der Vorstellung des Meeres als
neues Land und zum anderen auf der Verlockung von frei verfügbaren
Rohstoffen in Gebieten, die bislang noch keiner staatlichen Herrschaft
unterworfen worden waren.30 Doch sollte sich bald herausstellen, dass diese
Rohstoffe im Meeresboden nicht in dem erwünschten Maße frei verfügbar
waren, da erstens die technologischen Schwierigkeiten ihrer Exploration
immens waren und zweitens eine internationale Rechtsdebatte über ihre
Verfügung begann.
Die Berücksichtigung des Meeres als politisch wichtiges Territorium zeigte
sich sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik durch Umgestaltungen
der Verwaltungsapparate. So zeugen die Akten des National Council on Marine
Resources and Engineering (COMSER), eines vom US-Kongress einberufenen
Expertengremiums zur Meerespolitik, von den Bemühungen, die Meere
technologisch zu erobern.31 Auch in der Bundesrepublik wurde im Forschungsministerium ein Referat unter dem Titel „Meerestechnik“ eingerichtet,
das sich um neue Meerestechnologien kümmern sollte.32 In beiden Ländern
ging es nicht allein um die Erforschung des Meeres, es ging auch darum
herauszufinden, wie die Meere in technologischer Weise besser genutzt werden
könnten, um im „run for resources“ nicht zurückzufallen.33
29 Große Anfrage der Fraktion der CDU / CSU betr. Auswirkungen der Seerechtskonferenz
der Vereinten Nationen auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen der
Bundesrepublik Deutschland, 1976; CDU / CSU Bundestagsfraktion, Entschließungsantrag der Fraktion der CDU / CSU zur Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der
CDU / CSU betr. Auswirkungen der Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen auf die
politischen und wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, 1976.
Online-Archiv des Deutschen Bundestages, Bundestagsdrucksache 7 / 5120, 5. 5. 1976,
S. 1 – 7, http://pdok.bundestag.de.
30 Rolf Prudent, Industrie formiert sich. Tauziehen um Meeres-Millionen. WiM: Ein neuer
Verband mit Geburtswehen, in: Industriekurier, 23. 9. 1969, S. 3.
31 NARA, RG 303, Box 1, Marine Sciences and Research Act of 1960, 5. 9. 1959, S. 3.
32 Bundesarchiv Koblenz [im Folgenden BArch], B 196 / 7086, Vermerk: Förderung der
Meeresforschung, 17. 8. 1967, S. 1 – 30.
33 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.), Gesamtprogramm Meeresforschung und Meerestechnik in der Bundesrepublik Deutschland 1972 1975, Bonn 1972.
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391
III. Last Frontiers: Eroberung und Kolonisierung der Meere als
letzte unbesetzte Räume durch die USA
In den USA stand zu Beginn der 1960er Jahre zunächst noch das Sammeln von
Daten im Rahmen eines ocean survey im Vordergrund. Erst gegen Ende der
1960er Jahre rückte nationales Handeln auf dem Gebiet der Meeresbodenpolitik in den Fokus. Angestoßen wurde diese Politik durch die internationale
Debatte um eine Neuregelung der Gebiete der Hohen See. Dieser Zusammenstoß von internationalem Recht und Wissenschaftspolitik zeigte sich, als am
19. Juli 1968 Marti Mueller im amerikanischen Wissenschaftsjournal Science
über den aufsehenerregenden Fall einer Meeresbodenaneignung durch die
University of Washington, das Battelle-Memorial Institute, die Firma Honeywell und das ozeanografische Institut von Hawaii berichtete.34 Diese hatten in
einem gemeinsamen meereswissenschaftlichen Forschungsprojekt den Meeresboden des Cobb Seamount besetzt, eines untergegangenen Vulkanes 435
Kilometer westlich vor der Küste des US-Bundesstaates Washington. Die
Wissenschaftler hatten dieses Gebiet dem Hoheitsgebiet der Vereinigten
Staaten von Amerika unterstellt, obgleich es sich doch in internationalen
Gewässern befand. Die Meeresbodenaneignung geschah auch, um den
Absichten der Vereinten Nationen zur Internationalisierung des Meeresbodens zuvorzukommen. Denn zur selben Zeit suchten internationale Rechtsexperten nach einem neuen „Rechtssystem“ für solche Gebiete. Bezeichnenderweise hatte das amerikanische Konsortium ebenfalls die Aufstellung eines
Unterwasserlaboratoriums auf dem Grund des Cobb Seamount geplant –
Wissenschaftsunternehmung und territoriale Aneignung waren bei diesem
Projekt, das eine wissenschaftliche Erforschung des Meeresbodens in der Nähe
des Vulkans plante, kaum voneinander zu trennen. Die Landaneignung des
Meeres geschah in den USA zu einer Blütezeit der Meeresforschung. Diese
hatte hier immer eine Rolle gespielt, doch insbesondere die 1960er Jahre
stellten – infolge der vermehrten Zahlungen der Militärs an die Ozeanografie –
eine Boomzeit der Meeresforschung dar, die dazu führte, dass mehr Kenntnisse über den Ozean gewonnen werden konnten und damit auch zivile
Projekte eher realisierbar waren.35
Dies zeigte sich 1969 in der Gründung der bundesstaatlichen Meeresbehörde
der USA, der National Oceanic and Atmospheric Agency (NOAA). Dem war
eine zehn Jahre andauernde Folge von Gesetzesinitiativen und Beschlüssen des
US-Repräsentantenhauses und des US-Senates vorausgegangen. Die Flut an
Gesetzen zur Förderung der Meeresforschung begann am 5. September 1959,
34 Marti Mueller, Oceanography. Who Will Control Cobb Seamount?, in: Science 161. 1968,
S. 252 f.
35 Jacob Darwin Hamblin, Oceanographers and the Cold War. Disciples of Marine Science,
Seattle 2005.
392
Sven Asim Mesinovic
als Warren G. Magnuson im Senat den „Marine Sciences and Research Act“
einbrachte.36 Dabei waren zwei Gründe für eine aktive nationale Meeresforschungspolitik ausschlaggebend: Zum einen waren dies die Geschehnisse um
die internationale Seerechtsdebatte. 1958 hatte in Genf die erste Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen stattgefunden, die erstmals die Kontinentalschelfe – unterseeische, aber geologisch den Kontinenten zugehörige
Landmassen – der Hoheit der angrenzenden Küstenländer zugesprochen
hatte. Die internationalen Debatten über eine mögliche Unterstellung des
Meeresbodens der internationalen See unter Aufsicht der Vereinten Nationen
setzten die Amerikaner aber unter Druck.
Der zweite, wichtigere Grund resultierte aus der US-Innenpolitik. Politiker in
den USA fürchteten einen zweiten Sputnik-Schock, die Wiederholung einer
technologischen Unterlegenheit gegenüber der Sowjetunion. Deshalb sprach
man auch von einer „nassen NASA“, die gegründet werden sollte. Bereits am
10. November 1957 – im Gründungsjahr der NASA – wurde in der National
Academy of Sciences eine Abteilung zur Meeresforschung gegründet
(NASCO). Am 15. Februar 1959 brachte die NASCO den zwölfbändigen Report
„Oceanography 1960 – 1970“ heraus, der ein meerespolitisches Programm für
die nächsten zehn Jahre entwarf. Die Hauptforderung des Berichts war eine
Verdoppelung der Ausgaben für grundlagenorientierte Meeresforschung. Die
NASCO hatte während ihrer Meetings Kongresspolitiker wie Senator Warren
G. Magnuson eingeladen. Dieser bemühte sich erfolgreich um eine verbesserte
Förderung der Meerespolitik. Die Resolution, die er angestoßen hatte, wurde
vom Kongress einstimmig angenommen.37
Bald folgten weitere Anträge im US-Kongress zur Förderung der Meeresforschung.38 Am 13. Februar 1961 brachte George P. Miller im Repräsentantenhaus einen Gesetzesvorschlag ein, den „Oceanographic Act of 1961“, der die
Gründung einer neuen Expertenkommission vorsah, die den US-Kongress im
Zuge einer neu zu gestaltenden meerespolitischen Gesetzgebung beraten
sollte. Dieses Verfahren lief nach dem Vorbild des National Aeronautic and
Space Council ab, aus dem einst die amerikanische Raumfahrtbehörde
hervorgegangen war. Unter einer verbesserten Meerespolitik verstand der
„Oceanographic Act“ die Schaffung eines Meeresforschungsprogramms, die
bessere Koordination der Bundesbehörden, die sich bislang mit Meerespolitik
36 NARA, Marine Sciences and Research Act.
37 Ebd.
38 George P. Miller schlug am 15. Februar 1960 im Repräsentantenhaus vor, eine neue
föderale Organisation eines Oceanographic Surveys zu schaffen (H. R. 10412). Am
17. Juni 1960 stellte Overton Brooks im Repräsentantenhaus den Gesetzesantrag,
innerhalb der National Science Foundation ein Spezialkommittee zur Marine Science zu
etablieren, mit der Aufgabe, mit bundesstaatlichen Mitteln die Meereswissenschaften zu
fördern (H. R. 12700). Am 28. 6. 1961 wurde der „Marine Sciences and Research Act“ im
Senat verabschiedet.
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Globale Güter und territoriale Ansprüche
393
befasst hatten, die Gründung einer zentralen Datensammelstelle, die Beteiligung des Smithsonian Institutes und die Pflicht der jährlichen Berichterstattung vor dem Kongress.39 1966 wurde der „Marine Resource and Engineering
Development Act“ vom Repräsentantenhaus und vom Senat verabschiedet und
schließlich im Mai desselben Jahres von Präsident Lyndon B. Johnson
unterzeichnet. 1967 legten dann sowohl COMSER als auch die (nach ihrem
Vorsitzenden benannten) Stratton Commission einen ersten Zwischenbericht
vor. Doch die beiden Gremien kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, die in
der Organisationsstruktur begründet waren. Während COMSER als ein vom
US-Präsidenten eingesetztes Gremium über ausgewiesene Fachleute mit
Expertenwissen verfügte, musste die Stratton Commission auf externe
Experten zurückgreifen. Entsprechend waren ihre Empfehlungen sehr weit
gefasst und ohne viel Wissen um die Möglichkeiten einer Umsetzung zustande
gekommen.
IV. Förderung von Meeresforschung in der Bundesrepublik
Die bundesdeutsche Meerespolitik unterschied sich von der US-amerikanischen; gleichzeitig war aber die Bundesrepublik eng an den Bündnispartner
gebunden. Ein Interessenkonflikt von Meeresforschung und Territorialfrage
zwischen den Bündnispartnern mit ihren unterschiedlichen Auffassungen
zeigte sich bereits am 20. Januar 1964. An diesem Tag ersuchten die USamerikanischen Firmen Caltex und American Overseas Petroleum Ltd. sowie
das von deutschen Firmen getragene Nordseekonsortium um eine staatliche
Erlaubnis zur Exploration von Erdöl in den vor der Küste der Bundesrepublik
Deutschland liegenden Kontinentalschelfen.40
Zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch kein Gesetz, das sich mit einem solchen
Vorhaben befasste, und so konnten die Behörden der Bundesrepublik den
Antrag der Firmen auf Explorationen weder lizenzieren noch verbieten.41 Um
künftige territoriale Ansprüche abzusichern, verkündete die Bundesrepublik
Deutschland schon am 22. Januar 1964 die sogenannte Festlandproklamation,
eine Erklärung, die explizit den Hoheitsanspruch der Bundesrepublik auf die
39 NARA, RG 303, Records of the National Council on Marine Resources and Engineering
Development (COMSER), Oceanographic Act, 13. 2. 1961, S. 1 – 108.
40 O. A., Neue Konzessionen für Bohrungen in der Tiefsee, in: Die Welt, 30. 3. 1965.
41 Dedo von Schenck, Die Festlandsockel-Proklamation der Bundesregierung vom
20. 1. 1964, in: Walter J. Schütz (Hg.), Aus der Schule der Diplomatie. Beiträge zu
Außenpolitik, Recht, Kultur, Menschenführung. Festschrift zum 70. Geburtstag von
Peter H. Pfeiffer, Düsseldorf 1965, S. 485 499.
394
Sven Asim Mesinovic
der bundesdeutschen Küste zugehörigen Kontinentalschelfe festsetzte.42 Dieser Festlandproklamation folgte am 24. Juli 1964 das „Gesetz zur vorläufigen
Regelung der Rechte am Festlandsockel“, das die Gewinnung von Bodenschätzen aus dem Meer regelte.43
Dies zeigt deutlich, dass die Bundesrepublik Deutschland und die USA die
Meeresbodeneroberung sowohl aus politischen als auch aus wirtschaftlichen
Gründen vorantrieben. Ein Aspekt dieser Eroberung bestand im Bau von
Unterwasserlaboratorien: Man glaubte, dass ein bemanntes Habitat politisch
die Aussichten auf eine Aneignung der noch nicht verteilten Fläche verbessere.
Der Nutzen einer politischen Aneignung des Meeresbodens war die wirtschaftliche Ausbeutung der dortigen Ressourcen.
So listete am 17. August 1967 ein Ministeriumsvermerk die Gründe für die
Förderung der Meereswissenschaften für den Bundeshaushaltsplan 1968 auf:
Meereswissenschaft sei als Nahrungsmittelreservoir angesichts der Weltbevölkerungsexplosion wichtig, zudem gebe es Rohstoffe im Meeresboden. Des
Weiteren wurde auf nationale Meeresforschungsbehörden in anderen Ländern
verwiesen: auf das COMSER, auf das Natural Environment Research Council
Großbritanniens und das Centre National pour l’Exploration Ocanographique Frankreichs. Der Vermerk endete mit dem Hinweis, dass gerade der
Wettbewerb zwischen den industrialisierten Staaten (inklusive der UdSSR)
eine rechtzeitige Präsenz auf dem Meeresboden notwendig mache. Deshalb sei
es unumgänglich, den Meeresboden technologisch zu erobern – gerade im
Hinblick auf die ungeklärte Rechtslage der Ausbeutung der Meere. Hier wird
ein Ziel der Förderung der Meeresforschung genannt: die Kontrolle des
Meeresbodens, um etwaige Völkerrechtsabkommen zur Nutzung des Meeresbodens zu beeinflussen.44
Die Förderung des Unterwasserlaboratoriums Helgoland fiel in eine neue,
ökonomisch ausgerichtete und zentralstaatlich organisierte Wissenschaftspolitik der Bundesrepublik. Die Zentralisierung und Ökonomisierung der
Wissenschaftspolitik verband sich mit der Debatte um die unentdeckten
42 Bekanntmachung der Proklamation der Bundesregierung über die Erforschung und
Ausbeutung des deutschen Festlandsockels vom 22. Januar 1964, in: Bundesgesetzblatt
1964, Teil 2, Nr. 5 vom 6. 2. 1964, S. 104, http://www.bgbl.de.
43 Der erste Paragraf vermerkte: „Die Aufsuchung von Bodenschätzen des deutschen
Festlandsockels im Sinne der Proklamation der Bundesregierung vom 20. Januar 1964
(Bundesgesetzblatt II, S. 104), die Gewinnung solcher Bodenschätze und jede mit Bezug
auf den Festlandsockel an Ort und Stelle vorgenommene Forschungshandlung sind
verboten, soweit sie nicht nach § 2 vorläufig erlaubt werden.“ Gesetz zur vorläufigen
Regelung der Rechte am Festlandsockel vom 24. 7. 1964, in: Bundesgesetzblatt 1964,
Teil 1, Nr. 38 vom 29. 7. 1964, S. 497.
44 BArch, B 138 / 7085, Referat II 8, Vermerk: Förderung der Meeresforschung, Ergänzende
Begründung zu Kap. 3102, Tit. 671 neu des Voranschlags des Bundeshaushaltsplans
1968, 17. 8. 1967, S. 2 – 6.
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Globale Güter und territoriale Ansprüche
395
Schätze des noch als frei geltenden Meeresbodens. Ebenso wie in den
Vereinigten Staaten entwarfen Politiker in der Bundesrepublik nationale
Meeresforschungsprogramme.
Die Frage, ob die Bundesrepublik direkt – und nicht mehr nur indirekt über die
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Meeresforschung fördern solle,
war bereits entschieden: Am 9. Juli 1969 hatte das Bundeskabinett ohne
weitere Aussprache – nach Vorlagen des Bundesministers für wissenschaftliche Forschung vom 3. Juli 1969 und des Bundesministers für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten vom 4. Juli 1969 – das „I. Gesamtprogramm
Meeresforschung“ für die Jahre 1969 bis 1973 verabschiedet.45
Dieses Engagement der Bundesregierung für eine neue Meerespolitik hatte
sich schon ein Jahr zuvor angekündigt. Am 3. Mai 1968 hatte Gerhard
Stoltenberg, damals Minister für wissenschaftliche Forschung der Bundesrepublik, in einer Rede in Kiel von den großen Chancen der Meereseroberung
gesprochen und dabei auch Unterwasserlaboratorien erwähnt:
Auch das Leben unter dem Meer ist nicht mehr als zukunftsferne Vision zu sehen. An vielen
Stellen werden Druckkammern geplant und getestet, die einen längeren stationären
Aufenthalt des Menschen unter Wasser erlauben, was wiederum eine wichtige Voraussetzung
für eine weitergehende Nutzung des Meeres ist.46
Von der Notwendigkeit der Meeresforschung und der Anpassung des Menschen an ein Leben im Meer zum Zweck der Meeresnutzung war auch Gerhard
Stoltenberg überzeugt. Seine Worte fielen während einer Rede, die er anlässlich
der Unterzeichnung eines Verwaltungsabkommens hielt. Dieses Verwaltungsabkommen sah – auf der Basis eines Vertrages zwischen der Bundesregierung
und der Landesregierung von Schleswig-Holstein – die finanzielle Förderung
des Kieler Institutes für Meeresforschung durch den Bund vor. Auch wenn der
aus Schleswig-Holstein stammende Minister Stoltenberg seinem ursprünglichen Wunsch eines zentralen Meeresforschungsinstituts des Bundes in Kiel
nicht nähergekommen war, so erreichte er doch die herausgehobene Stellung
dieses Institutes durch Bundesgelder.47 Die Zunahme der bundesstaatlichen
Kompetenzen für die Forschungseinrichtungen kam auch in der Gesetzgebung
zum Ausdruck.
Die erste Sitzung der Kommission für Ozeanographie fand am 5. September
1968 in Bonn unter dem Vorsitz Gerhard Stoltenbergs statt. Ihr gehörten
45 E-Mail-Auskunft von Dr. Walter Naasner, BArch, Bearbeiter Edition Kabinettsprotokolle. Das Kabinettsprotokoll vom 9. Juli 1969 ist unveröffentlicht und als Verschlusssache eingestuft und deshalb nicht zugänglich.
46 BArch, B 138 / 7086, Der Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, Pressereferat,
2. 5. 1968.
47 Harald Steinert, Bundesanstalt oder Universitätsinstitut? Zur Situation der deutschen
Meeresforschung und des Kieler Institutes für Meereskunde, in: Handelsblatt,
15. 8. 1967.
396
Sven Asim Mesinovic
zudem fünf Vertreter anderer Ministerien, je ein Vertreter der vier norddeutschen Küstenländer (Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen),
die Leiter der im Besitz des Bundes befindlichen Institute für Meeresforschung
sowie zehn von der DFG zu bestimmende und zehn weitere Personen aus der
Wirtschaft und den Wissenschaften an. Knapp ein Jahr später, am 9. Juli 1969,
verabschiedete das Bundeskabinett das Gesamtprogramm Meeresforschung –
die „Zentralisierung“ der Meeresforschung fand ihren Abschluss. 1969 wurde
die zentralstaatliche Einflussnahme auf das Wissenschaftssystem durch die
Artikel 91a und 91b des Grundgesetzes festgelegt, 1975 einigten sich Bund und
Länder auf die Rahmenvereinbarung zur Forschungsförderung.48 Im selben
Monat, am 28. Juli 1969, begann die erste Mission des Unterwasserlaboratoriums Helgoland. Das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung
förderte das Unterwasserlaboratorium mit einer Million DM als einmalige
Investitionssumme auch aus wirtschaftspolitischen Gründen.49 So war das
Unterwasserlaboratorium Teil einer Wirtschaftspolitik, die sich viel von einer
künftigen Nutzung der Meere versprach.
Die Bundesrepublik betrieb in den 1970er und 1980er Jahren eine aktive
Energiepolitik. Sie beteiligte sich an Ölförderstätten, und bis zu ihrer
Auflösung 1998 bestand in der Bundesrepublik eine staatliche Ölförderexplorationsgesellschaft, DEMINEX. Diese war, wie Die Welt am 18. Juli 1998
anlässlich ihrer Auflösung schrieb, 1969 auf staatliche Initiative gegründet
worden mit dem Ziel, direkte Beteiligungen an Ölfördergebieten weltweit zu
erwerben.50
Das staatliche Interesse an einer Sicherung der Energiereserven schlug sich
auch in der Meeresforschungspolitik der Bundesrepublik nieder. Im Jahre 1972
brachte das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (das 1969 aus
dem vormaligen Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung hervorgegangen war) das „II. Gesamtprogramm Meeresforschung und Meerestechnik in der Bundesrepublik Deutschland“ heraus.51 Die sogenannte
rohstoffbezogene Meeresforschung war einer der Hauptpfeiler der Forschungsförderung in der Bundesrepublik. Dies ergab sich durch ihre geopolitische Lage. Der Vorsitzende der Deutschen Geologischen Gesellschaft,
48 Helmuth Trischler, Die „amerikanische Herausforderung“ in den „langen“ siebziger
Jahren. Konzeptionelle Überlegungen, in: Gerhard A. Ritter u. Margit Szöllösi-Janze
(Hg.), Antworten auf die amerikanische Herausforderung. Forschung in der Bundesrepublik und der DDR in den „langen“ siebziger Jahren, Frankfurt 1999, S. 11 – 18, hier
S. 15.
49 Archiv der Deutschen Forschungsgemeinschaft, DFG-Akten zum Vorgang Unterwasserlaboratorium Helgoland, Niederschrift über die Sitzung der ad hoc-Besprechungsgruppe Biologische Anstalt Helgoland, 9:30 – 13:30 Uhr, 15. 10. 1969, S. 5 – 10,
50 O. A., Ölförderer Deminex wird aufgelöst, in: Die Welt, 18. 7. 1998.
51 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Gesamtprogramm Meeresforschung,
S. 6.
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Globale Güter und territoriale Ansprüche
397
Professor Dr. Krebs, bat am 17. Januar 1972 Ministerialrat Dr. Wilckens vom
Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft um einen Vortrag auf der
Hauptversammlung der Deutschen Geologischen Gesellschaft in Braunschweig. Dieser sollte dort über die vom Ministerium geförderte rohstoffbezogene Meeresforschung sprechen. Dass man sich viel von den im Meeresboden verborgenen Rohstoffen erhoffte, wird aus zwei parlamentarischen
Anfragen des SPD-Bundestagsabgeordneten Klaus Konrad deutlich: Die erste
Anfrage betraf die mangelhafte Förderung und Zersplitterung der Meeresforschung, die zweite zielte auf Maßnahmen zur Zusammenarbeit mit der
Industrie.52
Die Bundesregierung beantwortete die erste Anfrage mit den Haushaltszahlen:
Die Aufwendungen des Bundes für Meeresforschung seien von 45 Millionen
DM im Jahre 1969 auf rund 75 Millionen DM im Jahre 1971 gestiegen. Auch
wenn die Vielfalt der naturwissenschaftlichen Disziplinen der Meeresforschung eine gewisse Aufspaltung in Landes- und Bundeskompetenzen ergebe,
sei doch eine gute Zusammenarbeit durch die deutsche Kommission für
Ozeanographie gegeben. Auf die zweite Anfrage antwortete die Bundesregierung mit Verweis auf das konkrete Vorhaben, nach mineralischen Rohstoffen
im Ausland zu suchen. Dieses Vorhaben – für das das Bundesministerium für
Bildung und Wissenschaft neun Millionen DM für 1972 bereitstelle – werde in
Zusammenarbeit mit der westdeutschen meerestechnischen Industrie und
ihrer Interessensvertretung, der Wirtschaftsvereinigung industrielle Meerestechnik e. V., betrieben.
Die rohstoffbezogene Meeresforschung der Bundesrepublik manifestierte sich
in der Valdivia-Expedition. Sie diente vor allem der technischen Entwicklung,
um Rohstoffe aus dem Meeresboden zu fördern. Vom 6. August bis zum
4. Dezember 1971 sowie 1972 und 1973 suchte die Bundesanstalt für Bodenforschung in Hannover mit dem vom Bundesministerium für Bildung und
Wissenschaft gecharterten Schiff „Valdivia“ im Kontinentalschelf vor der
afrikanischen Küste nach Rohstoffen. Die meerestechnische Industrie der
Bundesrepublik war auch daran beteiligt. Schon am 12. Juni 1970 hatte das
Vorstandsmitglied der Preussag AG, Günther Saßmannshausen, Wilckens
darüber informiert, dass zwischen der Preussag und dem äthiopischen
Bergbauministerium ein Vertrag unterzeichnet worden sei. Dieser räume der
Preussag AG das alleinige Recht zur Erforschung der äthiopischen Küste für
einen Zeitraum von 18 Monaten ein.53 Die Preussag AG gründete zusammen
mit der Metallgesellschaft und der Salzgitter AG im Dezember 1972 die AMR,
die Arbeitsgemeinschaft meerestechnisch gewinnbarer Rohstoffe. Die Notwendigkeit zur Gewinnung dieser Rohstoffe im Meer begründete Hans
52 BArch, B 196 / 07281, Ministerbüro, Beantwortung der Anfrage des Abgeordneten Klaus
Konrad, 25. 2. 1972.
53 BArch, B 196 / 07310, Betr. Expedition Erzschlämme im Roten Meer, 12. 6. 1970.
398
Sven Asim Mesinovic
Amann, Leiter der Abteilung Meerestechnik der Preussag AG, in einer
Pressemitteilung vom 28. Februar 1973 mit einer sich weltweit abzeichnenden
Energieknappheit und dem Interesse großer Erdölkonzerne an neuen Bohrungen in Tiefwassergebieten. Ferner hob Amann hervor, die Untersuchungen
zur Sicherung der Rohstoffbasis der Bundesrepublik Deutschland würden vom
Bundesministerium für Wirtschaft mit bedingt rückzahlbaren Krediten
gefördert.54
Dass die Gewinnung von Rohstoffen für ein importabhängiges Land wie die
Bundesrepublik bedeutend sei, betonte auch Horst Schröder, Bundestagsabgeordneter der CDU, in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt vom 4. Juli
1973.55 Schröder beklagte in seinem Kommentar vor allem die 50-prozentige
Kürzung der im Gesamtprogramm Meeresforschung vorgesehenen Investitionssummen. Denn im Rahmen der Umorientierung der Forschungspolitik
habe die Meerestechnik eine erhebliche Bedeutung. So sei es ratsam, ähnlich
wie in der Kernforschung und Kerntechnik, die Ausgaben im Bereich von
Meeresforschung und Meerestechnik voneinander zu trennen.
Die Debatten um die rohstoffbezogene Meeresforschung spielten sich vor dem
Hintergrund der internationalen Neuregelung der Nutzung der Weltmeere ab.
Der seit 1967 bestehende Meeresbodenausschuss der Vereinten Nationen war
1973 aufgelöst worden. Im Dezember 1973 fand die Auftaktkonferenz zur
Meeresbodenfrage in New York statt, die den eigentlichen Konferenzbeginn
auf den 20. Juni 1974 in Caracas festlegte (138 Länder nahmen letztlich an der
Konferenz teil).56 Die Fragen der Nutzung des Meeresbodens verbanden sich
mit Fragen der Rohstoffnutzung und dem Wachstum der Weltbevölkerung. So
mag es kein Zufall sein, dass im selben Jahr 1974 die Weltrohstoffkonferenz in
New York eröffnet wurde, im August sich die Teilnehmer der Weltbevölkerungskonferenz in Bukarest einfanden und im November die Welternährungskonferenz in Rom das Karussell der internationalen Treffen abschloss.
Doch die Dritte Seerechtskonferenz endete zunächst am 29. August 1974. Erst
zwei Jahre später wurde sie in Genf weitergeführt.
V. Angst des kolonialen Zuspätkommens? Die
Bundesrepublik und der Zugang zum Meeresboden
Über die Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen diskutierte der
Deutsche Bundestag am 2. Juli 1976. Auch die Medien beteiligten sich an dieser
Debatte um Rohstoffe. Die Wochenzeitschrift Die Zeit befürchtete eine
Benachteiligung des Kurzküstenstaates Bundesrepublik Deutschland: „Wird
54 BArch, B 196 / 07282, Pressemitteilung Preussag berichtet, 28. 2. 1973.
55 Horst Schröder, Für die Meerestechnik mehr Propaganda als Geld. Bundesregierung hat
die Mittel um 50 Prozent gekürzt, in: Handelsblatt, 4. 7. 1973.
56 Wolfgang Graf Vitzthum, Der Meeresboden, in: Vereinte Nationen 22. 1974, S. 129 135.
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Globale Güter und territoriale Ansprüche
399
die Bundesrepublik von den Schätzen der Tiefsee ausgeschlossen? Kampf um
den Meeresboden“, lautete die Überschrift des Artikels über die Dritte
Seerechtskonferenz.57 Manganknollen auf dem Grund des Meeresbodens seien
die neuen Schlüsselrohstoffe und die Wirtschaftlichkeit ihres Abbaus so gut
wie sicher. Nun drohe Gefahr durch die auf der Seerechtskonferenz geplante
Einrichtung einer Meeresbodenabbaubehörde unter der Kontrolle der Entwicklungsländer.
Die Sichtweise, dass die Bundesrepublik im Wettlauf um die Schätze des
Meeresbodens zu kurz kommen könnte, wurde sowohl von den bundesdeutschen Parlamentariern als auch von den Medien geteilt. In der 257. Sitzung des
7. Bundestages vom 2. Juli 1976, die aufgrund einer großen Anfrage der
CDU / CSU-Bundestagsfraktion einberufen worden war, warfen die Oppositionsparteien CDU und CSU der Regierungskoalition von SPD und FDP
Versagen bei der Verhandlungsführung der Dritten Seerechtskonferenz vor.58
Sie bezeichneten diese als Meeresaufteilungskonferenz. Ferner warfen sie der
Bundesregierung vor, dieser Aufteilung nicht Einhalt geboten zu haben. Die
Bundesrepublik sei als Exportnation und gleichzeitig als rohstoffarmer
Kurzküstenstaat sowohl auf die freie Nutzung der Meere als auch auf die
Nutzung der Ressourcen im Meeresboden angewiesen. Auf der Konferenz
hätten hingegen zwei große Gruppen das Verhandlungsergebnis bestimmt:
zum einen die Dirigisten, die eine neue Wirtschaftsordnung in Bezug auf die
Verwaltung des Meeresbodens durchsetzen wollten, und zum anderen die
Wirtschaftsnationalisten, die eine Ausweitung der nationalen Schutzzonen auf
Kosten der internationalen See wollten – beides zum Nachteil der Interessen
der Bundesrepublik.
Die Vertreter der Bundesregierung, unter ihnen Außenminister Hans-Dietrich
Genscher und Jürgen W. Möllemann, rechtfertigten ihr Verhandlungsergebnis
als Kompromiss. Außenminister Genscher betonte, dass nicht nur die
Entwicklungsländer die Einrichtung einer 200-Seemeilen-Zone anstrebten,
sondern eben auch die USA („unser Hauptverbündeter“), die dies bereits in
ihre Gesetzgebung aufgenommen hätten. Ferner stellte er einen „Wechsel in
der Weltpolitik“ fest, den er vor dem Hintergrund zweier Herausforderungen
erklärte: der ansteigenden Weltbevölkerung und der Ressourcenfrage. Beide,
so Genscher, bedrohten die Interessensphäre der Staaten: „Neue Territorien
unter Wasser rücken mit einem außerordentlichen und heute eben erschließbaren Reichtum an Naturschätzen in die Interessensphäre der Staaten ein.“
Explizit erwähnte der Außenminister, dass die Bundesregierung von jeher
„gegen eine monopolistische internationale Meeresbodenbehörde“ gewesen
sei und sich deshalb auf der Konferenz um eine revidierte Fassung des
Beschlusses zu einer Meeresbodenbehörde bemüht habe. Auch teile die
57 Wolfgang Hoffmann, Kampf um den Meeresboden, in: Die Zeit, 30. 7. 1976.
58 Bundestagsdrucksache 7 / 5120.
400
Sven Asim Mesinovic
Bundesregierung die Forderung der Opposition, dass sich eine Meeresbodenbehörde nur um den Meeresboden und nicht um die Wassersäule und den
Luftraum darüber kümmern dürfe. Schließlich brachte Genscher seine
Hoffnung auf einen freien Zugang zu den Rohstoffen des Tiefseebodens,
einen ungehinderten Seeverkehr sowie eine freie wissenschaftliche Meeresforschung zum Ausdruck.59
Diese Forderungen wurden auch von der Opposition unterstützt. Anträge
forderten einen freien Zugang zu den Rohstoffen im Meeresboden und eine
freie, nicht durch Kontrolle eingeengte Meeresforschung. Der SPD-Abgeordnete Horst Grunenberg bezog sich auf die Schlagworte, die die Debatte damals
beherrschten. Zu diesen Schlagworten zählten das Ende des kolonialen
Zeitalters, das Geraune um die zu erwartenden Schätze im Meeresboden, die
Angst vor einem drohenden Bevölkerungszuwachses sowie die Hoffnung, das
Plankton des Meeres als neue Nahrungsquelle gewinnen zu können. Aus
diesem „Dreiklang“ von Dekolonialisierung, neuen Schätzen im Meer und
Bevölkerungszuwachs bestand der Meeresbodendiskurs der 1960er Jahre.60
Interessanterweise verwarfen die im Parlament vertretenen Parteien die Idee
der Einrichtung einer Meeresbodenabbaubehörde, die innerhalb der Gremien
der Vereinten Nationen diskutiert worden war und schließlich 1982 in die
Gründung einer solchen UN-Behörde mündete. Sowohl die Redner der
Opposition als auch diejenigen der Regierung blieben in ihren Diskussionsbeiträgen in der Struktur der Debatte über die Eroberung des Meeres gefangen.
Die Vertreter beider Gruppen sahen im Meeresboden vor allem ein noch zu
eroberndes, freies Land, das aufgrund der dort vermuteten Rohstoffe Vorteile
versprach. Die Bundesrepublik als exportorientierter und rohstoffarmer Staat
interessierte sich hauptsächlich für die Möglichkeit, Rohstoffe außerhalb des
Bundesgebietes zu gewinnen. Ihr erschienen die farbigen Schilderungen der
neuen Meeresbodenschätze umso verlockender, da diese sich in den noch
nicht verteilten Gebieten der internationalen See befanden.61 Die Rede von der
„rohstoffbezogenen Meeresforschung“ geriet zum Schlagwort der Meeresforschungsdebatten in der Bundesrepublik.
In den USA ergab sich ein anderes, komplexeres Bild: Zum einen waren die
USA, anders als Deutschland, nicht willens, sich internationalen Vereinbarungen der Seerechtskonferenzen zu beugen. Obgleich hier die Einstellung
wankte, arbeiteten die USA doch in den ersten Konferenzen mit, während sie
die abschließende Vereinbarung zur Regelung der Nutzung des Meeresbodens
nicht unterschrieben. Zum anderen wurde in den USA die Eroberung des
Meeres viel stärker mit der Weltraumeroberung verknüpft – aus dem einfachen
59 Hans-Dietrich Genscher, Bundesregierung. Fortführung konstruktiver Politik, in: Das
Parlament, 31. 7. 1976, S. 2.
60 Karl-Heinz Narjes, Probleme zu spät erkannt, in: ebd., S. 4.
61 Genscher, Bundesregierung, S. 2.
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Globale Güter und territoriale Ansprüche
401
Grund, dass das Budget der Raumfahrt der USA das der Bundesrepublik um
ein Vielfaches überstieg.62 Dennoch konnten sich auch die USA der internationalen Debatte um eine Eroberung des Meeres nicht entziehen. So gab es
Streitigkeiten zwischen Washington und dem Staat Kalifornien über die
Rechte der Meeresbodenschätze vor der Küste Kaliforniens, der zugunsten des
Bundesstaates entschieden wurde.
VI. Fazit: Die USA, die Bundesrepublik Deutschland und das
Ende der Freiheit der Meere
Um den Meeresboden entbrannte ein Verteilungskampf, der nicht nur mit
juristischen, sondern auch mit wissenschaftspolitischen Mitteln geführt
wurde. Dazu gehörte auch die Etablierung von Unterwasserlaboratorien.
Sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik verband sich die Eroberung
des Meeresbodens mit der staatlichen Förderung der Unterwasserlaboratorien. Die Nutzung der in die Kontinentalschelfe reichenden Erzlagerstätten
erfasste die politischen Diskussionen in den USA als Teil eines globalen
Diskurses um erhoffte Reichtümer des Meeres. Diese Aussichten verstärkten
zudem zu einem nicht unerheblichen Teil die völkerrechtliche Debatte um die
Hoheitsrechte der Kontinentalschelfe. Die praktische Entwicklung des Sättigungstauchens und die Unterwasserlaboratorien waren so Teil der technologischen, rechtlichen und politischen Aneignung des Meeresbodens. Diese
Aneignung der außerhalb der nationalen Grenzen liegenden Meeresbodengebiete ließ sich nicht abtrennen von der völkerrechtlichen Debatte um das
Besitzrecht dieser Gebiete, ging es doch auch darum, mögliche Investitionen
von Technologieunternehmen zu schützen. Sowohl die USA als auch die
Bundesrepublik beteiligten sich auch an dem Verteilungskampf um internationale Vorkommen im Meeresboden.
Die Förderung des deutschen Unterwasserlaboratoriums Helgoland muss vor
dem Hintergrund des Bemühens um eine Zentralisierung und Politisierung
der Meeresforschung sowie der „Eroberung“ bislang noch nicht der nationalen
Herrschaft unterstellter Räume wie Meeresboden und Weltraum gesehen
werden.
Die zeitgenössischen Debatten zeigen, dass die Vertreter staatlicher Organe –
in enger Zusammenarbeit mit deutschen Ozeanografen – unbedingt am
internationalen Wettbewerb um die Ausbeutung der Rohstoffe des internationalen Meeresbodens teilnehmen wollten. Die Förderung der Rohstoffe in
einem nicht staatlicher Herrschaft unterstellten Bereich erschien besonders
für ein rohstoffarmes Land wie die Bundesrepublik attraktiv. Doch benötigten
diese Gebiete technologische Habitate, die dem Menschen das Überleben
62 Jasanoff, Image and Imagination, S. 326 f.
402
Sven Asim Mesinovic
sicherten. Die Frage, wer über diese Räume verfügen dürfe, verband sich mit
diesen technologischen Raumerprobungen.
Ferner stützte im Fall der Bundesrepublik das wirtschaftspolitische Argument
des „technological gap“ die Notwendigkeit des Baus eines Unterwasserlaboratoriums, die Behauptung, dass der Abstand zwischen den westeuropäischen
Staaten und den USA auf dem Gebiet der Hochtechnologie wie Computer oder
Flugzeuge durch eine geringere Binnennachfrage in den westeuropäischen
Staaten verursacht werde. Der erste Bundesforschungsbericht von 1965
betonte, dass die Ausgaben der USA 15-mal höher seien als die der
Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs.63 Daraus folgerte man einen
direkten Zusammenhang zwischen den Ausgaben eines Staates für Forschung
und Entwicklung und seinem ökonomischen Erfolg. So wuchs insbesondere
im Zeitraum von 1965 bis 1975 in der Bundesrepublik der Einfluss des Bundes
auf die Wissenschaftsförderung. Die Bundesrepublik konzentrierte sich auf
Wissenschaftsförderung auch als Ersatz für eine Territorialpolitik, während
US-amerikanische Meerespolitik ebenfalls durch den Kontext der internationalen Debatte um die Eroberung der Meere geprägt war. Letztere zeigte eine
stark durch die militärische Bedeutung des Meeres geprägte Forschungspolitik, die dann aber auch Antworten suchte auf die von ihr ausgelöste
internationale Rechtsdebatte um die Eroberung und Kolonisierung des
Meeres. Ohne die von den USA nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges
stark forcierte Aufwertung und den damit ausgelösten Boom der Meeresforschung hätte es nicht die Frage über die Kolonisierung des Meeres gegeben.
Beide Staaten reagierten auf die „drohende“ Internationalisierung des Meeresbodens durch die Gremien der Vereinten Nationen, indem sie in Meeresforschung und Meerestechnik investierten. Da jedoch zum Ende der Seerechtskonferenzen die Grenzen der Nationalstaaten stark auf die Meere
ausgeweitet wurden, entfiel die Notwendigkeit einer realen Aneignung des
Meeresbodens. Zumal auch die technologische Förderung sehr tief gelegener
Gebiete in internationalen Gewässern schwierig blieb. Damit schien die
Förderung von Unterwasserlaboratorien nicht mehr notwendig zu sein.
Dr. Sven Asim Mesinovic, Osloer Straße 118, 13359 Berlin
E-Mail: [email protected]
63 Hariolf Grupp u. Barbara Breitschopf, Innovationskultur in Deutschland. Qualitäten
und Quantitäten im letzten Jahrhundert, in: Peter Weingart u. Niels C. Taubert (Hg.),
Das Wissensministerium. Ein halbes Jahrhundert Forschungs- und Bildungspolitik in
Deutschland, Weilerswist 2006, S. 169 199, hier S. 175 f.
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„Dem Krill auf der Spur“
Antarktisches Wissensregime und globale
Ressourcenkonflikte in den 1970er Jahren
von Christian Kehrt
Abstract: In the context of global resource issues that were high on the political agenda
in the 1970s Krill brought together stakeholders from science, politics and economics.
This little shrimp-like crustacean near the bottom of the food chain did not only
promise to provide enough protein for a growing world population. It also paved
Germany’s way into the Antarctic Treaty System and led to the foundation of the
Alfred-Wegener-Institute for Polar and Marine Research in 1981. Marine biologists
and fisheries scientists played a crucial role in this story. Their knowledge provides
access to this potentially immense resource and opened the door to the Antarctic
Treaty System.
In den 1970er Jahren waren deutsche Meeresforscher und Fischereiexperten
dem „Krill auf der Spur“.1 Der seit langem als Walnahrung bekannte
eiweißhaltige Kleinkrebs nimmt eine zentrale Rolle in der Nahrungskette der
Meere ein. In einer Zeit, in der die Grenzen mineralischer wie auch lebender
Ressourcen in den Fokus rückten, avancierte der antarktische Krill zu einem
Schlüsselobjekt, das verschiedene Akteure aus Politik, Wissenschaft und
Wirtschaft im Kontext globaler Ressourcenfragen miteinander verband. Mit
seiner gigantischen Biomasse von schätzungsweise über 500 Millionen Tonnen
pro Jahr verhieß er, die Welternährungsproblematik und Überfischung der
Meere zu lösen und neue, nahezu unerschöpfliche Nahrungsressourcen zu
erschließen. Der antarktische Krill sollte durch aufwändige und kostenintensive wissenschaftliche und lebensmitteltechnische Forschung als Nahrungsalternative zu den überfischten Beständen der Weltmeere entwickelt werden
und als Fertig- oder Zwischenprodukt in Form von Suppen, Cremes oder
fischähnlichen Gerichten seinen Weg in die Küchen vor allem der Dritten Welt
finden.2 Zugleich eröffnete diese potentiell globale Nahrungsressource der an
sich nicht an Eiweißmangel leidenden Bundesrepublik die Möglichkeit,
1 So lautete der Titel eines Dokumentarfilms über die erste deutsche Krillexpedition im
Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie: Dem Krill auf der
Spur, Terra KG, BRD 1978.
2 Im Folgenden verzichte ich auf den Verweis, dass die Begriffe „Entwicklungsländer“ und
„Dritte Welt“ die westliche Perspektive beschreiben und verwende die Termini als
Quellenbegriffe.
Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 403 – 436
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
404
Christian Kehrt
deutsche Interessen in globalen Ressourcenfragen zu wahren, die auf der
weltpolitischen Bühne der Antarktis- und Meerespolitik verhandelt wurden.
Krillforschung, so die Grundannahme dieses Beitrags, war das ticket d’entre
der Bundesrepublik in das Antarktisvertragssystem. Im Rahmen eines
globalen, politisch motivierten Wettstreits um Rohstoffe und Ressourcen
hatte Polarforschung eine wichtige, strategisch motivierte Platzhalterfunktion
für politische Interessen. Forschungsexpeditionen in die Antarktis verlangten
ein massives staatliches Engagement. Denn nur wer einen längerfristigen
wissenschaftlichen Beitrag leistete, zum Beispiel durch die Errichtung einer
Forschungsstation oder den Bau eines Forschungsschiffes, hatte Aussicht auf
Beitritt in den exklusiven Club der Antarktisvertragsstaaten, die über die
Nutzung und Erschließung der Antarktis entschieden. Im Folgenden wird
deshalb nach der strategischen Rolle von Umweltwissen im Kontext globaler
Ressourcenkonflikte in den 1970er Jahren am Beispiel der antarktischen
Krillforschung gefragt. Welche politischen Motive verband die Bundesrepublik mit der Antarktis und welche Rolle spielten der antarktische Krill und die
Fischereiexperten auf nationaler und internationaler forschungspolitischer
Bühne? Von besonderem Interesse ist dabei das sich im Spannungsfeld von
Ökonomie und Ökologie herausbildende Wissensregime, das durch deutsche
Akteure der Krillforschung mitgestaltet wurde.3 Wissen war ein machtpolitischer Faktor, der die Erschließung knapper natürlicher Ressourcen ermöglichte und damit über Handlungschancen und die Verteilung von Reichtum im
globalen Maßstab entschied. Ein Blick auf die deutsche Polarforschung
verspricht daher nicht nur einen neuen, wissens- und globalgeschichtlichen
Zugang zu den umwelt- und wirtschaftsgeschichtlichen Kernthemen der
Rohstoffe und Ressourcen, sondern auch ein besseres Verständnis der mit der
Polarforschung einhergehenden nationalen Interessen und Strategien, die im
Rahmen internationaler Regelungen und Kooperationen des Antarktisvertragssystems verhandelt und transportiert wurden.
Aus zeitgeschichtlicher Perspektive stellt sich die Antarktis als ein Wissensraum dar, in dem globale Problemfelder des Kalten Krieges, der Grenzen des
Wachstums, der Welternährung und auch der Fragilität der Umwelt sichtbar
werden.4 Das im Kontext geopolitischer Konfliktkonstellationen des Kalten
Krieges begründete Antarktisvertragssystem erfuhr in den 1970er und 1980er
Jahren eine neue Dynamik, die sich durch das gesteigerte Interesse an
potentiellen antarktischen Rohstoffen, wie Fisch, Krill, Gas, Uran, Öl, Kohle
3 Vgl. Peter Wehling, Wissensregime, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 704 – 712.
4 Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wurde die Antarktis durch den Antarktisvertrag
am 1. 12. 1959 als atomwaffenfreie Zone erklärt, um mögliche Atomtests oder die
Ablagerung von Atommüll in der Eiskappe zu verhindern. Auch territoriale Ansprüche
wurden ausgehebelt und in die Zukunft verlagert, um eine militärische Eskalation und
brisante territoriale Konflikte zu verhindern.
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„Dem Krill auf der Spur“
405
und Süßwasser, erklärt. Zugleich rückten in dieser Zeit ökologische Aspekte
und Fragen des Umweltschutzes auf die Agenda, sodass am Beispiel deutscher
Polarexpeditionen zentrale Debatten um den globalen Wissensraum Antarktis
sichtbar werden.5
Die Polarregionen haben nach dem Ende des Kalten Krieges im Kontext von
Ressourcenkonflikten und nicht zuletzt im Zuge der Debatten um den
anthropogenen Klimawandel eine große mediale Aufmerksamkeit erfahren.
Demgegenüber ist das zeitgeschichtliche Interesse an diesen globalen Wissensräumen zumindest in der deutschen Forschungslandschaft gering ausgeprägt. So fehlen Studien zu den 1970er und 1980er Jahren, in denen sich neue
umwelt- und wissenspolitische Konflikte und Problemfelder herauskristallisierten.6 Die Geschichte von Global Commons ist bislang nicht hinreichend
erforscht.7 Dagegen haben sich politik- und insbesondere völkerrechtliche
Ansätze früh mit staatsfreien Räumen und globalen Gütern befasst, ohne dabei
aber näher auf die Rolle von Wissen und die entsprechenden historischen
5 Zum Begriff der „langen 1970er Jahre“ vgl. Gerhard A. Ritter u. a. (Hg.), Antworten auf
die amerikanische Herausforderung. Forschung in der Bundesrepublik und der DDR in
den „langen“ siebziger Jahren, Frankfurt 1999; Helmuth Trischler, Hoffnungsträger
oder Sorgenkind der Forschungspolitik? Die bundesdeutsche Großforschung in den
„langen“ siebziger Jahren, in: Rüdiger vom Bruch u. Eckart Henning (Hg.), Wissenschaftsfördernde Institutionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Berlin 1999,
S. 200 – 214; Frank Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 81), München 2007, S. 57; Konrad H. Jarausch,
Zwischen „Reformstau“ und „Sozialabbau“. Anmerkungen zur Globalisierungsdebatte
in Deutschland, 1973 – 2003, in: ders. (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger
Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 330 – 349; Anselm Doering-Manteuffel, Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. Zur historischen Einordnung der
siebziger Jahre, in: ebd., S. 315 – 329; ders. u. Lutz Raphael, Nach dem Boom.
Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 20102.
6 Zum Begriff der Wissenspolitik vgl. Peter Wehling, Wissenspolitik, in: Rainer
Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz
2007, S. 694 – 703; Nico Stehr, Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens, Frankfurt
2003.
7 Vgl. John Vogler, The Global Commons. Environmental and Technological Challenges,
Chichester 20002 ; Cornelis Disco u. Eda Kranakis (Hg.), Cosmopolitan Commons.
Sharing Resources and Risks Across Borders, Cambridge, MA 2013; Melanie MorisseSchilbach u. Jost Halfmann, Wissen, Wissenschaft und Global Commons. Forschungen
zu Wissenschaft und Politik jenseits des Staates am Beispiel von Regulierung und
Konstruktion globaler Gemeinschaftsgüter (= Internationale Beziehungen, Bd. 17),
Baden-Baden 2012; Jürgen Renn (Hg.), The Globalization of Knowledge in History,
Berlin 2012; Jeremy Vetter, Introduction, in: ders. (Hg.), Knowing Global Environments.
New Historical Perspectives on the Field Sciences, New Brunswick, NJ 2011, S. 1 – 16,
hier S. 1.
406
Christian Kehrt
Kontexte einzugehen.8 Technopolitische Vernetzungen und transnationale
Wissensflüsse sind in jüngerer Zeit auf die Forschungsagenda gerückt, und
auch die Umwelt wurde als neues Themenfeld des Kalten Krieges entdeckt.9
Nach wie vor besteht jedoch ein Mangel an Studien zu europäischen Ländern
und der Sowjetunion.10 Die Antarktispolitik ist ein klassisches Thema der
Antarktisgeschichtsschreibung, die sich vorrangig auf die Jahrhundertwende
sowie die Frühphase des Antarktisvertragssystems konzentriert.11 Ferner
8 Vgl. Klaus D. Wolf, Internationale Regime zur Verteilung globaler Ressourcen. Eine
vergleichende Analyse der Grundlagen ihrer Entstehung am Beispiel der Regelung des
Zugangs zur wirtschaftlichen Nutzung des Meeresbodens, des geostationären Orbits,
der Antarktis und zu Wissenschaft und Technologie, Baden-Baden 1991; Rüdiger
Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume. Die Entwicklung einer internationalen Verwaltung für Antarktis, Weltraum, Hohe See und Meeresboden, Berlin
1984; ders. (Hg.), Antarctic Challenge. Conflicting Interests, Cooperation, Environmental Protection, Economic Development, Berlin 1984; Wolfgang Vitzthum, From the
Rhodian Sea Law to UNCLOS III, in: Helmut Steinberger u. Hans-Joachim Cremer
(Hg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin
2002, S. 351 – 373; Wolfgang Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens. Völkerrechtliche Probleme der Zuordnung und Nutzung des Grundes und Untergrundes der
Hohen See außerhalb des Festlandsockels (= Schriften zum Völkerrecht, Bd. 22), Berlin
1972; Seyom Brown u. a., Regimes for the Ocean, Outer Space, and Weather,
Washington, D. C. 1977.
9 John Krige, American Hegemony and the Postwar Reconstruction of Science in Europe,
Cambridge, MA 2008; ders. u. Kai-Henrik Barth, Introduction. Science, Technology and
International Affairs, in: Osiris 21. 2006, S. 1 – 21; Bernd Greiner, Macht und Geist im
Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick, in: ders. u. a. (Hg.), Macht und Geist im Kalten Krieg,
Hamburg 2011, S. 7 – 27, hier S. 14; John R. McNeill u. Corinna R. Unger, Introduction.
The Big Picture, in: dies. (Hg.), Environmental Histories of the Cold War, Cambridge
2010, S. 1 – 18; John R. McNeill, The Biosphere and the Cold War, in: Melvyn Leffler u.
Odd Arne Westad (Hg.), The Cambridge History of the Cold War, Bd. 3: Endings,
Cambridge 2010, S. 422 – 444; John R. McNeill u. Peter Engelke, Into the Anthropocene.
People and Their Planet, in: Akira Iriye (Hg.), Global Interdependence. The World After
1945, London 2014, S. 365 – 533.
10 Klaus Gestwa, Polarisierung der Sowjetgeschichte. Die Antarktis im Kalten Krieg, in:
Osteuropa 61. 2011, S. 271 – 289; ders. u. Stefan Rohdenwald, Verflechtungsstudien.
Naturwissenschaft und Technik im Kalten Krieg, in: Osteuropa 59. 2009, S. 5 – 15.
11 Zur Geschichte der Antarktisforschung nach 1945 vgl. Gordon E. Fogg, A History of
Antarctic Science, Cambridge 1992; Aant Elzinga, Antarctica. The Construction of a
Continent by and for Science, in: Elisabeth Crawford u. a. (Hg.), Denationalizing
Science. The Contexts of International Scientific Practice, Dordrecht 1993, S. 73 – 106;
Klaus Dodds, Geopolitics in Antarctica. Views from the Southern Oceanic Rim,
Chichester 1997; ders., Assault on the Unknown. Geopolitics, Antarctic Science and the
International Geophysical Year 1957 / 58, in: Simon Naylor u. James R. Ryan (Hg.), New
Spaces of Exploration. Geographies of Discovery in the Twentieth Century (= Tauris
Historical Geography, Bd. 2), London 2010, S. 148 – 172; Stephen J. Pyne, The Ice. A
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„Dem Krill auf der Spur“
407
wurden in jüngerer Zeit die Geschichte Grönlands im Kalten Krieg sowie die
Internationalen Polarjahre behandelt,12 wenngleich nicht aus Sicht der
Bundesrepublik oder der DDR.13 Im Unterschied zu den USA gibt es noch
keine zeithistorisch relevanten Arbeiten zur Klimageschichte, Meteorologie,
Meeresforschung, Geophysik oder auch Polarforschung der Bundesrepublik
oder DDR.14
Die Antarktis ist, wie der Weltraum oder der Meeresboden, ein staatsfreier,
nicht-territorialer Raum, der sich nationalen Besitzansprüchen entzieht und
ein spezifisches Regime und Zugangsbedingungen voraussetzt. Wissen und
die damit einhergehenden technisch-logistischen Infrastrukturen und länderübergreifenden wissenschaftlichen Kooperationen stellen hierbei die
zentralen Zugangsvoraussetzungen dar. Wissensgeschichtliche Ansätze, die
nach den über das System der Wissenschaften hinausgehenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bedeutungen von Wissen fragen,
eignen sich besonders zur Analyse von Umwelt- und Ressourcenfragen, da hier
außerwissenschaftliche Akteure, Anwendungskontexte, Interessen und KonJourney to Antarctica, Seattle 1998; Peter Abbink, Antarctica in the 1980s. Subject of
International Politics, in: Cornelia Lüdecke (Hg.), Steps of Foundation of Institutionalized Antarctic Research. Proceedings of the 1st SCAR Workshop on the History of
Antarctic Research, Bremerhaven 2007, S. 163 – 177; Simone Turchetti u. a., Accidents
and Opportunities. A History of the Radio Echo-Sounding of Antarctica, 1958 – 79, in:
British Journal for the History of Science 41. 2008, S. 417 – 444; Peder Roberts, The
European Antarctic. Science and Strategy in Scandinavia and the British Empire, New
York 2011; Adrian Howkins, Melting Empires? Climate Change and Politics in
Antarctica Since the International Geophysical Year, in: Osiris 26. 2011, S. 180 – 197;
ders., Frozen Empires. A History of the Antarctic Sovereignty Dispute Between Britain,
Argentina, and Chile, 1939 – 1959, Ph. D. Diss. University of Texas at Austin 2008.
12 Vgl. Matthias Heymann u. a., Exploring Greenland. Science and Technology in Cold War
Settings, in: Scientia Canadensis 33. 2011, S. 11 – 42; Janet Martin-Nielsen, Eismitte in
the Scientific Imagination. Knowledge and Politics at the Center of Greenland, New York
2013.
13 Roger D. Launius u. a., Globalizing Polar Science. Reconsidering the International Polar
and Geophysical Years, New York 2010; Susan Barr u. Cornelia Lüdecke (Hg.), The
History of the International Polar Years, Berlin 2010.
14 Auch ihre Rolle im Internationalen Geophysikalischen Jahr 1957 / 1958 wurde bislang
nicht erforscht. Allein Peter Abbinks politikwissenschaftliche Dissertation hat die
allgemeinen politischen Zusammenhänge der Polarforschung am Beispiel der Niederlande, Belgiens und Deutschlands vergleichend betrachtet. Klaus Fleischmanns informatives Buch über die deutsche Polarforschung nach 1945, das im Auftrag des AlfredWegener-Instituts verfasst wurde, verzichtete leider auf den Nachweis der verwendeten
Quellen. Vgl. Peter Abbink, Antarctic Policymaking and Science in the Netherlands,
Belgium and Germany (1957 – 1990) (= Circumpolar Studies, Bd. 6), Groningen 2009,
S. 10; Klaus Fleischmann, Zu den Kältepolen der Erde. 50 Jahre deutsche Polarforschung, Bielefeld 2005.
408
Christian Kehrt
fliktfelder ins Spiel kommen.15 Zugleich setzt die Nutzung von Ressourcen
wissenschaftliche und technische Expertise voraus, die die Bedingungen für
zukünftige Ressourcenexplorationen schaffen. Wie ein wissensgeschichtlicher
Ansatz für Ressourcenfragen fruchtbar gemacht werden kann, hat Rüdiger
Graf am Beispiel des Erdöls gezeigt.16 Frank Uekötter hat eine wissens- und
umweltgeschichtliche Studie der modernen Landwirtschaft vorgelegt und
Jakob Vogel sich mit den Hintergründen und Voraussetzungen der Industrialisierung und Verwissenschaftlichung des Salzabbaus befasst.17 Auch Wissen
um Eis und Schnee sowie das antarktische Ökosystem waren nicht allein von
grundlagenwissenschaftlichem Wert für die jeweiligen Teildisziplinen der
Glaziologie, Meeresbiologie, Ichthyologie, Meteorologie oder Geologie, sondern eng mit politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Motiven verbunden. Deshalb wird im Rahmen dieses Beitrages „Umweltwissen“ in einem
umfassenden Sinne verstanden, der sich auf die Wissensproduktion all jener
„Umweltwissenschaften“ wie der Geologie, der Geophysik oder auch der
Meeresforschung bezieht, und nicht nur Umweltschutzinteressen betrifft,
sondern auch militärische, ökonomische und politische Motive miteinschließt.
Zur wissensgeschichtlichen Analyse der mit der antarktischen Krillforschung
einhergehenden gesellschaftlichen Problemstellungen orientiert sich dieser
Beitrag an dem relativ neuen Begriff des „Wissensregimes“.18 Die Entstehung,
15 Die gesellschaftliche und nutzenorientierte Dimension von wissenschaftlichem Wissen
haben Gernot Böhme und seine Kollegen am Max-Planck-Institut zur Erforschung der
Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg mit der
sogenannten Finalisierungsthese bereits in den 1970er Jahren entwickelt. Diese hatte
nachhaltige Wirkung auf die Wissenschaftssoziologie und auch die Wissenschaftsgeschichte. Vgl. Gernot Böhme u. a., Die Finalisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für
Soziologie 2. 1973, S. 128 – 144; Peter Weingart, From „Finalization“ to „Mode 2“. Old
Wine in New Bottles?, in: Social Science Information 36. 1997, S. 591 – 613; Helmuth
Trischler u. Rüdiger vom Bruch, Forschung für den Markt. Geschichte der FraunhoferGesellschaft, München 1999, S. 84 – 86; Ritter, Antworten auf die amerikanische
Herausforderung. Der Begriff der „Wissensgeschichte“ bleibt jedoch in seiner Unterscheidung zur Wissenschafts- und Technikgeschichte nach wie vor unscharf, da Wissen
in seiner erweiterten Bedeutung sowohl wissenschaftliche als auch nicht-wissenschaftliche Wissensformen umfasst.
16 Rüdiger Graf, Ressourcenkonflikte als Wissenskonflikte, in: GWU 63. 2012, S. 582 – 599;
ders., Das Petroknowledge des Kalten Krieges, in: Greiner, Macht und Geist im Kalten
Krieg, S. 201 – 222.
17 Frank Uekötter, Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen
Landwirtschaft (= Umwelt und Gesellschaft, Bd. 1), Göttingen 20123 ; Jakob Vogel, Ein
schillerndes Kristall. Eine Wissensgeschichte des Salzes zwischen Früher Neuzeit und
Moderne, Köln 2008.
18 Vgl. Wehling, Wissensregime, S. 704 – 712; Dominique Pestre, Regimes of Knowledge
Production in Society. Towards a More Political and Social Reading, in: Minerva
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„Dem Krill auf der Spur“
409
Wirkung und Wandel von Wissensregimen werden, so Peter Wehling,
vermutlich zu einer der wichtigsten Aufgaben der Wissensforschung und
-soziologie gehören.19 Historische Perspektiven sind in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich, da sie Auskunft über die mit einem spezifischen Wissensregime einhergehenden historischen Kontexte und Problemfelder geben können. So liegt der Fokus auf der Entstehung eines „stabilisierten Zusammenhangs von Praktiken, Regeln, Prinzipien und Normen des
Umgangs mit Wissen und unterschiedlichen Wissensformen“, die sich auf die
angestrebte Nutzung der antarktischen Ressourcen beziehen und am Beispiel
der deutschen Krillforschung im Spannungsfeld von Ökologie und Ökonomie
untersucht werden.20
In methodischer Hinsicht impliziert solch ein wissensgeschichtlicher Ansatz,
dass weniger institutionelle, organisatorische oder disziplinengeschichtliche
Zusammenhänge der Polarforschung analysiert werden; ebenso wenig geht es
vorrangig um die Antarktispolitik der Bundesrepublik aus Sicht der zuständigen politischen Instanzen. Vielmehr werden hier das Wissen selbst und die
damit einhergehenden Handlungsmöglichkeiten betrachtet.21 Im Falle der
ressourcenorientierten Polarforschung stehen das Schlüsselobjekt des antarktischen Krills sowie deutsche Wissenschaftler im Blickpunkt, deren
länderübergreifende Vernetzungen und Bezüge zur Antarktispolitik untersucht werden.22 Der antarktische Fisch und Krill und die damit verbundenen
Wissenszirkulationen überschreiten nationale Grenzen und Territorien und
verlangen ein kooperatives internationales Wissensregime.23 Die Nation ist
damit aber als Analyseeinheit für Fragen der Wissensgeschichte nicht
notwendigerweise obsolet, wie Philipp Sarasin behauptet.24 Die länderübergreifende, durch Expertennetzwerke realisierte antarktische Wissenspolitik
19
20
21
22
23
24
41. 2003, S. 245 – 261; ders., contre-science. Politiques et savoirs des socits
contemporaines, Paris 2013; Michael Gibbons, The New Production of Knowledge.
The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London 2000.
Wehling, Wissensregime, S. 710.
Ebd., S. 704.
Jakob Vogel, Wissen, Technik, Wirtschaft. Die modernen Wissenschaften und die
Konstruktion der „industriellen Gesellschaft“, in: ders. u. Hartmut Berghoff (Hg.),
Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels,
Frankfurt 2004, S. 295 – 323, hier S. 297.
Ähnliches gilt für die ebenfalls ressourcenorientierte geologische Forschung in der
Antarktis durch die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), die in
diesem Beitrag nicht behandelt wird.
Brown, Regimes for the Ocean; Helen M. Rozwadowski, The Sea Knows No Boundaries.
A Century of Marine Science Under ICES, Copenhagen 2002, S. 2.
Vgl. Philipp Sarasins Plädoyer gegen die bislang dominanten Erzählformen der an
Nation und Gesellschaft orientierten Geschichtswissenschaften, ders., Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
36. 2011, S. 159 – 172, hier S. 160.
410
Christian Kehrt
steht in engem Bezug zu den jeweiligen Interessen der am Antarktisvertragssystem teilhabenden Länder, die durch meeresbiologische Experten in
internationalen Ausschüssen und Vereinigungen25 und zugleich im nationalen
Rahmen in verschiedenen Gremien und Institutionen vertreten wurden.26
Im Folgenden wird vor dem Hintergrund der internationalen Hochseefischerei
um 1970 (Kapitel I), die den globalgeschichtlichen Rahmen für die Krillexpeditionen abgibt, die Krillforschung der Bundesrepublik betrachtet. Die
politisch motivierte Förderung der Krillforschung in den langen 1970er Jahren
erklärt sich aus deutscher Perspektive durch die Folgen der UN-Seerechtskonvention, die den Zugang zu weltweiten Fischbeständen einschränkte
(Kapitel II). Da Antarktispolitik sich nur im Rahmen internationaler wissenschaftlicher Kooperationen realisieren lässt, wird die Rolle deutscher Krillforscher auf nationaler wie auch internationaler Ebene untersucht (Kapitel
III). Schließlich geht es um das sich im Zuge der Krillforschung herausbildende Wissensregime im Spannungsfeld ökologischer und ökonomischer
Motive (Kapitel IV), das in der Formulierung einer internationalen Konvention zum Schutz der lebenden antarktischen Meeresressourcen mündete.
I. Zur globalen Situation der Hochseefischerei um 1970
Die Etablierung der modernen Fischereiwissenschaften ist eng mit dem
historischen Prozess der Industrialisierung und Globalisierung des Fischfangs
verbunden.27 Da Fischschwärme, Wasserströme und Fanggründe zumeist
nicht entlang nationalstaatlicher Grenzen verlaufen, waren mit der Ausweitung
der Fanggebiete ein länderübergreifendes Management der Fischressourcen
und internationale Kooperationen der Fischereiexperten gefragt. Hierbei
25 Scientific Committee on Antarctic Research (SCAR), Scientific Committee on Oceanographic Research (SCOR), International Council for the Exploration of the Sea (ICES),
Convention for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources (CCAMLR),
Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen (FAO).
26 Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Bundesministerium für Forschung und
Technologie (BMFT), Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten,
Bundeswirtschaftsministerium, Bundeskanzleramt, Auswärtiges Amt.
27 Vgl. David J. Starkey u. Ingo Heidbrink, A History of the North Atlantic Fisheries
(= Deutsche Maritime Studien, Bd. 19), Bremen 2012; Micah S. Muscolino, Fishing and
Whaling, in: John Robert McNeill u. Erin Stewart Mauldin (Hg.), A Companion to Global
Environmental History, Chichester 2012, S. 279 – 296; Poul Holm u. a., The Exploited
Seas. New Directions for Marine Environmental History (= Research in Maritime
History, Bd. 21), St. John’s 2001; ders., Fishing, in: Shepard Krech u. a. (Hg.),
Encyclopedia of World Environmental History, Bd. 2, New York 2004, S. 529 – 535;
David J. Starkey u. a. (Hg.), Oceans Past. Management Insights from the History of
Marine Animal Populations, London 2007.
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„Dem Krill auf der Spur“
411
spielten zwischenstaatliche Organisationen, wie das 1902 gegründete International Council for the Exploration of the Sea (ICES) und nach dem Zweiten
Weltkrieg die fischereiwissenschaftliche Abteilung der Food and Agriculture
Organization der Vereinten Nationen (FAO), eine maßgebliche Rolle.28
Wissen um Fische und ihre Bestände ist von unmittelbarer praktischer
Bedeutung für die jeweiligen Hafenstädte, Küstengesellschaften und Fischereinationen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts landeten moderne Fischdampfer Frischfische aus der Nordsee in großen Mengen an, sodass wichtige
Fischarten wie der Hering von Überfischung bedroht waren.29 In der Zeit nach
dem Zweiten Weltkrieg weiteten sich die Fanggebiete auf den gesamten Globus
aus. Die Fangmengen stiegen nicht zuletzt dank neuer hochtechnisierter
Fabrikschiffe und Hecktrawler, die für mehrere Wochen weit ab von den
Heimathäfen große Mengen Fisch unmittelbar an Bord verarbeiten konnten.30
Allerdings betonen nicht nur Wissenschafts-, sondern auch Umwelthistoriker,
dass wesentliche Entwicklungslinien auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges
zurückgehen. Zwar konnten sich die Fischbestände in Kriegszeiten erholen,
jedoch führte die kriegsbedingte Förderung der Schifffahrtstechnik und nicht
zuletzt auch die modernen Navigations- und Ortungstechniken zu einem
industrialisierten Fischfang im großen Stil. Auch die Bundesrepublik baute in
den 1950er Jahren ihre Hochseefischerei aus und war in technischer Hinsicht
international führend.31 Die Umstellung auf eine an Massenerträgen orientierte global agierende Fischwirtschaft hing auch mit den niedrigen Preisen auf
dem Weltmarkt zusammen. Fischressourcen wurden zudem nicht mehr allein
für den menschlichen Verbrauch, sondern auch als Futtermittel verkauft.32
Fischfang war jedoch nicht allein eine Frage wissenschaftlicher und technischer Möglichkeiten, sondern auch der rechtlichen und politischen Zugangsbedingungen zu den jeweiligen Fischbeständen. Nach 1945 kam es im Zuge
von Dekolonisationsprozessen, der Ausweitung der nationalen Küstenzonen
durch die „United Nations Convention on the Law of the Sea“ (UNCLOS) sowie
der Konfliktkonstellationen des Kalten Krieges zu einer neuen, globalen
28 Vgl. Rozwadowski, The Sea Knows No Boundaries.
29 Vgl. Ingo Heidbrink, „Deutschlands einzige Kolonie ist das Meer!“ Die deutsche
Hochseefischerei und die Fischereikonflikte des 20. Jahrhunderts (= Schriften des
Deutschen Schifffahrtsmuseums, Bd. 63), Hamburg 2004, S. 185; Ole Sparenberg,
„Segen des Meeres“. Hochseefischerei und Walfang im Rahmen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik, Berlin 2012, S. 374; Peter A. Larkin, Fisheries Management. An
Essay for Ecologists, in: Annual Review of Ecology and Systematics 9. 1978, S. 57 – 73,
hier S. 58; Carmen Finley, All the Fish in the Sea. Maximum Sustainable Yield and the
Failure of Fisheries Management, Chicago 2011, S. 8.
30 Heidbrink, Deutschlands einzige Kolonie, S. 190.
31 Vgl. ebd.; Poul Holm, World War II and the „Great Acceleration“ of North Atlantic
Fisheries, in: Global Environment 10. 2013, S. 66 – 91, hier S. 85.
32 Ebd., S. 84.
412
Christian Kehrt
Dynamik der Hochseefischerei. Schwellen- und Entwicklungsländer stiegen in
die Hochseefischerei ein, begannen ihre Fänge auf dem Weltmarkt zu
verkaufen und zusätzliche Proteinquellen zu erschließen.33 Zugleich sahen
die Industrieländer hier eine Chance, durch Entwicklungshilfe und Technologietransfers ihre moderne Fischfangtechnik in ärmere, sich modernisierende Länder zu verkaufen. Auch die Sowjetunion baute ihre Fischfangflotte
massiv aus. Sowjetische Trawler suchten die Weltmeere ab, um im Verbund
über mehrere Wochen weit ab der Heimathäfen, etwa vor den fischreichen
Küsten Nordamerikas oder in antarktischen Gewässern, die Fischbestände
„abzuernten“.34 Diese enormen Veränderungen der Mensch-Umwelt-Beziehung nach 1945 werden von Umwelthistorikern als „große Beschleunigung“
beschrieben und in der jüngeren Forschung in direkten Zusammenhang mit
dem Kalten Krieg gebracht.35
Der Trend zu einer Intensivierung und Globalisierung des Fischfangs nach
1945 zeigt sich deutlich anhand der Statistiken der FAO. 1971 publizierte John
A. Gulland in deren Auftrag erstmals eine einflussreiche Übersicht über die
globalen Fischbestände.36 Grundlage hierfür waren Fischfangstatistiken, die
die FAO seit den 1950er Jahren zusammenstellte. Ziel des Gulland-Reports
„The Fish Resources of the Ocean“ war es, die wissenschaftlichen Grundlagen
für einen weltweit koordinierten Fischfang zu legen und mithilfe populationsstatistischer Methoden die Zukunft des globalen Fischfangs zu planen.
Diese Übersicht der FAO wurde durch ein internationales Expertenteam aus
den USA, Kanada, England und der Sowjetunion zusammengestellt. Auch
deutsche Fischereiwissenschaftler waren an dieser globalen Inventur der
Fischbestände beteiligt. Gotthilf Hempel – neben dem Krill der Hauptakteur
dieses Beitrags – war bereits seit Mitte der 1960er Jahre als junger Fischereibiologe für die FAO tätig und hatte erste Schätzungen der antarktischen Krillund Fischbestände unternommen, die in den Gulland-Report eingeflossen
sind.37 Aus Sicht der FAO galt es, angesichts einer dramatisch wachsenden
33 Zu diesen Ländern zählten Taiwan, Ghana, Südkorea, Israel, die Vereinigten Arabischen
Emirate, Ceylon, Thailand und Singapur.
34 Paul Josephson, Industrialized Nature. Brute Force Technology and the Transformation
of the Natural World, Washington, D. C. 2002, S. 219.
35 Holm, World War II, S. 81.
36 John A. Gulland (Hg.), The Fish Resources of the Ocean, Surrey 1971. Gulland
(1923 – 1990) war einer der führenden Fischereiwissenschaftler, der die statistische
Erhebung von Fischbeständen maßgeblich prägte. Der in Cambridge ausgebildete
Mathematiker arbeitete für das Englische Fischereiforschungsinstitut in Lowestoft und
war von 1966 bis 1984 für die FAO in Rom tätig.
37 Gotthilf Hempel, Area Reviews on Living Resources of the World’s Oceans. Antarctica,
in: FAO Fisheries Circular 1968, Nr. 109 / 3; ders., Notizen zum wissenschaftlichen
Lebenslauf, in: Ludger Kappen (Hg.), Gotthilf Hempel, Kiel 1994, S. 32 – 36, hier S. 34;
Martin Hoffmeyer (Hg.), Partner des Deutschen Polar-Instituts. Ergänzungsheft zum
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„Dem Krill auf der Spur“
413
Weltbevölkerung, die notwendigen Eiweißressourcen zu erschließen. Dies
macht bereits der erste Satz des Reports deutlich: „The fish resources of the
ocean form one of the major sources of protein in the world.“38 Zugleich sollten
auch mögliche Grenzen der globalen Fischerei festgelegt werden.39 Denn
angesichts der 1970 vorliegenden Daten und Erfahrungen war ersichtlich, dass
die Kapazitätsgrenzen etlicher Fischbestände bereits weit überschritten
waren.40
Die FAO bezifferte 1970 den globalen Fischfang auf 57 Millionen Tonnen mit
einem Marktwert von etwa acht Milliarden Dollar.41 Angesichts dieses
Wachstumstrends war das Erreichen und Überschreiten der Bestandsgrenzen
absehbar und machte neue Fischereistrategien notwendig.42 Tatsächlich
sanken in den 1970er Jahren die Wachstumsraten infolge des Kollapses der
Sardellen-Bestände vor Peru.43Auf der Basis der Schätzungen der FAO und
anderer internationaler Organisationen wie der UNESCO oder ICES sollte ein
globales Fischereimanagement durch die Errichtung von Fischfangzonen und
die Bestimmung verbindlicher Fangmengen etabliert werden. Anliegen des
Ressourcenschutzes und das Wissen um die Grenzen zahlreicher Fischbestände gingen Hand in Hand mit der Absicht, die globalen Fischbestände zu
managen, zu entwickeln und weiterhin die wachsende Weltbevölkerung mit
Eiweiß zu versorgen. Ökologische und bestandserhaltende Maßnahmen waren
zumindest von Seiten der fischereiwissenschaftlichen Abteilungen der FAO im
Rahmen eines an Wachstum und Produktivität der Weltmeere orientierten
Paradigmas zu verorten. Fischereiexperten sahen das Meer als einen fruchtbaren Acker an, dessen Produktivität gemessen, Bestände entwickelt und
Früchte geerntet wurden.44 Die Verwissenschaftlichung der Hochseefischerei
38
39
40
41
42
43
44
Stand der für die Antarktisforschung relevanten wissenschaftlichen Vorhaben in Kiel,
Kiel 1978, S. 29.
Gulland, Fish Resources, S. vii.
Allerdings fehlten den hierfür zuständigen Wissenschaftlern letztlich die entsprechenden Machtbefugnisse, diese Fanggrenzen zu überwachen. Die verschiedenen nationalstaatlichen Interessen waren durch die Konfliktkonstellationen des Kalten Krieges und
die Dekolonisierungsprozesse zu unterschiedlich und zu komplex.
Gulland, Fish Resources, S. 9; Lucian M. Sprague, Prospects of the World’s Fishery
Resources with Emphasis on the Western Hemisphere, in: Clinton O. Chichester u.
Horace D. Graham (Hg.), Microbial Safety of Fishery Products, New York 1973,
S. 41 – 51; Larkin, Fisheries Management, S. 59.
FAO, The Living Resources of the Sea. An Illustrative Atlas, Rom 1971.
FAO, Report on Informal Consultations on Antarctic Krill, Rome 14. 10. 1974, Rom 1976;
Sprague, Prospects of the World’s Fishery Resources, S. 42.
Der Sardellenfang vor Peru stieg von 200.000 Tonnen im Jahr 1955 auf 12 Millionen
Tonnen im Jahr 1970, die hauptsächlich in der Futtermittelindustrie Verwendung
fanden. Vgl. Dietrich Sahrhage u. Johannes Lundbeck, A History of Fishing, Berlin 1992,
S. 251 – 252; Larkin, Fisheries Management, S. 59.
Finley, All the Fish, S. 7.
414
Christian Kehrt
und die zeitgleich stattfindende Industrialisierung des Fischfangs trugen
somit maßgeblich zur Wahrnehmung der Weltmeere als globaler Ressourcenraum bei.45 Die wissenschaftlich begründete nachhaltige wie rationelle
Nutzung und Entwicklung der Fischressourcen durch die Einhaltung des
„most sustainable yields“ wurde zur Leitidee für das internationale Fischereimanagement.46 Selbst als Fischereiexperten die Überfischung der Bestände
erkannten und alternative Strategien sowie die Begrenzung der Fangmengen
einforderten, gab es kaum Anreize für die Fischfangindustrie, sich an
bestandserhaltende Fischfanggrenzen zu halten. Diese hatte mit staatlicher
Unterstützung in moderne Fischfangtrawler investiert. Zudem gab es auf
offener See kaum Möglichkeiten, das Überschreiten von Fangmengen zu
überwachen oder gar zu sanktionieren.47
Vor dem Hintergrund der Globalisierung des Fischfangs und der drastisch
steigenden Fangmengen deuteten sich allerdings Anfang der 1970er Jahre
Grenzen der bislang im Fokus stehenden Fischbestände an. Der Grenzwert des
„most sustainable yields“ war für einige beliebte Fischarten, wie Kabeljau oder
Hering, bereits überschritten und der Walbestand hatte in den 1960er Jahren
trotz bestehender Schutzkonventionen einen dramatischen und artenbedrohenden Tiefstand erreicht. Dennoch waren die Fischereiexperten nach wie vor
optimistisch und extrapolierten positive Wachstumstrends bis ins Jahr 2000.
Die Strategie des sogenannten „fishing down the foodweb“ sah vor, auf neue
Bestände und Arten im unteren Bereich der Nahrungskette zurückzugreifen.48
Diese waren zwar bislang kaum auf der Speisekarte westlicher Länder zu
finden, zeichneten sich jedoch, so die Fischereiexperten, durch einen hohen
Eiweißgehalt aus. Diese globalen Zusammenhänge erklären, weshalb der Krill
Ende der 1960er Jahre nicht nur von der Sowjetunion und Polen befischt,
sondern auch von den planerischen Eliten und Fischereiexperten als neue
Ressource entdeckt und in ihre wissensbasierten Kalküle und Nutzungsregimes einbezogen wurden.49
45 Philip E. Steinberg, The Social Construction of the Ocean (= Cambridge Studies in
International Relations, Bd. 78), Cambridge 2001.
46 Finley, All the Fish, S. 2.
47 Brown, Regimes for the Ocean, S. 51.
48 So zeigt gerade das langfristige Scheitern des wissensbasierten internationalen
Fischereimanagements, dass ökologische und nachhaltige Strategien unter anderem
in der Antarktis nicht wirklich umgesetzt wurden. Dies betont insbesondere Daniel
Pauly, der die bisherige Fischereiforschung scharf kritisiert und mehr historisches
Wissen für seine Disziplin einfordert. Vgl. ders., Anectodes and the Shifting Baseline
Syndrome of Fisheries, in: Trends in Ecology and Evolution 10. 1995, S. 430; ders. u. a.,
Global Trends in World Fisheries. Impacts on Marine Ecosystems and Food Security, in:
Philosophical Transactions of the Royal Society of London 360. 2005, S. 5 – 12; ders.
u. a., Fishing Down Marine Food Webs, in: Science 279. 1998, S. 860 – 863.
49 FAO, Report on Informal Consultations on Antarctic Krill, S. 7.
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„Dem Krill auf der Spur“
415
II. Ressourcenfragen als Leitmotiv der Antarktispolitik der
Bundesrepublik
Verglichen mit den zwölf Staaten, die am 1. Dezember 1959 in Washington den
Antarktisvertrag unterschrieben hatten, stieg die Bundesrepublik spät in die
Antarktisforschung ein.50 Zwar leiteten Erich von Drygalski (1865 – 1949) und
Wilhelm Filchner (1877 – 1957) bereits vor dem Ersten Weltkrieg wissenschaftliche Expeditionen zum sechsten Kontinent. Auch die „SchwabenlandExpedition“ 1938 / 1939 stand im Kontext einer ressourcenorientierten Antarktisforschung und sollte territoriale Besitzansprüche durch eine großflächige Vermessung und Kartierung der Antarktis vorbereiten.51 Dennoch bleibt
die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende deutsche Antarktisforschung und
die damit einhergehende Erfindung von Traditionslinien durch zahlreiche
Brüche und politisch bedingte Neuorientierungen geprägt. Grund hierfür war
weniger das mangelnde Interesse deutscher Wissenschaftler als vielmehr die
langfristigen Folgen des Zweiten Weltkriegs.52 Im Unterschied zur DDR, die
seit den 1960er Jahren kontinuierlich an sowjetischen Antarktisexpeditionen
teilnahm, diskutierte man auf politischer Ebene erst im Zuge einer ressourcengetriebenen Antarktisforschung in den 1970er Jahren den Beitritt der
Bundesrepublik ins Antarktisvertragssystem.53
50 Hierzu zählten Frankreich, Belgien, die Sowjetunion, die USA, England, Neuseeland,
Australien, Norwegen, Argentinien, Chile, Japan und Südafrika. Zu den Anfängen der
Antarktisforschung vgl. Cornelia Lüdecke, Die deutsche Polarforschung seit der
Jahrhundertwende und der Einfluß Erich von Drygalskis (= Berichte zur Polarforschung, Bd. 158), Bremerhaven 1995; David Thomas Murphy, German Exploration of
the Polar World, Lincoln 2002.
51 Die deutsche Antarktisexpedition 1938 verwendete erstmals Flugboote, die per
Katapultstart von einem Schiff aus starteten und dann mithilfe von Luftbildkameras
die Antarktis kartierten. Allerdings fehlten die Referenzpunkte am Boden, um die Bilder
eindeutig zuordnen zu können. Vgl. Cornelia Lüdecke, In geheimer Mission zur
Antarktis. Die dritte Deutsche Antarktische Expedition 1938 / 39 und der Plan einer
territorialen Festsetzung zur Sicherung des Walfangs, in: Deutsches Schifffahrtsarchiv
26. 2003, S. 75 – 100; dies. u. Colin Summerhayes, The Third Reich in Antarctica. The
German Antarctic Expedition 1938 – 39, Norwich 2012.
52 So forderte im Jahr 1962 ein Meeresforscher die DFG auf, zur Sicherung „nationaler
Interessen im Antarktischen Raum“ „auf diesem für uns traditionellen Forschungsgebiet“ wissenschaftlich aktiv zu werden; siehe DFG-Archiv, SCAR 1977 / 78, Dr. Gerd
Hartmann, Bericht zur Information der DFG über das in Paris vom 2. – 8. September
durchgeführte „Symposium on Antarctic Biology“, S. 9.
53 Lange Zeit gab es kein Schwerpunktprogramm der DFG zur Antarktisforschung,
vermutlich aufgrund der hohen Kosten und enormen politischen und diplomatischen
Herausforderungen, die ein solches Engagement mit sich brachte. Vgl. zur Polarforschung der DDR Diedrich Fritzsche, Geowissenschaftliche Forschung der DDR in der
416
Christian Kehrt
Die 1970er Jahre stellten eine neue Phase in der Antarktisforschung dar, in der
das weltweite Interesse an der Antarktis und ihren Rohstoffen stieg. So schrieb
Hans Matthöfer als Bundesminister für Forschung und Technologie an
Bundeskanzler Helmut Schmidt:
Die Antarktisforschung war bis Ende der sechziger Jahre rein wissenschaftlich orientiert.
Erst Anfang der siebziger Jahre zeichnete sich eine Wende zur rohstofforientierten
Forschung ab – unter anderem als Folge der Diskussion um die Begrenztheit der
Rohstoffvorräte. Neues Schlagwort wurde resource evaluation.54
Nun standen vermehrt Disziplinen wie Fischereiforschung oder Geologie im
Blickpunkt, die der Erschließung neuer lebender und mineralischer Ressourcen dienten.55 Die ressourcenorientierte Antarktisforschung wurde als Ressortforschung im Auftrag des Wirtschaftsministeriums durch die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe sowie die Bundesforschungsanstalt
für Fischerei im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betrieben. Auch das Bundesministerium für Forschung
und Technologie beteiligte sich an der Förderung der Antarktisforschung. In
diesem Kontext treten der antarktische Krill und die deutsche Fischereiwissenschaft, insbesondere der Leiter der Bundesforschungsanstalt für Fischerei
Dietrich Sahrhage und der Kieler Fischereibiologe Gotthilf Hempel, auf die
Bühne.
Die im atlantischen Sektor der Antarktis agierende erste deutsche Krillexpedition wollte potentielle Nutzfische und Nahrungsreserven und damit die
„Möglichkeiten für eine kommerzielle Fischerei in diesem Seegebiet“ untersuchen.56 Das mit speziellen Echoloten und Satellitennavigationstechnik
ausgestattete Forschungsschiff „Walther Herwig“ und das begleitende Fabrikschiff „Weser“ liefen am 20. Oktober 1975 in Bremerhaven aus und waren bis
zum 14. Juni 1976 auf See. Insgesamt führte die Bundesrepublik im Zeitraum
der Beitrittsverhandlungen zum Antarktisvertrag drei große Krillexpeditionen durch.57 Die Expedition war Teil des übergreifenden „Gesamtprogramms
54
55
56
57
Antarktis, in: Martin Guntau u. a. (Hg.), Zur Geschichte der Geowissenschaften in der
DDR, Teil 2, Ostklüne 2011, S. 303 – 317; Fleischmann, Zu den Kältepolen der Erde,
S. 82 – 151.
Bundesarchiv Koblenz [im folgenden BArch], B 102 / 184071, Schreiben des Bundesministers für Forschung und Technologie Hans Matthöfer an Bundeskanzler Helmut
Schmidt, 31. 1. 1978, Anlage.
Gotthilf Hempel, Blühende Landschaften im Ewigen Eis, in: Polarforschung 79. 2009,
S. 181 – 191.
Dietrich Sahrhage, Antarktis-Expedition 1975 / 76 der Bundesrepublik Deutschland,
Berlin 1978, S. 4.
1975 / 1976 erste deutsche Krillexpedition, 1977 / 1978 zweite deutsche Krillexpedition,
1980 / 1981 Teilnahme an der BIOMASS-Expedition „First Internationale BIOMASS
Expedition“ (FIBEX) und 1983 an der „Second International BIOMASS Expedition“
(SIBEX).
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„Dem Krill auf der Spur“
417
zur Erschließung neuer Fangmöglichkeiten für die deutsche Hochseefischerei“.58 Dabei befasste man sich systematisch mit meeresbiologischen Fragen
des antarktischen Ökosystems, der Ortung und dem Fang von Fisch- und
Krillschwärmen sowie der Verarbeitung und Produktentwicklung dieser
lebenden Meeresressourcen. Ziel war es, eine Inventur der Krillbestände zu
unternehmen, um auf der Basis dieser Daten eine gezielte und nachhaltige
Krillfischerei zu entwickeln.
Genauere Daten und Zahlen über das konkrete Krillvorkommen waren
Voraussetzung für die Entwicklung einer zukünftigen kommerziellen Krillfischerei, wie es im Jargon der Fischereiexperten hieß. Der Expeditionsbericht
geht von etwa 200 Millionen Tonnen pro Jahr insgesamt aus, von denen fünfzig
bis sechzig Millionen geerntet werden könnten.59 Andere Berechnungen
kamen gar auf eine Gesamtkrillbiomasse von 800 Millionen bis fünf Milliarden
Tonnen.60 Angesichts der tatsächlichen globalen Fischfangmengen hatten
diese Zahlen entsprechendes Gewicht für Fragen der Welternährung, aber
auch national motivierte kommerzielle Fischereistrategien. Krillfischerei war
im Übrigen kein rein deutsches Unterfangen, sondern wurde vor allem von
Japan und im größeren Stil von der Sowjetunion betrieben.
Zweifelsohne prägten ökonomische Motive die vom Staat geförderte Krillforschung.61 Vor dem Hintergrund der schwierigen Entwicklungen auf dem
globalen Fischmarkt wurde der Krill als strategische Alternative zu den
bisherigen Meeresressourcen am oberen Ende der Nahrungskette verstanden.62 Dass wissenschaftliche Interessen allein nicht ausschlaggebend waren,
sondern ökonomische und politische Motive diese Expeditionen bestimmten,
wird explizit im Expeditionsbericht angesprochen.63 Die gesellschaftliche
Relevanz dieser Ressourcenforschung zeigt sich auch daran, dass im Auftrag
des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten der
Expeditionsfilm „Dem Krill auf der Spur“ produziert wurde, um die Anliegen
der Krillforschung zu popularisieren und die Öffentlichkeit früh mit einzubinden. Grund hierfür war die öffentliche Sensibilität gegenüber Umweltthemen, insbesondere der Walfang wurde sehr kritisch gesehen.
Während in der Öffentlichkeit Fragen der Welternährung und der Ökologie
betont wurden, galt es intern, auf der politischen Ebene der Ministerien und
Fachreferate eine ressourcenorientierte Forschung zu forcieren. Wie ein
58
59
60
61
Sahrhage, Antarktisexpedition 1975 / 76, S. 4.
Ebd., S. 11.
FAO, Report on Informal Consultations on Antarctic Krill, S. 11.
Bettina Meyer, Antarctic Krill, Euphausia Superba. A Model Organism to Understand
the Impact of Global Warming on the Marine Antarctic Ecosystem, in: Polarforschung
80. 2010, S. 17 – 22, hier S. 18.
62 Gotthilf Hempel, Antarktis-Expedition 1977 / 78 der Bundesrepublik Deutschland
(= Archiv für Fischereiwissenschaft, Bd. 30), Berlin 1979, S. 7.
63 Ebd.
418
Christian Kehrt
Schreiben Dietrich Sahrhages über die Planungen der ersten Krillexpedition
verdeutlicht, ist Krillforschung in wirtschafts- und geopolitischen Zusammenhängen zu betrachten, die insbesondere die anstehenden Neuregelungen
der UN-Seerechtskonvention mit sich brachten.64
Im Zuge der Verhandlungen um das Internationale Seerecht in den 1970er
Jahren kam es zu einer Ausdehnung der nationalen Wirtschaftszonen und
einer Nationalisierung des Seerechts, das küstenarme Staaten wie Deutschland
den Zugang zu lukrativen Fischbeständen erschwerte und zu einem regelrechten Kabeljaukrieg führte.65 Insbesondere Länder der Dritten Welt forderten, die Küstenzonen auf 200 Seemeilen auszudehnen, sodass Küstenstaaten
wieder mehr Zugriffsrechte auf ihre Bestände hatten. Infolgedessen verlor die
Hochseeflotte der Bundesrepublik etwa drei Viertel ihrer traditionellen
Fanggründe um Island und in der Nordsee, die Zahl der Trawler sank von
140 im Jahr 1968 auf zwölf im Jahr 1988, die Fangerträge von 460.000 auf
120.000 Tonnen.66 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ausgangsthese, dass
das Engagement der Bundesrepublik in der Polarforschung ressourcenorientierten und damit geopolitischen Motiven zugrunde lag, dahingehend präzisieren, dass die neue und massive Beteiligung der Bundesrepublik in der
Antarktisforschung als direkte Folge der Reform der UN-Seerechtskonvention
zu verstehen ist. Dies verdeutlicht die Interviewaussage Volker Siegels, eines
langjährig in der Krillforschung aktiven Wissenschaftlers der Bundesforschungsanstalt für Fischerei:
Und man kann jetzt auf den Ursprung der ganzen Sache zu sprechen kommen, weswegen an
diesem Institut überhaupt die Krillforschung eingeführt worden ist, das waren ja damals die
Zeiten gewesen, als Island und andere Länder ihre Hoheitsgebiete in Wirtschaftszonen
ausdehnten, dass man also von diesen Hoheitsgewässern auf die 200 Seemeilen Nutzungszonen ging, dadurch hatten dann Länder mit wenig Küstenbereichen, wie Deutschland z. B.,
das Problem, dass sie ihre großen Fischfangflotten nicht mehr mit voller Auslastung und
rentabel einsetzen konnten und dadurch wurde explizit nach Fanggründen gesucht, die
außerhalb solcher Wirtschaftszonen lagen und deshalb ist eben auch das Bundesministerium für Landwirtschaft da eingestiegen und hat dann in Kooperation mit dem Forschungsministerium diese Projekte entwickelt, um zu sehen, wo kann die deutsche Hochseefischerei
im Prinzip noch prospektiv eingesetzt werden.67
64 Dietrich Sahrhage u. a., Programm und Planung der 1. Deutschen Krill-Expedition in
die Antarktis 1975 / 76, in: Claus Kruppa (Hg.), Interocean ‘76. Kongreß Berichtswerke,
Hamburg 1976, S. 1152 – 1157.
65 Bald sind die Meere leergefischt. SPIEGEL-Report über den Raubbau in der See und die
Bedrohung der Nahrungsmittel-Reserven, in: Der Spiegel, 28. 7. 1975; vgl. Heidbrink,
Deutschlands einzige Kolonie, S. 190.
66 Sahrhage u. Lundbeck, History of Fishing, S. 267.
67 Christian Kehrt, Interview mit Volker Siegel, Thünen-Institut für Seefischerei, Hamburg, 22. 5. 2012.
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„Dem Krill auf der Spur“
419
Spätestens als Kanada in den 1970er Jahren seine Küstenzone auf 200
Seemeilen ausdehnte, war die große Zeit der deutschen Hochseefischerei
vorbei.68 Dietrich Sahrhage, Leiter der Bundesforschungsanstalt für Fischerei,
formulierte dies nachträglich unverblümter, indem er die UN-Seerechtsverhandlungen als größte Umverteilung von Land und Ressourcen in der
Geschichte der Menschheit bezeichnete.69 Für die Fernfischerei wie auch die
damit verbundene Meeresforschung und Schifffahrtsindustrie zeichnete sich
ein Strukturwandel ab, der erhebliche Beschränkungen mit sich brachte und
neue strategische Alternativen verlangte. Auch Pfadabhängigkeiten, jener in
der Nachkriegszeit getroffenen Weichenstellungen der Hochseefischerei,
zwangen die deutschen Reedereien nach alternativen Fanggründen in antarktischen Gewässern zu suchen. Da die Fernfischerei und die damit einhergehende Umstellung auf riesige Fangmengen im globalen Maßstab mit erheblichen Investitionen verbunden waren, sah sich die deutsche Fischfangindustrie dazu gezwungen, nach Fanggründen außerhalb der Nord- und
Ostsee zu suchen.70
Die Entwicklung des Internationalen Seerechts erklärt somit, weshalb genau in
dem Zeitfenster, in dem sich das neue UN-Regime abzeichnete, die Bundesrepublik nach alternativen Fanggründen Ausschau hielt und aus strategischen
Gründen in die Krillforschung investierte. Aus Sicht der Bundesrepublik sollte
Krillforschung nicht primär dem damals diskutierten abstrakten Ziel der
Welternährung und der Schließung vorhandener Proteinlücken dienen,
sondern verdankte sich handfesten geopolitischen Motiven, die im beschränkten Zugang zu globalen Meeresressourcen begründet liegen. Diese staatlichen
Interessen korrespondierten mit den Anliegen deutscher Meeresforscher aus
Kiel und Hamburg insofern, als die Ausweitung der nationalen Küstenzonen
auch die Forschungsmöglichkeiten deutscher Expeditionen auf den Weltmeeren einschränkte.
Die Diskussion über die künftige Beteiligung der Bundesrepublik an der Antarktisforschung
ist nun offenbar auch im BMFT angelaufen. Die Hinwendung zur Antarktisforschung war ja
u. a. auch damit begründet worden, daß man sich bei weiter fortschreitender Einschränkung
der Forschungsfreiheit auf den Meeren sozusagen neue Freiräume sichern müßte, zu
welchen – zur Zeit noch – die Antarktis gehört.71
68 Heidbrink, Deutschlands einzige Kolonie, S. 9 u. S. 193; Sparenberg, Segen des Meeres,
S. 371.
69 Sahrhage u. Lundbeck, History of Fishing, S. 279.
70 DFG-Archiv, 6046-3-27, Antarktisforschung 1977 – 1982, Bd. 1, Kurzprotokoll der ad
hoc-Arbeitsgruppe der Senatskommission für Ozeanographie der DFG, Deutsche
Meeresforschung und internationales Seerecht, Deutsches Hydrographisches InstitutHamburg, o. D., S. 6.
71 Ebd., Antarktisforschung 1977 – 1982, Bd. 1, Meyel an Seybold, Deutsches Hydrographisches Institut-Hamburg, o. D., S. 1.
420
Christian Kehrt
Meeresbiologie und Fischereiforschung waren mit Fragen der Fischereiwirtschaft verknüpft und unmittelbar durch die UN-Seerechtskonvention betroffen. Wie brisant diese Diskussionen auf UN-Ebene waren, zeigt sich an der
Tatsache, dass deutsche Meeresforscher eine ad hoc-Gruppe bildeten, um die
Folgen der UNCLOS Verhandlungen zu diskutieren.
Politik und Wissenschaft nahmen die Antarktis als Möglichkeitsraum wahr,
der die erheblichen Auswirkungen der UN-Seerechtskonvention abfangen
sollte.72 Allerdings war die Antarktis schwer zu erreichen und versprach in
ökonomischer Hinsicht keine unmittelbaren Profite, sodass das Engagement
der Bundesrepublik als langfristige und rein potentielle Ressourcensicherung
zu bewerten ist. De facto hat die Antarktisforschung den mit der Seerechtsreform eingeleiteten Niedergang der Fernfischerei und den Strukturwandel
der Küstenstädte Cuxhaven, Bremerhaven und auch Hamburgs nicht aufhalten
können. Diese neutral als „Strukturwandel“ oder deutlicher als „Niedergang“
beschriebene Geschichte der deutschen Hochseefischerei stellt sich jedoch aus
Sicht der Meeres- und Polarforschung nicht ausschließlich als lokale und
regionale Niedergangsgeschichte dar.73 Wissen hatte hier die strategisch
wichtige Funktion, neue Handlungsoptionen zu eröffnen und gesellschaftliche
Interessen an Rohstoffen zu wahren, um die Bundesrepublik im globalen
Rahmen der Antarktispolitik zu verorten.
Da der Zugang zur Antarktis nur über den Nachweis eines signifikanten
wissenschaftlichen Engagements möglich war, kam den Meeresforschern eine
Schlüsselrolle zu. Gotthilf Hempel und Dietrich Sahrhage nahmen bei diesen
die Antarktis- und Meeresforschung betreffenden Verhandlungen eine wichtige Position ein und machten auch auf nationaler forschungspolitischer
Ebene deutlich, dass „das Interesse an der Antarktisforschung überall
steige.“74 Sie waren über neue Forschungstrends ebenso gut informiert wie
über die damit einhergehenden politischen Problemkonstellationen und
konnten in den entscheidenden Gremien und Sitzungen der Senatskommission für Ozeanographie der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der
72 Vgl. DFG-Archiv, SCAR 1977 / 78, H. Walden, Bericht über meine Teilnahme an der 7.
Sitzungsperiode der 3. Seerechtskonferenz in Genf und vertraulicher Zusatz zum
Bericht über die Teilnahme an der Seerechts-Konferenz in der Zeit vom 3. – 11. 5. 1978.
73 Vgl. Sparenberg, Segen des Meeres, S. 367; Heidbrink, Deutschlands einzige Kolonie,
S. 123; Roland Baartz, Entwicklung und Strukturwandel der deutschen Hochseefischerei unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bedeutung für Siedlung, Wirtschaft und
Verkehr (= Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft Hamburg, Bd. 81), Stuttgart
1991.
74 DFG-Archiv, 6046-3-27, Antarktisforschung 1977 – 1982, Bd. 1, Brief Meyel (DFG) an
Dr. Lehr (BMFT), Deutsches Hydrographisches Institut-Hamburg, o. D., S. 2.
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„Dem Krill auf der Spur“
421
Bundesregierung wichtige Weichenstellungen anbahnen und Argumente für
den Einstieg in die Antarktisforschung einbringen.75
Die Strategie der Bundesrepublik war es nun, aus „politischen Gründen“
Forschungsinteressen vor die ressourcengetriebenen Hauptinteressen zu
stellen und damit nicht dem Wirtschafts-, sondern dem Forschungsministerium die Federführung zu überlassen. Der an sich für Ressourcenfragen
zuständige Wirtschaftsminister hatte aus „politischen Gründen“ auf sein
Vorrecht auf die Koordination der ressourcengetriebenen Polarforschung
verzichtet. So vergewisserte sich der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf
von Lambsdorff in einem Brief an das Forschungsministerium, ob er die
Ressortbesprechung im Kanzleramt richtig verstanden hätte, „dass wir [den]
Beitritt zur Konsultativrunde aus politischen Gründen unter den Forschungsaspekt stellen sollten.“76 Deshalb wurde in den politischen Beratungen zum
Konsultativstatus der BRD intern vermerkt, dass Einigkeit darüber bestehe,
dass wissenschaftlich-technologische Aspekte in den Vordergrund zu stellen
seien, während die eigentlich ausschlaggebenden Rohstoffinteressen nicht
dominieren sollten, um den anstehenden Beitritt zum Antarktisvertrag nicht
zu gefährden.77
Dass die Institutionalisierung der deutschen Polarforschung jedoch unmittelbar mit Rohstoff- und Ressourcenfragen zusammenhing, zeigt sich deutlich
an wissenschaftlichen Stellungnahmen, nachrichtendienstlichen Lageberichten und ministeriellen Korrespondenzen im unmittelbaren Vorfeld des
Beitritts zum Antarktisvertragssystem. Der Bundesminister für Forschung
und Technologie forderte die Bundesregierung auf, Mitglied im „Antarctic
Treaty System“ zu werden, da „erhebliche Interessen“ auf dem Spiel ständen.78
Diese könnten nur gewahrt werden, wenn Deutschland in den Kreis der
Konsultativstaaten, die sich den Zugang zu den antarktischen Rohstoffen
sichern wollten, aufgenommen werde. Die Voraussetzungen hierfür erfüllte die
Bundesrepublik schließlich mit der Gründung des Alfred-Wegener-Instituts in
Bremerhaven im Jahr 1981, dem Bau des Forschungsschiffes „Polarstern“ und
der Errichtung der permanenten Antarktisstation „Georg von Neumeyer“. Die
erheblichen finanziellen Aufwendungen, die zu der Institutionalisierung der
Polarforschung und dem Beitritt der Bundesrepublik zum Antarktisvertrags-
75 BArch, B 108 / 65345, Auszug aus zusammenfassender Niederschrift der 36. Sitzung der
Senatskommission für Ozeanographie der DFG, 2. 11. 1976, Hamburg.
76 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes [im Folgendem PA AA], B 73119715,
Vermerk, Antarktisvertrag, Konsultativstatus für die BRD, 23. 3. 1978.
77 Ebd., Vermerk, Antarktisvertrag, Konsultativstatus für die BRD, 7. 3. 1978.
78 BArch, B 102 / 184071, Schreiben des Bundesminister für Forschung und Technologie
Hans Matthöfer an Bundeskanzler Helmut Schmidt, 31. 1. 1978.
422
Christian Kehrt
system führten, unterstreichen das enorme politische Interesse der Bundesrepublik an den antarktischen Rohstoffen.79
III. Wissenschaftliche Kooperationen und diplomatische
Konflikte
Kennzeichen der Krillforschung war ein hohes Maß an internationaler
Kooperation. Dies liegt in der Natur der Antarktis- und Meeresforschung
begründet, die aufgrund der notwendigen großen Datenmengen über Wind,
Wetter, Wasser, Eis- und Schneeverhältnisse in den riesigen, staatsfreien
Räumen der Antarktis und der Weltmeere eine länderübergreifende, arbeitsteilige Forschung verlangte. Aus diesem Grund basierte diese Art der
umweltbezogenen Forschung auf internationalen Expertennetzwerken, die
in zwischenstaatlichen Organisationen wie ICES oder der Intergovernmental
Oceanographic Commission und auch in Nichtregierungsorganisationen wie
dem Scientific Committee on Antarctic Research (SCAR) und dem Scientific
Committee on Oceanographic Research (SCOR) koordiniert wurden. Auffällig
ist in diesem Zusammenhang, dass deutsche Forscher in internationalen
Organisationen früh in führenden Positionen vertreten waren. Auf diesem Weg
konnten sie aus der durch den Zweiten Weltkrieg bedingten Isolation
heraustreten und durch friedliche, internationale wissenschaftliche Kooperationen neuen Einfluss gewinnen.80 Zudem war der länderübergreifende
Wissensaustausch ein konstitutives Element des Antarktisvertragssystems.
Der Antarktisvertrag aus dem Jahr 1959 und die während des Internationalen
Geophysikalischen Jahres 1957 / 1958 gemachten Erfahrungen sind vor dem
79 Die finanziellen Aufwendungen zum Bau einer permanenten Forschungsstation, eines
Forschungsschiffes und eines Forschungsinstituts sowie der Unterhalt dieser Einrichtungen wurden im Zeitraum des Beitritts zum Antarctic Treaty System mit einem
dreistelligen Millionenbetrag berechnet: 228,5 Millionen DM des Bundes, 21 Millionen
DM der Länder und 6,5 Millionen DM der DFG. Vgl. PA AA, B 73-114097, Gesamtprogramm BRD (auch Geowissenschaften), 24. 9. 1979; DFG-Archiv, 322 529,
Schwerpunktprogramm Antarktisforschung, Bd. 1., Rundgespräch „Biologie und
Ozeanographie der Antarktis“, Protokoll über das Rundgespräch geowissenschaftliche
Antarktisforschung, 27. / 28. 3. 1980. In der Zeitspanne von 1979 bis 1994 wurden etwa
1,5 Milliarden DM für die Polarforschung aufgewendet. Vgl. Gerd Hubold, Der Sprung
ins kalte Wasser. Die Kaltwasserphase 1966 – 1994, in: Mitteilungen zur Kieler
Polarforschung 10. 1994, S. 17.
80 Dies zeigt sich beim Neuanfang der Meeresforschung nach 1945 an der Person Günther
Böhneckes (1896 – 1981), aber auch später an den für die Meeresbiologie und
Fischereiforschung zuständigen Sahrhage und Hempel. Auch der Münchner Geodät
Richard Finsterwalder war in den 1950er Jahren Vizepräsident der „Ice and Snow“Kommission der Internationalen Union für Geodäsie und Geophysik.
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„Dem Krill auf der Spur“
423
Hintergrund der politischen Spannungen des Kalten Krieges zu betrachten,
die die Polarregionen zum Labor des Kalten Krieges machten. Auch die
Antarktis war von einer Militarisierung und Nuklearisierung bedroht. Folglich
galten friedliche internationale Kooperationen und Wissen als ausschließliche
Zugangsbedingungen, um die Deponierung von Nuklearwaffen oder auch
nuklearen Abfällen in der Antarktis zu verhindern. Ebenso unterbanden sie die
Eskalation territorialer Konflikte, die sich durch die Besitzansprüche verschiedener Länder wie etwa Argentiniens, Chiles und die machtpolitischen
Interessen der Sowjetunion und der USA erklären.81
Forschungsexpeditionen in die Antarktis waren ein heikles diplomatisches
Unterfangen, zumal wenn es um Ressourcenfragen ging, die schwelende
territoriale Konflikte tangierten. Im sensiblen Zeitfenster der Beitrittsbemühungen der Bundesrepublik galt es, eine möglichst breite internationale
Zustimmung zu erreichen und eine Positionierung in diplomatischen Konflikten, zum Beispiel zwischen Großbritannien und Argentinien, zu vermeiden. Da die deutschen Aktivitäten unter internationaler Beobachtung standen
und letztlich der Beitritt von der Zustimmung der anderen Signatarstaaten
abhängig blieb, wollte man jegliche Missstimmung im Vorfeld des Beitrittsgesuchs unterbinden und insbesondere kein Misstrauen durch ressourcenorientierte Forschung erwecken. Auch die Botschaften und das Auswärtige
Amt waren eingeschaltet, um die Durchquerung konfliktträchtiger Küstenzonen und Hoheitsgebiete vorzubereiten.
Der Grad der Kooperationen variierte hierbei und hing von den jeweiligen
Interessen der beteiligten Akteure und den politischen Rahmenbedingungen
ab. So berichtete der deutsche Botschafter in Chile dem Auswärtigen Amt
anlässlich eines internationalen Symposiums über die Entwicklung der
Antarktis, dass die deutsche Krillexpedition „nicht überall ohne Mißtrauen
zur Kenntnis genommen worden sei, obwohl die Mitnahme ausländischer
Wissenschaftler und die umfassende Unterrichtung interessierter ausländischer Stellen lobend hervorgehoben wurden.“82 Die Kooperationen gingen von
losen Kontakten und dem Anlaufen fremder Häfen über das unverbindliche
Werben für deutsche Wissenschaft und Technik, den Austausch wissenschaftlicher Daten und Objekte, logistische Unterstützung und die Teilnahme
ausländischer Wissenschaftler an deutschen Expeditionen bis hin zu gemeinsam geplanten multinationalen Forschungsexpeditionen. Ein Höhepunkt
bildete in diesem Zusammenhang das große, auf mehrere Jahre angelegte
81 Vgl. Dodds, Geopolitics in Antarctica; Peter Beck, The International Politics of
Antarctica, New York 1986; Fae L. Korsmo, The Genesis of the International Geophysical
Year, in: Physics Today 60. 2007, S. 38 – 43; Barr u. Lüdecke, The History of the
International Polar Years; Launius u. a., Globalizing Polar Science.
82 BArch, B 108 / 65345, Botschaft der BRD an AA Referat 413, Betr. Internationales
Symposium über die Entwicklung der Antarktis in Punta Arenas, 12. – 14. 4. 1977,
28. 4. 1977, S. 2.
424
Christian Kehrt
Programm „Biological Investigations of Marine Antarctic Systems and Stocks“
(BIOMASS), bei dem zehn Länder versuchten, die antarktischen Krillbestände
großflächig zu kartieren.83
Es gab auch Kontakte zu Kollegen aus Ostblockstaaten, da diese ebenfalls in
den internationalen Gremien der Antarktis- und Meeresforschung vertreten
waren. Ost- und westdeutsche Fischereiwissenschaftler konnten sich im
Rahmen internationaler Konferenzen treffen und sich über die Antarktisforschung austauschen. So berichtete ein westdeutscher Ichthyologe anlässlich
einer Jahrestagung der Ostsee-Fischereikommission, „daß dortige [antarktische] Fischbestände ,wohl schon überfischt‘ seien.“84 Ferner habe er in einem
polnischen Restaurant eine Fischvorspeise namens Kergulena gefunden, die
vermutlich aus den französischen Antarktisgebieten stammte. Dabei handelte
es sich um „einen sprottengroßen, ganzen, mit (nichtstörender) Gräte in Aspik
angebotenen Fisch mit sehr weißem, konsistentem schmackhaftem Fleisch,
der etwa zu demselben Preis angeboten wird wie Heringsvorspeisen oder
Zander in Gelee.“85 Durch solche regelmäßigen, im Rahmen internationaler
Tagungen und Gremien stattfindenden Kontakte bestanden durchaus gegenseitige Kenntnisse über den Stand der Antarktisforschung und die Nutzung
antarktischer Ressourcen. Allerdings verliefen die Kooperationen vorwiegend
innerhalb der jeweiligen Machtblöcke des Kalten Krieges, so zumindest die
Einschätzung Volker Siegels.86
Die deutschen Forscher arbeiteten aus wissenschaftlichen, logistischen und
diplomatischen Gründen insbesondere eng mit Wissenschaftlern des British
Antarctic Survey (BAS) zusammen.87 Der „Walther Herwig“ wurde erlaubt, in
britischen Hoheitsgewässern im Südatlantik Probefischungen durchzuführen
und einen Erfahrungsaustausch mit britischen Kollegen zu unternehmen.
Deutsche Forscher konnten in der britischen Station physiologische Studien
am Krill durchführen und deren Laboreinrichtungen nutzen, während
britische Wissenschaftler an Bord deutscher Forschungsschiffe kamen, um
Fische für eigene Versuche zu fangen. Auch logistisch arbeitete man zusammen. Das BAS stellte 150 Tonnen Treibstoff, die auf der Insel Südgeorgien
83 Zu SIBEX gehörten Deutschland, Großbritannien, Chile, die UdSSR, Frankreich, Japan,
Argentinien, Australien, USA, Südafrika, Brasilien.
84 BArch, B 116 / 65356, Referat 724, Vermerk Antarktis-Fischerei, 2. 10. 1979.
85 Ebd.
86 Christian Kehrt, Interview mit Volker Siegel, Thünen-Institut für Seefischerei, Hamburg, 22. 5. 2012.
87 BArch, B 102 / 184068, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten,
Ressortbesprechung im Auswärtigen Amt und im Bundesministerium für Forschung
und Technologie, Beitritt der BRD zum Antarktisvertrag, Krillexpedition, 18. 9. 1975,
S. 2; PA AA, B 73-114097, Bundesforschungsanstalt für Fischerei Hamburg, Prof.
Sahrhage, Vermerk über Gespräch mit British Antarctic Survey, Cambridge am
31. 3. 1977, 7. 4. 1977, S. 1.
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„Dem Krill auf der Spur“
425
gelagert wurden, für die deutschen Forschungsschiffe zur Verfügung und bot
auch an, Informationen über den Stand der Schiffe und Wetterdaten
auszutauschen, ein für Antarktisexpeditionen ganz entscheidender Aspekt.
Allerdings wollte man aus politischen Gründen nicht unbedingt mit Südafrika,
Rumänien oder Chile zusammenarbeiten, und auch mit Polen sollte allenfalls
ein wissenschaftlicher Informationsaustausch stattfinden.88 Diese feinen
Unterschiede im Grad der jeweiligen Kooperation erklären sich durch die
politischen Rahmenbedingungen, geopolitischen Konfliktlinien und Interessen der jeweiligen Länder. Die Kooperation mit Argentinien beispielsweise war
diplomatisch heikel, da man Argentiniens Besitzansprüche in der Antarktis
nicht unterstützen wollte, andererseits aber an bilateralen Fischereiabkommen
interessiert war. Die Bundesforschungsanstalt für Fischerei verhielt sich eher
defensiv, was das Durchfahren argentinischer Gewässer oder die Mitnahme
argentinischer Wissenschaftler anbelangte, da sie eine zu große Einflussnahme Argentiniens auf ihr Forschungsprogramm fürchtete.89 Argentinien jedoch
wünschte, stärker eingebunden zu werden, da
die Untersuchungen auch den von Argentinien beanspruchten Sektor der Antarktis südlich
des 60. Breitengrades berührten und dass die argentinische Regierung wegen ihrer
Ansprüche und angesichts der Tatsache, dass die BRD noch nicht Mitglied des Antarktisvertrages sei, wegen der Forschungsreise ,gefragt zu werden wünsche‘,
so die deutsche Botschaft in Buenos Aires.90 Der Botschaftsrat forderte die
deutschen Akteure auf, die bisherige diplomatische Haltung zu überprüfen
und sich stärker mit der argentinischen Seite zu koordinieren, um „Schwierigkeiten und Verstimmungen“ zu vermeiden.91 Eine Option in diesem
Zusammenhang war die Mitnahme eines argentinischen Wissenschaftlers auf
einem deutschen Forschungsschiff, ohne dies als direkte Zusammenarbeit im
engeren Sinne zu verstehen. Folglich wurde vor allem die symbolische Ebene
genutzt, um gegenseitiges Interesse durch unverbindliche Schiffsbesichtigungen und herzliche Empfänge zu unterstreichen:
Die ,Walther Herwig‘ mit ihrer eindrucksvollen modernen Ausrüstung und insbesondere
ihrer fachkundigen und im Umgang mit Ausländern gewandten wissenschaftlichen und
seemännischen Leitung ist eine wirkungsvolle ,Visitenkarte‘ für die Bundesrepublik
88 PA AA, B 73-114097, An deutsche Botschaften weltweit, Programm der Bundesforschungsanstalt für Fischerei, Antarktisexpedition, 26. 5. 1977.
89 Ebd., Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten an Auswärtiges Amt,
Bericht der Botschaft aus Buenos Aires, Betr. Erforschung und wirt. Erschließung der
Krillbestände und Nutzfische in der Antarktis, 29. 6. 1977; BArch, B 102 / 184068,
Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Ressortbesprechung,
18. 9. 1975, S. 3.
90 BArch, B 108 / 65345, Schnellbrief des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten an Auswärtiges Amt, 3. 10. 1975.
91 Ebd.
426
Christian Kehrt
Deutschland. […] Der Besuch hat somit das Interesse an der deutsch-argentinischen
Fischereizusammenarbeit weiter verstärkt.92
Die Ergebnisse der ersten deutschen Krillexpedition wurden dann auf einer
wegweisenden, von SCAR und SCOR veranstalteten „Conference on the Living
Resources of the Southern Ocean“ in Woods Hole, Massachusetts im Jahr 1976
vorgestellt, bei der die zukünftige internationale BIOMASS-Expedition geplant
wurde. Diese wurde durch die beiden internationalen Nichtregierungsorganisationen SCAR und SCOR koordiniert.93 Die Zusammenarbeit ging über eine
rein symbolische Ebene der gegenseitigen „herzlichen Empfänge“ an Bord
oder bei Stationsbesichtigungen zwischen Ostblockstaaten und westlichen
Industrieländern hinaus und erinnert in Umfang und auch Grad der
Kooperation an die Forschungsansätze aus dem Internationalen Geophysikalischen Jahr 1957 / 1958.94 Konkret wurden bei BIOMASS der Fahrtverlauf und
Einsatz der Forschungsschiffe wie auch die wissenschaftlichen Programme
koordiniert. In diesem Zusammenhang nahmen deutsche Wissenschaftler
eine durchaus zentrale Position ein. Gotthilf Hempel war im Rahmen von
SCOR und SCAR als Programmdirektor und internationaler Koordinator der
„First International BIOMASS Expedition“ (FIBEX) verantwortlich für den
Einsatz der Schiffe. Er hielt täglichen Funkkontakt und war zudem verantwortlich für das Sammeln, Aufbereiten und Verbreiten der ermittelten Daten,
die die Grundlage der Antarktisforschung bildeten.95
Damit bestätigt sich am Beispiel der internationalen BIOMASS-Expeditionen,
dass deutsche Wissenschaftler es verstanden, durch internationale Kooperationen nationale Interessen ebenso wie länderübergreifende Anliegen der
Meeres- und Polarforschung zu vertreten. Gerade in dem sensiblen Zeitfenster
der Beitrittsverhandlungen Ende der siebziger Jahre waren gute diplomatische
Beziehungen und internationale wissenschaftliche Kooperationen von strategischem Interesse für die Bundesrepublik. Auch hier spielte Gotthilf Hempel
sowohl auf nationaler wie auch internationaler Ebene eine wichtige for92 PA AA, B 73-114097, Botschaft BRD, Buenos Aires, Betr. 2. Antarktisexpedition zur
Erschließung der Krillbestände und Nutzfische, 3. 11. 1977, S. 2.
93 Die Beteiligung der Intergovernmental Oceanographic Commission (IOC), der
UNESCO, des Advisory Committee on Marine Resources der FAO sowie der International Association of Biological Oceanography unterstreicht die internationale Dimension der Krillforschung. Vgl. Sayed Z. El-Sayed, Biological Investigations of Marine
Antarctic Systems and Stocks (BIOMASS), Bd. 1: Research Proposals, Cambridge 1977,
S. 61.
94 Ders., History, Organization and Accomplishments of the BIOMASS Programme, in:
ders. (Hg.), Southern Ocean Ecology. The BIOMASS Perspective, Cambridge 1994,
S. 1 – 8, hier S. 7.
95 Gotthilf Hempel, Einleitung. Aufgaben der Expedition, Organisation sowie nationale
und internationale Zusammenarbeit, in: ders. u. a. (Hg.), Antarktis-Expedition 1981 der
Bundesrepublik Deutschland mit FFS „Walter Herwig“, Berlin 1982, S. 15.
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„Dem Krill auf der Spur“
427
schungspolitische Rolle. Diese internationale Dimension der Antarktisforschung und ihre Bedeutung für die sich formierende deutsche Polarforschung
kommt in einem Brief Hempels an den Bundesminister für Forschung und
Technologie, Volker Hauff, zum Ausdruck:
Ich fliege heute nach Argentinien, um als internationaler Koordinator die BIOMASSExpeditionen in die Antarktis zu planen. So erlaube ich mir, mich direkt und persönlich an
Sie zu wenden, da die Entscheidung ihres Hauses drängt. Sie wird in starkem Maße die
internationale Stellung der deutschen Polarforschung und das Verhältnis der Polarforscher
zu ihrem Hause tangieren.96
Hempel wandte sich hier offiziell als internationaler Koordinator des BIOMASS-Programms an die Bundesregierung, um eine Entscheidung für ein
nationales Engagement in der Antarktisforschung zu forcieren. Zugleich
eröffnete seine Schlüsselposition gute Verhandlungspositionen für ein deutsches Engagement in der Polarforschung. Hempel mahnte eine baldige
Entscheidung zur Gründung eines Polarforschungsinstituts und damit zur
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der Bundesrepublik zum Antarktisvertrag an.
IV. Umweltwissen im Spannungsfeld von Ökologie und
Ökonomie
Die Krillexpeditionen zielten darauf ab, den eiweißhaltigen Kleinkrebs als
Nahrungsressource zu erschließen und das hierfür notwendige Wissen und
Know-how zu entwickeln. „Ökologische Bedenken“ wurden hierbei von
Anfang an ernst genommen und einer zukünftigen Befischung antarktischer
Fisch- und Krillbestände auf die Agenda geschrieben.97 Vor dem Hintergrund
der Dezimierung der Walbestände wurde vor einem allzu starken Eingriff ins
antarktische Ökosystem gewarnt, da der Krill eine sensible wie zentrale Stelle
in der Nahrungskette der Meere einnahm. Frühere Fehler, die zur Überfischung oder gar dem Kollaps von Fischbeständen geführt hatten, sollten
vermieden werden, um den „optimalen Höchstbetrag“ des „most sustainable
yields“, das als Leitlinie der internationalen Fischereiwissenschaften gilt, zu
erzielen und damit eine rationelle Befischung zu ermöglichen.98
Das mangelnde Wissen über die tatsächlichen Krillbestände war Motor der
Forschung, um die zukünftigen Folgen einer gezielten Befischung und damit
einer menschlichen Beeinflussung des fragilen antarktischen Lebensraumes
96 BArch, B 196 / 19967, Prof. Dr. Gotthilf Hempel an Dr. Volker Hauff (BMFT), 3. 6. 1979.
97 Sahrhage, Antarktis-Expedition 1975 / 76, S. 2.
98 BArch, B 196 / 20608, Dietrich Sahrhage u. a., Programm und Planung der 1. Deutschen
Krill-Expedition.
428
Christian Kehrt
abzuschätzen und in ein Nutzungsregime zu integrieren.99 Bereits 1968 hatte
man im Rahmen von SCAR mögliche Probleme einer intensivierten Krillfischerei diskutiert und mehr Wissen über dieses für die Nahrungsketten der
Meere wichtige Krebstier gefordert.100 Eine biologische Expertengruppe wurde
unter Beteiligung deutscher Wissenschaftler gebildet, deren ökologische
Fragestellungen dann im Rahmen der Krillexpeditionen verfolgt wurden. Die
Krillexperten und Meeresbiologen bewegten sich allerdings in einem politisch
aufgeladenen Spannungsfeld, das über den Bereich der Wissenschaften
hinausging. Mit ihrem Umweltwissen konnten sie eine Nutzung und damit
auch die Gefährdung des antarktischen Ökosystems ebenso befördern wie
auch einer unkontrollierten Befischung wissenschaftlich fundierte Grenzen
setzen, indem sie ihr meeresbiologisches Wissen in die Formulierung
internationaler Schutzkonventionen einfließen ließen. So stellt sich die
Frage, wie das Wissen über das antarktische Ökosystem zu einem neuen
Wissensregime führte, das zwischen der Skylla einer ungebremsten Ausbeutung durch moderne Fangflotten einerseits und der Charybdis eines kategorischen Verzichts auf die verlockenden Ressourcenpotentiale der Antarktis
vermittelte.
Das Rohprodukt des fangfrischen Krills bereitete allerdings im Unterschied zu
Fisch große Schwierigkeiten in der Verarbeitung und verlangte neue lebensmitteltechnische Ansätze. Das Krillfleisch ließ sich, trotz moderner Schälapparaturen aus der Shrimpsverarbeitung, nur schwer von der Schale trennen,
drohte in der Weiterverarbeitung seinen Geschmack zu verlieren und verfiel
zudem innerhalb weniger Stunden. Diese unmittelbare mit den stofflichen
Eigenschaften des Krills zusammenhängende Problematik ist im Kontext von
Ressourcenfragen relevant, da sich hier das Naturprodukt Krill den Nutzungskalkülen und Verarbeitungsversuchen beharrlich widersetzte. Aus diesem
Grund arbeiteten Fischereiwissenschaftler eng mit Lebensmitteltechnikern
zusammen, um marktfähige Krillprodukte zu entwickeln.101 All diese auf die
Herstellung eines Zwischen- oder Endprodukts abzielenden Experimente und
die damit einhergehenden technischen Fragen waren integraler Bestandteil der
Forschungsexpedition. So hatte das Bundesministerium für Forschung und
Technik im Rahmen der ersten deutschen Krillexpedition für zehn Millionen
DM ein kommerzielles Fabrikschiff gechartert, um lebensmitteltechnische
Versuche im großen Stil durchzuführen. Schließlich ging es darum, aus den
verschiedenen Zwischenprodukten, wie etwa der Krillfarce, Produkte wie
99 Stefan Böschen u. Peter Wehling, Wissenschaft zwischen Folgenverantwortung und
Nichtwissen. Aktuelle Perspektiven der Wissenschaftsforschung, Wiesbaden 2004;
Peter Wehling, Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens,
Konstanz 2006.
100 El-Sayed, History of BIOMASS, S. 1.
101 Sahrhage, Antarktis-Expedition 1975 / 76, S. 8; Wolfgang Schreiber u. a. (Hg.), Die
Verarbeitung von Krill (Euphausia superba Dana) zu Lebensmitteln, Hamburg 1981.
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„Dem Krill auf der Spur“
429
Krillfrikadellen, Suppen, Saucen oder Cremes herzustellen und diese auf
Geschmack und Konsistenz zu testen:
Rohkrillfarce ist eine in Farbe und Konsistenz lebhaft an Tomatenketchup erinnernde,
gallertartige Flüssigkeit, während Kochkrillfarce im Erscheinungsbild einer gröberen
Leberwurst gleicht (helle und dunklere, millimetergroße Teilchen), in der Konsistenz breiig
bis quarkähnlich ist und krebsartig-süß, im Anklang etwas nach Leber, schmeckt.102
Am aussichtsreichsten, aber auch aufwändigsten, erwies sich die sogenannte
Kochkrillfarce, die durch Abtrennen der Schalen vom Fleisch in einem
Grätenseparator erfolgte.103 Die restlichen großen, schnell verrottenden
Mengen reduzierte man zu Futtermehl, das im wachsenden Bereich der
Aquakulturen Verwendung fand. Als Fazit wurde festgehalten, dass die
Kochkrillfarce wohl am besten für tiefgefrorene Fertigerzeugnisse sei und
damit ein hochwertiges Eiweißnahrungsmittel darstelle.104 Krillprodukten
wurden jedoch keine allzu großen Marktchancen eingeräumt, allenfalls in
Form von Suppen und tiefgefrorenen Fertiggerichten, da der Preis und das
Nahrungsangebot darüber entschieden, ob Krill als Ersatz für bestehende
Lebensmittel infrage käme. Zudem traf das antarktische Krebstierchen nicht
unbedingt die Geschmäcker der verwöhnten Industrienationen, die Fleisch
und auch Fische vom oberen Ende der Nahrungskette bevorzugten. Vergeblich
versuchte Bundesforschungsminister Hans Matthöfer, die unter enormen
finanziellem Aufwand geförderten Lebensmittelalternativen wie Krillcremesuppen, Algenkekse und Fischfilets aus der Antarktis oder Aquakulturen in
einem öffentlichen Testessen anzupreisen:
Ein von der deutschen Hochseefischerei gestellter Koch verfeinerte die auf Kosten des
deutschen Steuerzahlers besorgten und vor allem für die Unterernährten dieser Welt
ausgesuchten Nahrungsmittel im feinen Restaurant ,Am Tulpenfeld‘.105
Aber nicht nur Essgewohnheiten und finanzielle Erwägungen, sondern auch
plötzlich auftretende toxikologische Bedenken stellten den antarktischen Krill
als Nahrungsressource grundsätzlich infrage. So fand man gegen Ende der
1970er Jahre heraus, dass der Chitinpanzer das für den Menschen giftige Fluor
aus dem Meer anreicherte:
Es handelt sich hierbei um das kürzlich aufgetauchte, höchst unerwartete und in dieser Höhe
im ganzen Tierreich einmalige Vorkommen von Fluor im antarktischen Krill. Der Gehalt
liegt so hoch, daß der Krill als Lebensmittel so nicht in Frage kommt. Wir wollen nun
natürlich versuchen, durch technologische Maßnahmen den Fluorgehalt auf ein vertretbares
102
103
104
105
Sahrhage, Antarktis-Expedition 1975 / 76, S. 87.
Es gab auch Ansätze, aus dem erhitzten Krillsaft durch Koagulation Eiweiß zu gewinnen.
Sahrhage, Antarktis-Expedition 1975 / 76, S. 88.
Peter Brügge, Vielleicht im Leben nie wieder Krill. Über ein Probe-Essen mit
Bundesforschungsminister Hans Matthöfer, in: Der Spiegel, 23. 8. 1976, S. 42.
430
Christian Kehrt
Maß zu senken, um diese Eiweißquelle doch noch direkt für die menschliche Ernährung
nutzbar zu machen.106
Die Fluorproblematik hatte Auswirkungen auf die Krillforschung wie auch die
Antarktispolitik der Bundesrepublik, da beide ihr Interesse an der Antarktis
mit dem Ressourcenpotential des Krebstieres begründeten. Allein das Bundesministerium für Forschung und Technologie hatte bereits dreißig Millionen DM in die Krillforschung investiert. So betonte der Leiter der Bundesforschungsanstalt für Fischerei in einem Brief an seinen Auftraggeber, dem
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, „daß hinter
dieser Problemstellung [des Fluors im Chitinpanzer des Krills] ein erhebliches
und sehr aktuelles Interesse steht.“107 Auf jeden Fall mussten nun die
bisherigen Verarbeitungsansätze umgestellt werden, da die favorisierte Krillfarce wegen des hohen Fluorgehaltes nicht mehr infrage kam. Aber auch hier
versuchten die Wissenschaftler, durch neue lebensmitteltechnische und
chemische Ansätze, die charakteristisch für die Herangehensweise der
Nahrungsmittel- und Krillexperten der Bundesforschungsanstalt für Fischerei
waren, die Fluorproblematik zu lösen.
Die Krillfischerei wurde jedoch nicht nur im Spiegel kritisiert. Auch das Kieler
Institut für Weltwirtschaft sprach dieser mit großer politischer Aufmerksamkeit bedachten Meeresressource die Wirtschaftlichkeit ab.108 Demgegenüber
verteidigte sich die Bundesforschungsanstalt für Fischerei in diesen sich
anbahnenden Wissenskonflikten um Sinn und Unsinn einer Befischung des
antarktischen Krills mit dem Argument, dass es sich um ein längerfristiges
Programm handele, das der Bundesrepublik in der schwierigen Situation der
Hochseefischerei Zugang zur Antarktis sichere. Zudem habe die deutsche
Fischerei auch bisher schon bewiesen, dass sie sich in Notzeiten recht
kurzfristig auf neue Produkte umstellen könne.109 Die Fischereiwissenschaftler
argumentierten gegen das Unwirtschaftlichkeitsargument der Wirtschaftsexperten mit längerfristigen strategischen Zielsetzungen und „einer dringend
benötigten Verbreiterung der wirtschaftlichen Basis unserer Fischerei“, die
durchaus rentabel sein könnten.110
Bedenken eher grundsätzlicher und ökologischer Art formulierte hingegen ein
Zoologe der Universität Heidelberg und Experte für bedrohte Säugetiere im
106 BArch, B 116 / 59795, Bundesforschungsanstalt für Fischerei, Institut für Biochemie und
Technologie an Prof. Diehl, Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und
Forsten, 17. 1. 1980.
107 Ebd.
108 Martin Hoffmeyer u. a., Marine antarktische Ressourcen und Antarktisforschung, Kiel
1982.
109 BArch, B 108 / 65345, Bundesforschungsanstalt für Fischerei an Bundesministerium für
Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, Betr. Studie des Instituts für Weltwirtschaft
Kiel „Antarktische Ressourcen und künftige deutsche Antarktisforschung“, 12. 9. 1978.
110 Ebd.
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„Dem Krill auf der Spur“
431
Europarat, Peter Röben, mit einem Brief an Bundesforschungsminister
Matthöfer :
Ich möchte Sie, sehr geehrter Herr Minister, bitten, die bundesdeutsche Beteiligung an
diesem Krillfischereiprogramm doch eingehend zu überdenken, und sich dafür einzusetzen,
daß eine Beteiligung unseres Landes an diesem – verzeihen Sie den harten Ausdruck – unter
unseren Ernährungsbedingungen gigantischen Unfug zurückgestellt wird. Es besteht doch
in der Tat für uns keinerlei Notwendigkeit, weitere Protein-Ressourcen auf ökologisch
bedenklichem Weg zu erschließen.111
Damit betonte der Umweltexperte, der der Nutzung des Krills sehr kritisch
gegenüberstand, die Tatsache, dass in Deutschland keine Versorgungsprobleme mit Fleisch oder Fisch beständen. Dennoch beharrte das Bundesministerium für Forschung und Technik trotz aller geteilten ökologischen Bedenken
auf der Notwendigkeit, weiterhin Ressourcenforschung zu betreiben. In der
recht allgemein ausfallenden Antwort wurde auf den Eiweißbedarf von
Entwicklungsländern sowie die Abhängigkeit Deutschlands von Einfuhren im
Primärsektor hingewiesen.112 Der Heidelberger Krillkritiker befürchtete dennoch, dass bereits Fangmengen von etwa 100.000 Tonnen das fragile
ökologische Gleichgewicht der Antarktis stören könnten. Er zeigte sich in
seinem Antwortschreiben aber beruhigt darüber, dass die Bundesrepublik der
„Convention for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources“
(CCAMLR) beitreten und hierfür umweltwissenschaftliche Forschung betreiben wolle.113
Die Fragen des antarktischen Ökosystems und die Grenzen der Krillfischerei
bestimmten auch BIOMASS Ende der 1970er Jahre, das die Datengrundlage zu
einer ökologisch sinnvollen Nutzung der Krillbestände legen und zugleich der
Formulierung einer internationalen Schutzkonvention der antarktischen
Meeresressourcen dienen sollte. Wissenschaftlicher Kern von BIOMASS war
eine „Volkszählung des Krills“ mit hydroakustischen Methoden.114 Diese
Datenerhebungen zur Biomasse sowie Fangstatistiken bildeten die Grundlage
für ein zukünftiges Ressourcenmanagement. Damit setzte die BIOMASSExpedition im großen Maßstab zentrale Ansätze der deutschen Krillexpeditionen fort. Es verwundert nicht, dass auch hier deutsche Wissenschaftler
erneut Schlüsselpositionen besetzten, wie etwa im wissenschaftlichen Aus111 BArch, B 116 / 65356, Peter Röben, Zoologisches Institut, an Bundesministerium für
Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, Krill-Fischerei, 17. 5. 1979.
112 Ebd., Kleeschulte an Herrn Röben, Zoologisches Institut Heidelberg, 30. 5. 1979.
113 Ebd., Zoologisches Institut Heidelberg an Bundesministerium für Landwirtschaft,
Ernährung und Forsten, Betr. Krill-Fischerei, 7. 6. 1979.
114 Deutsches Hydrographisches Institut (Hg.), Antarktis 1980 / 81. Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zum First International BIOMASS Experiment (FIBEX), FS
„Meteor“ Reise 56, FFS „Walter Herwig“ Reise 44, Hamburg 1981, S. 20.
432
Christian Kehrt
schuss von CCAMLR, der erstmals im Jahr 1983 unter der Leitung von Dietrich
Sahrhage zusammentrat.
CCAMLR ist eine zwischenstaatliche Organisation, die zum Schutz der
marinen Lebewesen im südlichen Ozean durch die Antarktisvertragsstaaten
initiiert wurde. Die Konvention ging aus dem Antarktisvertrag hervor und
folgte dem gleichen Regime, insofern Fragen der Ressourcennutzung und des
Umweltschutzes durch wissenschaftliche Experten behandelt wurden. Sie
wurde 1980 in Canberra, Australien durch 15 Länder, darunter auch die BRD
und die DDR, unterzeichnet.115 An der Teilnahme weltweit organisierter
Umweltschutzorganisationen zeigt sich, dass über den engeren Bereich der
Meeresforschung hinaus globale Fragen der Nutzung und Bewahrung des
antarktischen Ökosystems behandelt wurden.116
Im Zentrum der Krillforschung und auch von CCAMLR stand ein Ansatz, der
die Komplexität des antarktischen Ökosystems zur Voraussetzung der Ressourcennutzung machte.117 Die Antarktis wurde als Lebensraum für zahlreiche
Tierarten verstanden, die in vielfältigen und komplexen Wechselbeziehungen
standen. Diese verfügten zwar über eine große Biomasse, waren jedoch
aufgrund der kalten Wassertemperaturen und längeren Reproduktionszyklen
besonders anfällig gegen Verschmutzung und äußere Eingriffe. Krill galt in
diesem Zusammenhang als ein Schlüsselobjekt, das Auskunft über den
Zustand des antarktischen Ökosystems geben konnte. Von grundlegendem
Interesse auch für das angestrebte wissensbasierte Management des Krills
waren sogenannte baseline-Daten, das heißt Wissen über den Krillbestand vor
der Beeinflussung durch den Menschen, um die eigentlichen Auswirkungen
der Fischerei überhaupt richtig beurteilen zu können.118 Vor dem Hintergrund
der intensivierten Krillforschung und auch der steigenden Fangerträge
konnten im Rahmen von BIOMASS und CCAMLR erhebliche und anfangs
unerklärliche Fluktuationen der Krillbestände festgestellt werden, die eine
intensivierte Nutzung infrage stellten. Für ein zukünftiges Management
wurden mehrere Optionen diskutiert: erstens, das Verbot jeglicher Nutzung
antarktischer Meeresressourcen mit dem Ziel einer Wiederherstellung des
115 Argentinien, Australien, Belgien, Chile, Frankreich, DDR, BRD, Japan, Neuseeland,
Norwegen, Polen, Südafrika, UdSSR, Großbritannien, USA, Südkorea, Namibia,
Spanien, Schweden, Ukraine, Uruguay. Seit 1982 gehören ebenfalls Brasilien, China,
die Europäische Gemeinschaft, Indien und Italien dazu. Bulgarien, Kanada, Cook
Islands, Finnland, Griechenland, Mauritius, Niederlande, Peru und Vanuatu haben
ebenfalls die Konvention unterschrieben, waren aber nicht Mitglieder der Kommission.
116 Hinzu kamen Vertreter der EU, der FAO, der International Whaling Commission (IWC),
des SCAR, des IOC, der UNESCO, des SCOR und der International Union for the
Conservation of Nature (IUCN). Vgl. CCAMLR, Report of the First Meeting of the
Commission for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources, Hobart 1982.
117 Gotthilf Hempel, BIOMASS, in: Environment International 13. 1987, S. 27 – 31.
118 CCAMLR, Report of the Third Meeting of the Scientific Committee, Hobart 1984.
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„Dem Krill auf der Spur“
433
Ökosystems vor Eingriff des Menschen; zweitens, die Reduzierung jener mit
Walen konkurrierenden Krillfresser, die sich negativ auf die dezimierten
Walbestände auswirkten; drittens, die rationelle Nutzung von Ressourcen, die
noch nicht ausgebeutet waren, und welche innerhalb von dreißig Jahren
gegebenenfalls wieder rückgängig gemacht werden könnte. Diese Variante
wurde von den Teilnehmern von CCAMLR beschlossen.119
Im Fokus standen damit nicht allein wissenschaftsinterne, epistemologische
oder forschungspolitische Fragen, sondern die Abwägung und Aushandlung
zukünftiger Möglichkeiten und Grenzen der Ressourcenexploration. Gerade
die Dezimierung der antarktischen Walbestände, die zuallererst Krill als
Ressource sichtbar machte, führte den Meeresbiologen die Problematik einer
ungebremsten industrialisierten Nutzung der antarktischen Meeresressourcen vor Augen. Andererseits waren die Wissenschaftler von ihren Staaten
beauftragt, die Ressourcenpotentiale im jeweiligen nationalen Interesse zu
erschließen. Ein kategorisches Nein zur Nutzung der antarktischen Ressourcen, wie sie bereits Anfang der 1970er Jahre von Neuseeland im Rahmen der
UN-Weltparkkonferenz formuliert und in den 1980er Jahren insbesondere
durch Greenpeace vertreten wurde, stellte keine wirkliche Option für die
damaligen Akteure der Antarktisforschung dar :
Der Verzicht auf jegliche Nutzung der Antarktis, in der Hoffnung, daß sich das alte
Gleichgewicht zwischen den Krillkonsumenten und dem Krill wieder einstellt, scheint
unrealistisch. Ein totaler Naturschutz für ein Sechstel des Weltmeeres ist politisch nicht
durchsetzbar und angesichts der Eiweißlücke auch nicht vertretbar, obschon auch die
Antarktisfischerei das globale Verteilungsproblem nicht lösen wird.120
Eine gezielte Befischung sollte vielmehr dazu beitragen, die antarktischen
Fischbestände zu steigern und zu verbessern. So sei der weißblütige Antarktisfisch
nur deshalb mit Parasiten befallen, weil hier noch keine wirkliche Befischung und
Belebung der Kulturen stattgefunden habe. Im Unterschied zur Variante eines UNRegimes, das eine unkontrollierte Nutzung ohne wissenschaftliche Begleitforschung ermöglichte, oder zu dem Weltparkmodell, das den Krill nicht als
Ressource nutzen wollte, gelang es den hier beteiligten Wissenschaftlern, ein
Wissensregime zu etablieren, das zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen,
ökologischen, nationalen und internationalen Interessen mithilfe eines rationellen
wissensbasierten Lösungsansatzes zu vermitteln suchte.
Ein Verzicht auf Krillfischerei aus wirtschaftlichen oder ökologischen Motiven war
für die beteiligten Akteure aus Wissenschaft und Politik jedenfalls keine Option.
Vielmehr galt es, innerhalb des sich neu etablierenden Nutzungsregimes eigene
Interessen zu artikulieren und möglichst frühzeitig in führender Position beteiligt
zu sein. Diese Strategie der Teilhabe im internationalen Schutzregime war nicht
119 Ebd., S. 27.
120 Gotthilf Hempel, Das antarktische Ökosystem und seine fischereiliche Nutzung, in:
Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 25. 1981, S. 55 – 68, hier S. 67.
434
Christian Kehrt
allein ökologisch motiviert, sondern vor allem machtpolitisch. Dies lässt sich
anhand der Aktenlage belegen. Aus Sicht der Bundesrepublik wollte man
möglichst früh an dieser Konvention und an der Formulierung möglichst hoher
Fangquoten beteiligt sein, damit die „Entwicklung einer Krillfischerei in vertretbarem Umfange keine Behinderung erfährt.“121 Durch ihre wissenschaftlichen
Experten konnte die Bundesrepublik Einfluss auf die Endfassung der Konvention
zum Schutz der lebenden antarktischen Ressourcen nehmen.122
Im Verlauf der 1980er Jahre setzte sich im Rahmen von CCAMLR ein wissensbasiertes Monitoring der antarktischen Meeresressourcen durch. Das wirtschaftliche Interesse an Krill schien allerdings zu sinken, wenngleich verschiedene
Nationen weiterhin Krillfischerei betrieben, um daraus Futtermehl für Lachsaquakulturen oder Krillöl herzustellen.123 Dietrich Sahrhage kam Anfang der
1990er Jahre schließlich zu der nüchternen Bilanz, dass die Möglichkeiten des
Krills als Ressource überschätzt wurden.124 Für die Meeresforscher ergab sich
dann eine neue Situation, als sich herausstellte, dass die Schwankungen der
Krillbiomasse vermutlich mit den Umweltbedingungen der Packeiszone und
damit mit langfristigen klimatischen Veränderungen in Verbindung standen.
Offensichtlich hat die Krillbiomasse in den letzten dreißig Jahren um rund
achtzig Prozent abgenommen.125 Diese beträchtliche Reduktion der Krillbestände
wurde bereits Anfang der 1980er Jahre von den Krillforschern diskutiert, als die
ersten soliden Datenerhebungen und Fangstatistiken auf dem Tisch lagen. Vor
dem Hintergrund der Wissenskonflikte um den anthropogenen Klimawandel
gewannen diese Einsichten eine neue gesellschaftliche Relevanz. Nun wechselte
der kleine Walkrebs erneut seine Bedeutung und avancierte zum Schlüsselindikator des Klimawandels.126
121 BArch, B 116 / 65356, Bundesforschungsanstalt für Fischerei an Bundesministerium für
Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, Antarktisvertrag, Konvention zum Schutze der
lebenden antarktischen Ressourcen, 24. 8. 1978.
122 Ebd., Antarktisvertrag, Konvention zum Schutze der lebenden antarktischen Ressourcen, 7. 6. 1978.
123 Krillöl war wegen seiner ungesättigten Omega-3-Fettsäuren für Ernährungszwecke
gefragt.
124 Aufgrund der geringen Reproduktionsrate setzten die Krillexperten die jährlichen
Fangmengen im Verhältnis zur Gesamtbiomasse „niedrig“ an, sodass mit einem
angemessenen Management („proper management“) eine jährliche Fangmenge von
zehn Millionen Tonnen möglich wäre. Dieser Betrag überschritt die höchsten tatsächlichen Fangmengen immerhin um das zwanzigfache und blieb gemessen an den
tatsächlichen globalen Fangmengen, die im Bereich von siebzig Millionen Tonnen lagen,
signifikant. Vgl. Sahrhage u. Lundbeck, History of Fishing, S. 295.
125 Meyer, Antarctic Krill, S. 17.
126 Volker Siegel, The Antarctic Krill. Resource and Climate Indicator. 35 Years of German
Krill Research, in: Journal of Applied Ichthyology 26. 2010, S. 41 – 46.
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„Dem Krill auf der Spur“
435
V. Fazit: Wissensregime und Ressourcenpolitik
Die Geschichte des antarktischen Krills, der in den 1970er Jahren auf die
internationalen Forschungsagenden rückte, ist ein gutes Beispiel, an dem sich
die Entstehung eines Wissensregimes im Spannungsfeld von Ökonomie und
Ökologie untersuchen lässt. Das antarktische Wissensregime zeichnet sich
durch internationale Kooperationen und die Hegemonie wissenschaftlicher
Expertise aus. Allerdings zeitigten die in den 1970er Jahren neu auftretenden
und bis dato durch den Antarktisvertrag nicht hinreichend geregelten Fragen
einer zukünftigen Ressourcennutzung neue Probleme, die ein Wissensregime
notwendig machten, das stärker als bisher ökologische Gesichtspunkte
berücksichtigte. Meeresbiologisches Wissen sollte dazu beitragen, die Probleme der Überfischung zu vermeiden, klare Fangquoten zu formulieren und für
den Schutz der Bestände zu sorgen, aber letztlich auch ihre Nutzung
ermöglichen. Insofern spielte fischereiwissenschaftliches und meeresbiologisches Wissen, wie es in Deutschland insbesondere in Kiel und Hamburg
produziert wurde, eine große Rolle. Ökologische Fragen wurden in ein
wissensbasiertes Management der Ressource integriert, ohne dieses grundsätzlich infrage zu stellen. Dieses Regime war nicht unumstritten und ging mit
Konflikten und alternativen Ansätzen einher. Umweltschützer forderten, die
Antarktis ganz unter Naturschutz zu stellen, während insbesondere Staaten
der Dritten Welt ein UN-Regime ohne die Voraussetzung eines wissenschaftlichen Engagements und damit einen freien Zugang zur Antarktis und ihren
Rohstoffen favorisierten. Letztlich konnten sich jedoch die für das Antarktisvertragssystem typische Vorrangstellung der Wissenschaften und die damit
transportierten strategischen Interessen der Teilnehmerstaaten durchsetzen.
Da im Rahmen des Antarktisvertrages Wissen die einzige Möglichkeit
darstellte, Zugang zur Antarktis und ihren Rohstoffen zu erlangen, und die
Bundesrepublik befürchtete, dass der exklusive Club der Antarktisvertragsstaaten diesen Kuchen allein unter sich aufteilen würden, kam den Wissenschaftlern eine Schlüsselposition zu, die sie ins Zentrum ressourcenorientierter politischer Kalküle stellte. Wissen hatte eine strategische, auf die Zukunft
abzielende Bedeutung, da es einen Möglichkeitsraum aufspannte, der neue
Handlungsoptionen für die Politik eröffnete. Die Wissenschaftler hatten in
diesem Zusammenhang nicht nur eine beratende Funktion für die Politik inne,
sondern wurden selbst zu Akteuren der Antarktispolitik, da Wissen das
entscheidende Kriterium in diesem Regime darstellte und globale, ressourcengetriebene geopolitische Interessen kanalisierte.
Dass die Antarktisforschung nicht rein innerwissenschaftlich motiviert war,
sondern mit geopolitischen Motiven einherging, verdeutlicht das deutsche
Fallbeispiel. Aufgrund der Neuregelungen der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen verloren die unter deutscher Flagge fahrenden Fischfangflotten Zugang zu wichtigen Fanggründen. Aus global- und wissensgeschichtlicher Perspektive stellt sich diese Geschichte jedoch nicht allein als „Struktur-
436
Christian Kehrt
wandel“ oder „Niedergang“ dar, sondern verortet die Bundesrepublik in
globalen Problemhorizonten der Ressourcennutzung, die durchaus typisch für
das Antarktisvertragssystem in den langen 1970er Jahren waren. Im Zeitraum
der drei deutschen Krillexpeditionen in den Jahren 1975 bis 1981 etablierte
sich auf internationalem Parkett ein neues Wissensregime zum Schutz der
lebenden antarktischen Meeresressourcen, an dem die Bunderepublik durch
ihre Fischereiexperten aus ressourcenpolitischen Gründen teilnahm.127 Wissenschaftler der Bundesforschungsanstalt für Fischerei in Hamburg sowie
Kieler Meeresbiologen vermittelten zwischen nationalen Interessen und
länderübergreifenden Anliegen der Meeres- und Polarforschung und hatten
eine wissenspolitische Scharnierfunktion inne.
Aus diesem ressourcenpolitisch motivierten Zusammenhang institutionalisierte sich Ende der 1970er Jahre die deutsche Polarforschung mit der
Gründung des Alfred-Wegener-Instituts und dem Beitritt zum Antarktisvertrag. Deutschland wurde innerhalb weniger Jahre zu einem wichtigen Spieler
im Club der Polarnationen. Diese Geschichte ist eng mit dem kleinen
Krebstierchen des antarktischen Krills und mit dem Fischereibiologen Gotthilf
Hempel verknüpft, der 1981 zum Gründungsdirektor des Alfred-WegenerInstituts für Polar- und Meeresforschung ernannt wurde. Allerdings konnte
der antarktische Krill trotz seiner immensen Biomasse die in ihn gesetzten
Erwartungen nur bedingt erfüllen. Letztlich sprachen Essgewohnheiten,
Wirtschaftlichkeitserwägungen, aber auch stoffliche Eigenschaften und ökologische Bedenken gegen einen intensivierten Krillfang im globalen Maßstab.
Als Schlüsselobjekt hat er jedoch neue Einsichten in das komplexe antarktische Ökosystem ermöglicht und der Bundesrepublik den Weg ins Antarktisvertragssystem gebahnt.
Dr. Christian Kehrt, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Neuere Sozial-,
Wirtschafts- und Technikgeschichte, Holstenhofweg 85, 22039 Hamburg
E-Mail: [email protected]
127 Die Etablierung eines Regimes zur Nutzung mineralischer Ressourcen der Antarktis war
hingegen weitaus konfliktbeladener und scheiterte lange an den divergierenden
Interessen der Signatarstaaten, da hier brisante territoriale Besitzansprüche ins Spiel
kamen.
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Die Weltmeere
Science und Fiction des Unerschöpflichen in Zeiten neuer
Wachstumsgrenzen
von Sabine Höhler
Abstract: In the 1970s the world’s oceans were not just another resource to be developed, they were imagined as a place of inexhaustible supply, an unlimited reservoir
of proteins, mineral resources and human living space, supplementing the exploited
landmasses. This article argues that the sciences, technologies and politics of ocean
exploration promoted the image of the earth’s biotic and abiotic matter as convertible
and replaceable in perfect metabolic cycles. Human matter, the earth’s only excess
living resource, was seen as feeding directly into these global supply chains and
recycling systems. The eco-technological reorganization of the earth’s environment,
based on biomass as the communal unit, opened the oceans up as a new dimension in
the global economy and ecology of flows.
I. Neue Grenzen und Horizonte um 1970
„Soylent Green“ heißt ein Film aus dem Jahr 1973, der das New York City der
Zukunft als verschmutzt, überhitzt und vollkommen überfüllt vorstellt. Der
Regisseur des Films Richard Fleischer erklärte, er habe „schmerzlich prophetisch“ zeigen wollen, was passierte, wenn sich zu viele Menschen einen zu
kleinen Raum teilten. Im Jahre 2022 könnten es Fleischer zufolge vierzig
Millionen sein. Rücksichtslose Polizeitruppen halten die ausgehungerte
Menschenmenge mit Schaufelbaggern in Schach. Lebensmittel, wie wir sie
kennen, sind nur noch für eine winzige Elite verfügbar. Die Millionen hingegen
ernähren sich von den synthetischen Eiweißchips der Soylent Corporation.
Der letzte Schrei auf den rationierten Wochenmärkten ist Soylent Green, ein
hochkonzentrierter Keks aus Plankton, angeblich gewonnen aus der unerschöpflichen Proteinmasse der Weltmeere.1
Nicht zufällig beschließt Ariane Tanner ihren Beitrag im vorliegenden Heft mit
einem Hinweis auf diesen Film, der die apokalyptischen Visionen und die
wissenschaftlichen Daten zusammenbringt, die um 1970 über die Versorgungslage einer rasant wachsenden Weltbevölkerung im Umlauf waren. Das
Unternehmen Soylent, so erfahren die Zuschauer in einem besonders
herzzerreißenden Moment des Filmes, hat die scheinbar unerschöpflichen
Ressourcen der Weltmeere bereits vor Jahren ausgeplündert. Die Ozeane sind
1 Soylent Green, Metro-Goldwyn-Mayer, USA 1973.
Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 437 – 451
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014
ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000
438
Sabine Höhler
wie die Landmassen der Erde längst ausgetrocknet, vergiftet und leblos.
Soylent Green ist das Ergebnis einer geheimen Absprache herrschender
Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler, die getroffen wurde, um Hungerrevolten und Massenaufstände zu vermeiden und bestehende Machtgefüge
zu erhalten. Das nahrhafte Gebäck besteht nicht aus Meeresalgen, sondern aus
einem anderen nahrhaften Stoff, der vielleicht letzten im 21. Jahrhundert noch
im Überfluss vorhandenen biotischen Ressource: aus Menschenmasse. Der
Mensch ist buchstäblich in den globalen Nährstoffkreislauf eingespeist
worden.
Das Problem wachsender Bevölkerungen und schwindender Rohstoffe, so die
furchtbare Vision des Films, ließe womöglich eine Situation denkbar werden,
in der die verbrauchte Natur einfach abgetrennt und die Nahrungskette
kurzgeschlossen wird. Der Mensch stellt nun den Anfang und auch das Ende
eines wissenschaftlich-technisch realisierten Prozesses dar, der alle Materie
restlos verstoffwechselt. Der Film radikalisiert die Überhöhung des Menschen
über die Natur, indem er als Folge dieser Hybris einen perfekten Kreislauf
imaginiert, den der Mensch zu regulieren meint und der den Menschen doch
vollständig verschlingt. Damit kommentiert der Film auf zynische Weise die
Kontrollphantasien der Kybernetiker der 1960er und 1970er Jahre, die
glaubten, soziale und natürliche Prozesse gemeinsam in regulative Feedback-Schleifen fassen zu können.2
Tatsächlich wurde insbesondere in den westlichen Industriestaaten die
Ökologie der irdischen Wasser-, Energie-, Mineralien- und Nährstoffzyklen
um 1970 holistisch als ein System fragiler globaler Kreisläufe diskutiert und
mit Berechnungen der natürlichen Vorräte und der wachsenden weltweiten
Bedarfe in Zusammenhang gebracht. Einige der im Film angesprochenen
Prozesstechniken der Gewinnung und Raffinerie von Soja und Plankton als
Nahrungsmittel wurden bereits erprobt oder waren schon verfügbar. Die
Leistung des Films besteht darin, die Überlegungen von Wissenschaftlern und
Technikern zum irdischen Metabolismus in die nahe Zukunft zu verlängern,
und so zu zeigen, wie ausgerechnet ein staatlich reguliertes Massenleben und
Massensterben zum Motor einer effizienten Versorgungs- und Verwertungsmaschinerie werden könnte, die genügsamer und wirtschaftlicher wäre als die
ausschweifende westliche Ökonomie der Nachkriegszeit. Bezeichnenderweise
arbeitet diese visionäre Industrie mit den Prinzipien und Infrastrukturen des
vorhandenen Abfalltransport- und Aufbereitungswesens.
Damit schließt der Film einen weiteren Kreis. Er antwortet auf zeitgenössische
Aufrufe von amerikanischen und europäischen Systemökologen und ökolo-
2 Zur kybernetischen Phantasie der Beherrschbarkeit der Zukunft siehe Michael Hagner
u. Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte
der Kybernetik, Frankfurt 2008; Andrew Pickering, Kybernetik und neue Ontologien,
Berlin 2007.
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Die Weltmeere
439
gisch motivierten Ökonomen, das kapitalistische Wachstumsgebot des Westens zu brechen und stattdessen in materiell geschlossenen Kreisläufen zu
wirtschaften. Das Bewusstsein um die Begrenztheit der Erde im 20. Jahrhundert und die Endlichkeit ihrer Rohstoffe und Absorptionsfähigkeit müsse sich
darin niederschlagen, dass mit natürlichen Ressourcen in suffizienter und
zugleich effizienter Weise gehaushaltet werde. Einem endlichen geschlossenen
System könne weder etwas zugeführt noch etwas abgeführt werden. Sämtliche
Materie, Grund- und Reststoffe, so die Forderung, sollten gewissenhaft genutzt
und vollständig wiederverwertet werden.3
II. Die Meere: Vom Transitraum zum Weltraum
Was wie Science-Fiction anmutet, wurde zeitgenössisch durchaus als Science
Fact verhandelt, als wissenschaftlich beglaubigte Tatsache. Um 1970 legten
westliche Ökologen immer neue Berechnungen darüber vor, wie sich natürliche Rohstoffe, Bevölkerungen und Umwelten auf einem absolut begrenzten
Planeten Erde zueinander verhielten. Mit Science-Fiction-Autoren teilten
diese Wissenschaftler ähnlich umfassende Anliegen von angeblich globaler
Reichweite. Mit ihrem Bild einer einzigen Erde oder One Earth setzten sie sich
über Problembeschreibungen und Lösungsvorschläge anderer Nationen
insbesondere des Globalen Südens hinweg.4 Sie beklagten die Vergiftung des
Planeten und den Raubbau an der Natur und sie wiesen wiederholt auf das
gefährdete „Überleben der Menschheit“ hin. Sie entwarfen bedrohliche
Szenarien, trafen weitreichende Vorhersagen und wiesen Regulations- und
Steuerungspotenziale aus. Dabei nutzten sie ähnliche narrative Strategien,
3 Kenneth E. Boulding, The Economics of the Coming Spaceship Earth, in: Henry Jarrett
(Hg.), Environmental Quality in a Growing Economy. Essays from the Sixth RFF Forum,
Baltimore 1966, S. 3 – 14; Howard T. Odum, Environment, Power, and Society, New York
1970; Hans Magnus Enzensberger u. Karl Markus Michel (Hg.), Ökologie und Politik,
oder Die Zukunft der Industrialisierung (= Kursbuch, Bd. 33), Berlin 1973.
4 Diese Situiertheit der Problemwahrnehmung wurde spätestens beim ersten Umweltgipfel der Vereinten Nationen 1972 in Stockholm deutlich. Die sogenannten Entwicklungsländer begegneten den vermeintlich globalen Umweltfragen der Industriestaaten
mit der Forderung nach einem globalen Entwicklungsgipfel. Siehe Barbara Ward u.
Ren Dubos, Only One Earth. The Care and Maintenance of a Small Planet. An Unofficial
Report Commissioned by the Secretary-General of the United Nations Conference on
the Human Environment, New York 1972; John McCormick, The Global Environmental
Movement. Reclaiming Paradise, London 1989, Kap. 5: „The Stockholm Conference
(1970 – 1972)“, S. 88 – 105.
440
Sabine Höhler
indem sie gegenwärtige Beobachtungen über Wachstums- und Schwundprozesse in die Zukunft verlegten.5
Die Sicht auf die Weltmeere als Füllhörner der Erde spiegelt die zeitgenössischen Ängste und die Hoffnungen wider, die in den Staaten des Westens mit
der Frage der Grenzen des Planeten um 1970 verbunden waren. Als diese
Diskurse über die verbleibenden Möglichkeiten der Menschheit und über
mögliche neue Horizonte vorherrschend wurden, kamen die Meere als
Rohstoffreservoire und als Lebensraum auf die nationalen und internationalen
Tagesordnungen.6 Die Vorstellung der Meere als Nahrungs- und Rohstoffspeicher der Gegenwart und Zukunft erhielt auch dadurch Auftrieb, dass Mitte
des 20. Jahrhunderts neue technowissenschaftliche Möglichkeiten eine baldige
Erschließung des ozeanischen Raumes verhießen. Vormals utopisch scheinende Nutzungsformen, wie die Algenzucht, die Krillernte, die Abschöpfung
immer entlegenerer Fischgründe, der Abbau unterseeischer Erze, das Anzapfen von Ölvorräten in vormals unerreichbaren Tiefen und selbst die Kolonisation von neuem Grund und Boden gelangten jetzt in praktische Reichweite.
Die Beiträge dieses Heftes verdeutlichen das Phantastische daran, die Meere im
„Ökologischen Zeitalter“ als Ergänzungsräume einer endlichen Welt zu
verhandeln, die historisch landbasiert war.7 Ob als Proteinmasse, Meeresbodenschatz, Lebensraum oder Abfallbecken – die Meere versprachen praktisch
unbegrenzte Kapazitäten. Sie wurden daher, so ein zentrales Argument dieses
Heftes, nicht schlicht als eine weitere zu erschließende Rohstoffquelle
wahrgenommen, sondern als Orte des Unerschöpflichen in Zeiten neuer
Wachstumsgrenzen.
Mit diesem Argument plädieren die Autorinnen und Autoren dieses Heftes für
eine neue Stellung der Meere in der zeitgeschichtlichen Forschung. Sozial- und
kulturgeschichtlich, wissenschafts- und technikgeschichtlich, umweltgeschichtlich und nicht zuletzt rechtsgeschichtlich verdient das Meer ebenso
viel historiografische Aufmerksamkeit wie das Land, wenn es darum gehen
soll, die Umwelt- und Ressourcenfragen zu verstehen, die sich um 1970 herum
in der hochindustrialisierten Welt verdichteten. Die Aufmerksamkeit der
Geschichtsschreibung, so legen es die Beiträge nahe, muss dabei über Aspekte
5 Donella H. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project
on the Predicament of Mankind, New York 1972. Zur Zukunftsmetapher der Blaupause
siehe z. B. Paul R. Ehrlich u. Anne H. Ehrlich, The End of Affluence. A Blueprint for Your
Future, New York 1974; Edward Goldsmith u. a., A Blueprint for Survival, London 1972;
Sabine Höhler, „The Real Problem of a Spaceship Is Its People“. Spaceship Earth as
Ecological Science Fiction, in: Gerry Canavan u. Kim Stanley Robinson (Hg.), Green
Planets. Ecology and Science Fiction, Middletown, CT 2014, S. 99 – 114.
6 Patrick Kupper, Die „1970er Diagnose“. Grundsätzliche Überlegungen zu einem
Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: AfS 43. 2003, S. 325 – 348.
7 Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011; Sabine
Höhler, Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960 – 1990, London [2015].
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Die Weltmeere
441
des Handels und der internationalen Schiffsrouten, über seerechtliche Fragen
und militärische Flottenstrategien deutlich hinausgehen. Sie muss über eine
Forschungstradition hinausweisen, die das Meer vorrangig als Transit- und
Zwischenraum der Kontinente wahrgenommen hat. Die zeitgenössisch so
intensiv diskutierten Fragen der Meereserschließung und der völkerrechtlichen Stellung der Hoch- und Tiefsee zeigen, dass die Meere als geopolitisch
umkämpfte und geostrategisch operationalisierte Räume und Umwelten ganz
eigener Art angesehen werden müssen. Eine historische Forschung, die das
Meer als einen Weltraum ernst nimmt, wird die Kulturgeschichte, die
Forschung und Technik und die Territorialpolitik der Meereserschließung
mit der Wahrnehmung einer globalen Umweltproblematik verknüpfen. Jede
Einzelstudie, so führt es das Heft vor, muss die historische Kontextualisierung
in verschiedene Richtungen vorantreiben, um das Eigentümliche und das
Eigensinnige des Meeres als neue Umwelt herauszuarbeiten.
Um diesen Forschungsauftrag weiter zu präzisieren, möchte ich im Folgenden
drei globale Räume skizzieren, in welche die tradierten Narrative der Meere im
20. Jahrhundert eingelassen wurden: Ich beginne mit dem neuen geografischen Raum, der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch die Vermessung,
Kartierung und Sichtbarmachung der Tiefsee und des Meeresbodens herausbildete. Daran anschließend beleuchte ich das Meer als einen Raum der Macht,
der sich weit über militärische Operationen hinausgehend durch eine neue
internationale Meerespolitik konstituierte. Drittens betrachte ich das Meer als
einen Raum der Flüsse und Kreisläufe, gebildet durch jene Stoffe und
Substanzen, die eine globale Ökonomie und Ökologie der Meere mobilisierten. Mithilfe dieser drei Räume, die nicht getrennt voneinander, sondern als
sich überlagernd betrachtet werden sollten, möchte ich abschließend die
Beiträge dieses Heftes unter dem Aspekt des „Amphibischen“ diskutieren: Wie
war das amphibische Projekt der Meereserschließung verfasst, und wie schrieb
sich der Mensch in dieses Projekt ein?
III. Raum der Tiefe
Lange vor dem 20. Jahrhundert waren die Ozeane tief: abgründig, fremd und
bedrohlich, aber auch mystisch, unermesslich und verheißungsvoll.8 Wenn
man von der Fischerei, dem Walfang, der Flottenpolitik und der Kriegsführung
einmal absieht, stellte die Hochsee im Wesentlichen eine praktisch zu
überwindende Oberfläche dar, wenn auch eine gefahrvolle und oftmals
8 Stefan Helmreich, Alien Ocean. Anthropological Voyages in Microbial Seas, Berkeley,
CA 2009; Natascha Adamowsky, Annäherungen an eine Ästhetik des Geheimnisvollen.
Beispiele aus der Meeresforschung des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Krohn (Hg.),
Ästhetik in der Wissenschaft. Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und
Darstellen von Wissen, Hamburg 2006, S. 219 – 232.
442
Sabine Höhler
tückische. Wenn es um Erkundung und Navigation, um transnationalen
Schiffsverkehr oder um Gütertransport ging, waren die Meere flach. Tief im
wissenschaftlichen Sinne ihrer gründlichen Vermessung und Kartierung
wurden sie erst im 19. Jahrhundert. Mit der Bezifferung entstand erst die
moderne metrische Meerestiefe, die sich durch erschöpfende biologische,
physikalische und geologische Explorationen materialisierte: durch Tiefenlotungen und Temperaturwerte, Sedimentproben und Salzgehaltsbestimmungen, und nicht zuletzt durch die aus den tiefsten Tiefen entnommenen
Exemplare bis dato unbekannter Arten, die auf den Ursprung des Lebens selbst
rückschließen lassen sollten. Im 20. Jahrhundert wurden die Meere als
mehrdimensionale Räume erfahrbar und durch die Zusammenschau der
gewonnenen Daten sichtbar : In Profilzeichnungen, bathymetrischen Karten
und evolutionstheoretischen Modellen entstanden die Weltozeane neu.9
Die ozeanografische Vorstellung des Meeres als eines „versiegelten (Wissens-) Volumens, überfließend an Wissen und Instruktion“ weist auf den
neuen Zugang zur Tiefe als eines immensen und doch ermessbaren Raumes
hin.10 Die Science-Fiction-Romane Jules Vernes vermittelten zwischen den
beiden Perspektiven auf die Tiefe. Vernes Erzählung über die Reise des
Unterseeboots „Nautilus“ aus dem Jahre 1870 beschreibt einen Raum, der
bekannt und fremd zugleich ist. Die „Nautilus“ ist selbst ein Meisterwerk
wissenschaftlicher und technischer Präzision. Ausgestattet mit präzisen
Kontrollgeräten und selbstregistrierenden Instrumenten navigiert sie den
unterseeischen Raum. Fortwährend werden Leserinnen und Leser mit physikalischen, geografischen und nautischen Details versorgt. Dennoch trifft die
„Nautilus“ auf ihrer „außergewöhnlichen Reise“ auf mythische Wesen und auf
den versunkenen Kontinent Atlantis. Vernes Geschichte zeigt, dass die
moderne Wahrnehmung der Meere populäre Phantasmen nicht ablegte,
sondern dass sie das Unwahrscheinliche und schier Unglaubliche in neue
Erzählungen einband. Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer koexistierten
Wissenschaft und Fiktion in einem Raum, der zugleich faktisch und fantasievoll war.11
Vernes Geschichte präsentiert die Meere als eigene Welten, die der Mensch
nicht mehr nur überqueren sollte, sondern die er durchpflügen und für sich
nutzbar machen konnte: als Fischgrund, Anbau- und Abbaufläche, als
9 Helen M. Rozwadowski, Fathoming the Ocean. The Discovery and Exploration of the
Deep Sea, Cambridge, MA 2005; Sabine Höhler, „Dichte Beschreibungen“. Die
Profilierung ozeanischer Tiefe im Lotverfahren von 1850 bis 1930, in: David Gugerli
u. Barbara Orland (Hg.), Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen
Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2002, S. 19 – 46.
10 Matthew Fontaine Maury, Explanations and Sailing Directions to Accompany the Wind
and Current Charts, 2 Bde., Washington 18588, hier Bd. 1, S. 114: „a sealed volume,
abounding in knowledge and instruction“.
11 Jules Verne, 20.000 Meilen unter den Meeren [1870], Frankfurt 2003.
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Die Weltmeere
443
Wohnraum oder Versteck. Im 20. Jahrhundert sollten sich solche Visionen
mithilfe neuer Technologien realisieren. Experimente, die Meere als Raum und
Grund für den Menschen urbar zu machen und den Menschen in der Tiefe
anzusiedeln, kamen während des Kalten Krieges zur Blüte, als politische und
militärische Interessen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs enorme
finanzielle Mittel in die ozeanografische Forschung und Technik spülten.
Selbst die gefürchteten U-Boot-Flotten des Zweiten Weltkriegs erschienen
technisch anspruchslos angesichts der Versuche, Menschen an die herrschenden physischen Bedingungen auf dem Meeresgrund anzupassen.12
Die Meere stellten in vielerlei Hinsicht Spiegelbilder der Erkundung und
Einnahme extremer Umwelten an Land dar, wie der höchsten Berge oder der
unwirtlichsten und entlegensten Regionen der Erde. In der Tradition der
großen Forschungsreisenden tauchte im Jahre 1960, verfolgt von erheblicher
Medienaufmerksamkeit, das bemannte US-amerikanische Tauchboot „Trieste“ in die tiefste Rinne der Ozeane hinab, in den knapp 11.000 Meter tiefen
Marianengraben im Pazifischen Ozean. In Kosten und Aufwand standen die
Technik des Tieftauchens und die unterseeische Habitatforschung der Besiedelung von unwirtlichem Terrain oberhalb der Meeresspiegel in nichts nach.
Dies verwundert nicht, versprachen doch militärische Operationen unter
Wasser mehr Flexibilität und Bewegungsraum als die Verteidigung zu Lande.
In Bezug auf die damit verknüpften Hoffnungen lässt sich die Eroberung der
Meere eher mit jener anderen vertikalen Eroberung des 20. Jahrhunderts
vergleichen, nämlich die des Luftraumes.13
IV. Machtraum
Die Weltmeere als im 19. und 20. Jahrhundert neu aufgespannte geografische
Räume waren machtdurchzogen im Sinne der wissenschaftlichen Präsenz und
der imperialen und militärischen Vorherrschaft. Als mit allen anderen
irdischen Räumen in Bezug stehend waren sie überdies Machträume der
internationalen Politik. Die Beiträge des Heftes zeigen, dass die Meere neben
den besiedelten Landmassen der Erde in neuer Weise zum Gegenstand
nationaler Besitzansprüche und internationaler Vereinbarungen wurden.
Über Jahrhunderte hinweg galten Hochsee und Tiefsee als freies Land.
Außerhalb der Küstengebiete konnten die Meere weder formal besetzt noch
besessen werden, weshalb ihre Schätze allen zugutekommen sollten. Das
12 Sven Asim Mesinovic, Die Eroberung der Meere. Die Unterwasserlaboratorien Helgoland (BRD) und Tektite (USA) im Umweltdiskurs 1968 – 1973, Diss. EUI Florenz 2012;
Jacob Darwin Hamblin, Oceanographers and the Cold War. Disciples of Marine Science,
Seattle 2005.
13 Sabine Höhler, Luftfahrtforschung und Luftfahrtmythos. Wissenschaftliche Ballonfahrt
in Deutschland, 1880 – 1910, Frankfurt 2001.
444
Sabine Höhler
Prinzip der Freiheit der Meere, mare liberum, wurde im frühen 17. Jahrhundert nach dem römischen Konzept des ius naturale beziehungsweise des
Naturrechts formuliert und im 19. Jahrhundert völkerrechtlich allgemein
anerkannt. Rechtlich geregelt wurden außerdem die Hochseefischerei und die
Handelsschifffahrt. Der Meeresboden und der Meeresuntergrund spielten zu
dieser Zeit in wirtschaftlicher und in militärischer Hinsicht kaum eine Rolle.
Wie die Hochsee blieben sie frei – Räume, die immerhin rund siebzig Prozent
der Erdoberfläche ausmachten.14
Das 20. Jahrhundert forderte diese jahrhundertealten Arrangements technologisch heraus. In den 1960er Jahren nahm die unterseeische Erdöl- und
Erdgasförderung zu. Manganfunde in der Tiefsee versprachen neue Erzquellen. 1969 bereitete die Buchveröffentlichung des Deutschamerikaners Joachim
Joesten, „Wem gehört der Ozean?“, den neu entfachten Kampf um die
Weltmeere und insbesondere um die untermeerisch „schlummernden Schätze“ für eine breite Leserschaft auf.15 Sven Mesinovic zeigt in seinem Beitrag in
diesem Heft, wie angesichts des lückenhaften Seerechts, der überschäumenden
wirtschaftlichen Hoffnungen, der Pläne zur militärischen Nutzung, aber auch
der zunehmenden Überfischung und Verschmutzung der Meere die traditionellen völkerrechtlichen Prinzipien erneut auf den Prüfstand kamen und
binnen zweier Jahrzehnte in neue Eigentumsregime überführt wurden. Drei
große Konferenzen der Vereinten Nationen berieten 1956, 1960 und nochmals
ab 1973 über die Neuregelung der ozeanischen Eigentums- und Nutzungsrechte. An deren Ende sollte das im Jahre 1982 beschlossene und 1994
ratifizierte internationale Seerechtsabkommen („United Nations Convention
on the Law of the Sea“, UNCLOS) stehen, das Territorialgewässer neu
definierte und das Konzept der exklusiven Wirtschaftszonen (Exclusive
Economic Zones) für den küstennahen Rohstoffabbau und Fischfang etablierte.16
1969, im Jahr der ersten Mondlandung, war es der zweifache „Griff des
Menschen nach bisher unerreichbaren Höhen und Tiefen“, der diesen neuen
Abschnitt der Meeresgeschichte einläutete und die Frage aufwarf: „Soll allein
14 Hugo Grotius, The Free Sea [1609], hg. v. David Armitage, Indianapolis 2004; Norman
Weiß (Hg.), Hugo Grotius. Mare Liberum, Potsdam 2009; Sabine Höhler, Exterritoriale
Ressourcen. Die Diskussion um die Meere, die Pole und das Weltall um 1970, in:
Johannes Paulmann u. a. (Hg.), Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine
globale Welt (= Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook,
Bd. 15), München [2014].
15 Joachim Joesten, Wem gehört der Ozean? Politiker, Wirtschaftler und moderne Piraten
greifen nach den Weltmeeren, München 1969.
16 United Nations Convention on the Law of the Sea (UNCLOS) 1982, http://www.un.org/
Depts/los/convention_agreements/texts/unclos/unclos_e.pdf; Edward L. Miles, Global
Ocean Politics. The Decision Process at the Third United Nations Conference on the Law
of the Sea, 1973 – 1982, Cambridge, MA 1998.
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Die Weltmeere
445
das Recht des Erstgekommenen und des Stärkeren gelten, oder aber sollen
Weltraum und Meeresboden zur res communis der Menschheit werden?“17 Die
Weltmeere bildeten neben dem erdnahen Weltraum und den Polargebieten die
bedeutendsten Räume im Diskurs über mögliche und wünschenswerte
Zuschnitte terrestrischer und extraterrestrischer Gebiete zwischen Niemandsland und Gemeindeland. Als einschlägig für den Ansatz, die Meere als Global
Commons beziehungsweise als globales Gemeinschaftsgut zu deklarieren, gilt
der Vorstoß des Mittelmeerstaates Malta in Person seines UN-Botschafters
Arvid Pardo, der vor der UN-Vollversammlung im Jahre 1967 dafür plädierte,
den Boden der Weltmeere außerhalb nationalstaatlicher Hoheitsgewässer zum
Gemeingut zu erklären, das ausschließlich friedlichen Zwecken vorbehalten
bleiben und dessen natürliche Rohstoffe ausschließlich dem allgemeinen
Interesse der Menschheit dienen sollten. Pardo knüpfte die Tradition der
Freiheit der Meere an ein neues internationales Regime, das nur durch die
Vereinten Nationen gewährleistet werden könne.18
Die Vertreter globaler Commons-Regelungen betonten die Notwendigkeit des
gerechten Zugangs aller zu lebenswichtigen irdischen Ressourcen wie Luft und
Wasser. Irdische Räume, die natürliche Prozesse aufrechterhielten – wie die
Atmosphäre oder eben die Meere, aber auch Räume, in die infrastrukturelle
Prozesse eingelagert waren, so wie der Luftraum und der Weltraum außerhalb
der Grenzen nationaler Souveränität –, sollten gemeinschaftliches Eigentum
aller Menschen bleiben. Verantwortlichkeiten und Verfügungsrechte sollten
nicht zuerst gemäß physischer Präsenz, geografischer Nähe oder dem
technischen, militärischen und ökonomischen Vermögen einzelner Nationen
verteilt werden, sondern entlang neuer partizipatorischer Grundsätze, die
auch die Bedürfnisse der Länder der sogenannten sich entwickelnden Welt des
Globalen Südens gegenüber dem privilegierten Norden anerkannten.
So ist es kein Zufall, dass das Prinzip des Common Heritage of Mankind, des
gemeinsamen Erbes der Menschheit, zuerst im internationalen Seerecht
formal artikuliert und auf den Meeresboden als gemeinschaftlich verwalteten
irdischen Raum zugeschnitten wurde. Die Erklärung der Vereinten Nationen
von 1970 über die Nutzung des Meeresbodens besagte: „The seabed and ocean
floor, and the subsoil thereof, beyond the limits of national jurisdiction […], as
well as the resources of the area, are the common heritage of mankind.“19 Dabei
waren es die modernen Wissenschaften der Ozeanografie und die Techniken
der Tiefseeforschung, die den Meeresgrund erst als erschließbare und
ertragreiche Ressource in die allgemeine Wahrnehmung brachten. Das
17 Joesten, Wem gehört der Ozean?, S. 7, Herv. i. O.
18 Arvid Pardo, Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, 1. 11. 1967,
http://www.un.org/depts/los/convention_agreements/texts/pardo_ga1967.pdf.
19 UN General Assembly Resolution A / Res / 25 / 2749, 12. 12. 1970, Declaration of Principles Governing the Seabed and the Ocean Floor, and the Subsoil Thereof, beyond the
Limits of National Jurisdiction, Art. 1, http://www.un-documents.net/a25r2749.htm.
446
Sabine Höhler
internationale Ringen um die Meere um 1970 muss auch als Zeichen dafür
gesehen werden, dass Tiefsee und Meeresgrund nicht vorrangig geschützt,
sondern vielmehr genutzt werden sollten. Die verhandelten Schutzprinzipien
verwahrten die Meere vor allem vor den militärischen und ökonomischen
Zugriffen einzelner mächtiger Staaten und Unternehmen. Sven Mesinovic
zeigt anhand der gebräuchlichen Landmetaphorik der „Urbarmachung“ des
Meeresbodens, wie nahe die Politiken der internationalen Vergemeinschaftung und der nationalen Aneignung der Meere beieinander lagen.
V. Raum der Flüsse
Eine Geschichte der Meere im 20. Jahrhundert, die inter- und transnationale
Fragen ihrer Kommunalisierung oder Territorialisierung in ihr Zentrum stellt,
erfordert einen Perspektivwechsel: Das Festland wird zum Zwischenraum, die
Kontinente werden zu Inseln in einer Welt der Flüsse. Die Beiträge des
vorliegenden Heftes argumentieren, dass dieser Raum der Flüsse anders als die
irdischen Landmassen nicht durch die Fiktion fester Ordnungen charakterisiert ist, sondern durch die Fiktion schier endloser Ströme und Kreislaufprozesse.
Wieder zeigt sich eine epochale Koinzidenz: Ebenfalls seit dem Jahr 1970
werden die klimatischen Bedingungen der Biosphäre verstanden als durch
geschlossene Stoffkreisläufe aufrechterhalten, die die Grundlage für sämtliche
Lebensprozesse auf der Erde bilden.20 Die ökologische „Entdeckung“ des
irdischen Metabolismus um 1970 macht verständlich, dass die Meere als Teil
des fragil und bedroht erscheinenden globalen irdischen Ökosystems in den
Blick gerieten. Einerseits übernahmen die Meere die Funktion der Absorption
von Giftstoffen, die sich an Land mit nicht intendierten Folgen verdichteten:
Abwässer und Altlasten, aber auch toxische Rückstände wurden bis in die
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein verklappt, das heißt illegal im Meer
entsorgt, bevor die sogenannte „London Dumping Convention“ 1972 dieser
Praxis weltweit zumindest formal einen Riegel vorschob.21
Andererseits bildeten die Meere einen zentralen Teil der ökologischen
Kreislaufprozesse. Sie wurden als geradezu unerschöpfliche Quelle imaginiert,
die scheinbar mühelos nachlieferte, was an Land knapp geworden war :
Wasser, Proteine, Mineralien und Öl. Die Schatzkammer der Menschheit legte
20 George Evelyn Hutchinson, The Biosphere. A Scientific American Book, San Francisco
1970.
21 Die Convention on the Prevention of Marine Pollution by Dumping of Wastes and Other
Matter wurde im November 1972 verabschiedet und trat 1975 in Kraft. International
Maritime Organization, http://www.imo.org/about/conventions/listofconventions/
Pages/Default.aspx. Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Ozeane in einer weiteren
Senken-Funktion als Kohlendioxid-Speicher interessant.
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Die Weltmeere
447
den Abbau neuer Bodenschätze, wie es Mesinovic darstellt, und die intensivierte und planmäßige Ausbeutung der „lebenden Ressourcen“ der Meere, wie
Franziska Torma ausführt, nahe.22 Modelle des nachhaltigen Ertrags, wie sie in
der Populationsforschung des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt worden
waren, wurden dabei auf sämtliche Ressourcenflüsse der Erde erweitert.23 Das
Meer, das dem deutschen Meeresbiologen Gotthilf Hempel zufolge als „größter
Lebensraum der Erde“ wertgeschätzt werden sollte, so verdeutlicht es
Christian Kehrt in seinem Beitrag, lud zu einem neuen Begriff des Lebensraumes ein. Dieser Lebensraumbegriff bezeichnete nicht mehr in erster Linie
das geopolitische, territoriale Konzept, wie es im frühen 20. Jahrhundert
propagiert wurde, sondern ein bio-geo-ökologisches Verständnis der räumlichen Lebensbedingungen auf der Erde, das den Menschen in die globalen
biosphärischen Kreisläufe miteinbezog.24
Dieser Stoffwechsel des Meeres, an den sich die ökologische Forschung und die
Ressourcenökonomik richteten, stellte neben der Boden- und Landmetaphorik der Aneignung und Ausbeutung, wie sie Mesinovic anführt, vor allem eine
organische Metapher vor, die Metapher des zirkulierenden Stoffes beziehungsweise des Blutes. Dieser Perspektivwechsel von der „Urbarmachung“ zur
„Urnahrung“ des Meeres, wie er so eindrücklich von Ariane Tanner beschrieben wird, konnte sich deshalb vollziehen, weil in der Mitte des 20. Jahrhunderts
neben der Territorialisierung irdischer Räume auch die Theorie und Praxis der
Quantifizierung zur Analyse und Bilanz ökologischer Räume in den Vordergrund rückten. Der eingangs beschriebene Science-Fiction-Film „Soylent
Green“ von 1973 nahm diese Praxis der Ökobilanzierung vorweg, um die ihr
eingeschriebene Fiktion der exakten Bezifferung, der Verrechenbarkeit kommensurabler Einheiten und der Restlosigkeit auf die Spitze zu treiben.25
22 Vergleiche die Beiträge von Franziska Torma und Sven Mesinovic in diesem Heft,
S. 354 – 381 u. S. 382 – 402.
23 Themenheft „Nature’s Accountability“, Science as Culture 19. 2010, hg. v. Sabine Höhler
u. Rafael Ziegler.
24 Zum Lebensraum in der Politischen Ökonomie und Politischen Geografie des frühen 20.
Jahrhunderts siehe Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012; zum Konzept des Lebensraums in der
Geoökologie und Politischen Ökologie des späteren 20. Jahrhunderts z. B. Frank
Benjamin Golley, A History of the Ecosystem Concept in Ecology. More Than the Sum of
the Parts, New Haven, CT 1993.
25 Themenheft „Rechnen mit der Natur. Ökonomische Kalküle um Ressourcen“, Beiträge
zur Wissenschaftsgeschichte 37. 2014, hg. v. Lea Haller u. a.
448
Sabine Höhler
VI. Lebensraum Meer: Ein amphibisches Projekt
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die neue Sicht des Westens auf die
Meere als ökologische Räume in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine
Ökologie der globalen Stoffkreisläufe antrieb, die verbunden war mit der
Fiktion, biotische und abiotische Substanzen in endlosen Schleifen zirkulieren, konvertieren und substituieren zu können. Technokratische Zukunftsvisionen legten nahe, die Ozeane könnten, wie Tanner ausführt, entgegen
thermodynamischen Grundsätzen die von den Menschen benötigte Nahrung
und Energie quasi „wie von selbst“ allein durch Sonnenlicht produzieren. Neu
an dieser Vorstellung war, dass sich der Mensch nicht nur als Administrator,
sondern auch als ein Teil des globalen ökologischen Dienstleistungssystems
verstand. Die Beiträge des vorliegenden Heftes beleuchten unterschiedlichste
Projekte der Meeresbewirtschaftung als Versuche der effizienten Reorganisation einer absolut begrenzten irdischen Umwelt, die den Menschen als Akteur
und als Bestandteil enthielt. Die neue Aufmerksamkeit für die Meere als
(menschliche) Lebensräume um 1970 kann damit auch als Indiz für einen
neuen Organizismus gelesen werden. Die Meere, so das in den Beiträgen zum
Ausdruck kommende Bild, trieben eine Unternehmung an, die ich als
amphibisch bezeichnen möchte.
Die Vorstellung eines umfassenden funktionalen Metabolismus der Erde
umschloss auch eine neue Form der ökologischen Vergemeinschaftung, die
den Menschen in die zirkulierenden Massen beziehungsweise in die irdische
Biomasse miteinschloss. „Politische Probleme galten als biologisch in ihrer
Ursache, und als womöglich die ganze Spezies Mensch betreffend“, so die
Beobachtung des Bevölkerungshistorikers Matthew Connelly zu den Kalkülen
der Humanökologen westlicher Provenienz in den 1970er Jahren.26 Seine
Beobachtung verweist darauf, dass zeitgenössische Vorschläge zur Lösung von
Raum- und Ressourcenfragen meist biologisch formatiert wurden. In ihren
Berechnungen und Warnungen scheuten diese Ökologen weder vor sehr
großen Zeiträumen noch vor sehr großen Zahlen zurück. Ihre Masseäquivalenzen und -umformungen natürlicher Rohstoffe und Lebensräume einerseits
und menschlicher Verbraucher andererseits machen noch heute schier
schwindeln. Der US-amerikanische Humanökologe Garrett Hardin etwa
rechnete hoch, dass mit der Bevölkerungswachstumsrate von zwei Prozent
im Jahre 1970 in nur 600 Jahren bei einer Bevölkerung von 8,27 x 1014
Menschen auf sämtlichen Landflächen der Erde nur noch „Stehplätze“
verfügbar seien. Wolle man sich vorstellen, dass nach und nach die gesamte
Erdmasse aufgezehrt und in Menschenmasse verwandelt würde, wäre in nur
26 Matthew Connelly, Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population,
Cambridge, MA 2008.
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Die Weltmeere
449
1.557 Jahren die irdische Maximalbevölkerung von 1,33 x 1023 Menschen
erreicht.27
Hardin gab zu, dass solche Rechenexperimente mit hochaggregierten Lebensformen beziehungsweise Massen durchaus lächerlich anmuteten.28 Der Sinn
solcher mathematischer Übungen sei es, eine politische Wahl zu erzwingen.
Die Beiträge dieses Heftes, die über Unterwasserhausexperimente, das
Expertenmanagement von Fischbeständen, die neue Krill-Cuisine und die
Algenaufzucht berichten, führen vor, wie in Zeiten absoluter irdischer Grenzen
ein Zwang zur Wahl samt eines limitierten Spektrums von Wahlmöglichkeiten
erst konstruiert wurde. Kehrt zeigt am Beispiel der bundesdeutschen Krillforschung, wie „Notzeiten“ diskursiv konstruiert wurden, die nicht auf die
Gegenwart der wohlhabenden Nachkriegsgesellschaft abzielten, sondern auf
eine unsichere Zukunft. Die Referenz an die Weltkriege unterstützte dieses
Projekt, hatten sich doch die Deutschen bereits als leidensfähig erwiesen.
„Not“ versammelte die Gemeinschaft, indem sie diese auf harte Einschnitte
vorbereitete. Not legitimierte notwendige Maßnahmen wie Nahrungsersatzprodukte, so lange nur die basalen Kreisläufe des Lebens funktional blieben.
Nationale Notgemeinschaften wie die deutsche standen um 1970 einer
imaginierten neuen globalen Notgemeinschaft gegenüber, der „ganzen
Menschheit“, deren „Überleben“ zunehmend bedroht schien. Ebenso wie
Krill und Plankton wurde diese ganze Menschheit als eine bezifferbare Menge
aus abzählbaren Lebewesen und zugleich als Teil der planetarischen Biomasse
betrachtet. Und wie die Planktonmasse, die Krillschwärme oder die Fischpopulationen verfolgte die neue globale Gemeinschaft der menschlichen Lebewesen angeblich kollektive Abhängigkeiten und Interessen sowie gemeinsame
Werte und Verantwortungen, wie nationale Sicherheit, Ernährungssicherheit,
Energiesicherheit und Ressourcenunabhängigkeit. Das amphibische Projekt
der Durchdringung des Lebensraums Meer bezeichnet die Summe der
Unternehmungen, um die Kultivierung der Ozeane voranzutreiben: die
Terranisierung unterseeischer Rohstoffspeicher, der Aushub von Bodenschätzen, aber auch die Intensivierung der Hochseefischerei. Um 1970 fanden die
menschlichen Interventionen in den Stoffwechsel des Meeres ihren bizarren
Höhepunkt wohl in der von Tanner referierten Idee: „Der Mensch sollte da
mitessen, wo im Allgemeinen das Zooplankton frisst.“29
Mit wissenschaftlich-technischem Optimierungsbestreben wurden vermeintlich identische Stoffe gegeneinander verrechnet oder substituiert. Die Tauschbeziehungen wurden so entworfen, dass in der Summe ein neues und ebenso
27 Garrett Hardin, Exploring New Ethics for Survival. The Voyage of the Spaceship Beagle,
New York 1972, S. 172. Hardin bezieht sich auf vorangegangene Arbeiten zur These
„Standing Room Only“: Edward A. Ross, Standing Room Only?, New York 1927; Karl
Sax, Standing Room Only. The Challenge of Overpopulation, Boston 1955.
28 Hardin, Exploring New Ethics for Survival, S. 174.
29 Siehe den Beitrag von Ariane Tanner in diesem Heft, S. 323 – 353, hier S. 342.
450
Sabine Höhler
adäquates Ganzes entstünde, im Anschluss an das utilitaristische Prinzip des
Engländers Jeremy Bentham aus dem 19. Jahrhundert, „the greatest good for
the greatest number“.30 Von Kehrt erfahren wir, dass das Vorhaben einer
deutschen Krill-Massenspeisung schon zu seiner Zeit als „gigantischer Unfug“
bezeichnet wurde – als unsinnig, da volkswirtschaftlich unnötig, und darüber
hinaus ungenießbar, und als ungehörig, da sie sich der Frage nach ihren
ökologischen Konsequenzen vollständig verweigerte. Obwohl Alternativen im
Raum standen, hielten aber Westdeutschland und andere westliche Industriestaaten an ihren Plänen fest.
VII. Science und Fiction der Effizienz
Spätestens an dieser Stelle erweist sich freilich, dass der Krill für die
Bundesrepublik Deutschland nicht nur ein ernährungspolitisches Phantasma,
sondern auch und vor allem ein geopolitisches Projekt von enormer Reichweite darstellte. Vor dem Hintergrund globaler Bevölkerungs- und Ernährungsfragen lieferte die Krillforschung die Eintrittskarte Westdeutschlands in
die Polarforschung. Konkret, so führt Kehrt aus, ging es um die Mitbestimmung im Antarktischen Vertrag, einem internationalen Vertragswerk, das auf
einer Politik der Präsenz fußte: Konsultativstaaten mussten ihr Mitspracherecht durch effektive permanente Besetzungsaktivität in der Antarktis legitimieren, und sie demonstrierten diese Aktivität durch ozeanografische,
meteorologische oder geografische Forschungsexpeditionen und die Einrichtung von Forschungsstationen.
Sämtliche Beiträge des Heftes weisen auf geografische Verschiebungen im
globalen Gefüge um 1970 hin, die mit den epistemischen Verschiebungen hin
zur Betrachtung des Meeres als Lebensraum Hand in Hand gingen. Ob
Ressourcenökonomik, Ozeanografie, Meeresbiologie und Geologie, oder
Populationsforschung und Humanökologie, die Wissenschaften versprachen
Raumgewinn mit neuen Mitteln. Sven Mesinovic zeigt, wie eine hochtechnisierte Forschungsstation auf dem Meeresboden zum Zeichen der unterseeischen Siedlungspolitik Westdeutschlands als einem rohstoffarmen „Kurzküstenstaat“ werden konnte. Franziska Torma führt vor, wie die Bundesrepublik die antikommunistische Politik des Westens fortsetzte, indem sie deutsche
Fischereiexperten an der asiatischen Küste anrücken ließ. Auf einer begrenzten Erde ließ sich das westliche Wohlstandsmodell nicht mehr nur direkt vor
Ort, sondern auch vor Thailand verteidigen.
Das Credo aller im Heft beschriebenen Prozessoptimierungen lautete „Entwicklung“. Entwickelt wurden nicht nur neue Technologien des Lebens unter
30 Jeremy Bentham, The Works of Jeremy Bentham, 11 Bde., Edinburgh 1838 – 1843, hier
Bd. 10: Memoirs Part I and Correspondence, S. 142: „the greatest happiness of the
greatest number is the foundation of morals and legislation“.
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Die Weltmeere
451
Wasser, Technologien des Abbaus untermeerischer Rohstoffe und Technologien des Algenanbaus, sondern auch Wissenschaft und Technik, ja das Wissen
selbst, wurden zum Teil globaler Entwicklungsmodelle, um die Länder des
Globalen Südens nachholend als funktionalen Teil in die globale Gemeinschaft
zu integrieren. Die Modernisierung der „Entwicklungsländer“ sollte globale
Macht- und Wohlstandsgefälle nivellieren, wurde aber durch diese Gefälle
angetrieben und reproduzierte sie zugleich.
Torma führt vor, wie das Entwicklungsprojekt das westliche Wissen zu der
zentralen Ressource machte, um die natürlichen „Bestände“ der sich entwickelnden Welt effizient zu nutzen und zu verwalten. Ökologische und
ökonomische Ressourcenflüsse sollten sich auf wissenschaftliche Weise
produktiv miteinander vermischen. In einem endlosen Kreislauf, so die Idee
der Experten, sollten wissenschaftliches Wissen und Rohstoff Fisch ineinander
konvertiert werden und sich dabei wie von selbst vermehren. Die beiden
Kapitalformen mögen monetär gleichwertig gewesen sein, aber gleichartig
waren sie nicht. Die Verwechslung von ökologischer Balance und ökonomischer Bilanz zog folgerichtig nach sich, dass das Naturkapital Fisch durch das
Humankapital Wissen nicht nur verdrängt, sondern buchstäblich ersetzt
wurde. Aber auch diese Substitution war durchaus konsequent. Denn faktisch
gelang es der neuen globalen Ökonomie und Ökologie, einen Kreislauf zu
schaffen, der alle Science-Fiction seiner Zeit einholte, indem er sich zügig und
effizient gleichsam restlos selbst aufzehrte.
Dr. Sabine Höhler, KTH Royal Institute of Technology, Division of History of
Science, Technology and Environment, Teknikringen 74 D, 100 44 Stockholm,
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E-Mail: [email protected]
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Nachruf auf Hans-Ulrich Wehler (1931–2014)
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