Redaktionsanschrift Geschichte und Gesellschaft, Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universität Berlin, FB Geschichts- und Kulturwissenschaften, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstr. 20, D-14195 Berlin E-Mail: [email protected] (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes) Wissenschaftliche Assistenz: Norman Aselmeyer und Veronika Settele, M.A. Sekretariat: Kathrin Kliss E-Mail-Adresse der Redaktion: [email protected] Alle Anfragen und Manuskriptangebote bitte an diese Adresse. Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. Geschichte und Gesellschaft (Zitierweise GG) erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. 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KG, Göttingen Printed in Germany Satz: www.composingandprint.de Druck- und Bindearbeit: q Hubert & Co, GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen. ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000, ISSN (E-Journal): 0340-613X 1 Beilage: V&R Academic ipabo_66.249.64.190 Geschichte und Gesellschaft Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft Herausgegeben von Jens Beckert / Christoph Conrad / Sebastian Conrad / Ulrike Freitag / Ute Frevert / Svenja Goltermann / Dagmar Herzog / Wolfgang Kaschuba / Simone Lässig / Paul Nolte / Jürgen Osterhammel / Margrit Pernau / Sven Reichardt / Stefan Rinke / Rudolf Schlögl / Manfred G. Schmidt / Martin Schulze Wessel / Adam Tooze / Hans-Peter Ullmann Geschäftsführend Christoph Conrad / Ute Frevert / Paul Nolte Vandenhoeck & Ruprecht ipabo_66.249.64.190 Geschichte und Gesellschaft 40. Jahrgang 2014 / Heft 3 Lebensraum Meer Herausgegeben von Christian Kehrt und Franziska Torma Vandenhoeck & Ruprecht Inhalt Christian Kehrt und Franziska Torma Einführung: Lebensraum Meer. Globales Umweltwissen und Ressourcenfragen in den 1960er und 1970er Jahren Introduction: Lebensraum Sea. Global Environmental Knowledge and Resources in the 1960s and 1970s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Ariane Tanner Utopien aus Biomasse. Plankton als wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Projektionsobjekt Utopia Out of Biomass. Plankton as an Object of Scientific and Societal Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Franziska Torma Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital. Westdeutsche Fischereiexperten am Golf von Thailand (1959 – 1974) Living Resources and Symbolic Capital. West German Fisheries Experts in the Gulf of Thailand (1959 – 1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Sven Asim Mesinovic Globale Güter und territoriale Ansprüche. Meerespolitik in der Bundesrepublik Deutschland und den USA in den 1960er Jahren Global Common Spaces and Territorial Requests. Ocean Politics in the Federal Republic of Germany and the United States in the 1960s . . . . . . 382 Christian Kehrt „Dem Krill auf der Spur“. Antarktisches Wissensregime und globale Ressourcenkonflikte in den 1970er Jahren Krill Research. The Antarctic Knowledge Regime and Global Resource Conflicts in the 1970s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Sabine Höhler Die Weltmeere. Science und Fiction des Unerschöpflichen in Zeiten neuer Wachstumsgrenzen The World’s Oceans. The Science and the Fiction of the Inexhaustible in a Time of New Limits to Growth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 ipabo_66.249.64.190 Einführung: Lebensraum Meer. Globales Umweltwissen und Ressourcenfragen in den 1960er und 1970er Jahren von Christian Kehrt und Franziska Torma* Abstract: This thematic issue advances the theory that the oceans should be considered part of the contemporary history of West Germany. Three main aspects guide this proposal: oceans are spaces of global history ; their study could enhance the understanding of the global processes and conflicts which affected the Federal Republic of Germany during the long 1970s; the oceans were considered to be one of humanity’s last reservoirs of inexhaustible resources in times of planetary scarcity. The Federal Republic of Germany was interested in exploring and using oceanic resources for economic, scientific, and political purposes. The entanglement of science, technology and politics played a crucial role in ocean exploration, and generated a specific form of environmental knowledge which has not been investigated. 1968 analysierte der amerikanische Ökologe Garrett Hardin mit seinem scharfsinnigen und weit rezipierten Beitrag „The Tragedy of the Commons“ das Problem der Überbevölkerung und die daraus resultierenden AllmendeDilemmata.1 Gegen alle technisch-wissenschaftlichen Versuche, die Versorgung einer dramatisch wachsenden Weltbevölkerung sicherzustellen, betonte er die grundsätzliche Beschränktheit weltweiter Ressourcen. Die damals verheißungsvollen Zukunftsprojekte der Weltraumfahrt, der Kernenergie oder der Industrialisierung der Landwirtschaft stellten für ihn keine Lösung dar. Auch die Nutzung von Meeresressourcen verstand er als Beleg für die unkontrollierte, zerstörerische Verwertung globaler Gemeingüter. Dieser umstrittene Essay Hardins, der sich für ein radikales Nullwachstum der Weltbevölkerung aussprach, ist zeitdiagnostisch aufschlussreich, da er die Versorgung der Menschheit im Kontext globaler Ressourcenfragen diskutierte * Die in diesem Themenheft behandelten Fragestellungen und Kooperationen wurden durch das Rachel Carson Center for Environment and Society motiviert und gefördert. Für wichtige Hinweise, Anregungen und Kritik danken wir Martina Heßler, Gotthilf Hempel und Volker Siegel. 1 Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons, in: Science 162. 1968, S. 1243 – 1248, hier S. 1243; vgl. Ingo Heidbrink, „Deutschlands einzige Kolonie ist das Meer!“ Die deutsche Hochseefischerei und die Fischereikonflikte des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2004, S. 185 – 187; vgl. zu Global Commons: Michael Goldman, Privatizing Nature. Political Struggles for the Global Commons, New Brunswick 1998; Cornelis Disco u. Eda Kranakis (Hg.), Cosmopolitan Commons. Sharing Resources and Risks Across Borders, Cambridge, MA 2013. Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 313 – 322 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000 314 Christian Kehrt und Franziska Torma und gerade jene wissenschaftlich-technischen Lösungsansätze hinterfragte, die in den 1960er und 1970er Jahren Konjunktur hatten. Als eine der Global Commons standen die Ozeane im Zentrum von internationalen Debatten, die das Meer mit Fragen der Welternährung, mit geostrategischen Überlegungen des Kalten Krieges sowie der Umweltausbeutung und -verschmutzung verknüpften.2 Obwohl die Meere als Transportwege, als Ressourcenreservoir, als Lebensraum und als Schlachtfeld zentrale Aspekte einer Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts berühren, hat sie die deutsche Zeitgeschichte bisher so gut wie nicht beachtet.3 Als Interaktionsräume bringen sie verschiedene Kulturen miteinander in Kontakt und sind, so Jürgen Osterhammel, durch länderübergreifende Verflechtungen und Austauschbeziehungen geprägt. Bislang jedoch wurden diese „Lieblingsräume von Globalhistorikern“ vor allem für die Frühe Neuzeit untersucht, während sie für das 19. Jahrhundert undeutlich geblieben sind.4 Gleiches gilt für das 20. Jahrhun2 Dazu auch: Elisabeth Mann Borghese, Die Zukunft der Weltmeere. Ein Bericht für den Club of Rome, Zürich 1985. 3 Vgl. zu den verschiedenen Räumlichkeiten, Nutzungsformen und politischen Regimen der Meere: Philipp E. Steinberg, The Social Construction of the Ocean, Cambridge, MA 2001. 4 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 157. Eines der ersten Werke über die Rolle der Ozeane in der Geschichte ist Fernand Braudels dreibändige Studie zur mediterranen Welt („La Mditerrane et le monde mditerranen l’poque de Philippe II“), die als seine Habilitationsschrift im Jahr 1949 in französischer Sprache erschienen ist. In deutscher Übersetzung: Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Frankfurt 1990. Davon ausgehend hat sich die Wissenschaft, neben dem Mittelmeer, mit spezifischen Ozeanen wie zunächst dem Atlantik befasst. Dazu exemplarisch: David Armitage u. Michael J. Braddick (Hg.), The British Atlantic World, 1500 – 1800, Houndsmills 2002. Mit der Atlantic History waren Fragen der Imperienbildung durch Handelsbeziehungen, die maritime Kontrolle von Stützpunkten, der Ausbau der Plantagenwirtschaft und Fragen des Sklavenhandels verbunden, vgl. dazu methodisch und programmatisch: Alison Games, Atlantic History. Definitions, Challenges, and Opportunities, in: American Historical Review 111. 2006, S. 741 – 757. Die atlantische Welt gewann auch im Licht postkolonialer Fragestellungen Gestalt. Exemplarisch sei hier auf das Black Atlantic Writing verwiesen: Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London 1993; Ian Baucom, Specters of the Atlantic. Finance Capital, Slavery, and the Philosophy of History, Durham 2005. Zuletzt mehren sich Beiträge, die den Atlantik als umwelthistorischen Geschichtsraum entwerfen, z. B.: Jeffrey Bolster, Putting the Ocean in Atlantic History. Maritime Communities and Marine Ecology in the Northwest Atlantic, 1500 – 1800, in: American Historical Review 113. 2008, S. 19 – 47 und ders., The Mortal Sea. Fishing the Atlantic in the Age of Sail, Cambridge, MA 2012. In den letzten Jahren rückte auch der Pazifik in den Fokus der Forschung, vgl. Matt K. Matsuda, The Pacific, in: American Historical Review 111. 2006, S. 758 – 780; ders., Pacific Worlds. A History of Seas, Peoples, and Cultures, ipabo_66.249.64.190 Einführung 315 dert, in dem weite Teile der Meere erschlossen wurden und im Zentrum globaler wirtschaftlicher, politischer und militärischer Strategien und Konflikte standen. Dieses Themenheft zeigt auf, warum es sich lohnt, die Weltmeere als Untersuchungsgegenstände einer globalgeschichtlich orientierten Zeitgeschichte zu entdecken. Die Autorinnen und Autoren argumentieren darüber hinaus, dass die Betrachtung der Meere in den 1960er und 1970er Jahren umwelt- und wissenschaftshistorische Ansätze für die Zeitgeschichte anschlussfähig macht. Die Weltmeere galten zwar rhetorisch als Gemeingut der Menschheit, das zu schützen und allenfalls wissenschaftlich zu erschließen sei. Als vermeintlich staatsfreie Räume schürten sie jedoch auch Kolonisationsphantasien in Ost und West. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Gemeingütern und staatlichen Besitzansprüchen berührt drei übergeordnete Aspekte der Zeitgeschichte. Erstens sind Meere für eine globalgeschichtlich orientierte Zeitgeschichte unmittelbar relevant, da sie Bruchlinien und Konfliktfelder der Weltpolitik in den 1960er und 1970er Jahren offenlegen. Fragen der Meeresnutzung und Meerespolitik eröffnen, wie die Beiträge dieses Heftes zeigen, auch neue Wege für eine Globalgeschichte der Bundesrepublik. Zweitens kommt den Meeren als Lebensraum und Ressource eine besondere Bedeutung in Zeiten globaler Knappheit zu. Durch ihre scheinbar immensen und unerschöpflichen lebenden und mineralischen Ressourcen wie Krill, Plankton, Öl, Gas oder Manganknollen leisteten sie wirtschaftlichen und politischen Erwartungen und Utopien der Nutzung und Erschließung Vorschub, die auch für die Bundesrepublik von Interesse waren. Drittens spielten Meeresforschung und Meerestechnik bei der Erschließung und zukünftigen Nutzung dieser globalen Umwelten eine zentrale Rolle. Die historische Bedeutung des Umweltwissens der Meeresforschung im Spannungsfeld von Politik, Ökonomie und Ökologie ist bislang allerdings erst ansatzweise erforscht. Diesen genannten Querschnittsbereichen widmet sich das Heft aus umwelt-, wissens- und politikhistorischer Perspektive. Damit beleuchtet es nicht nur den Stellenwert des Meeres in der Zeitgeschichte, sondern wirft auch neue Perspektiven auf die Geschichte der Bundesrepublik in den „langen 1970er Jahren“.5 Die Beiträge umspannen die Zeit ungebremster Machbarkeits- und Cambridge, MA 2012. In umwelthistorischer Perspektive: Ryan Tucker Jones, Running into Whales. The History of the North Pacific from Below the Waves, in: American Historical Review 118. 2013, S. 349 – 377. 5 Im Bereich der Wissenschafts- und Technikforschung markieren die „langen 1970er Jahre“ eine stärkere Markt- und Innovationsorientierung und die Einbeziehung gesellschaftlicher Problemlagen in die Wissenschaften sowie eine aktiv steuernde Forschungspolitik. Vgl. zum Begriff und Forschungsfeld der 1970er Jahre: Frank Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 57; Konrad H. Jarausch, Zwischen „Reformstau“ und „Sozialabbau“. Anmerkungen zur Globalisierungsdebatte in Deutschland, 1973 – 2003, in: ders. (Hg.), Das Ende der Zuversicht? 316 Christian Kehrt und Franziska Torma Wachstumsphantasien bis zu den ökologischen Krisenjahren und verorten Westdeutschland in dieser sich wandelnden Welt. Das Themenheft fokussiert speziell auf die Erwartungen, Konfliktlinien und Strategien, die mit der Erschließung neuer Nahrungsquellen und Ressourcen verknüpft waren. Für Staaten wie die Bundesrepublik, die nach dem Zweiten Weltkrieg erst wieder auf die internationale Ebene zurückgelangen mussten, waren maritime Ressourcenfragen von strategischer Bedeutung und eröffneten Zugang zur internationalen Politik. I. Meere als Räume des Globalen in der Bundesrepublik Im letzten Jahrzehnt sind Forschungsfelder entstanden, die die Bundesrepublik in globalgeschichtliche Zusammenhänge einbinden.6 Unter der Perspektive des „Lebensraums Meer“ fragen die Autorinnen und Autoren, welche Bedeutung der Ozean als globaler Raum für die Bundesrepublik hatte.7 Dieser Fokus entspricht dem hohen Stellenwert, den Staat, Experten und Wissenschaft den Ozeanen in den 1960er und 1970er Jahren beigemessen haben. Wie sich am Beispiel des Meeresbodens oder anhand von Fischereikonflikten analysieren lässt, entziehen sich weite Bereiche der offenen See nationalen Zugriffen und Souveränitätsansprüchen. Diese staatsfreien Räumlichkeiten erforderten deshalb internationale Nutzungsregime, in deren Konfliktlagen sich politische Eigeninteressen widerspiegelten. Der Begriff der Meerespolitik, den Sven Mesinovic vorschlägt, beschreibt dieses genuin politische Handlungsfeld, das die Akteure der Meeresforschung zu Trägern machtpolitscher Kalküle und Strategien auf internationaler Ebene machte.8 Katalysiert durch den Kalten Krieg und die Entstehung der sogeDie siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 330 – 349; Anselm DoeringManteuffel, Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. Zur historischen Einordnung der siebziger Jahre, in: ebd., S. 315 – 329; ders. u. Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 20102. 6 Die Geschichte der Entwicklungspolitik und damit einhergehend ein neues Verständnis des Kalten Krieges, der sich nicht nur an der deutsch-deutschen Grenze, sondern auch in Asien, Afrika und Lateinamerika abspielte, macht globalhistorische Ansätze notwendig. Vgl. Hubertus Büschel u. Daniel Speich (Hg.), Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt 2009; Hubertus Büschel, In Afrika helfen. Akteure westdeutscher „Entwicklungshilfe“ und ostdeutscher „Solidarität“ 1955 – 1975, in: AfS 48. 2008, S. 333 – 365. Zu den Chancen und Herausforderungen der Globalität in der Bundesrepublik Deutschland vgl. Eckart Conze (Hg.), Die Herausforderung des Globalen in der Ära Adenauer, Bonn 2012. 7 Zur Verknüpfung global- und raumhistorischer Perspektiven vgl. Sabine Höhler u. Iris Schröder (Hg.), Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt 2005. 8 Vgl. den Beitrag von Sven Mesinovic in diesem Heft, S. 382 – 402. ipabo_66.249.64.190 Einführung 317 nannten „Dritten Welt“, deren Vertreter Sitz und Stimme in den internationalen Organen der Vereinten Nationen erhielten, intensivierte sich weltweit das Interesse am Meer.9 Zugleich führte die gestiegene Ausbeutung der Ozeane zur globalen Problematik der Überfischung und Umweltverschmutzung.10 Die zukünftige Nutzung der Meeresressourcen rief Fragen der Regulierung des Zugangs zu diesen Gemeingütern hervor. Neue, internationale und durch wissenschaftliche Expertise begründete Nutzungsformen rückten auf die weltpolitische Agenda und wurden in den Debatten um den Antarktisvertrag und das Internationale Seerecht thematisiert. Während Völkerrechtler früh auf die schwierigen Verhandlungen der UN-Seerechtskonvention in den 1970er Jahren aufmerksam wurden, haben Historiker diese globalen Problemlagen an der Schnittstelle von Umwelt, Recht, Politik und Wissen bislang kaum untersucht.11 Als Kurzküstenstaat verlor die Bundesrepublik im Zuge der Neuregelungen des Internationalen Seerechts den Zugang zu wichtigen Fischgründen und Ressourcenvorkommen und war auf alternative Strategien der Nutzung und Kooperation angewiesen. Der Beitrag von Franziska Torma über westdeutsche Fischereiforscher am Golf von Thailand, Sven Mesinovics Vergleich der Meerespolitik der Bundesrepublik und der USA sowie Christian Kehrts Betrachtung der Krillforschung der Bundesrepublik in den langen 1970er Jahren sind in diesem Kontext zu verorten. II. Das Meer als Lebensraum und Ressource Mit „Lebensraum“ steht ein Begriff im Zentrum, der unterschiedliche politische Konnotationen vereint. In der Geografie des 19. Jahrhunderts stand er im Kontext kolonialpolitischer Diskussionen, in der nationalsozialistischen Ideologie legitimierte er rassistische Besiedlungsutopien. Der am Ozean orientierte Lebensraumbegriff eröffnet weniger beladene, jedoch nur auf den ersten Blick unpolitische Bedeutungsfelder. Er bezeichnet ökologische 9 Zur postkolonialen Dimension der Meeresforschung im Kalten Krieg: Jacob Darwin Hamblin, Science and North-South Sentiment. International Oceanography in the Pacific and Indian Oceans, 1950 – 1966, in: Historisch-Meereskundliches Jahrbuch 8. 2001, S. 89 – 102. 10 Dass diese Probleme auch eine lange Vorgeschichte haben, zeigt: Bolster, The Mortal Sea, insb. S. 223 – 264. 11 Vgl. Wolfgang Graf von Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens, Berlin 1972; ders., Aspekte der Seerechtsentwicklung. Die Bundesrepublik Deutschland und die Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen, München 1980; ders. (Hg.), Die Plünderung der Meere. Ein gemeinsames Erbe wird zerstückelt, Frankfurt 1981; Rüdiger Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume. Die Entwicklung einer internationalen Verwaltung für Antarktis, Weltraum, Hohe See und Meeresboden, Berlin 1984. 318 Christian Kehrt und Franziska Torma und meeresbiologische Zusammenhänge und Prozesse und verweist auf lebenswissenschaftliche Debatten.12 Konzepte der Meeresökologie oder der Biomasse mögen relativ jung erscheinen, doch dieses Heft zeigt, dass auch sie ihre Geschichte haben. Arianne Tanners Beitrag befragt die zeithistorischen Diskussionen um Ökologie und Welternährung auf ihre historischen Kontinuitäten. In ihrer longue dure-Studie der Planktonforschung wird ersichtlich, dass aktuelle Debatten um Lebensräume und Ressourcen in der Labor- und Feldforschung des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen.13 Die Planktonforschung legte den Grundstein zur Wahrnehmung der Meere als dynamischem Lebensraum. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie meeresbiologische und ozeanografische Erkenntnisse in ökonomische und politische Entscheidungsprozesse eingespeist werden konnten. Plankton galt bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Grundlage maritimer Stoffkreisläufe, deren ökonomisches Potential wissenschaftlich erschlossen werden sollte.14 Das Verständnis des Meeres als Ressourcenlager nimmt somit mit der Meeres- und Fischereiforschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und der darin einsetzenden Rede von den Produktions- und Stoffkreisläufen der Ozeane seinen Ausgang.15 Ein umwelthistorischer Zugang zu Ressourcenfragen erweitert die bislang in der Wirtschaftsgeschichte dominante Sichtweise auf den Marktwert von Rohstoffen. Wie Joachim Radkau und Ingrid Schäfer am Schlüsselbeispiel des Holzes festgestellt haben, „schreiben Rohstoffe“ Geschichte.16 Als Energiequelle oder als Ausgangsbasis wirtschaftlicher Wertschöpfungsketten haben sie eine große gesellschaftliche Bedeutung.17 So wie ein Naturgut erst durch 12 Vgl. zum Begriff des Lebensraumes in der deutschen Geschichte: Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012, S. 127 – 158; Woodruff D. Smith, „Weltpolitik“ und „Lebensraum“, in: Sebastian Conrad u. Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871 – 1914, Göttingen 2006, S. 29 – 48. Der in der Biologie gebräuchliche Begriff des Lebensraums beziehungsweise des Habitats geht bis in das 18. Jahrhundert auf Carl von Linn zurück. 13 Zur Rolle der Ozeane im langen 19. Jahrhundert liegt nun folgender neuer Band vor: Alexander Kraus u. Martina Winkler (Hg.), Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2014. 14 Vgl. dazu den Beitrag von Ariane Tanner in diesem Heft, S. 323 – 353. 15 Eric L. Mills, Biological Oceanography. An Early History, 1870 – 1960, Ithaca, NY 1989. 16 Joachim Radkau u. Ingrid Schäfer, Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt, München 2012. Jüngst ist auch Erdöl als Ressource unter wissenshistorischer Perspektive untersucht worden: Rüdiger Graf, Ressourcenkonflikte als Wissenskonflikte. Ölreserven und Petroknowledge in Wissenschaft und Politik, in: GWU 63. 2012, S. 582 – 599; Rüdiger Graf, Das Petroknowledge des Kalten Krieges, in: Bernd Greiner u. a. (Hg.), Macht und Geist im Kalten Krieg, Hamburg 2011, S. 201 – 222. 17 Vgl. zur Wertschöpfung aus dem Meer in Zeiten des Nationalsozialismus: Ole Sparenberg, „Segen des Meeres“. Hochseefischerei und Walfang im Rahmen der ipabo_66.249.64.190 Einführung 319 wissenschaftliche, politische und ökonomische Praktiken zur Ressource wird, so existiert auch das Meer nicht jenseits der Geschichte. Ressourcen besitzen aber auch stoffliche Qualitäten, die sich oftmals den Nutzungskalkülen beharrlich widersetzen konnten. Dieses Verständnis der Weltmeere als scheinbar unendliches Ressourcenlager ist Ergebnis historischer und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse.18 Die vielschichtigen Wechselbeziehungen von Mensch und Meer haben nach dem Zweiten Weltkrieg einen grundlegenden Wandel erfahren. Der dänische Wissenschafts- und Technikhistoriker Poul Holm beschrieb dies als „große Beschleunigung“. Damit bezeichnete er die massiven anthropogenen Veränderungen der maritimen Ökosysteme.19 Lebende Ressourcen wie Fische, Wale oder Krill sowie mineralische Ressourcen wie etwa Öl oder Gas wurden Bestandteil von Nutzungs- und Erschließungsregimen, die auf deren Verwertung abzielten. Unter dieser ökonomischen Perspektive lässt sich für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts analysieren, wie Plankton, Krill, Fische und Meeressäuger als „lebende Ressourcen“ in Wertschöpfungskreisläufe eingebunden worden sind.20 III. Globales Umweltwissen: Meeresforschung – Meeresnutzung Bereits im 19. Jahrhundert rückten die hohe und die tiefe See als Wissensraum in den Fokus ozeanografischer Expeditionen.21 In dieser frühen Phase war Meeresforschung staatlich subventionierte Großforschung, die Wissenschaft eng an intendierte Ressourcennutzung band. Erste internationale Zusammenschlüsse der Meeresforschung im späten 19. Jahrhundert fanden vor allem im 18 19 20 21 nationalsozialistischen Autarkiepolitik, Berlin 2012; Reinhold Reith u. Birgit PelzerReith, Fischkonsum und „Eiweißlücke“ im Nationalsozialismus, in: VSWG 96. 2009, S. 4 – 30. In internationaler Perspektive und mit Fokus auf das 20. Jahrhundert liegt ein Themenheft der Environmental History unter dem Titel „Marine Forum“ vor, vgl. Environmental History 18. 2013, H. 1. Vgl. Jeffrey Bolster, New Opportunities in Marine Environmental History, in: Environmental History 11. 2006, S. 567 – 597. Poul Holm, World War II and the „Great Acceleration“ of North Atlantic Fisheries, in: Global Environment 10. 2012, S. 66 – 91. Karen Oslund, Protecting Fat Mammals or Carnivorous Humans? Towards an Environmental History of Whales, in: Historical Social Research 29. 2004, S. 63 – 81; Carmel Finley, All the Fish in the Sea. Maximum Sustainable Yield and the Failure of Fisheries Management, Chicago 2011. Vgl. dazu auch die Beiträge von Franziska Torma und Christian Kehrt in diesem Heft, S. 354 – 381 u. S. 403 – 436. Helen M. Rozwadowski, Fathoming the Ocean. The Discovery and Exploration of the Deep Sea, Cambridge, MA 2005. 320 Christian Kehrt und Franziska Torma Bereich der Fischereiforschung statt.22 Diese Tradition der Meeresforschung, dass Wissenschaftler als Berater für die Politik auftraten und somit zu politischen Akteuren wurden, findet im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung. Im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg war das Meer als Machtraum von enormer strategischer Bedeutung.23 Das Meer wurde technisch, wissenschaftlich und militärisch bis in die letzten Tiefen erfasst, kontrolliert und erschlossen.24 Die USA bauten ihren globalen Herrschaftsraum auf ein technopolitisches Netzwerk von kleinen Inseln auf, die als Basis für Militärflugzeuge und U-Boote dienten. Dieses erdumspannende Netz ermöglichte die geostrategische Kontrolle des Pazifiks und Atlantiks.25 Es standen jedoch nicht nur militärstrategische Fragen der Passagerechte auf den Weltmeeren oder militärisch relevantes Wissen im Fall der atomaren Kriegsführung im Zentrum.26 Auch gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Fragen der (Welt-) Ernährung bezeichneten zentrale gesellschaftliche Konfliktlinien des Kalten Krieges.27 Um das Meer zu erschließen und zu kontrollieren, sammelten Forschungsschiffe, Tauchkapseln und U-Boote riesige Datenmengen über die Ozeane, den 22 Im Jahr 1902 schlossen sich Dänemark, Finnland, Deutschland, die Niederlande, Norwegen, Schweden, Russland und Großbritannien zum International Council for the Exploration of the Sea zusammen. Den Vorsitz hatte der deutsche Meeresforscher und Fischereibiologe Walther Herwig. Vgl. Helen M. Rozwadowski, The Sea Knows No Boundaries. A Century of Marine Science Under ICES, Seattle 2002. 23 Die Geschichte der deutschen Meeresforschung im Zweiten Weltkrieg und auch im Kalten Krieg stellt ein großes Forschungsdesiderat dar. 24 John Krige, American Hegemony and the Postwar Reconstruction of Science in Europe, Cambridge, MA 2008; ders. u. Kai-Henrik Barth, Introduction. Science, Technology and International Affairs, in: dies. (Hg.), Global Power Knowledge. Science and Technology in International Affairs, Chicago 2006, S. 1 – 21; Bernd Greiner, Macht und Geist im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick, in: ders., Macht und Geist, S. 7 – 27, hier S. 14; John R. McNeill u. Corinna R. Unger, Introduction. The Big Picture, in: dies (Hg.), Environmental Histories of the Cold War, Cambridge, MA 2010, S. 1 – 18; John R. McNeill, The Biosphere and the Cold War, in: Melvyn P. Leffler u. Odd Arne Westad (Hg.), The Cambridge History of the Cold War, Bd. 3: Endings, Cambridge, MA 2010, S. 422 – 444; Bolster, Opportunities in Marine Environmental History, S. 572 – 577. 25 Ruth Oldenziel, Islands. The United States as a Networked Empire, in: Gabrielle Hecht (Hg.), Entangled Geographies. Empire and Technopolitics in the Global Cold War, Cambridge, MA 2011, S. 13 – 41. 26 Zur Bedeutung der Ozeanografie im Kalten Krieg: Jacob Darwin Hamblin, Oceanographers and the Cold War. Disciples of Marine Science, Seattle 2005. 27 Vgl. zur gesellschaftlichen Dimension des Kalten Krieges insbesondere: Bernd Greiner, Kalter Krieg und „Cold War Studies“, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia. de/zg/Cold_War_Studies; ders., Wirtschaft im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick, in: ders. u. a. (Hg.), Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 7 – 29. ipabo_66.249.64.190 Einführung 321 Meeresboden und die hier auftretenden Stoffströme. Die Ergebnisse flossen in natur- und lebenswissenschaftliche Modelle ein.28 Das globale Umweltwissen der Meeresforschung geht über den Bereich der naturwissenschaftlichen Wissensproduktion hinaus.29 Dieses Heft zeigt, wie dieses Umweltwissen ökologische Belange mit strategischen Fragen der Meerespolitik und Ressourcennutzung verbindet. In den 1970er Jahren erhielt Wissen eine neue gesellschaftliche Bedeutung und wurde stärker auf seine Folgen für Mensch und Umwelt, aber auch seinen ökonomischen Nutzen hinterfragt.30 Der Beitrag zur Krillforschung behandelt das für diese Zeit charakteristische Spannungsmoment von Ökonomie und Ökologie und fragt nach der Herausbildung eines neuen Wissensregimes.31 Wissen über den Ozean ermöglichte zwar neue Ausbeutungsmöglichkeiten, die kurz- und langfristigen Folgen waren jedoch nicht abschätzbar. Die durch menschliche Eingriffe verursachten Veränderungen wurden häufig erst anhand ihren Schäden sichtbar. Mit den langen 1970er Jahren steht genau jener Zeitraum im Fokus, in dem sich globale Problemfelder der maritimen Umwelt durch Überfischung und Umweltverschmutzung herauskristallisierten. Über die Funktionsweise maritimer Ökosysteme lag jedoch noch wenig Wissen vor, was einerseits neue Erkenntnisziele der Meeresforschung als Umweltforschung definierte. Andererseits änderte sich auch die Deutung und Wahrnehmung des Meeres. Debatten über die „Grenzen des Wachstums“ sowie das naturwissenschaftliche, politische und kulturelle Wissen über den Planeten 28 Eric L. Mills, The Fluid Envelope of Our Planet. How the Study of Ocean Currents Became a Science, Toronto 2009. 29 Zu größeren Debatten um Wissensgesellschaft und Wissensgeschichte: Margit SzöllösiJanze, Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zu einer Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: GG 30. 2004, S. 277 – 313. Auch Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: GG 30. 2004, S. 639 – 660. Jüngst Frank Uekötter, Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft, Göttingen 2010. 30 Vgl. Gernot Böhme u. a., Die Finalisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 2. 1973, S. 128 – 144; Peter Weingart, From „Finalization“ to „Mode 2“. Old Wine in New Bottles?, in: Social Science Information 36. 1997, S. 591 – 613; Helmuth Trischler, Hoffnungsträger oder Sorgenkind der Forschungspolitik? Die bundesdeutsche Großforschung in den „langen“ siebziger Jahren, in: Rüdiger vom Bruch u. Eckart Henning (Hg.), Wissenschaftsfördernde Institutionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 200 – 214. 31 Vgl. Peter Wehling, Wissensregime, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 704 – 712. 322 Christian Kehrt und Franziska Torma Erde trugen zur Wahrnehmung der Ozeane als fragile und endliche Räume bei, die durch anthropogene Einflüsse bedroht waren.32 In diesem Zusammenhang versteht sich der Beitrag von Sabine Höhler als ein zusammenfassender Kommentar und Ausblick. Die Meere verhießen nahezu unbegrenzte Ressourcenpotentiale. Ob Proteinmasse aus Fisch, Plankton oder Krill, ob Meeresbodenschätze, ob Lebensraum, ob Abfallbecken – als Ressourcenspeicher und Ergänzungsraum spiegelten sie die neuen Ängste des Umweltzeitalters, in dem das Wuchern der Weltbevölkerung einer maßlosen Umweltverschmutzung und dem Schwund natürlicher Ressourcen gegenübergestellt wurde. Die Ozeane stellten, so Sabine Höhler, gleichsam den imaginierten Anfang und das Ende eines perfekten Metabolismus dar, der die belebte und unbelebte Umwelt restlos in Stoffwechselprozesse einbezog. Die Wahrnehmung der Weltmeere als Ressourcenspeicher und Ökosystem stellt keinen Widerspruch dar, sondern basiert auf globalen Verflechtungen und machtpolitischen Konfliktlinien, deren Geschichte noch zu schreiben ist. Dr. Christian Kehrt, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte, Holstenhofweg 85, 22039 Hamburg E-Mail: [email protected] Dr. Franziska Torma, Universität Augsburg, Europäische Kulturgeschichte, Universitätsstraße 10, 86159 Augsburg E-Mail: [email protected] 32 Donella H. Meadows u. a., The Limits to Growth, New York 1972; Peter H. Moll, From Scarcity to Sustainability. Futures Studies and the Environment. The Role of the Club of Rome, Frankfurt 1991; Paul Martin Neurath, From Malthus to the Club of Rome and Back. Problems of Limits to Growth, Population Control, and Migrations, Armonk 1994. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse Plankton als wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Projektionsobjekt von Ariane Tanner Abstract: A crucial moment in the history of plankton research came during the 1920s with the introduction of the notion of biomass. Biomass links the 19th century aspirations elicited by plankton as the bottom of the food chain with the technocratic dreams of the perfect metabolic loop between aquatic mass and terrestrial needs of human beings during the 20th century. This article shows that the history of plankton research can be told as succession of historically bound epistemic hopes and societal utopia. It becomes evident that plankton as an individual organism is fragile yet simultaneously unchanging and able to resist most technical interventions and notions of optimization. Fische mit Silberglanz? Schimmernde Medusen, die den Tieren in der Tiefsee den Weg weisen? Um 1800 wurde über die Gründe einer bei Seefahrten beobachteten Lumineszenz nahe der Wasseroberfläche gerätselt. Die Vermutung, das sogenannte Meeresleuchten sei den „bis dahin weniger beachteten mikroskopischen Thieren, die bald zahlreich einzeln zerstreut, bald haufenweis das Meer erfüllen, bald schwimmen, bald kriechen“1 zuzuschreiben, wurde jedoch erst an Land in den 1840er Jahren durch die Arbeit am Mikroskop bestätigt.2 Tierisches wie pflanzliches Plankton gilt heute als in ihren Dimensionen noch nicht vollständig ausgemessene, aber gigantisch große Biomasse, deren ökonomisch-ökologisches Potenzial es optimal zu 1 Christian Gottfried Ehrenberg, Das Leuchten des Meeres. Neue Beobachtungen nebst Übersicht der Hauptmomente der geschichtlichen Entwicklung dieses merkwürdigen Phänomens, Berlin 1835, S. 55. 2 Der deutsche Anatom und Physiologe Johannes Müller (1801 – 1858), welcher die Erforschung der Kleinstorganismen seit den 1840er Jahren vorangetrieben hatte, entdeckte die Organismen quasi als Nebeneffekt beim Studium von Präparaten in anatomischen Sammlungen; vgl. hierzu Brigitte Lohff, The Unknown Wonders of the Sea. Johannes Müller’s Research in Marine Biology, in: Walter Lenz u. Margaret Deacon (Hg.), Ocean Sciences. Their History and Relation to Man, Hamburg 1990, S. 141 – 148, hier S. 141 u. S. 143 f. Zu frühen Arbeiten über die sogenannten Infusionstierchen, welche später auch als Planktonten identifiziert wurden vgl. Christian Gottfried Ehrenberg, Organisation, Systematik und geographisches Verhältniss der Infusionsthierchen. Zwei Vorträge, Berlin 1830. Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 323 – 353 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000 324 Ariane Tanner nutzen gilt.3 „Offshore Membrane Enclosure for Growing Algae“ (OMEGA) nennt sich das aktuell größte Plankton-Züchtungsprojekt der NASA.4 In den Häfen von Großstädten wie San Francisco sollen schwimmende Plastikmembranen mit Algen und Abwasser angefüllt werden, um Treibstoff zu gewinnen. Aber nicht nur zukünftige Energieengpässe sollen mit solchen großangelegten Phytoplankton-Projekten vermieden werden, sondern auch das Schmutzwasser gereinigt, der Säuregehalt der Ozeane reguliert und der für die Klimaerwärmung verantwortliche Ausstoß von Kohlenstoffdioxid reduziert werden. Darüber hinaus stellt die Anlage neue Habitate für ozeanische Fauna bereit und steht der Fischzucht zur Verfügung, während kombinierte erneuerbare Energiequellen wie Wind, Sonnenlicht und Wellen den Betrieb der Anlage sicherstellen, ohne dass Land- und Frischwasserressourcen strapaziert werden. Das Projekt OMEGA verspricht buchstäblich die ultimative Antwort auf die den Planeten bedrohenden Szenarien vom Artensterben, Bevölkerungswachstum und Energienotstand über den Klimawandel und Nahrungsmangel hin zur Umweltverschmutzung und Wasserknappheit. Industriell gezüchtetes Phytoplankton soll die globalen Nährstoff- und Stoffwechselzyklen auf perfekte Art und Weise regulieren und so letztlich zur Erhöhung der nationalen Sicherheit beitragen.5 Die aktuellen Algen-Projekte vereinen sämtliche utopischen Aspekte, welche seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit Plankton verknüpft wurden. Gestützt auf die Beobachtungen, dass Phytoplankton als erste Stufe des Lebens und der Nahrungskette über eine riesige Formenvielfalt verfügt und zum schnellen Wachstum ein faktisch unerschöpfliches Reservoir, das Sonnenlicht, nutzt, wurde Plankton immer wieder zum verheißungsvollen Gegenstand erklärt, an dem sich wissenschaftliche Hoffnungen, technologische Fiktionen und gesellschaftliche Utopien festmachten. Eine Geschichte der Forschungen an den Kleinstorganismen, wie sie hier vorgestellt wird, erlaubt es somit, Plankton als wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Projektionsobjekt zu identifizieren. Für diese Interpretation ist, wie gezeigt werden wird, der Begriff der Biomasse wesentlich, welcher in den 1920er Jahren erstmals auftauchte. Erstens gingen im Biomasse-Begriff die epistemologischen Hoffnungen der Planktonforschung des 19. Jahrhunderts auf. Zweitens behob er 3 Die jüngsten Resultate des Projekts Earth System Science Data stellen die These auf, dass es fast gleich viel tierisches wie pflanzliches Plankton in den Meeren gibt. Terrestrische pflanzliche Biomasse ist bedeutend größer. Für diese Datensammlungen, welche den Klimawandel qua Plankton untersuchen wollen vgl. http://www.earth-syst-sci-data.net/ volumes_and_issues.html. 4 Vgl. TED-Talk Jonathan Trent, Energy from Floating Algae Pods, 27. Juni 2012, http:// www.youtube.com/watch?v=X-HE4Hfa-OY. 5 NASA, OMEGA – Offshore Membrane Enclosure for Growing Algae, http://www.nasa.gov/centers/ames/research/OMEGA. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 325 die Schwierigkeit, das einzelne pelagische Individuum zu erforschen, indem Plankton als eine Masse und energetisches Potential gedacht werden konnte. Drittens erlaubte die Quantifizierung von aquatischem organischem Material, die Menschen an Land als komplementären Faktor zum Plankton im Wasser zu denken; eine Relation, die Ziel von technokratischen Optimierungs- und utopischen Regulierungsversuchen wurde. In der nachfolgenden Darstellung werden die wichtigsten Phasen aus 150 Jahren Planktonforschung vorgestellt und die wichtige epistemische Schwelle durch den Biomasse-Begriff verdeutlicht. Anhand der Arbeiten der deutschen Zoologen Richard Hertwig (1850 – 1937) und Ernst Haeckel (1834 – 1919) wird im ersten Abschnitt „Tiefe Einblicke oder der transzendente Planktont“ das grundlegende Dilemma präsentiert, welches die Planktonforschung stets begleitet: Einmal seinem angestammten Milieu entnommen, geht der Planktont schlicht kaputt. Der vermutete Aufschlussreichtum korrespondiert nicht mit den technischen Möglichkeiten, die immer wieder angepasst werden müssen, um der Sache selbst buchstäblich habhaft zu werden. Eine Antwort auf die forschungspraktische Problematik bestand darin, nicht das einzelne pelagische Individuum zu betrachten, sondern den Kollektivsingular Plankton, also eine Menge von vielfältigen, artenreichen Organismen. Die deutsche Plankton-Expedition im Jahre 1889, welche maßgeblich vom Physiologen Victor Hensen gestaltet wurde, steht für erste Arbeiten in diese Richtung, wie der zweite Abschnitt „Dies Blut der Meere: Victor Hensen und die Plankton-Expedition“ zeigt. Hensens stark von der Physiologie beeinflusste Methode sollte die „Urnahrung“ Plankton, „dies Blut der Meere“,6 quantifizieren helfen, um letztlich in Erfahrung zu bringen, wie es um die Prosperität der norddeutschen Fischerei stand. Der in diesem Zusammenhang dargestellte Disput zwischen Haeckel und Hensen über Methode und Sinn der Planktonforschung zeigt die Differenzen in ihren naturphilosophischen und statistischen Ansätzen. Gleichzeitig wird deutlich, dass beide Forscher am Ausgangspunkt eines Denkens standen, das die Relationen zwischen Wasser und Land qua Plankton miteinbezog. Hensen sprach vom „Stoffwechsel der Ozeane“, Haeckel nannte dies „Oecologie“.7 Im dritten Abschnitt „Dynamiken zwischen Wasser und Land“ wird veranschaulicht, dass die metaphernreiche Sprache von Hensen die menschliche Physis mit dem Ozean analogisierte, während für Haeckel die physiologischen 6 Victor Hensen, Das Leben im Ozean nach Zählung seiner Bewohner. Übersicht und Resultate der quantitativen Untersuchungen, Kiel 1911, S. 5. 7 Zum Begriff der Oecologie vgl. Ernst Haeckel, Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen. Kritische Grundzüge der mechanischen Wissenschaft von den entstehenden Formen der Organismen, begründet durch die Deszendenz-Theorie [1866], Berlin 1988, S. 286. Vom Stoffwechsel der Ozeane sprachen vor allem Victor Hensen, Über die Bestimmung des Plankton’s oder des im Meere treibenden Materials an Pflanzen und Thieren, Kiel 1887; Karl Brandt, Über den Stoffwechsel im Meere, Kiel 1919. 326 Ariane Tanner Methoden als überholt galten und die Planktonforschung den wissenschaftlichen Imaginationsraum schlechthin verkörperte. Hensens und Haeckels Konzeption können jedoch, wie an dieser Stelle argumentiert wird, durch den Begriff der Biomasse in den 1920er Jahren zusammengedacht werden. Die Biomasse erlaubte, die Kleinstorganismen zu quantifizieren und in Bezug auf ihre Funktion in einem Ökosystem zu operationalisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg schienen eine hungernde Menschenmasse und pessimistische Interpretationen des Bevölkerungswachstums perfekt zu einer vermuteten unerschöpflichen Ressource der Meere zu passen. Die „Algen-Utopien auf dem Teller“, wie der vierte Abschnitt darstellt, fußten auf dem technokratischen Ansatz, der Plankton als Nährstofflieferanten auffasste, der die ebenso technokratisch eruierten menschlichen Bedürfnisse stillen sollte. Die Algen-Züchtungsprojekte der 1950er und 1960er Jahre hatten zum Ziel, eine globale Eiweißressource für den Menschen sicherzustellen, scheiterten aber an technischen Schwierigkeiten, ökonomischen Zwängen und kulinarischen Ansprüchen. Die industrielle Produktion von Algen zur Linderung des Welthungers implodierte zum Ende der 1960er Jahre und der Begriff der Biomasse erfuhr eine Neugewichtung, was im fünften Abschnitt „Die Biomasse Plankton“ thematisiert wird. Die quantifizierte organische Masse wurde zu einer möglichen Treibstoffressource. Biomasse gilt seither als Pendant für alles Organische, was energetisch verwertbar ist. Mit dieser Umdeutung ging auch eine neue Zielvorstellung der Plankton-Züchtungsprojekte einher. Nicht mehr die Befriedung der Welt durch Nahrung für alle stand im Fokus, sondern der Erhalt des energietechnischen Status quo in industrialisierten Ländern. Radikal interpretiert, schreckt ein solcher Biomassebegriff, wie der Kinofilm „Soylent Green“ von Anfang der 1970er Jahre zeigt, auch nicht vor der Einspeisung der menschlichen Biomasse in den Nahrungszyklus zurück, um den unausweichlichen Umweltkollaps (vermeintlich) abzuwenden. Der Schlussteil fasst die wichtigsten Erkenntnisse aus der Geschichte von über 150 Jahren Planktonforschung zusammen und endet bei einer noch unentschiedenen Frage nach dem Verhältnis zwischen Biomassenutzung und Macht. I. Tiefe Einblicke oder der transzendente Planktont Im Jahre 1881 beschrieb der Zoologe Richard Hertwig, wie die Entdeckung der marinen Fauna die Forschungslandschaft seines Fachbereiches buchstäblich umkrempelte.8 Gegenzyklisch zu den einheimischen Temperaturen ziehe es seine Berufskollegen winters in die milderen Mittelmeergefilde und sommers 8 Richard Hertwig, Der Zoologe am Meer. Ein Vortrag gehalten in Jena, in: Rudolf Virchow u. Franz von Holtzendorff (Hg.), Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, Berlin 1881, S. 343 – 374. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 327 an die Nordsee.9 Den Gedanken, dass die „noch immer steigende Wanderlust“10 innerhalb seiner Zunft mit einer etwaigen Entfremdung von der einheimischen Tierwelt zu tun habe, verwarf Hertwig. Vielmehr ortete er die Gründe für die nicht nur geografische Neuorientierung der Zoologie in der Darwin’schen Vorstellung, dass sämtliche Tiere aus gemeinsamen Urformen hervorgegangen seien.11 Denn um diese Annahme zu überprüfen, sei nicht jeder Gegenstand gleich geeignet: „[A]n günstigen und wichtigen Untersuchungsobjecten ist aber das Meer außerordentlich viel reicher als das Festland mit Einschluß seiner Flüsse, Seen und Teiche.“12 Gerade an den Meerestieren, so Hertwig, ließen sich die Urformen, aus denen die jetzigen lebenden Organismen im Verlaufe von unermesslichen Zeiträumen hervorgegangen seien, besser ablesen. Auf der einen Seite trage das Meer den „Charakter größerer Ursprünglichkeit“ und sei überhaupt „die Wiege jeglicher Organisation“, auf der anderen Seite seien die marinen Organismen das Repräsentationsobjekt ihrer Umgebung. Diese mimetischen Eigenschaften würden von Plankton aufs Beste erfüllt: „Die pelagischen Thiere sind der Stolz und das Abbild des Meeres, dessen Eigenart, wenn ich so sagen darf, sich in ihnen am meisten verkörpert.“13 Als ob sie aus Kristall gefertigt seien, hätten sie die Transparenz des sie umgebenden Stoffes für ihren Körperbau assimiliert und dessen Farbe angenommen. Die frei schwebenden Tiere werden zum transzendierenden Objekt ihres Milieus, woraus wiederum sie selbst hervorgegangen sind, und damit zum doppelten Träger von Informationen.14 Die ideale Durchlässigkeit von Milieu und Habitant, die Transparenz, so musste jedoch auch Hertwig einräumen, geht genau dann verloren, wenn man das Tier aus dem Wasser nimmt: 9 Zur kulturhistorischen Bedeutung der „Entdeckung“ des Meeres und vor allem auch seiner Küsten als touristische Destinationen vgl. Helen M. Rozwadowski, Fathoming the Ocean. The Discovery and Exploration of the Deep Sea, Cambridge, MA 2005. 10 Hertwig, Der Zoologe am Meer, S. 4. 11 Ebd., S. 5; Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten [1859], in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt 2006, S. 355 – 691. 12 Für dies und das folgende vgl. Hertwig, Der Zoologe am Meer, S. 5 f. u. S. 9. 13 Ebd., S. 11 f. 14 Diese Interpretation des „Milieus“ steht, wie weiter unten deutlich werden wird, derjenigen von Claude Bernard (und auch Hensen) gerade entgegen. Bernard prägte den Begriff „milieu intrieur“ für eine von der Außenwelt unabhängige Regulierung von Körperfunktionen; vgl. Claude Bernard, Principes de mdecine exprimentale, Paris 1947. Zur aktuellen Forschung über das Milieu und Umgebungswissen: Kijan Espahangizi, Wissenschaft im Glas. Eine historische Ökologie moderner Laborforschung, Diss. ETH Zürich 2010; vgl. das Themenheft „Der Ozean im Glas. Aquaristische Räume um 1900“, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 36. 2013, H. 2, hg. v. Christina Wessely u. Thomas Brandstetter. 328 Ariane Tanner Sucht man ein solches Geschöpf mit der Hand zu greifen, so hat man Nichts als eine weiche, zitternde Gallerte, die aus dem Meere herausgenommen rasch zerfließt; denn die Gewebe des Körpers bestehen fast nur aus Wasser […], so dass selbst ein verhältnismäßig grosses Thier beim Trocknen zu einem dünnen, unscheinbaren Häutchen zusammenschrumpft.15 Im selben Dilemma befand sich auch der deutsche Zoologe Ernst Haeckel, der von den 1850er Jahren bis Ende der 1880er Jahre die Kleinstorganismen erforschte. Haeckel stand wie Hertwig ganz im Banne der Darwin’schen Überlegungen zur Abstammungslehre und Artenbildung. Seine bekannte Arbeit über die PlanktonGruppe der Radiolarien bildet dieses Interesse ab,16 weil er nebst taxonomischer Aufbauarbeit und Untersuchung der Anatomie und Lebensfunktionen letztlich die Deszendenztheorie zu untermauern versuchte.17 Haeckels Faszination für die Radiolarien erklärte sich durch ihre Ästhetik, ihre „phantastische Mannigfaltigkeit der Erfindung, […] unübertroffene Eleganz und […] mathematische Regelmässigkeit“.18 Eine praktische Erklärung gesellte sich jedoch sofort dazu. Derweil die festen Bestandteile der Radiolarien, ihre Kieselpanzer, den Transport in Flaschen mit Liqueur conservative überstanden,19 um sie nach der Rückkehr von der Expeditionsreise zu untersuchen, galt dasselbe nicht für die Weichteile der Tiere. Deren Analyse konnte nur direkt am Meer, und auch dort nur unter größten Schwierigkeiten stattfinden. Wie Haeckel beschrieb, waren die lebendigen Radiolarien meist „nicht durchsichtig genug“, um unter dem Mikroskop betrachtet werden zu können und nicht groß genug, um einer anatomischen Methode zugänglich zu sein. Ganz zu schweigen von dem Problem, diese „zarten mikroskopischen Körperchen aus dem dichten Gemenge des pelagischen Mulders zu isoliren“, um sie überhaupt zu sehen.20 Das von Hertwig beschworene „Ursprüngliche“ an den pelagischen Tieren, gewährleistet durch die Transparenz zwischen Wasser und Organismus, erwies sich für Haeckels Zwecke als hinderlich. Mit „ein Paar Tropfen concentrirte[r] Schwefelsäure“, wie er in einer Fußnote unsentimental erwähnte, zerstörte er das organische Material.21 Nicht nur waren damit die ihn am meisten interessierenden Teile, die Kieselpanzer, freigelegt, sondern die 15 Hertwig, Der Zoologe am Meer, S. 11. 16 Ernst Haeckel, Die Radiolarien (Rhizopoda Radiaria). Eine Monographie, Berlin 1862; ders., Die Radiolarien (Rhizopoda Radiaria). Atlas von fünf und dreissig Kupfertafeln, Berlin 1862; ders., Die Radiolarien (Rhizopoda Radiaria.) Zweiter Theil, Berlin 1887; ders., Die Radiolarien (Rhizopoda Radiaria.) III. und IV. Theil. (Acantharia und Phaeodaria), Berlin 1888. 17 Erika Krausse, Johannes Müller und Ernst Haeckel. Erfahrung und Erkenntnis, in: Michael Hagner u. Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie, Berlin 1993, S. 224 – 237, hier S. 228. 18 Haeckel, Monographie, S. 1. 19 Ebd., S. 32. 20 Ebd., S. viii. 21 Ders., Atlas, S. vii (Anm.). ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 329 Methode hatte darüber hinaus den Vorteil, dass durch die Applikation der Schwefelsäure und die gleichzeitige Gasentwicklung und veränderte Lichtbrechung dem betrachtenden Forscher die höchst verwickelten labyrinthischen Kanäle und Hohlräume der Kieselgebäude für einen Augenblick einsichtig wurden.22 In dieser nassen Methode sah Haeckel auch einen Fortschritt gegenüber der Technik, die er von seinem Lehrer Johannes Müller kennen gelernt hatte. Dieser hatte die Weichteile jeweils mit einer Lötrohrflamme weggeglüht, was aber nicht selten das ganze Untersuchungsobjekt verkohlt oder ins Glasplättchen eingeschmolzen habe. Was sich dem Betrachter des Radiolarien-Atlasses von 1862 zeigt, sind die durch den Kupferstecher kunstvoll umgesetzten Zeichnungen der Hartteile der Radiolarien, ihre meist symmetrischen Kieselpanzer oder die Spinen beziehungsweise Stacheln, die den Radiolarien ihren Namen verleihen. Haeckel dokumentierte mit dem Radiolarien-Atlas nicht nur seine mikroskopischen Beobachtungen, sondern in der Anordnung ausgewählter Exemplare auf einzelnen Seiten sollte auch „der Prozess, in dem die Natur sich selbst zur Entfaltung gebracht hat: die Evolution“ anschaulich werden.23 Haeckel exemplifizierte die These der Verwandtschaft zwischen Arten und der Varietäten innerhalb einer Art durch die Tableaus der Festkörper. Wenn Haeckel in der Einleitung vorausschickte, dass er die „Struktur“ der Radiolarien (einmal die Weich- und einmal die Hartteile) beschreiben möchte und erwähnte, dass der zweite Abschnitt länger ausfallen werde,24 dann hing die Ausführlichkeit der Resultate von der Materialität des Gegenstandes ab, der den Techniken des wissenschaftlichen Zugriffs enge Grenzen setzte. Haeckel blieb in einem gewissen Sinne gar nichts anderes übrig, als davon auszugehen, dass durch die Formenähnlichkeit der Hartteile die Varietäten zwischen den Organismen am besten zur Geltung kämen.25 22 Ders., Monographie, S. vii. 23 Ernst Haeckel. Kunstformen der Natur, Kunstformen aus dem Meer, hg. v. Olaf Breidbach, München 2012, S. 9. Haeckels systematische visuelle Ordnung der Radiolarien-Hartteile wird besonders deutlich, wenn man sie mit den frühen Arbeiten von Ehrenberg vergleicht, der ebenfalls Tableaus von winzigen Wasserlebewesen erstellte, aber noch nicht zwischen Tier oder Pflanze unterschied. Haeckel hielt im Vorwort zu seiner Radiolarien-Monographie fest, dass ihm die Arbeiten Ehrenbergs erst im Jahre 1860 bekannt waren und dass einige taxonomische Korrekturen vorzunehmen seien; vgl. hierzu Gottfried Christian Ehrenberg, Atlas von vier und sechzig Kupfertafeln zu Christian Gottfried Ehrenberg über Infusionsthierchen, Leipzig 1838; Haeckel, Monographie, S. viii. 24 Ebd., S. vii. 25 Ich würde demnach Breidbachs These von Haeckels Überzeugung, dass die Hartteile über die Formenvielfalt am besten Auskunft geben könnten, durch einen forschungspraktischen Zwang ergänzen; vgl. Olaf Breidbach, Die allerreizendsten Tierchen. 330 Ariane Tanner Die Arbeiten von Hertwig und Haeckel aus den 1860er bis zu den 1880er Jahren verweisen auf die grundlegende Konstellation der Forschung an den Kleinstorganismen. Plankton soll einen direkten Zugang zu neuem Wissen erlauben, das weit über den Gegenstand hinausgeht, während das Objekt selbst durch die wissenschaftliche Handhabung verloren geht. Laut Hertwig gibt Plankton in seiner perfekten Symbiose mit der Umgebung Wasser gerade über die Entstehung des Lebendigen auf der Erde Auskunft, wovon es selbst Zeugnis ist. Bei Haeckel bestärkt die Formenvielfalt der Radiolarien die Triftigkeit der Annahme einer graduellen Evolution. Gleichzeitig entzieht sich die Materialität von Plankton dem erwünschten wissenschaftlichen Zugriff. Der pelagische Organismus ist fragil, das epistemische Objekt verliert seine Eigenschaften oder verschwindet gänzlich, sobald es seiner gewohnten Umgebung entnommen wird.26 Was sichtbar gemacht werden kann und dem forschenden Auge als Untersuchungsmaterial vorliegt, ist meist nur ein Fragment. Der folgende Abschnitt stellt die Herangehensweise des deutschen Physiologen Victor Hensen dar. In der Planung und Auswertung der von ihm begleiteten deutschen Plankton-Expedition im Jahre 1889 zählte zwar das einzelne pelagische Individuum, nicht aber aus Gründen der Schönheit oder der Formenvielfalt, sondern als abgezähltes Individuum in einem aufaddierten Kollektiv. II. „Dies Blut der Meere“: Victor Hensen und die Plankton-Expedition Blutkörperchen, das Gehör, aber auch die Reproduktion bei Meerschweinchen und Fischen gehörten zu Hensens Spezialgebieten.27 Durch die Ernennung zum Ordinarius für Physiologie in Kiel im Jahre 1868 musste er auf seinen Sitz im preußischen Landtag für die liberale Partei Schleswig-Holsteins verzichten, den er erst gerade vier Monate vorher errungen hatte. Dies war aber nicht gleichbedeutend mit dem Ende seines politischen Engagements, das in seinen meeresbiologischen Forschungen Ausdruck fand. Insbesondere beschäftigte Haeckels Radiolarien-Atlas von 1862, in: Haeckel, Kunstformen der Natur, S. 15 – 29, hier S. 16. 26 Zum wissenschaftshistorischen Begriff „epistemisches Objekt“ und dem „Ding“, worauf sich das Erkenntnisinteresse richtet, vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme, Epistemische Dinge, Experimentalkulturen. Zu einer Epistemologie des Experiments, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42. 1994, S. 405 – 417; ders., Toward a History of Epistemic Things. Synthesizing Proteins in the Test Tube, Stanford 1997; Lorraine Daston, Biographies of Scientific Objects, Chicago 2000; dies. (Hg.), Things That Talk. Object Lessons from Art and Science, New York 2004. 27 Rüdiger Porep, Der Physiologe und Planktonforscher Victor Hensen. Sein Leben und sein Werk, Neumünster 1970, S. 23 – 36. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 331 ihn, dass der relative Beitrag der Fischerei und Landwirtschaft für die preußische Wirtschaft, zu der auch Schleswig-Holstein gehörte, im Abnehmen begriffen war.28 Bereits im Jahre 1867 schlug Hensen vor, wissenschaftliche Untersuchungen über die deutsche Küsten- und Hochseefischerei anzustellen, eine weitere Anregung rührte von dem 1870 gegründeten Deutschen Fischerei Verein, wonach noch im selben Jahr die „Commission zur Erforschung der deutschen Meere“ ins Leben gerufen wurde.29 Das Mandat beinhaltete im Allgemeinen, Informationen über die Tiefe, die Gezeiten, den Salzgehalt, die chemische Zusammensetzung des Preußischen Meeres zu sammeln, des Weiteren Tiere und Pflanzen, die in den Fischgründen vorhanden waren, zu bestimmen sowie im Besonderen Verteilung, Häufigkeit, Nahrung, Reproduktion und Wanderungen von kommerziellen Fischen zu eruieren.30 Ziel war die Belebung und Steigerung der Fischerei, was es, laut Hensen, quantitativ zu belegen galt.31 In dieser Hinsicht konnte er auf verschiedene Forschungserfahrungen zurückgreifen. In den 1870er Jahren versuchte er von der Anzahl eingefangener Fischeier pro Volumen in Relation zu den Daten über die Intensität der Fischerei32 auf den Bestand der erwachsenen Nutzfische zu schließen. Bei den eintägigen Ausfahrten setzte Hensen Glasblasen auf die Wasseroberfläche und beobachtete die Regelmäßigkeit ihres Auseinanderdriftens. Dies führte ihn zur Annahme, dass der Wellengang und der Wind Fischeier gleichmäßig verteilten und es somit möglich wäre, durch punktuelle Fänge die zukünftigen Bestände der erwachsenen Tiere abzuschätzen.33 Durch diese Resultate erhoffte er sich, die Produktionskraft des Meeres insgesamt zu kalkulieren; eine Idee, die er im Jahre 1874 der Commission vortrug.34 Das Tier des Meeres sollte als Maß für den Stofffluss von organischem Material durch den Ozean betrachtet werden.35 Und am Ende der Stoffkette würde sich der Mensch befinden, der seinen Wohlstand von ökonomisch verwertbaren Fischen abhängig machte. Dies traf besonders auf Hensens Wirkungsort Kiel zu. 28 Knut Borchardt u. Carlo M. Cipolla (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte, 1700 – 1914, 5 Bde., Stuttgart 1983 – 1986. 29 Gerd Wegner, 125 Jahre Deutsche Fischereiforschung, in: Informationen für die Fischwirtschaft aus der Fischereiforschung 42. 1995, S. 128 – 133, hier S. 128 – 130. 30 Eric L. Mills, Biological Oceanography. An Early History, 1870 – 1960, Ithaca 1989, S. 14. 31 Porep, Victor Hensen, S. 97. 32 Hensen arbeitete mit Fragebögen, auf denen Fischer die Fangtage, Bootanzahl, Anzahl der Fischer sowie Art und Menge des Fanges angaben. 33 Mills, Biological Oceanography, S. 16. 34 Porep, Victor Hensen, S. 98 f. 35 Victor Hensen, Über die Befischung der deutschen Küsten. Jahresbericht der Commission zur wissenschaftlichen Untersuchung der deutschen Meere in Kiel für 1872, 1873. I. u. II. Jahrgang, Tafeln I – IX, Berlin 1874, S. 341 – 380, hier S. 343 – 345. 332 Ariane Tanner In den 1880er Jahren entwickelte Hensen ein spezielles Netz, um beim Sammeln von Fischeiern eine genau definierte Wassersäule zu durchsieben und so die Anzahl mit dem Volumen korrelieren zu können. Bei dieser Optimierung fiel ihm „regelmäßig ein[en] störender[n] Beifang“ auf.36 Die relative Konstanz der Beimischung von mikroskopisch kleinen Tieren und Pflanzen ließ Hensen vermuten, dass hier noch ein anderes, für die Gesamtproduktion des Meeres bedeutungsvolles Reservoir vorhanden war. Nach weiteren, eintägigen Exkursionen führte Hensen im Jahre 1887 für den „störenden Beifang“ den Begriff Plankton ein: „Ich verstehe darunter Alles was im Wasser treibt, einerlei ob hoch oder tief, ob todt oder lebendig“.37 Bald sollte sich Hensens Forschungsinteresse auf das Plankton konzentrieren, das er auch „Dies Blut der Meere“38 oder die „Urnahrung“39 nannte. Analog dem „Lebenssaft“ im menschlichen Körper sollten die pelagischen Organismen eine ubiquitäre Nahrungsverteilung in den großen Gewässern garantieren. Deshalb versprach sich Hensen von der Analyse derselben auch ein „Verständnis des Lebens-Getriebes innerhalb der Meereswüste“ und Antworten auf die Fragen nach der „Produktion des Meeres“.40 Die einzelnen, selten auf Hochsee stattfindenden Fahrten schienen Hensen für diesen Zweck ungeeignet. Zusammen mit anderen Forschern wie Karl Brandt und Franz Schütt regte er an, die Planktonuntersuchungen auf den offenen Ozean auszudehnen. Mit finanzieller Unterstützung vom Kuratorium der Humboldt-Stiftung für Naturforschung, die ihre verfügbare Stiftungssumme unter dem Vorsitz des bekannten Physiologen Emil Du Bois-Reymond zur Verfügung stellte, sowie weiteren Geldquellen und einer Defizitgarantie bis 70.000 Mark konnte im Jahr 1889 die einmalige Forschungsfahrt Deutschlands, die in erster Linie auf die pelagischen Organismen ausgerichtet war, durchgeführt werden.41 Zwischen Juli und November wurden auf dem Atlantik mit der „National“ 126 Plankton-Fänge durchgeführt.42 Die Expedition beinhaltete 36 Porep, Victor Hensen, S. 103. 37 Hensen, Bestimmung des Plankton’s, S. 1. In dieser Definition, die vor allem auf die Tatsache abstellt, dass zum Plankton zählt, was „willenlos“ im Wasser treibt, sind genau genommen auch Fischeier einbegriffen. 38 Hensen, Leben im Ozean, S. 5. 39 Hensen, Bestimmung des Plankton’s, S. 1. 40 Ebd., S. 102. 41 Die Expedition dauerte vom 15. Juli bis zum 7. November 1889 und legte 15.600 Seemeilen zurück. Für eine Kurzfassung der Reise siehe o. A., Hensen’s PlanktonExpedition im Sommer 1889, in: Naturwissenschaftliche Wochenschrift 5. 1890, S. 31 – 33; ausführlicher Victor Hensen, Einige Ergebnisse der Plankton-Expedition der Humboldt-Stiftung, Berlin 1890. 42 Victor Hensen, Methodik der Untersuchungen (= Ergebnisse der Plankton-Expedition der Humboldt-Stiftung, Bd. 1 b), Kiel 1895, S. 8 f. Für eine Kartenansicht, welche die ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 333 auch hydrologische Messungen wie die der Salinität und Temperatur des Wassers, jedoch wurde auf die Auslotung der Tiefe verzichtet.43 Die von Hensen entwickelte Fangmethode mit einem Vertikalnetz erwies sich als geeignet.44 Das kegelförmige Netz wurde bei Stillstand des Schiffes senkrecht heruntergelassen, das obere Ende in einer bestimmten Tiefe geöffnet und eine berechenbare Wassersäule filtriert. Weitere Faktoren wie die Porenweite des Netzes, eine mögliche Abdrift des Schiffes und ein Fehlerquotient gingen in die nachträgliche Bestimmung der Planktonmasse pro Wasservolumen ein.45 An Land wurde das in Pikrinschwefelsäure eingelegte Plankton nach genauen Volumenverhältnissen mit Wasser verdünnt und in kleinen Mengen auf eine linierte Glasplatte unter dem Mikroskop appliziert. Unter Zuhilfenahme von Pfennig- und Zweipfennigstücken, die man in verschiedene Schachteln ablegte, wurden die Arten, die sich in einem kleinen Glasplättchenfeld befanden, abgezählt, wobei die häufigste Art zunächst wirklich gezählt, dann extrapoliert wurde.46 Hensen war von dieser Methode überzeugt, auch wenn sie pro Fang durchschnittlich 98 Stunden und gar einmal 420 Stunden dauern sollte:47 „Dass derartige Zählungen sehr genau werden können, hat bereits die Erfahrung über die Zählung der Blutkörperchen zur Genüge gelehrt.“48 Die numerischen Resultate wurden in Kolonnen aufgetragen. Der Vorsitzende der Plankton-Expedition zog aus den quantitativen Erhebungen zwei Schlüsse. Erstens seien die Planktonten gleichmäßig verteilt und nicht in „Schaaren“ anzutreffen,49 und zweitens sei überhaupt die Masse des Planktons nicht groß und die Tierwelt dieser geringen Dichte angepasst,50 das 43 44 45 46 47 48 49 50 Schiffsstrecke auf dem Atlantik und die jeweiligen Fangorte verzeichnet, vgl. ebd., Tafel I. Hensen, Methodik der Untersuchungen. Bezüglich der gleichzeitigen Eruierung der Meerestiefe sind widersprüchliche Aussagen überliefert. Einerseits wurde berichtet, dass man zur Anwendung der Netze die Tiefe des Meeresbodens habe bestimmen müssen, vgl. o. A., Hensen’s Plankton-Expedition. Hensen hielt es, wie er 1891 erwähnte, während der Fahrt nicht für nötig, den ausgezeichneten Expeditionen der „Challenger“ in dieser Hinsicht neue Daten hinzuzufügen; vgl. Victor Hensen, Die Plankton-Expedition und Haeckel’s Darwinismus. Ueber einige Aufgaben und Ziele der beschreibenden Naturwissenschaften, Kiel 1891, S. 20. Ders., Methodik der Untersuchungen, Tafel VI u. Tafel VII. Ebd., S. 136 – 176. Ders., Bestimmung des Plankton’s, S. 15 u. S. 18. Vgl. die Tabelle mit den Stundenaufwendungen für das Auszählen: Hensen, Methodik der Untersuchungen, S. 152. Ders., Bestimmung des Plankton’s, S. 18. Ders., Ergebnisse der Plankton-Expedition, S. 244. Ders., Bestimmung des Plankton’s, S. 46. 334 Ariane Tanner heißt die größeren pelagischen Tiere trügen „den ausgesprochenen Charakter schwerer Lebensverhältnisse, ich möchte sagen, des Hungerlebens“.51 Bei einem ästhetischen Vergleich zwischen Hensens nüchternen Zahlenkolonnen und Haeckels künstlerisch anspruchsvollen Zeichnungen vermag es nicht recht zu verwundern, dass letzterer den Enthusiasmus verschiedener Gelehrter über die deutsche Plankton-Expedition nicht teilte. Wo andere einen Reputationszuwachs für Deutschland und die an der Forschungsfahrt beteiligten Wissenschaftler ausmachten, bemitleidete Haeckel den „bedauernswerthen Plankton-Zähler“ und raufte sich rhetorisch die Haare: „Wie eine solche arithmetische Danaiden-Arbeit ohne Ruin des Geistes und Körpers durchzuführen ist, kann ich nicht begreifen.“52 Die angewandte Methode sei nicht nur „völlig nutzlos“, sondern werfe auch ein falsches Licht auf die wichtigsten Fragestellungen der pelagischen Biologie, ganz zu schweigen davon, dass Hensens Aussagen zu Verbreitung und Zusammensetzung des Planktons in „schneidendem Widerspruch“ zu allem bisherigen Wissen stünden, er aufgrund von ungenügender Erfahrung irrige Schlüsse gezogen und darüber hinaus widersprüchliche Resultate weggelassen habe.53 Dem vernichtenden Urteil wegen Missachtung grundlegender wissenschaftlicher Regeln, verpuffter Arbeitskraft und Geld stellte Haeckel einen ausführlichen Bericht über seine Lehr-, Wander- und Forscherjahre als Planktonkenner zur Seite, die denjenigen von Hensen sogar vorausgegangen waren, um sein Urteil durch jahrzehntelange Erfahrung zu unterstreichen.54 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Hensen noch vor dem Auslaufen des Schiffes tatsächlich eine Hypothese festgezurrt hatte, die er unter allen Umständen beweisen wollte: [Die Expedition] ging von der rein theoretischen Ansicht aus, daß in dem Ocean das Plankton gleichmäßig genug vertheilt sein müsse, um aus wenigen Fängen über das Verhalten sehr großer Meeresstrecken sicher unterrichtet zu werden, und diese Voraussetzung hat sich weit vollständiger bewahrheitet, als gehofft werden konnte.55 51 Ders., Ergebnisse der Plankton-Expedition, S. 250. 52 Ernst Haeckel, Plankton-Studien. Vergleichende Untersuchungen über die Bedeutung und Zusammensetzung der Pelagischen Fauna und Flora, Jena 1890, S. 89. 53 Haeckel, Plankton-Studien, S. 10. 54 Im Herbst 1854, auf einer Ferienreise zusammen mit Johannes Müller auf Helgoland, habe er zum ersten Mal Netze eingesetzt und die „pelagischen Glasthiere“ gesehen, weitere Stationen waren Villafranca (1856), Neapel und Capri (1859), Lanzarote (1866), das Rote Meer (1873), Ceylon (1882) sowie Norwegen, England und Frankreich. Zusätzlich zu den Beobachtungen am lebenden Plankton hätten ihm die Funde der „Challenger“-Meeresexpedition zur Verfügung gestanden. Insgesamt ergibt dies drei Dezennien Plankton-Forschung und 12 Jahre „Challenger“-Material, vgl. ders., Plankton-Studien, S. 11 – 16. 55 Hensen, Ergebnisse der Plankton-Expedition, S. 243 u. S. 253; ders., Methodik der Untersuchungen, S. 172; ders., Leben im Ozean, S. 2. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 335 Divergenzen von diesem Muster, das heißt weit vom statistischen Mittel abweichende Auszählungen, erklärte Hensen durch ungewöhnliche Meeresströmungen oder hielt sie für „zufällige Beimengungen, die ich nicht weiter beachtet habe“.56 Er wog zwar ab, dass es „lokale Störungen“ durch Wärme, Kälte, Regen oder andere wechselnde Einflüsse geben könnte. Solche Ungleichmäßigkeiten seien aber dem Zufall geschuldet, der, „wie die Mathematik nachweist, ein ganz vorzugsweise, ich möchte sagen, gesetzlicher Geselle“ ist, der in seiner Summe selbst wieder auf „die Gleichmässigkeit der Mischung“ verweise.57 Hensen zeigte nicht, dass das Plankton üppig und überall vorhanden, sondern vielmehr teilweise sehr karg und dünn gesät sei. Wie verträgt sich diese Interpretation mit dem kräftigen Bild vom Plankton als „Blut des Meeres“? Die Antwort liegt meines Erachtens in einer methodischen Zwangslage. Die Hypothese und ihre Bestätigung durch die quantitativen Ergebnisse mussten gleichzeitig den Beweis für die Richtigkeit der angewandten Mittel erbringen. Nur wenn Hensens Auszählungen auf die homogene Verteilung der Planktonten deuteten, konnte überhaupt seine Methode der punktuellen Fänge im Atlantik aussagekräftig und ein 70.000 Mark teures Unterfangen legitimiert werden.58 Ansonsten hätte man einfach Zahlen über unverbundene Fänge mit geringem prognostischem Wert für die Ökonomie. Seiner Methode jedoch treu bleibend, konnte Hensen in Aussicht stellen, für die Fischerei relevante Resultate generiert zu haben. Zusätzlich hätte ein Ergebnis, das die Üppigkeit von Plankton nachgewiesen hätte, die rückgängigen Fischerei-Erträge um 1870 nicht erklären können. Hensen wollte jedoch mit den Zahlen lediglich die Richtung der Interpretation anzeigen, ohne fischereipolitische Implikationen abzuleiten. Die Deutung der Resultate, so hielt Hensen in der Replik auf Haeckel gleichzeitig rechtfertigend und kämpferisch fest, gehörte nicht zu seinen Pflichten: „Die Aufgabe der Expedition war eine statistische Feststellung; was mit dieser später gefolgert wird, muss sich doch erst zeigen!“59 Hensens Verteidigungsschrift in Reaktion auf Haeckels Vorwürfe ist im Gestus einer großen Anstrengung gehalten. Jede einzelne Anschuldigung knöpfte er sich vor, um sie zu entkräften, wozu er sich jedoch gezwungen gesehen habe, weil Haeckel „ohne einen frischen, fröhlichen Krieg nicht leben zu können“ schiene.60 Seinen Stil passte er durchaus demjenigen seines Kontrahenten an 56 Ders., Bestimmung des Plankton’s, S. 46. Für „Anhäufungen“ und zufällige Beimengungen vgl. ders., Haeckel’s Darwinismus, S. 7. 57 Ders., Methodik der Untersuchungen, S. 172. 58 Ders., Haeckel’s Darwinismus, S. 85. An jener Stelle verglich Hensen seine Expeditionskosten denjenigen der „Challenger“-Expedition, die zwar länger dauerte und mit einem Kriegsschiff – was Kosten sparen könne – unternommen wurde. Dennoch verwahrte sich Hensen gegen den Vorwurf, er sei im Verhältnis zu teuer gefahren. 59 Ebd., S. 29. 60 Ebd., S. 9. 336 Ariane Tanner und schickte voraus: „Eine ängstliche und beschönigende Vertheidigung wäre in dem vorliegenden Fall weit übler, als eine gründliche Abfertigung, desshalb habe ich die letztere erfolgen lassen.“61 Für sich selber reklamierte Hensen den „Freigeist“, während Haeckels Forschung von Dogmen durchdrungen und seine Meinung „nur auf Sand gebaut“ sei und überhaupt „in völligem Widerspruch mit den Thatsachen“ stehe. Den Vorwurf der mangelnden Wissenschaftlichkeit und Professionalität sandte Hensen in vielfältiger Form postwendend an den Absender zurück: Haeckel habe ungenau gelesen, Aspekte seiner Resultate weggelassen, es mangle ihm an Erfahrung auf offener See und an Stil, weil er sogar nicht davor zurückschrecke, den Sekretär der Expedition anzugreifen. Nicht einmal Haeckels Malerei einer Tiefseequalle habe man vertrauen können, weshalb man diese auf der Fahrt habe wiederholen lassen.62 Letztlich ging es in diesem Disput aber ebenso wenig um die Frage, wer nun an Küsten oder auf dem offenen Meer gearbeitet hatte oder wie beim Zählen ein halber von einem ganzen Planktont unterschieden werden konnte und ob die beiden an die kleinen Fische oder die großen Wale dachten, wenn sie von Plankton als Nahrung sprachen. Der Schlagabtausch über Hypothesen, Fakten, wissenschaftliches Ethos, Stil und Methode war im Grunde nur ein Scheingefecht. Die wesentliche Frage, in der sich Hensen und Haeckel nicht einig werden konnten, war nämlich, zu welchem Zwecke diese Organismen überhaupt erforscht werden sollten. Dahinter verbargen sich wichtige konzeptionelle Differenzen, die aber nur scheinbar nicht vereinbar waren. Scheinbar deswegen, weil sich die beiden Wissenschaftler im ausgehenden 19. Jahrhundert zwar nicht verständigen konnten, ihre Ansichten aber im Grunde gar nicht so weit auseinanderlagen. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, dass ihre Zugangsweisen durch die wissenschaftlichen Entwicklungen der 1920er Jahre sinnfällig verknüpft werden konnten. Wesentlich war hierzu die Etablierung des Begriffs Biomasse. III. Dynamiken zwischen Wasser und Land Mit den Protagonisten Haeckel und Hensen kollidierten beispielhaft zwei verschiedene Herangehensweisen zur Erforschung ein und desselben Gegenstandes. Ihr Disput war symptomatisch für eine wissenschaftshistorische Situation, in der numerisch-statistische Methoden (Quantifizierung, Durch61 Ebd., für das Folgende ebd. u. S. 6. 62 Ebd., S. 20 – 22. Im Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit sah sich Hensen durch Zeitgenossen bestärkt, die kritisierten, dass Haeckel für die Darstellung von tierischen wie menschlichen Embryonen dieselben Zeichenvorlagen benutzt hatte. Für eine wissenschaftshistorische Darstellung dieser Debatte vgl. Lorraine Daston u. Peter Galison, Objektivität, Frankfurt 2007, S. 201 – 206. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 337 schnittswerte) mit klassisch naturhistorischen Darstellungsweisen (Zeichnungen, Artenbestimmung, anatomische und morphologische Untersuchungen) konfligierten. Die Wahl ihrer Methoden lag aber in ihrer jeweiligen Vorstellung der Physiologie begründet.63 Haeckel legte Wert darauf zu betonen, dass der Untersuchungsgegenstand und die dazugehörige Methodik von seinem Lehrer, dem Physiologen Johannes Müller, ganz maßgeblich vorangetrieben wurden. Die starke Anlehnung der eigenen Forschung an Müller durch die Aufzählung der gemeinsamen Reisen, die Arbeit mit der Müller-Gaze und die Art der Fragestellungen aus der vergleichenden Anatomie kann aber noch weitergehend gedeutet werden. Müllers nachhaltiges Interesse an den mikroskopisch kleinen Tieren war nicht etwa nur der zufälligen Entdeckung geschuldet, sondern die frei flottierenden, einzufangenden Objekte passten sich in sein forschungsphilosophisches Ziel: Physiologie und Philosophie sollten eine enge Beziehung, die Erfahrung mit der Reflexion eine ideale Verbindung eingehen.64 Die Imagination erhielt in dieser wissenschaftsphilosophischen Haltung eine besondere Rolle, in der etwas gefunden werden sollte, was noch nicht gewusst war. Das von Müller entwickelte und eingesetzte Netz zum Fangen der Kleinstorganismen konnte genau diese Stelle einnehmen und es verlieh der wissenschaftlichen Maxime der Imagination eine konkrete, materiale Form: „With the system of ,pelagic fishery‘, Müller created an instrument that ,exteriorised‘ the imagination.“65 Für Hensen wiederum war die Physiologie nicht nur Vorbild für die Methode des Auszählens der einzelnen Planktonten. Wenn er die Metapher des „Bluts der Meere“ verwendete, so sprach er auch als Forscher, der fast gleichzeitig mit dem Mediziner Claude Bernard die Isolation des Glycogens der Leber bekannt gab.66 Beide konnten damit beweisen, dass der Blutzuckerspiegel in der Leber unabhängig von der Nahrungszufuhr reguliert wird. Bernard sprach in dieser Hinsicht von einem „milieu intrieur“, einem regulatorischen Binnensystem, das den Körper über verschiedenen Bedarf informiert. Dieses „milieu intrieur“ stabilisiert den Organismus unabhängig von äußeren Veränderungen. Hensen verfolgte eine solche physiologische Vorstellung und wandte, wie wir gesehen haben, eine Methode der Physiologie an, um eine konstante Verteilung des Planktons zu beweisen. Plankton wird hier zu einer Gewähr63 Weitere Differenzen, die hier nur kurz genannt werden, betreffen den evolutionären oder entwicklungsbiologischen Ansatz sowie ihr jeweiliges Verständnis von „Ökonomie“. 64 Hans-Jörg Rheinberger, From the „Originary Phenomenom“ to the „System of Pelagic Fishery“. Johannes Müller (1801 – 1858) and the Relation Between Physiology and Philosophy, in: Kurt Bayertz u. Roy Porter (Hg.), From Physico-Theology to BioTechnology. Essays in the Social and Cultural History of Biosciences, Amsterdam 1998, S. 133 – 152, hier S. 137, für das Folgende ebd., S. 144. 65 Ebd., S. 145. 66 Vgl. dazu genauer Porep, Victor Hensen, S. 78 – 81. 338 Ariane Tanner leistung von – wenn auch nicht üppiger – Nahrung und zum Regulator des ozeanischen Stoffwechsels. Haeckel hingegen ging es gerade nicht um das Aufzeigen einer Stabilität, sondern um eine Dynamik. Gerade weil das Plankton abhängig sei von temporalen Schwankungen wie Wetter, Meeresströmungen, Tages- und Jahreszeit, müsse man davon ausgehen, dass das Plankton „eine höchst variable und oscillante Grösse sei.“ Eine umfassende und unbefangene Würdigung aller dieser öcologischen Verhältnisse muss uns daher schon a priori zu der Ueberzeugung führen, dass die Vertheilung des Plankton im Ocean höchst ungleichmässig sein muss […].67 Haeckel konnte mit der Metapher des Stoffwechsels der Meere nur etwas anfangen, weil er an die Zuflüsse der Ozeane, das Absinken von abgestorbenen Organismen und die von ihm sogenannten „Proviant-Transporte“ von oberflächennahen Nährstoffen in tiefere Gefilde durch das Plankton dachte. Darin identifizierte er den „Kreislauf der organischen Materie im Weltmeere“.68 Besonders an den „interessanten und verwickelten Lebensbeziehungen der pelagischen Organismen, ihre[r] Lebensweise und Oeconomie“, die als ökologische Probleme bezeichnet werden müssten, könne dieser abgelesen werden.69 Zum einen kann man hier Haeckels Hinwendung zu dem erkennen, was er nach den ersten zwei Radiolarien-Bänden „Oecologie“ nannte, zum anderen fällt damit sein Abschied von der zeitgenössischen Physiologie zusammen.70 Gerade die klassische Physiologie verknüpfte Haeckel mit der mathematischen Methode, die eine falsche Sicherheit verspreche und Fakten zu Unrecht (numerisch) festlege.71 Etwas, was in Müllers Forschungsphilosophie, die sich zwischen Empirie, Nachdenken und Imagination bewegte, nicht erwünscht war. In dessen Sinne beendete Haeckel auch seine Kritik an Hensen und mahnte das Diktum der „Beobachtung und Reflexion“ an.72 Haeckels Planktonforschung war also von einem forschungsphilosophischen Ansatz charakterisiert, der die Physiologie hinter sich ließ, indes Hensen auf einem reduktionistischen Ansatz insistierte.73 Haeckels dynamische Interrelationen und Hensens statistische Bestandsaufnahme der metabolischen Abhängigkeiten waren jedoch auf lange Sicht vereinbar. Beide Konzeptionen ließen sich in der sich allmählich etablierenden Ökologie integrieren, welche die Strukturen von Tiergemeinschaften in ihrer 67 68 69 70 71 72 73 Haeckel, Plankton-Studien, S. 90. Ebd., S. 99. Ebd., S. 19. Ders., Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen, S. 286. Ders., Plankton-Studien, S. 91. Ebd., S. 103. Von daher erklärt sich auch der von Hensen gewählte Untertitel seiner Verteidigungsschrift: „Ueber einige Aufgaben und Ziele der beschreibenden Naturwissenschaften.“ Vgl. Hensen, Haeckel’s Darwinismus. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 339 Umgebung durch die metabolischen Abhängigkeiten zu verstehen begann, was eine Ökonomisierung und Dynamisierung des Forschungsgegenstandes mit sich brachte.74 Die Meeresbiologie gilt als eines der ersten Spezialgebiete, worin statistische Methoden zur Erforschung von Nahrungsrelationen angewandt wurden.75 Der Ozeanografiehistoriker Eric L. Mills stützt sich auf Hensens Arbeiten, um zu zeigen, wie sich die Meeresbiologie im ausgehenden 19. Jahrhundert von der Tiefsee-Erforschung allmählich den marinen Produktionszyklen zuwandte.76 Die deutsche Plankton-Expedition bezeichne den Übergang von der deskriptiven Wissenschaft hin zu einem Ansatz der „production cycles“, der in einer quantitativen, modellgestützten biologischen Ozeanografie mündete. Das Meer wurde zunehmend als Reservoir, als „standing crop“ wahrgenommen. In dieser Ansicht verschwindet der einzelne Organismus als taxonomisches und anatomisches Objekt und geht in einem Kollektiv auf, das in den größeren Zyklus von Masse und Energie eingebunden ist. Ein Standpunkt, der in der Zeit nach 1910 und für die Grundlegung der modernen Ozeanografie entscheidend war und als Symptom der zunehmenden Ökonomisierung der ökologischen Betrachtungsweise interpretiert werden kann.77 Die 1920er Jahre waren aber nicht nur wichtig für die allmähliche Etablierung der Vorstellungen von Nahrungsketten,78 die vom Wasser bis ans Land reichten, sondern beinhalteten auch Konzepte wie Gleichgewicht und zyklische Phänomene,79 Mathematisierungen von ökologischen Interdependenzen80 und den Begriff der Biosphäre.81 Hatte lange Zeit die Pflanzenökologie 74 Charles S. Elton, Animal Ecology, New York 1927, S. 55 – 70. 75 Durch Sarah Jansens Monografie wird der Eindruck bestärkt, dass die Geschichte einer „Mathematisierung der Biologie“ bei der Meeresforschung anzusetzen hat. Vgl. Sarah Jansen, Schädlinge. Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840 – 1920, Frankfurt 2003, S. 146. 76 Für dies und das Folgende vgl. Mills, Biological Oceanography, S. 1 f. u. S. 39. 77 Donald Worster, Nature’s Economy. A History of Ecological Ideas, New York 1990. 78 Die ersten visuellen Repräsentationen von Nahrungsketten gehen vermutlich auf Camerano zurück, Elton definierte den Begriff; vgl. Lorenzo Camerano, Dell’equilibrio dei viventi merc la reciproca distruzione, in: Atti della Reale Accademia delle Scienze di Torino 15. 1879 / 1880, S. 393 – 414; Elton, Animal Ecology. 79 Silvia Berger, Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland, 1890 – 1933, Zürich 2007, S. 399 – 413. 80 Alfred James Lotka, Elements of Physical Biology, Baltimore 1925, S. 88 – 98; Vito Volterra, Variazioni e fluttuazioni del numero d’individui in specie animali conviventi, in: Memorie della Reale Accademia dei Lincei 6. 1926, S. 31 – 113. Das von Lotka und Volterra unabhängig voneinander publizierte Differentialgleichungssystem erlaubt die exakte, das heißt mathematische Beschreibung eines idealen sogenannten RäuberBeute-Verhältnisses, heute bekannt als „Lotka-Volterra-Gleichungen“. 81 Vladimir Ivanovich Vernadsky, La biosphre, Paris 1929. 340 Ariane Tanner dominiert, die zu erklären suchte, wie ein aktueller Bestand von Arten sich formiert hatte, so verschob sich der Fokus der Ökologie allmählich auf die Momentaufnahmen einer Dynamik, die Interdependenzen zwischen den Arten und ihre Funktionen für ein ökologisches System.82 Solche Ansätze binden die Interaktionen zwischen Arten an die Nahrungsrelationen zurück. Nahrung wird zur „burning question in animal society“, und die ganze Struktur und die Aktivitäten der Tiergemeinschaft hängen vom Versorgungsangebot ab.83 Oder, wie es der englische Ökologe Charles Elton ausdrückte: Er suche nicht mehr nach der Adresse eines Tiers, sondern wolle dessen Beruf kennen lernen, wobei das betreffende Berufsbild durch die Körpergröße des Tiers und seine Nahrungsgewohnheiten definiert wird.84 Die arbeitsteilige Spezialisierung der industriellen Gesellschaft findet hier ihren Widerhall in der ökologischen Definition einer Tiergemeinschaft. In dieser Phase der hier nur grob angedeuteten Entwicklungen innerhalb der Ökologie und Biologie fällt auch die vermutlich erste Nennung des Begriffs „Bio-Masse“.85 Sie geht auf den deutschen Zoologen Reinhard Demoll zurück, der sich mit der Physiologie von Fischen und Vögeln sowie der Gewässerqualität und der Fischereiwirtschaft beschäftigte. Demoll führte 1927 das Konzept Biomasse in Abgrenzung zu Begriffen wie „Produktion“ oder „Ertrag“ ein. Mit Biomasse sei die „in einem bestimmten Augenblick“ lebende Masse in einem abgegrenzten Bereich, zum Beispiel in einem See, bezeichnet. Hingegen meinten die Produktion oder der Ertrag, so Demoll, eine jährliche Masse, die einem Feld oder See entnommen wird, womit Fragen des Gleichgewichts, der Höchstproduktion ohne Störung, der Reserven und Neubildung verbunden sind. Die Biomasse allein sage über diese Fragen noch nichts aus, denn aus zwei gleich großen Biomassen in zwei unterschiedlichen Seen müsse nicht die gleich hohe Produktion erfolgen. Die Masseberechnung gebe aber an, wie viel von dem für den Aufbau von Aminosäuren und Proteinen notwendigen Stickstoff in lebender Masse gebunden ist. Die Biomasse tauchte also in diesem Text in zweifacher Bedeutung auf: einmal als situativ gemessene Masse in einem Teich und einmal als vorhandene Stoffressource, die potentiell in einen Kreislauf eingebunden ist. Vor diesem Hintergrund mussten die Primärproduzenten der Gewässer, die Planktonten, fast gezwungenermaßen eine Hauptrolle spielen. Zum einen binden Phyto82 Arthur G. Tansley, The Use and Abuse of Vegetational Concepts and Terms, in: Ecology 16. 1935, S. 284 – 307; Frank Benjamin Golley, A History of the Ecosystem Concept in Ecology. More Than the Sum of the Parts, New Haven 1993. 83 Elton, Animal Ecology, S. 56. 84 Charles S. Elton, The Ecology of Animals, London 1933, für diese Interpretation vgl. Ludwig Trepl, Geschichte der Ökologie vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt 1987, S. 170. 85 Reinhard Demoll, Betrachtungen über Produktionsberechnungen, in: Archiv für Hydrobiologie 18. 1927, S. 460 – 463, für das Folgende S. 460 u. S. 462. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 341 plankton und Mikroorganismen anorganische Stickstoffverbindungen und wandeln sie in organische Proteinverbindungen, die als Ressource in Betracht kommen. Zum anderen boten die Gegenstände der Limnologie, Teiche oder Seen, die Möglichkeit, von einem klar abgegrenzten Ökosystem zu sprechen und die darin stattfindenden Zyklen und Materialumwälzungen zu analysieren. Die Quantifizierung der lebenden Masse wird zum wichtigen Indikator für die Prosperität der ganzen Nahrungskette. Der Begriff „Ökosystem“ aus dem Jahre 1935 sowie die Vorstellung von trophischen Levels aus dem Jahre 1942 unterstützten weiter abstrahierende, systemische Betrachtungsweisen, welche die funktionale und vor allem energetische Bedeutung von Populationen über die systematisch-taxonomische Bestimmung von Arten stellten.86 Anhand der Quantifizierung der Primärproduzenten, metabolischen Raten und Konsumenten konnte die ökologische Stratifizierung ermittelt werden. Arten spielten in dieser Ansicht keine Rolle, sondern die Massen und Energien der jeweiligen Levels.87 Hier ist der Ort, wo sich Hensens quantitative und Haeckels ökologische Betrachtungsweise von Plankton verbinden lassen. Die statistischen Erhebungen von pelagischen Ressourcen und die dynamische Veränderung von Stoffzyklen sind im Biomasse-Begriff aufgehoben. Die Perspektive auf die energetischen Potentiale und funktionalen Dynamiken innerhalb eines aquatischen Ökosystems, das die Basis der größten Nahrungskette bildet, brachte auch den Menschen als terrestrischen Faktor ins Bild. Der Homo sapiens und Plankton traten in ein energetisches Wechselverhältnis. Im Laufe der 1940er und 1950er Jahren begann sich die Vorstellung einer in Gewässern vorhandenen Biomasse von Primärproduzenten, von denen der Mensch abhängig ist, mit pessimistischen Interpretationen von Bevölkerungsprognosen zu verbinden. Die wachsende Menschenmasse mit einem lebenserhaltenden Energiebedarf sollte mit einer der größten vorhandenen Biomassen, dem Phytoplankton, kurzgeschlossen werden. IV. Algen-Utopien auf dem Teller Der Biologe Lewis H. Tiffany bemerkte bereits 1922, dass drohende Überbevölkerung mit gleichzeitig drastisch ansteigendem Nahrungsbedarf durch Phytoplankton zu mindern sei: „In the future, therefore, we may have to turn more of our attention to the cultivation of the waters for food supplies. […] As that time comes, the cultivation of algae will be a first step toward greater fish 86 Raymond L. Lindeman, The Trophic-Dynamic Aspect of Ecology, in: Ecology 23. 1942, S. 399 – 417. 87 Für die Beschreibung sämtlicher Prozesse (anorganische, organische, soziale, industrielle) als Massetranslationen, die sich energetisch quantifizieren lassen, vgl. Lotka, Elements of Physical Biology. 342 Ariane Tanner production.“88 Eine neue Berufsgattung, „der Landwirt des Meeres“, könne hier Abhilfe verschaffen. Ähnliches stellte sich der Ozeanograf Gordon Riley 25 Jahre später vor : Das Meer sei ein die Vorstellungskraft anregendes, noch unausgeschöpftes Lagerhaus von potentieller Nahrung, weil die marine Produktion von organischem Material diejenige auf dem Land bei Weitem übersteige; man müsse annehmen, dass in den Wassertiefen „at least part of the solution to the world’s increasingly acute food problem“ liege.89 Riley sprach dem Plankton in der Bekämpfung des Hungers eine mittelbare Rolle zu, es ging ihm darum, auf die mögliche Steigerung von Fischerei-Erträgen qua Einflussnahme aufs Plankton zu sensibilisieren. Zum Referenzpunkt wurde ihm hierbei der Eiweiß-Konsum im globalen Vergleich. Die von ihm sogenannte „Oriental Diet“ zeichnete sich durch ein Proteindefizit aus, welches durch die Erweiterung der Fischkulturen wettgemacht werden könnte. Zu Beginn der 1950er Jahre wurde zunehmend die Erwartung geweckt, dass der Mensch nicht nur als Endverbraucher von Fischen und Meeresfrüchten indirekt von einer gesteigerten Planktonmasse profitieren, sondern sich selbst auf der ersten Stufe der marinen Nahrungskette einschalten könnte. Derart würde die Nahrungskette abgekürzt und die energieverschleißenden, verlustreichen metabolischen Zwischenschritte bis hin zum Hering vermieden. Der Mensch sollte da mitessen, wo im Allgemeinen das Zooplankton frisst. Eine schnell wachsende Süßwasseralge, Chlorella, leistete dieser Idee Vorschub. Ihre im Vergleich zu Landpflanzen zwanzigmal größere photosynthetische Umsatzrate wurde angepriesen und das Bild einer photosynthetischen Wundermaschine gepflegt. Mit Chlorella sollte ein Stoff zur Verfügung stehen, der fabelhafterweise ohne Investitionen rasend schnell wachse: „It costs nothing, or less than nothing, to raise.“90 Die Bekämpfung des Hungers auf globaler Skala schien möglich. Die Diskussion um Nahrungssicherheit in Anbetracht der Bevölkerungsentwicklung, also das Zusammenspiel von Ressourcen und Menschenzahl, ist klassischerweise vom englischen Gelehrten Thomas Robert Malthus geprägt.91 Die Befürchtungen, dass Böden erodieren, Menschen hungern und die Welt – mitunter von den „falschen“ Menschen – übervölkert würde, welche wiede88 Lewis H. Tiffany, Some Algal Statistics Cleaned from the Gizzard Shad, in: Science 56. 1922, S. 285 f., hier S. 286, zit. n. Lotka, Elements of Physical Biology, S. 172. 89 Gordon A. Riley, Food From the Sea. Marine Life Outweighs Terrestrial Life, so it Has Been Suggested That Man Turn to the Oceans to Ease his Food Shortage, a Statement of the Problem’s Biological Basis, in: Scientific American 181. 1949, S. 16 – 19, hier S. 17, für das Folgende S. 19. 90 Thomas E. Stimson, Algae for Dinner, in: Popular Mechanics 106. 1955, S. 134 – 136, hier S. 134. 91 Thomas Robert Malthus, An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society. With Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and other Writers, London 1798. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 343 rum mehr Nahrung brauchten, waren bereits im Amerika der Zwischenkriegszeit weit verbreitet92 und tauchten in Wellen immer wieder auf.93 Während sich Malthus in seiner Analyse der Populationsentwicklung darauf konzentrierte, was das Bevölkerungswachstum hemmen könnte (Freiwilligkeit, moralische Bedenken, kriegerische Ereignisse und Engpässe), war das Algenprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg optimistisch motiviert. Aufbruchstimmung und Fortschrittsglaube überwogen die Besorgnis. Die Alge Chlorella, „the grass of the sea“ und Basis der Nahrungspyramide94 eroberte sowohl die Imaginationen als auch die Labore in verschiedenen Ländern wie den USA, Japan, England, Deutschland und Venezuela.95 Wie die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs um die Welternährung besorgt waren, kann die Algen-Züchtung als Anliegen der hochindustrialisierten Länder interpretiert werden, den Frieden zu sichern und ganz allgemein den Wohlstand auch in die sogenannte Dritte Welt zu bringen.96 Die Alge wurde zum „Malthusian Antidot“.97 Der industrielle Anbau von Algen versprach mehrere Probleme an der Schnittstelle zwischen Bevölkerungswachstum und Ressourcenknappheit gleichzeitig zu lösen:98Algen-Fabriken könnten auch in der Wüste stehen, konkurrieren dementsprechend nicht mit herkömmlich genutzten Flächen und erzwingen keine Rodungen; Rohstoffe werden geschont, weil die Alge auf ein ubiquitäres und faktisch unendliches Energiereservoir, das Sonnenlicht, abstellt; der Ertrag wird durch den weit höheren Umsatz des Lichts gesteigert;99 die Ernte kann wetter- und jahreszeitenunabhängig täglich erfolgen;100 92 Warren Belasco, Algae Burgers for a Hungry World? The Rise and Fall of Chlorella Cuisine, in: Technology and Culture 38. 1997, S. 608 – 634, hier S. 611. 93 Zur Rezeption von Malthus, vor allem auch im 20. Jahrhundert, vgl. Philip Appleman (Hg.), An Essay on the Principle of Population. Influences on Malthus’ Work NineteenthCentury Comment, Malthus in the Twenty-First Century, New York 2004; William Stanton, The Rapid Growth of Human Populations, 1750 – 2000. Histories, Consequences, Issues, Nation by Nation, Brentwood 2003; Thomas Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007. 94 Francis Joseph Weiss, The Useful Algae. Ranging from Single Cells to Treelike Colonies, these Primitive Plants Support a Whole Hierarchy of Marine Life and also Contribute Directly to the Needs of Man, in: Scientific American 187. 1952, S. 15 – 17, hier S. 15. 95 Howard W. Milner, Algae as Food. The One-Celled Plant Chlorella May Become an Important Part of the World’s Food Supply. An Account of the First, Promising Attempts to Grow it Economically on a Mass Scale, in: Scientific American 189. 1953, S. 31 – 35. 96 Belasco, Algae Burgers, S. 614. 97 Ebd., S. 609. 98 Für die folgende Auflistung vgl. ebd., S. 610 u. S. 623. 99 Howard W. Milner, Some Problems in Large-Scale Culture of Algae, in: The Scientific Monthly 80. 1955, S. 15 – 20, hier S. 16. Milner spricht von achtmal effizienterer Umsatzrate. 344 Ariane Tanner Abfallstoffe würden vermieden und ein extrem hoher Eiweißgehalt erreicht.101 Gerade Proteine waren ein wichtiges Argument für die Algen-Zucht, denn sie wurden von der Food and Agriculture Organization (FAO) 1943 als Richtlinie herangezogen, um festzustellen, dass fünfzig Prozent der Menschheit unterernährt seien.102 Die Landwirtschaft hingegen galt in den 1950er Jahren als konservatives Gegenstück, an deren Innovationsfreudigkeit erhebliche Zweifel bestanden.103 Die Algen wurden zunächst gleich einer Essigmutter in einem Reagenzglas angezogen, um dann in Kolben verbracht zu werden, worin eine größere Algenlösung hergestellt wurde.104 Diese wurde schließlich in ein Röhrensystem abgefüllt, das auch auf dem Dach eines Gebäudes mitten in einer Großstadt installiert werden konnte.105 Der Traum vom zeitsparenden und sauberen, synthetischen Nahrungsmittel, das ohne Kontaminierungen aus dem vergrößerten Reagenzglas kommt, schien greifbar. Die push-button-Mentalität fand eine Entsprechung in der Algen-Anlage, die von Einzelpersonen mit wenigen Handgriffen bedient wird.106 Chlorella, wie der amerikanische Pionier der Algen-Forschung Herman A. Spoehr festhielt, hatte als Nahrungssubstitut verschiedene Vorteile: Ganz allgemein ließe sich das Wachstum dieser in speziellen Behältnissen herangezogenen Ressource weitaus besser kontrollieren als dies bei Landpflanzen der Fall sei,107 und zudem könne durch die gezielte Veränderung des Mineralstoffgehalts des Wassers eine optimale Nährstoffzusammensetzung der Alge erwirkt werden.108 Technokratischer Eifer unter Berufung auf die 100 Herman A. Spoehr, Chlorella as a Source of Food, in: Proceedings of the American Philosophical Society 95. 1951, S. 62 – 67, hier S. 64. Spoehr würde das aus der Sicht des Ingenieurs so ausdrücken, dass man auf der Suche nach einem kontinuierlichen Prozess im Vergleich zum sehr diskontinuierlichen des Pflanzenwachstums an Land ist; Milner, Large-Scale Culture of Algae, S. 16. 101 Ebd., S. 15. 102 FAO, World Food Survey, Washington 1946; FAO, The State of Food and Agriculture 1948. A Survey of World Conditions and Prospects, Washington D. C. 1948, S. 2 u. S. 21; George A. Reay, The Ocean as a Potential Source of World Food Supply, in: Food Technology 8. 1954, S. 65 – 69. 103 Siehe auch Spoehr, Chlorella, S. 63. 104 Robert W. Krauss, Mass Culture of Algae for Food and Other Organic Compounds, in: American Journal of Botany 49. 1962, S. 425 – 435, hier S. 427. 105 Vgl. z. B. das Bild der Versuchsanlage auf dem Dach des Departements für Pflanzenbiologie in Cambridge, Massachusetts Anfang der 1950er Jahre in Milner, Algae as Food, S. 32. 106 Belasco, Algae Burgers, S. 611; ders., Meals to Come. A History of the Future of Food, Berkeley 2006, v. a. S. 197 – 204. 107 Spoehr, Chlorella, S. 65. 108 Ebd., S. 64 u. 67; John S. Burlew (Hg.), Algal Culture. From Laboratory to Pilot Plant, Washington D. C. 1953, S. iii. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 345 Durchschnittswerte der zum Leben notwendigen Kalorien und Nährstoffe pro Mensch und Tag lieferten dieser Ansicht Argumente. Wenn das Essen, so die Erwartung, erst einmal in seine chemischen Bestandteile zerlegt worden war – Proteine, Kohlenhydrate, Fette, Mineralstoffe, Vitamine und Spurenelemente – schien der adäquaten Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse im globalen Maßstab nichts mehr im Wege zu stehen. Eine biochemische Sichtweise auf die thermodynamische Maschine Mensch ging in dieser Rhetorik eine ideale Verbindung mit dem Steuerungs- und Machbarkeitswillen des prozessoptimierenden Ingenieurs ein. Die Gründe für den Enthusiasmus und die Popularität, die Chlorella zwanzig Jahre lang genoss, identifiziert der Historiker Warren Belasco auch im Aspekt des Amüsements: „Let them eat kelp. […] Will somebody pass the ketchup?“109 In diesem Sinne erdachte sich auch der Begründer des BiomasseBegriffs Demoll im Jahre 1956 eine ganze Menüfolge aus Phytoplankton, die dem jeweiligen Fortschritt der Experimentierphase angepasst war : Algenpaste und Algensuppe bilden den Anfang der Algenepoche. Man wünscht Abwechslung und wird sie bieten: Algensuppe, Algen la Schweinsbraten mit Algengemüse und Algenknödel. Prinzregenten-Algentorte. Und falls man sich übergegessen hat, dann in der Apotheke als sicherstes Brechmittel Algentropfen.110 Auf der Strecke blieb dabei die Einsicht, dass der Mensch nicht nur Nahrung zu sich nimmt, sondern auch essen will. Die Algen, die zum größten Proteinlieferanten werden sollten, befriedigten aus amerikanisch-europäischer Sicht keine hohen kulinarischen Ansprüche, ihre Konsistenz war zu spröde und ihr Geschmack ließ zu wünschen übrig. Der Algen-Forscher Howard W. Milner beispielsweise ließ sich von seinem japanischen Kollegen erzählen, wie das neueste Produkt schmecke.111Auch hatte der ungeübte Verdauungsapparat seine Mühe mit den harten Zellschalen der Alge und profitierte also kaum von den vielen vorhandenen Nährstoffen, welche wiederum von der Alge selbst nicht so zuverlässig aufgebaut wurden wie zunächst angenommen. Die Essgewohnheiten erwiesen sich als resistent gegenüber chemischen Träumereien von synthetischer Nahrung; die Innovation überholte die Tradition nicht. Nur sehr versteckt, in Eiscreme oder als Gelatine (Agar Agar), wurden Algen in der westlichen Welt in kleinen, unbemerkbaren Mengen verzehrt.112 109 Dean Burk, Let Them Eat Kelp, in: Fortune 54. 1956, S. 72, zit. n. Belasco, Meals to Come, S. 204; vgl. auch ebd., S. 208 zum „gag factor“ der Alge. 110 Reinhard Demoll, Früchte des Meeres, Berlin 1957, S. 136 f. 111 Krauss, Mass Culture of Algae, S. 431 f.; Klaus Müntz, Die Massenkultur von Kleinalgen, bisherige Ergebnisse und Probleme, in: Die Kulturpflanze 15. 1967, S. 311 – 350; Milner, Large-Scale Culture of Algae, S. 19. 112 Eigentlich erstreckten sich die primären Anwendungsbereiche der Alge wieder auf die bereits im Jahre 1941 beschriebenen Bereichen: Tierfutter, medizinische Anwendungen, direkte Ernte aus dem Meer, wo dies bereits traditionellerweise geschah, Gewinnung von 346 Ariane Tanner Das Ziel, ein weit verbreitetes Nahrungsmittel zu produzieren, wurde verfehlt; das gezüchtete Phytoplankton wurde zum nährstoffreichen Nahrungszusatz für hartgesottene Vegetarier oder für Astronauten, die im weiten All ohnehin auf vieles verzichten mussten.113 Zu den fehlenden Absatzmärkten wegen kulinarischer Vorlieben traten handfeste technische Schwierigkeiten, die sich finanziell auswirkten: Temperaturschwankungen erwiesen sich als großes Hindernis für die AlgenKulturen, während es permanent diffizil war, die optimale Tiefe des Algenbeckens oder die Lichtintensität sowie den Rhythmus des Rührens und der Abernte zu bestimmen und die Sterilität der Mischung zu gewährleisten. Es stellte sich heraus, dass die anspruchslose Chlorella gezüchtet nicht etwa „mit weniger als nichts“ wuchs, sondern Unmengen von Energie und Geld in Form von Frischwasser, Sauerstoff, Kohlendioxid, gegebenenfalls Heizung oder Kühlung verschlang. Ein Pfund in Japan produziertes Algentrockenmehl, so die ernüchternde Bilanz im Jahre 1967, kostete einen Dollar, im Vergleich dazu die gleiche Menge Soja sechs Cents.114 Die Algen-Forschung, die sich auch nach zwei Jahrzehnten immer noch in der Pilotphase befand, wurde von Soja, effizienten Düngemitteln sowie Hybridformen von Getreide überholt. Die vor allem in populärwissenschaftlichen Foren gepflegte Utopie, die Algen könnten gleich einem alchemistischen Wunderwerk mehr Teile Nahrung schöpfen als Energie investiert wurde, hielt den ökonomischen Realitäten nicht stand. Die Technik scheiterte an der Widerständigkeit des Objekts. War Amerika einmal an vorderster Front gewesen, dem Welthunger beizukommen, so wurden in der Phase des sichtbar gewordenen ökonomischen Scheiterns der Algen-Projekte neue Stimmen laut, die diese Rolle der USA infrage stellten. „Famine, 1975! America’s decision: Who Will Survive?“ titelten die Gebrüder Paddock 1967 und schlugen vor, Entwicklungshilfe nach dem Triage-Verfahren im Ersten Weltkrieg anzuwenden. Demnach gäbe es förderungswürdige Staaten oder zur Selbstheilung fähige Staaten und als dritte Sparte diejenigen, in welche sich Investitionen nicht lohnten und die man mit Vorteil sich selbst überließ.115 Zum neuerlichen Übervölkerungsdiskurs trat ein zunehmendes Bewusstsein für die Umweltverschmutzung. Monografien wie „Das Selbstmordprogramm“ oder „The Population Bomb“ von Anfang der 1970er Jahre machten steigende Populationszahlen für die Aushöhlung der chemischen Stoffen; vgl. Florence Meier Chase, Useful Algae, in: Annual Report of the Board of Regents of the Smithsonian Institution, Washington D. C. 1941, S. 401 – 461. 113 Zur „Alge im All“ vgl. speziell Robert A. Wharton u. a., Algae in Space, in: Carole A. Lembi u. J. Robert Waaland (Hg.), Algae and Human Affairs, New York 1988, S. 485 – 509. 114 Belasco, Meals to Come, S. 211. 115 William Paddock u. Paul Paddock, Famine, 1975! America’s Decision: Who Will Survive?, Boston 1967. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 347 Rohstoffreserven verantwortlich.116 Die ersten computerbasierten Prognosen zum Wohlergehen des Planeten wurden publiziert und stellten in Aussicht, die „Grenzen des Wachstums“ zu berechnen.117 Das ehemalige Ziel, die aus europäisch-amerikanischer Perspektive bestehenden Eiweißdefizite des Ostens aufzufangen, wurde ins Gegenteil verkehrt. Der vermutete Mangel an Eiweiß in der „Asian Diet“ wurde zum Vorbild. Der Chemiker und Ökonom Colin Clark kritisierte den Parameter der FAO über den täglichen Eiweißbedarf scharf und stellte diesem internationalen Berechnungswerkzeug lokale Unterschiede in Ernährungsgewohnheiten, Klima und geleisteter Arbeit gegenüber. Gleichzeitig etablierte er aber mit dem Bruttosozialprodukt eine Kennziffer, welche die weltweite Vergleichbarkeit von Staaten unter ökonomischen Gesichtspunkten ermöglichte.118 Nur zog Clark aus dieser Vergleichbarkeit andere Schlüsse als die von ihm sogenannten Pessimisten. Entgegen der Geschwister Paddock, die in Anbetracht der unterschiedlichen Entwicklungslevels eine eigentliche Abkapselung Amerikas vorschlugen, blieb Clark ein unerschütterlicher Optimist. Mit Investitionen und technischer Innovation stünde einer ausreichenden Ernährung für alle nichts entgegen. Auch auf die drängenden Umweltprobleme wie die Luft- und Wasserverschmutzung hatte er Antworten: Steuern auf traditionellen Ressourcen sollten den Rohstoffverbrauch auf erneuerbare Energien umlenken. Er hielt an der Idee einer „Asian Diet“ fest und berechnete, dass bei einer asiatischen Kost 146 Milliarden Menschen ausreichend ernährt werden könnten.119 Plankton spielte in dieser fortschritts- und technikgläubigen Vision immer noch eine Rolle, nur schlug 116 Gordon Rattray Taylor, Das Selbstmordprogramm. Zukunft oder Untergang der Menschheit, Frankfurt 1971; Paul Ehrlich, Die Bevölkerungsbombe, München 1971. Genannt seien auch ders. u. Anne H. Ehrlich, Bevölkerungswachstum und Umweltkrise. Die Ökologie des Menschen, Frankfurt 1972; Heinz Haber, Stirbt unser blauer Planet? Die Naturgeschichte unserer überbevölkerten Erde, Reinbek 1975. 117 Jay W. Forrester, World Dynamics, Cambridge, MA 1971; Donella H. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, London 1972. Die berühmt gewordene Schrift „Limits to Growth“ basierte auf einem World Model, das Forrester mitentwarf. Laut Forrester (World Dynamics, S. 1) sind folgende Faktoren für eine sinnvolle Simulation der Dynamik im Weltsystem maßgeblich: „a model which interrelates population, capital investment, geographical space, natural resources, pollution, and food production.“ 118 Sabine Höhler u. Rafael Ziegler, Nature’s Accountability, in: Science as Culture 19. 2010, S. 417 – 430; zur Geschichte des Bruttosozialprodukts vgl. Daniel Speich Chass, Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013. 119 Colin Clark, Die Menschheit wird nicht hungern. Programm zur Ernährung der Weltbevölkerung, Bergisch-Gladbach 1970, S. 195. Clark korrigierte diese Ziffer später nach unten, setzte sie aber immer noch bei beachtlichen 47 Milliarden fest. Vgl. ders., Population Growth and Land Use, London 19772, S. 153. 348 Ariane Tanner Clark nicht die Züchtung einer Alge an Land wie bei Chlorella vor, sondern verlegte diese mögliche Industrie ins Meer. Einerseits nahm er den Vorschlag wieder auf, dass man Plankton züchtete, um die Fischereierträge zu steigern, andererseits untermauerte er das Ziel, sich davon direkt, durch ein „Abgrasen der Meere“ zu ernähren. Auch für das Temperaturproblem, mit dem die Algenforschung stets zu kämpfen hatte, hielt er eine, wenn auch in ihren Nebenerscheinungen noch nicht zu Ende gedachte, Lösung bereit: Mittels Kernenergie sollte das Tiefenwasser der Meere erwärmt und so das Planktonwachstum angekurbelt werden.120 An dieser Stelle hätte sich Clark wohl den Vorwurf des inzwischen verstorbenen Algen-Experten der ersten Stunde, Herman Spoehr, gefallen lassen müssen. Dieser bemerkte im Jahre 1951: „True, vision is necessary, but the vision must be a disciplined and practicable one.“121 Ob Zoo- oder Phytoplankton, es wurde trotz Clarks Visionen nicht Teil unseres Speiseplans. Es ist aber bemerkenswert, dass Clark in einer verbreiteten Weltuntergangsstimmung, die isolationistischen Tendenzen das Terrain bereitete, eine international koordinierte Abfederung des Welthungerproblems anstrebte. Dies tat er nicht primär aus Altruismus, aber in seiner Eigenschaft als Technik-Optimist. Auf industrieller Ebene wurde die Algen-Züchtung von circa 1970 an denjenigen Sparten zugeordnet, die von Beginn an mitgedacht worden waren: Analyse der Photosynthese, Tierfutterherstellung, Gewinnung von medizinisch nutzbaren Substanzen.122 Die Algen-Forscher der zweiten Generation teilten mit Clark die Meinung über die politisch notwendigen Maßnahmen. Vor allem die Lenkung von technischer Entwicklung und Fördergeldern schwebte ihnen vor, damit eine neue Zeit anbrechen könnte, „a new, more productive and more gentle age for Mankind – the Age of Microalgae.“123 Abgesehen von diesem pathetischen Ausspruch waren jedoch die AlgenWissenschaftler der zweiten Generation nüchterner. Vergleicht man ihre Einschätzungen und den ersten systematischen Text über die Nutzbarkeit von Phytoplankton aus dem Jahre 1941, dann fallen die Ähnlichkeiten und auch der moderate und pragmatische Ton auf.124 Ihrer Meinung nach waren die Algen vorbestimmt für Tierfutter, Abwasserreinigung und nur ganz zuletzt als möglicher Rohstoff für Treibstoff. Bezüglich des letzteren Anwendungsbereiches, der Suche nach alternativen Treibstoffen, sahen sie bemerkenswerterweise die Krux zwischen Mobilität und Grundversorgung voraus. Sie mahnten, dass flankierende Maßnahmen notwendig sein werden, um zu verhindern, 120 121 122 123 Ders., Die Menschheit wird nicht hungern, S. 197. Spoehr, Chlorella, S. 62. Burlew, Algal Culture, S. 3 f.; Müntz, Massenkultur von Kleinalgen, S. 334 – 336. William J. Oswald, Algal Production. Problems, Achievements and Potential, in: Shelef Gedaliah u. Carl J. Soeder (Hg.), Algae Biomass. Production and Use, Amsterdam 1980, S. 1 – 8, hier S. 8. 124 Chase, Useful Algae. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 349 dass die Produktion von auf Biomasse basierendem Treibstoff mit dem Nahrungsbedarf in Konflikt gerate. Mit den Algen-Züchtungsprojekten der 1950er und 1960er Jahre hatte der utopische Charakter der Planktonforschung einen ersten Höhepunkt erreicht, während technologische, ökonomische und kulinarische Schwierigkeiten ungelöst blieben. Trotz dieses Scheiterns ebnete die erste Algen-Zucht-Phase den Boden für alle weiteren Projekte. Die in den Gewässern vorhandene organische Masse wurde direkt mit dem menschlichen Organismus an Land korreliert. Dies war möglich durch die Übersetzung von Plankton in energetische Nutzbarkeit und durch die Reduktion des Menschen auf seinen Metabolismus. Das Konzept der Biomasse passt in diesen Kontext des funktionalen ökologischen Denkens. Die Operationalisierbarkeit des Biomasse-Begriffs hat aber auch ihren Preis. Die ontologischen Unterschiede zwischen Entitäten werden durch die funktional-technische Aufzählung der Komponenten eines Systems kassiert. Sind Systemkomponenten erst einmal quantifiziert und in nutzbare Energie übersetzt, dann können sie an unterschiedlichen Stellen der Nahrungskette eingesetzt werden. Der letzte Abschnitt wird diesen Punkt noch deutlicher machen. V. Die Biomasse Plankton „Food or Fuel from Algae?“ war Mitte der 1950er Jahre schon gefragt worden.125 Heute lautet die Antwort darauf eindeutig Treibstoff. Aktuelle Plankton-Projekte fußen auf der Idee, neue Energieressourcen zu erschließen und Unabhängigkeit von als unsicher empfundenen Öl-Förderstaaten zu gewinnen. In diesem Sinne ist auch der „Energy Independence and Security Act“ (EISA) der USA aus dem Jahre 2007 zu interpretieren, worin unter anderem 800 Millionen Dollar für Algenforschung enthalten sind. Vergleicht man das neue Phytoplankton-Projekt mit dem alten, dann springen die rhetorischen Ähnlichkeiten ins Auge: schnelles Wachstum, Unabhängigkeit von landwirtschaftlich genutztem Boden, technische Machbarkeit, die Alge als photosynthetisches Wunderwerk, perfekter Loop zwischen Input und Output. „Pack die Wunder-Alge in den Tank“ scheint das Losungswort der Stunde.126 Wieder wird das Bild der männlichen Einzelperson im weißen Laborkittel beschworen, die unter geringem Arbeitsaufwand eine riesige, sterile Plantage mit unvergleichlicher Produktivität allein managen kann. Wieder sind es namhafte Forschungsinstitutionen, welche die neuen Phytoplankton-Projekte medial unterstützen. Ebenso fehlt der Unterhaltungseffekt nicht, auch wenn es 125 Harold W. Milner, Food or Fuel from Algae?, in: Science Digest, April 1954, S. 65 – 67. 126 Silvia von der Weiden, Turbo-Algen sollen den Sprit der Zukunft liefern, http:// www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article13539595/Turbo-Algen-sollen-den-Sprit-derZukunft-liefern.html. 350 Ariane Tanner sich beim „Plankton Manifest“ eines deutschen Journalisten und bei „Urban Algae“, woraus die Fassaden unserer Häuser der Zukunft sein sollen, um durchaus ernsthafte Alternativvorschläge handelt.127 „Algae’s Second Try“ zeichnet sich jedoch vor allem durch neue Techniken aus, die durch genetic engineering und die synthetische Biologie zur Verfügung stehen.128 Zum Beispiel behebt die Veränderung von genetischen Eigenschaften ein Problem des ersten Phytoplankton-Projekts, welches darin bestand, die bestmögliche Tiefe des Algen-Beckens zu eruieren. Neu soll ein sogenanntes „set of metabolic instructions“ die Alge altruistischer, das heißt „more community-oriented“ machen.129 Die Manipulation der Antennen von Diatomeen soll gewährleisten, dass das Individuum im Algen-Becken bloß vierzig Prozent des ihm verfügbaren Sonnenlichts aufnimmt. Derart würde der einzelne Organismus nicht auf Kosten der im Becken benachbarten Diatomeen die externe Energiequelle nützen und ein stabileres Wachstum aller Algen vorhandenen garantieren. Die Algen-Arten, welche in den aktuellsten Züchtungsanlagen zum Einsatz kommen, werden jedoch nicht nur als Kerosin- und Treibstoffersatz beworben, sondern gleichzeitig als Regulatoren im großen Maßstab. Vom Klima über die Energie, die Nahrungsproduktion oder das Wasser – durch die Algen-Zuchten sollen faktisch die wichtigsten Faktoren für den Fortbestand der Menschheit optimal beeinflusst werden. Der Stoff Plankton wird aber nicht mehr als Eiweißsubstitut oder Nahrungsmittel für die Weltbevölkerung propagiert, was mit einer Neugewichtung des Biomasse-Begriffs zu tun hat. Die 1970er Jahre waren in Bezug auf die Geschichte der Planktonforschung nicht nur von den „Limits to Growth“ geprägt, sondern auch von großen Erschütterungen an den Ölmärkten. In die gleiche Phase fiel auch die feste Etablierung des Begriffs Biomasse für nicht-fossile, nachwachsende Energieressourcen, der bis heute Gültigkeit hat. In einer Monografie von 1980 mit dem Titel „Biomass“, stellten die Autoren einleitend fest, dass nach Krieg, Hunger und Epidemien die Menschheit nun mit einem neuen schwerwiegenden Problem konfrontiert sei, der „Energiekrise“.130 In dieser Darstellung verschwindet das Phytoplankton in einer Auflistung und Bezifferung von gespeicherter, alternativ zu fossilen Brennstoffen verwertbarer Sonnenergie. Die rund um 1980 publizierten Bücher mit Titeln „Energy from Biomass“ oder „Biomass for Energy“ sind zwar noch in den Ideen der Umweltbewegung und 127 Axel Limberg, Das Plankton Manifest. Wie ein Rohstoff die Welt verändern wird, Hamburg 2007; Stephen Lacey, Beyond Biofuels. Integrating Algae in the Built Environment, http://www.greentechmedia.com/articles/read/algae-as-an-energy-efficiency-play. 128 Robert F. Service, Algae’s Second Try, in: Science 333. 2011, S. 1238 f. 129 Ebd., S. 1239. 130 Nicholas P. Cheremisinoff u. a., Biomass. Applications, Technology, and Production, New York 1980, S. 1. ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 351 der notwendigen Schonung der Ressourcen verankert, gleichzeitig ist in ihnen aber der rein energietechnische Biomasse-Begriff, das Rechnen mit TreibstoffRessourcen angelegt.131 Die rezenten Erforschungen von Algen zur Gewinnung von Treibstoff sind in diesem Kontinuum zu sehen. Plankton wurde vom potentiellen Welternährungsprogramm zu einem Additionsterm in der Gleichung zur Berechnung verwertbarer Energiespeicher. Die Rolle des Menschen hat sich in diesem neuesten Algen-Projekt verändert. Der Homo sapiens ist nicht mehr angesprochen, um den metabolischen Zyklus zu verkürzen, sondern soll mittelbar von der neuen Energiequelle zur Sicherstellung der Mobilität profitieren. Die Verengung des Biomasse-Begriffs auf die energetische Nutzbarkeit von organischem Material ist nicht folgenlos. In den Quantifizierungen der Natur unter Energiegesichtspunkten wird, wie wir in den letzten Jahren verfolgen konnten, kein Unterschied zwischen den Rohstoffen für menschliche Nahrung oder für Mobilitätsansprüche gemacht. In einer radikalen Auslegung der aktuellen Bedeutung von Biomasse, so Thomas Lemke, wird auch das Rechtssubjekt letztlich zu einem möglichen Reservoir an Arbeitskraft, oder, wenn diese im neoliberalen Zeitalter nicht mehr verwendet wird, zum organischen Ersatzteillager.132 Die Entwicklung des Planktons von einem möglichen Nahrungsmittel hin zum verbreiteten Rechnen mit energetisch verwertbarem Material hatte der Film „Soylent Green“ 1973 kongenial vorweggenommen. In einer heillos übervölkerten Welt im Jahre 2022, in der die Natur nur noch auf Filmen existiert, welche man sich vor dem freiwilligen Ableben vorspielen lassen kann, wohnen vierzig Millionen Menschen in New York. Der Konzern Soylent Corporation übernimmt die Funktion, die Bevölkerung mit Plankton-Chips zu versorgen, während andere Nahrungsmittel, Gemüse und Fleisch, absolute Mangelware und unerschwinglich sind. Das Publikum wird mit der Zeit gewahr, dass auch diese ehemals endlos scheinende Ressource, das Plankton, inzwischen aufgebraucht und heimlich durch ein anderes, vielleicht das letzte noch vorhandene Reservoir, ersetzt wurde. Der Mensch als Teil der Biomasse wird, hat er das Zeitliche gesegnet, dem Industrie-Komplex Soylent Corporation zugeführt.133 Der Film „Soylent Green“ setzte die ontologische Nivellierung der an der Nahrungskette Teilnehmenden apokalyptisch um. Biomasse ist alles, was 131 Wolfgang Palz u. a. (Hg.), Energy from Biomass. First E. C. Conference, London 1981. 132 Thomas Lemke, Rechtssubjekt oder Biomasse? Reflexionen zum Verhältnis von Rassismus und Exklusion, in: Martin Stingelin (Hg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt 2003, S. 160 – 183. 133 Soylent Green, Metro-Goldwyn-Mayer, USA 1973. Der Film basiert auf der ScienceFiction-Romanvorlage von Harry Harrison, Make Room! Make Room!, London 1966. Zwischen Buch und Film wird das inhaltliche Schwergewicht vom Platz- hin zu einem Ernährungsproblem verschoben. 352 Ariane Tanner verwertbar ist. Ein Ansatz, der auch nicht vor dem Recycling der toten menschlichen Körper als Ultima Ratio in Anbetracht der zu ernährenden Menschenmassen haltmacht. Auch wenn dieser Film ins Genre der Dystopien gehört, so macht er nur allzu deutlich, dass die Qualität der Nahrung und die Distribution derselben eine Frage des Zugangs zu Ressourcen wie Energie, Technologien und Geld, also letztlich auch eine Frage der Verteilung der Macht ist. VI. Schluss Die Geschichte der Planktonforschung weist Kontinuitäten und Verschiebungen in der Wahrnehmung von Plankton als wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Projektionsobjekt auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhoffte sich der Zoologe Richard Hertwig Einsichten in den Ursprung des Lebens durch die Kleinstorganismen, welche buchstäblich nicht greifbar waren. Ernst Haeckels programmatischer Ansatz ging davon aus, dass sich durch das Fischen von Plankton ein eigentlicher Imaginationsraum eröffne, der durch einen physiologisch-reduktionistischen Ansatz, wie er ihn durch Hensen vertreten sah, unerreicht bliebe. Jedoch nicht nur die Ansprüche Hertwigs und Haeckels, mit der Planktonforschung an den Ursprüngen des Lebens oder der Evolution zu operieren, wurden ins 20. Jahrhundert transportiert, sondern auch Haeckels Idee einer Ökologie und Hensens Metapher des Stoffwechsels des Ozeans. Dadurch wurde im Übergang zum 20. Jahrhundert der Mensch in den Imaginationsraum Plankton mit hineinprojiziert. Dass der Homo sapiens aber in einem globalen Stoffwechselkreislauf, der unmittelbar mit den Kleinstorganismen verbunden ist, denkbar wurde, hat mit der Begrifflichkeit der Biomasse zu tun. Der Biomasse-Begriff aus den 1920er Jahren verschob den epistemologischen Fokus des 19. Jahrhunderts auf die Ökonomie und Ökologie, welche die Planktonforschung bis heute dominieren. Nicht mehr die authentische Erfassung des einzelnen Organismus oder die statistische Erhebung eines Kollektivs stand im Vordergrund, sondern die Funktion einer pelagischen Masse in Bezug auf den Menschen. Mensch und Plankton traten in ein operationalisierbares und regulierbares metabolisches Wechselverhältnis ein. Dieser funktionalistische Ansatz setzte utopische Kräfte der möglichen technologischen Regulierung und Optimierung der wechselseitigen Abhängigkeiten von Plankton und Weltbevölkerung frei. In den Algen-ZüchtungsProjekten der zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sollte der menschliche Metabolismus direkt mit dem Plankton kurzgeschlossen werden. Die erwünschte ideale Nutzbarmachung von Plankton sah sich aber, wie bereits im 19. Jahrhundert, mit der Sperrigkeit des Objekts Plankton konfrontiert. Aber nicht nur gehorchte Plankton nicht den technischen Manipulationen, sondern auch der europäisch-amerikanische Mensch erwies sich als ipabo_66.249.64.190 Utopien aus Biomasse 353 resistent gegenüber kulinarischen Innovationen. Die Übersetzung des gewonnenen Wissens über Plankton in eine politisch gewünschte Praxis scheiterte an der Materialität des Objekts. Die technischen Mittel, um Plankton nutzbar zu machen, haben sich jedoch im hier beobachteten Zeitraum drastisch geändert. War es früher die Pikrinschwefelsäure, die einen Einblick in den Organismus ermöglichen oder die Statistik, welche die Masse beherrschbar machen sollte, so ist es heute die Gentechnik, die den wissenschaftlichen Traum des nachhaltigen globalen Stoffwechsels erfüllen soll. In den neuesten Algen-Züchtungs-Projekten nimmt sich der Mensch jedoch nur vermeintlich aus den metabolischen Abhängigkeiten heraus. Denn er manipuliert qua Plankton die Grundlagen der Nahrungsproduktion beziehungsweise des Nahrungstransports. Darüber hinaus wurde deutlich, dass der heute prognostizierte Nutzen von Biomasse unter höchstem technologischem Aufwand im weltweiten Maßstab ungleich verteilt ist. Damit „Planktons zweiter Versuch“ als ein Erfolg auf globaler Skala gewertet werden kann, wird es wohl etwas mehr benötigen als einen genetisch eingeführten Altruismus auf der Ebene der Antennen von Mikroorganismen. Ariane Tanner, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Clausiusstraße 59, 8092 Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital Westdeutsche Fischereiexperten am Golf von Thailand (1959 – 1974) von Franziska Torma Abstract: This essay deals with fisheries development in Thailand between 1959 and 1974 / 1975. The case-study of West German experts, who remodeled the Thai fishing industry, shows that fish was not only viewed as a living resource during the development projects, but was of symbolic value as well. Shared cultures of Thai and German exploitation created a basis for cooperation in the 1960s. The overexploitation of fish-stocks during the project revealed different ways of dealing with this problem. West German experts recommended managing the fish-stocks whereas the Thai partners feared losing the opportunity to improve their country. The different meanings of fish as symbolic capital showed that development and environment were two entangled fields of negotiation in the 1970s. „An island is a body of land entirely surrounded by fish.“1 Diese Einschätzung des Meeres als Rohstoffkammer findet sich in einem UNESCO-Dokument als Begründung, warum es sich lohne, die Fischerei in Südostasien auszubauen. Hoffnungen auf unerschlossene Rohstoffquellen machten die Küsten, Inseln und Meere Südostasiens ab den 1950er Jahren zu einem Hauptschauplatz der internationalen Entwicklungsplanung. Dieser Aufsatz befasst sich mit einem spezifischen Projekt, dem Einsatz der Bundesforschungsanstalt für Fischerei am Golf von Thailand. Zwischen 1959 und 1974 sollten westdeutsche Experten die thailändische Fischerei modernisieren, wie es im zeitgenössischen Verständnis hieß, die dort ansässigen Fischer mit Ausrüstung ausstatten und ihnen technisches Wissen vermitteln. Dieser Einsatz westdeutscher Fischereiexperten am Golf von Thailand legt weiterführende Fragen nahe: Was war die Basis für derartige entwicklungspolitische Interessenkoalitionen, die das Meer als Rohstofflieferant entdeckten? Welche Rolle spielte Fisch sowohl in Entwicklungsprogrammen als auch während der Umsetzung der Projekte im Einsatzland? Welche kurz- und langfristigen Folgen zeigten entwicklungspolitische Initiativen? Die These dieses Aufsatzes ist, dass die Ausbeutung von Fisch der Schlüssel zu zwei Wertschöpfungsketten war, die in entwicklungspolitischen Projekten zentral sind: Als lebende Ressource ermöglichte Fisch ökonomischen Gewinn. Die auf Effizienz ausgerichteten Ausbeutungspraktiken und die aus dem 1 UNESCO Archives, 36 A 653 (914) 39, GIFT Project Group, Philippines, Institute of Fisheries Technology, Manila, S. 1. Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 354 – 381 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000 ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 355 wirtschaftlichen Wachstum abgeleiteten Modernisierungsvisionen begründeten die deutsch-thailändische Zusammenarbeit in den 1960er Jahren. Als symbolisches Kapital eröffnete Fisch eine zweite, soziokulturelle Wertschöpfungskette, in der Ansehen, Vertrauen und Prestige zur außenpolitischen Währung im Kalten Krieg werden konnten. In den 1970er Jahren wurde jedoch das Grundmaterial dieser beiden Wertschöpfungsketten knapp: Die thailändischen Fischbestände waren überfischt und die ökologischen Schäden, die das Projekt verursacht hatte, wurden sichtbar. Zeitgenössische Versuche, die Ökonomie der Entwicklungspolitik und die Ökologie der thailändischen Meere auszutarieren, zeigten Bruchlinien der Entwicklungskoalition. In Zeiten des Rückgangs der Ressource stellte sich die prinzipielle Frage, welcher Wert mehr zählte: das Recht auf Entwicklung oder der Schutz der Natur. Mit dieser Themenwahl betritt der Aufsatz ein kaum untersuchtes Feld. Bislang hat sich die Forschung schwerpunktmäßig mit Entwicklungsinitiativen im Bereich der Industrialisierung, der Infrastrukturplanung oder der Gesundheitsfürsorge befasst.2 In den letzten Jahren sind auch umwelthistorisch orientierte Veröffentlichungen zu land- oder forstwirtschaftlichen Initiativen entstanden.3 Die Rolle der Meere in der Entwicklungspolitik ist jedoch kaum erforscht, was sich mit dem prinzipiellen Fokus der Geschichtsschreibung auf das Festland erklären lässt. Außerdem bedingen die verfügbaren Quellen die Themenwahl und die Analyseebenen der Forschung. Internationale Organi2 Z. B. Amy L. S. Staples, The Birth of Development. How the World Bank, Food and Agriculture Organization, and World Health Organization Changed the World, 1945 – 1965 (= New Studies in U. S. Foreign Relations, Bd. 1), Kent 2007; Tania Murray Li, The Will to Improve. Governmentality, Development, and the Practice of Politics, Durham, NC 2007; Timothy Mitchell, Rule of Experts. Egypt, Techno-Politics, Modernity, Berkeley 2002; Dirk van Laak, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn 2004. Ein aktueller Überblick über die in Deutschland in der Geschichte der Entwicklungspolitik behandelten Themen findet sich in folgenden Werken: Hubertus Büschel u. Daniel Speich (Hg.), Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt 2009; Themenheft „Modernizing Missions. Approaches to ,Developing‘ the NonWestern World after 1945“, Journal of Modern European History 8. 2010, H. 1, hg. v. Andreas Eckart u. a. Vgl. auch folgende aktuelle Forschungsberichte: Hubertus Büschel, Geschichte der Entwicklungspolitik, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia. de/zg/Geschichte_der_Entwicklungspolitik; Corinna R. Unger, Histories of Development and Modernization. Findings, Reflections, Future Research, http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/forum/type=forschungsberichte&id=1130. 3 Richard Grove u. a. (Hg.), Nature and the Orient. The Environmental History of South and Southeast Asia, Oxford 1998; Akhil Gupta, Postcolonial Developments. Agriculture in the Making of Modern India, Durham 1998; Joseph Morgan Hodge, Triumph of the Expert. Agrarian Doctrines of Development and the Legacies of British Colonialism, Athens 2007; John Robert McNeill u. Corinna R. Unger (Hg.), Environmental Histories of the Cold War, Cambridge 2010. 356 Franziska Torma sationen wie die Vereinten Nationen haben Aktenbestände aus maritimen Einsatzregionen selten vollständig und umfassend aufbewahrt.4 Die Tatsache, dass Forschungsarbeiten zur Entwicklungspolitik zudem häufig auf die politische Planungsebene fokussieren und selten umwelt- oder kulturhistorisch argumentieren, ist mitunter dem Mangel an Quellenbeständen geschuldet, die Einblicke in die Situation vor Ort geben.5 Für das deutschthailändische Fischereiprojekt liegen dagegen im Bundesarchiv Koblenz umfangreiche und vielfältige Quellen vor. Die Akten reichen von Verwaltungsdokumenten,6 Zeitungsartikeln7 und Feldnotizen8 bis hin zur persönlichen Korrespondenz der am Projekt Beteiligten.9 Diese Überlieferungslage erlaubt Rückschlüsse darauf, wie Entwicklungsprojekte von der Planungsphase bis zur Implementierung vor Ort abliefen. Damit lässt sich nicht nur nachvollziehen, in welchen Kontexten Wissen und Technologien zwischen Westdeutschland und Thailand zirkulierten, sondern auch die Frage untersuchen, welche Rolle die maritime Umwelt in der Entwicklungspolitik spielte.10 4 So findet sich zu dem hier vorgestellten Projekt in den Akten der Vereinten Nationen keine ausführliche Überlieferung, sondern nur eine Erwähnung in Übersichtsdokumenten. 5 Z. B. Richard Jolly u. a. (Hg.), UN Contributions to Development Thinking and Practice (= United Nations Intellectual History Project Series, Bd. 5), Bloomington 2004; Stephen Browne, The United Nations Development Programme and System, Abingdon 2011; Mark Mazower, No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton 2009. 6 Z. B. Bundesarchiv Koblenz [im Folgenden BArch], B 278 / 86, Klaus Tiews, Schlussbericht über die Tätigkeit der nach Thailand entsandten Fischereisachverständigengruppe, 15. 12. 1961. 7 Z. B. BArch, B 278 / 84, Krabbenfischer Eggers half entwickeln, in: Deutsche Nachrichten Sao Paulo, 23. 11. 1961; BArch, B 278 / 88, In Thailand kennt jeder den „Mister Fritz“ aus Deutschland. Fritz Eggers zeigt ihnen das Fischen mit Grundschleppnetzen, in: Hamburger Abendblatt, 27. 12. 1968. 8 Z. B. ebd., Hans-Hermann Engel an Klaus Tiews, Bangkok, 8. 9. 1961; BArch, ebd., Deb Sanan an Klaus Tiews, 5. 8. 1968. 9 Z. B. BArch, B 278 / 86, Berliner Ausstellungen Sonderschau „Partner des Fortschritts“ an Klaus Tiews, 12. 8. 1963; BArch, B 278 / 88, Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, 24. 9. 1965. 10 Zum Technologietransfer und der Wissenszirkulation: Artur Rommel, Technologietransfer als Entwicklungshilfe, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 19. 1968, S. 389 – 403; Austin Robinson (Hg.), Appropriate Technologies for Third World Development. Proceedings of a Conference Held by the International Economic Association at Teheran, Iran 1979; Georg Menache, Wissenschaft und Technologie für die Dritte Welt. Relevanz, Probleme und Perspektiven des Technologietransfers von Industrieländern in Entwicklungsländer, München 1983; Manas Chatterji, Technology Transfer in the Developing Countries, London 1990; Pierre-Yves Donz u. a., Technologietransfer aus historischer Sicht. Relevanz der Schweizer Situation, in: Traverse 17. 2010, S. 16 – 20; ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 357 Während die Natur und die ökologischen Folgelasten gut fassbar sind, sind mit dieser Quellenauswahl auch blinde Flecken verbunden. Die thailändischen Projektpartner werden zwar als Akteure greifbar, doch es fehlen letztendlich die „Stimmen“ der einheimischen Fischer und Antworten auf die Frage, wie lokales Wissen die Entwicklungsprogramme beeinflusste und modifizierte.11 Dieser Aufsatz erzählt somit in erster Linie ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte aus der Perspektive der südostasiatischen Meere.12 Er folgt den westdeutschen Experten durch Zeiten überzogener Aufbau- und Modernisierungshoffnungen bis hin zum Eintritt der ökologischen Wende, in der die Grenzen der Wachstumseuphorie zum Thema wurden. Zunächst steht die Geschichte des Projekts im Vordergrund, während ich im zweiten Abschnitt zeige, wie entwicklungspolitische Praktiken Fisch als lebende Ressource erschufen. Der dritte Abschnitt skizziert dann das symbolische Kapital, das Thailand und Westdeutschland aus dem Ausbau der Fischerei gewinnen konnten. Schließlich befasse ich mich mit der Frage, wie ökonomischer und symbolischer Wert in die moralisch konnotierten Werte von Umwelt und Entwicklung einfließen, und welche Konfliktlinien daraus entstehen konnten. I. Das Projekt In den 1950er Jahren hatten nicht nur die Vereinten Nationen den Rohstoffreichtum der südostasiatischen Meere bemerkt. Auch der deutsche Fischereibiologe Klaus Tiews hatte auf einer Dienstreise nach Südostasien im Golf von Thailand reiche Fischvorkommen gesehen.13 Einerseits sprachen aus diesen Beobachtungen koloniale Träume von unerschlossenen Ressourcen, die unterhalb des Meeresspiegels lagen. Andererseits traten in der Ära der Philipp H. Lepenies, Lernen vom Besserwisser. Wissenstransfer in der „Entwicklungshilfe“ aus historischer Perspektive, in: Büschel u. Speich, Entwicklungswelten, S. 33 – 59; Renate Mayntz (Hg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer. Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Bielefeld 2008. 11 Zur methodischen Frage, wie europäische Akten im Hinblick auf koloniale und postkoloniale Fragestellungen gelesen werden können: Ricardo Roque u. Kim A. Wagner, Engaging Colonial Knowledge. Reading European Archives in World History, Basingstoke 2012, insb. S. 1 – 32. 12 Während globalgeschichtliche Ansätze in der Geschichte des Kaiserreiches gut etabliert sind, ist die Bundesrepublik in Bezug auf globalhistorische Perspektiven, jenseits der transatlantischen oder europäischen Beziehungen, bislang nicht so gut untersucht. Folgender Band bezieht globalhistorische Fragen in zeithistorische Forschung ein: Eckart Conze (Hg.), Die Herausforderung des Globalen in der Ära Adenauer, Bonn 2010. 13 Zum Beginn des Projekts: BArch, B 278 / 84, Reinhard Finke an das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Bericht, Betr.: Fischereiförderungsvorhaben Thailand, Bremen, 11. 4. 1960. 358 Franziska Torma Entwicklungsplanung neuartige Problemlagen hinzu. Im Vergleich zu (spät-) kolonialen Verbesserungsmissionen stand nicht mehr die europäische oder westliche Macht über bisher unerschlossene Räume und Rohstoffe im Mittelpunkt. Die neuen globalpolitischen Rahmenbedingungen der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg weckten in den Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Südostasiens den Wunsch nach Entwicklung. Politisch standen die ehemaligen Kolonien an der Schwelle zu ihrer Unabhängigkeit und sozioökonomisch an der Schwelle zur Industrialisierung. Neue global orientierte Agenturen wie die Vereinten Nationen schienen die Belange der entstehenden Dritten Welt zu vertreten, deren Emissäre in der Generalversammlung und in den Kommissionen Sitz und Stimme erhielten.14 In der Ära der Entwicklungspolitik blieben die Traditionslinien des Spätkolonialismus präsent:15 Der Glaube, dass Entwicklung bessere Lebensbedingungen ermögliche, hatte bereits die Regierungstechniken des Trusteeship und des Dual Mandate geprägt, wobei die ehemaligen Kolonialvölker gewisse Mitspracherechte erhalten hatten.16 Im Januar 1949 erhob Harry Trumans Inaugural Address Entwicklungsplanung zu einem außenpolitischen Programm: Die Modernisierung vermeintlich rückständiger Gesellschaften könne durch den Einsatz von Technik, Expertise oder Kapital beeinflusst und beschleunigt werden. Chinas Botschafter bei den Vereinten Nationen fasste die außereuropäischen Hoffnungen der Entwicklungspolitik in die Formel vom „Hunger des Südens nach Industrialisierung“. Ideen der Selbsthilfe, die bereits spätkoloniale Arrangements geprägt hatten, machten die ehemaligen Kolonialvölker zu Akteuren im Entwicklungsprozess.17 14 Aus der vielfältigen Literatur zu den Vereinten Nationen und der Geburt der Entwicklungsidee sei hier nur auf einige neuere Veröffentlichungen verwiesen: Craig N. Murphy, The United Nations Development Programme. A Better Way?, Cambridge 2006; Olav Stokke, The UN and Development. From Aid to Cooperation, Bloomington 2009. Den Begriff der „Dritten Welt“ verwende ich hier als Quellenterminus und verzichte im Folgenden auf Anführungen und eine weitere Kennzeichnung dieses Gebrauchs. 15 Kontinuitätslinien des Spätkolonialismus in die Geschichte der Vereinten Nationen zeigt: Mazower, No Enchanted Palace. Zum Begriff des Spätkolonialismus: Jürgen Osterhammel, Spätkolonialismus und Dekolonisation, in: Neue Politische Literatur 37. 1992, S. 404 – 426. 16 Benedikt Stuchtey, Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, München 2010, S. 264; Frederik D. Lugard, The Dual Mandate in British Tropical Africa, Edinburgh 1923; Michael Cowen u. Robert W. Shenton, Doctrines of Development, London 1996; Daniel Webster, Development Advisors in a Time of Cold War and Decolonization. The United Nations Technical Assistance Administration, 1950 – 1959, in: Journal of Global History 6. 2011, S. 249 – 272. 17 Webster, Development Advisors, S. 250 – 255. ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 359 In den 1950er Jahren avancierten vor allem die südostasiatischen Staaten zu „developmentalist states“.18 Triebfeder war der eigene Aufbauwille, Katalysatoren waren Länderprogramme internationaler und nationaler Entwicklungsagenturen. Die an Überzeugungskraft gewinnende Modernisierungstheorie westlicher Prägung wies für die aufstrebenden Staaten Asiens den Weg in die Zukunft.19 Indonesien zum Beispiel hatte Entwicklung praktisch zu einer Staatsdoktrin erhoben.20 Auch Thailand suchte nach einem Weg in die Moderne. Das Land bot sich als Zielregion westlicher entwicklungspolitischer Initiativen an. Verfassungsrechtlich war Thailand zwar Königreich, de facto aber eine Militärdiktatur, politisch war es antikommunistisch und deshalb aus westlicher Sicht als Partner in Südostasien attraktiv.21 Mitte der 1950er Jahre fragte Thailand bei der Bundesrepublik Deutschland um „Entwicklungshilfe“ an.22 Da Klaus Tiews’ Beobachtung der reichen Fischschwärme im Golf von Thailand auch bei den offiziellen Stellen in der Bundesrepublik Aufmerksamkeit erregt hatte, schlossen Deutschland und Thailand am 1. Januar 1960 ein entwicklungspolitisches Abkommen im Fischereibereich ab.23 Auf deutscher Seite war der Hauptprojektträger die Bundesforschungsanstalt für Fischerei, die dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten unterstellt war. Der thailändische Projektpartner war das neu gegründete Department for Fisheries. 18 Ebd., S. 271. 19 Nils Gilman, Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America, Baltimore 2003; David C. Engerman (Hg.), Staging Growth. Modernization, Development, and the Global Cold War, Amherst 2003; Michael E. Latham, Modernization as Ideology. American Social Science and Nation Building in the Kennedy Era, Chapel Hill 2000; Unger, Histories of Development and Modernization. Speziell in Bezug auf Südostasien: Marc Frey, Indoktrination, Entwicklungshilfe und „State Building“. Die USA in Südostasien 1945 – 1960, in: Boris Barth u. Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 335 – 362. 20 Webster, Development Advisors, S. 271 f.; Brad Simpson, Indonesia’s „Accelerated Modernization“ and the Global Discourse of Development, 1960 – 1975, in: Diplomatic History 33. 2009, S. 467 – 486. Ragna Boden, Die Grenzen der Weltmacht. Sowjetische Indonesienpolitik von Stalin bis Breznev, Stuttgart 2006. 21 Forschung liegt vor allem zu den Beziehungen zwischen Thailand und den Vereinigten Staaten von Amerika vor: Daniel Fineman, A Special Relationship. The United States and Military Government in Thailand, Honolulu 1997. Marc Frey, Dekolonisierung in Südostasien. Die Vereinigten Staaten und die Auflösung der europäischen Kolonialreiche, München 2006. Zum Antikommunismus in Südostasien und der Gründung der ASEAN: Amitav Acharya, Constructing a Security Community in Southeast Asia. ASEAN and the Problems of Regional Order, London 2001. 22 Der Begriff „Entwicklungshilfe“ ist dem zeitgenössischen Verständnis entlehnt und wird als Quellenterminus im Folgenden ohne weitere Kennzeichnung gebraucht. 23 BArch, B 278 / 86, Dr. Klaus Tiews, Schlussbericht, 15. 12. 1961, S. 1. 360 Franziska Torma Dieses Projekt der „Fischereilichen Entwicklungshilfe“, um den Quellenterminus zu benutzen, war Bestandteil der „Technischen Hilfe“, die neben der Kapitalhilfe eine der tragenden Säulen entwicklungspolitischer Initiativen war.24 Mit der fünfzehnjährigen Laufzeit, die in vier Phasen unterteilt war, war es eines der langfristigsten Projekte der bundesdeutschen Entwicklungspolitik.25 In der ersten Phase von 1959 bis 1961 reisten zunächst die Experten an, der Netzmacher Hans-Hermann Engel, der hanseatische Krabbenfischer Fritz Eggers und der Fangtechniker Rolf Steinberg.26 Bis in die 1950er Jahre hatten die thailändischen Fischer mit Handleinen und Reusen gefischt, wobei ihre Fänge in erster Linie dem eigenen Unterhalt dienten; den Überschuss verkauften sie auf dem Binnenmarkt. Der Auftrag der westdeutschen Experten bestand nun darin, mechanisierte Fang- und Verarbeitungstechniken einzuführen und die thailändischen Fischer darin zu unterweisen. Die Schleppnetzfischerei, die als effektive Technologie galt, sollte der thailändischen Fischerei den Weg vom Binnenmarkt zum Weltmarkt ebnen.27 Die erste Aufgabe bestand darin, zu überprüfen, ob die an den Golf von Thailand gelieferte deutsche Fangtechnik tatsächlich für die südostasiatischen Gewässer geeignet sei. Aus den Erfahrungswerten sollten deutsch-thailändische Teams schließlich passgenaue Ausrüstungsgegenstände entwerfen und bauen. Nachdem die Pilotphase im Frühjahr 1962 erfolgreich zu Ende gegangen war, hatten sich Westdeutschland und Thailand für die Fortsetzung des Projekts ausgesprochen. In der zweiten Phase von 1962 bis 1964 galt es, die Technologien und Methoden der Schleppnetzfischerei in Thailands Fischereipraxis zu verankern.28 Zeitgleich zu den deutschen Experten boten jedoch auch amerikanische und japanische Stellen ihre Geräte an, da diese Staaten im Golf von Thailand ebenfalls ein lohnendes entwicklungs- und wirtschaftspolitisches Einsatzge- 24 Zur Entwicklungspolitik der Bundesrepublik allgemein: Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959 – 1974, München 2006. 25 Eine schematische Darstellung der Phasen findet sich bei: Klaus Tiews, Fishery Development and Management in Thailand. An Example of Advantageous Bilateral Development Aid in the Fisheries Sector, Tübingen 1973, S. 46 f. 26 Z. B. BArch, B 278 / 86, Technische Instruktionen für die Tätigkeit von Herrn Fritz Eggers in Thailand. 27 Tiews, Fishery Development, S. 45 – 47. 28 BArch, B 278 / 84, Vermerk über die Besprechung am 13. Juli 1959, Betr.: Technische Hilfeleistung für Thailand; ebd., Bundesforschungsanstalt für Fischerei an den Herrn Bundesminister für Ernährung, 15. 10. 1959; ebd., Reinhard Finke an das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, 11. 4. 1960; ebd., Dr. Klaus Tiews an die Deutsche Wirtschaftsförderungs- u. Treuhand GmbH, Hamburg, 15. 11. 1960; ebd., Klaus Tiews to Nai Boon Indrambarya, 7. 12. 1959. ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 361 biet erkannt hatten.29 Gemessen an diesen Wahlmöglichkeiten war die thailändische Seite nicht nur passiver Empfänger der Technischen Hilfe, sondern durchaus selbst Entscheidungsträger. Thailands Regierung nutzte die internationale Konkurrenz, um sich den Projektpartner für die weitere Zusammenarbeit auszusuchen. Deshalb mussten die westdeutschen Experten die Effizienz ihrer Technik und ihr Wissen unter Beweis stellen. HansHermann Engel und Fritz Eggers besuchten abgelegene Fischerdörfer, um den Fischern die Vorzüge der deutschen Technik zu demonstrieren. Wie HansHermann Engel in einem Brief an Klaus Tiews beschreibt, liefen sie vor aller Augen zum Fischen aus: Auf dieser Reise begleitete uns ein zweiter Fischkutter mit ca. 30 – 40 Fischern, Journalisten und Kameraleuten. Wir demonstrierten die Schleppnetzfischerei, welche großes Interesse bei den Fischern fand. Es wurde ein Film gedreht, der 30 Minuten lang vom Thai TV gesendet wurde. Auch viele Zeitungen berichteten von der neuen Fischereimethode.30 An diesen Vorführungen des Schau- und Probefischens ist bemerkenswert, dass Medien als genuine Bestandteile des Vermittlungsprozesses von Wissen und Technik erscheinen. Durch sie wurde die maritime Umwelt am Golf von Thailand als kompetitive Arena inszeniert, in der westdeutsche Experten ihr Können erst unter Beweis zu stellen hatten, um als Projektpartner „Entwicklung“ in das Land bringen zu dürfen. Diese mediale und performative Überzeugungsarbeit zeigte aus westdeutscher Sicht das gewünschte Ergebnis: Die thailändischen Partner setzten die Kooperation fort, sie rüsteten ihre Kutter nach westdeutschen Konstruktionsplänen um und sie errichteten eine Netzmacherei, in der vor Ort Netze nach westdeutschen Plänen gebaut werden konnten.31 Nachdem die passenden Technologien des Fischfangs gefunden waren, rückte die Ressource Fisch selbst in den Fokus. Deutsch-thailändische Gruppen sollten in Surveys die Qualität und Quantität der Fischbestände, die zu erwartende Ausbeute und damit die Wirtschaftlichkeit des Golfs von Thailand beurteilen. Gleichzeitig nahmen Ausmaß und Umfang der mechanisierten Fischerei zu. Bereits im August 1962 waren „ungefähr 300 Fahrzeuge in der Schleppnetzfischerei tätig“,32 die bis dahin Ringwaden-Fischerei betrieben hatten und nun umgerüstet worden waren.33 Ein Jahr später fischten 2.500 29 BArch, B 278 / 84, Presseausschnitt Life on Ocean Wave. Marine Survey of Thai Golf, in: Bangkok World, 13. 9. 1959. 30 BArch, B 278 / 84, handschriftlicher Zettel, Hans-Hermann Engel an Klaus Tiews, Reise Nr. 6, 8. 9. 1961. Zum Stellenwert von Medien in der Entwicklungspolitik: BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an die Partaa, 25. 7. 1963, S. 2. 31 BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an Herrn Dr. G. Schaar, 9. 3. 1962, S. 1 f. 32 Ebd., Klaus Tiews an Mesek, Abschrift, Bangkok, 4.8.1962, S. 1. 33 Ebd., Klaus Tiews, Bericht über die im Rahmen der Entwicklungshilfe nach Thailand durchgeführte Dienstreise, 27. 7. – 18. 8. 1962, S. 1. 362 Franziska Torma Schiffe mit Schleppnetzen.34 Die deutsch-thailändische Entwicklungsinitiative verband das Festland und das Meer in einem Zirkulationsnetzwerk aus Wissen, Technologien und Gütern. Es entstand eine Infrastruktur aus Bootsbaubetrieben, Netzmachereien, fischverarbeitenden Industrien und Ausbildungsstätten für einheimische Fischer.35 Thailändische Wissenschaftler besuchten im Rahmen von Stipendienprogrammen die Bundesforschungsanstalt für Fischerei. Dieser Wissenschaftleraustausch diente einerseits der Fortbildung, andererseits sollten auch die kulturellen Beziehungen gefestigt werden.36 Zwar spielte sich oberhalb der Wasseroberfläche eine Aufbauvision ab, doch die neuen Techniken veränderten auch die Welt unter Wasser : Korallenriffe starben ab und mit ihnen ein Basiselement der Nahrungskette in den tropischen Meeren. Die heftige Ausbeutung führte zur Überfischung.37 Fast nur noch Jungfische gingen in die Netze, ausgewachsene Fische waren immer seltener. Mit den Fischarten Makrele, Barsch und Hai verschwand auch die Artenvielfalt aus den thailändischen Gewässern.38 Die in das Astronomische steigenden Wachstumsraten nährten beim Projektleiter Klaus Tiews bereits in den 1960er Jahren Skepsis: Das bedeutete eine 30 %ige [sic!] Steigerung der Seefischereianlandungen. Mit einer Verdoppelung ist wahrscheinlich schon in diesem Jahr zu rechnen […]. Damit dürfte allerdings zunächst die Produktionskraft des Golfs von Thailand ausgenutzt sein.39 Zwischen Wachstumseuphorie und dem Erkennen der potentiellen Grenzen verstetigten sich in der dritten Phase des Projekts (1966 – 1971) meeresbiologische Forschung und ökonomische Ausbeutung als zwei Expertenkulturen. Um die Auswirkungen der Fischerei zu verstehen, hatten Klaus Tiews und sein Kollege Prida Karnasut, der Direktor des thailändischen Department for Fisheries, bereits 1963 ein meereswissenschaftliches Forschungsprogramm initiiert.40 Als institutionellen Grundstein richteten sie ein Forschungslabo34 BArch, B 278 / 87, Klaus Tiews, Bericht über eine im Rahmen der Entwicklungshilfe nach Thailand durchgeführte Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 7. 35 BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an G. Schaar, 30. 3. 1962, S. 1. 36 Zur Praxis der Entsendung der Stipendiaten nach Westdeutschland: z. B. BArch, B 278 / 88, Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, 4. 9. 1967, S. 1 f. 37 Zur Überfischung als Quellenbegriff: ebd., Seefischerei-Labor-Thailand, Frankfurt / Main, Dezember 1966, S. 2. 38 Zu diesen Vorgängen geben vor allem die Briefe und Berichte des Biologen Georg Kühlmorgen-Hille Auskunft, BArch, B 278 / 87 – 90. 39 BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an Mesek, Abschrift, Bangkok, 4. 8. 1962, S. 1; auch: ebd., Tiews, Bericht über die Dienstreise, 27. 7. – 18. 8. 1962, S. 2. 40 Der lange zeitliche Abstand zwischen der zweiten und der dritten Phase erklärt sich aus dem Umstand, dass die bilateralen Vertragsverhandlungen dementsprechend lange gedauert hatten, vgl. BArch, B 278 / 87, Dr. Schmidt-Dahlenburg, Botschaft der ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 363 ratorium ein, das der Fischereibiologe Georg Kühlmorgen-Hille leitete. Dem Bangkoker Fischmarkt angegliedert, ergänzte es die bereits bestehenden Forschungseinrichtungen in Ban Phe, Phuket und Songkla und bildete die Zentrale der meeresbiologischen Fischereiforschung in Thailand.41 Das Ziel des neuaufgelegten Forschungsprogramms bestand darin, Basisdaten über die Biologie des Golfs von Thailand zu erheben und herauszufinden, wie die Fischerei die Größe und Zusammensetzung der Fischbestände beeinflusste. Die Ergebnisse dienten als Anhaltspunkte für das immer dringlicher werdende Ökosystem-Management42 und gleichermaßen als Hinweise, wie die Fischerei ausgebaut werden könne.43 So beriet Fritz Eggers „weiterhin die Fischindustrie in allen Fragen der Schleppnetzfischerei“.44 Auch in Zeiten schwindender Ressourcen blieb Wirtschaftlichkeit ein wesentliches Kriterium der Entwicklungspolitik. Zentral war es, die „Produktionskraft“ des Golfs von Thailand zu erhalten. Unter wirtschaftlicher Perspektive beschrieb der Begriff den Golf von Thailand als Ressourcenarsenal, wobei die Fische der ökonomischen Wertschöpfung dienten. Diese Produktionskraft hing jedoch von den natürlichen Kreisläufen im Ökosystem ab, das allmählich aus dem Gleichgewicht geriet. Paradoxerweise machten erst die ökologischen Schäden die Funktionsweise und feineren Zusammenhänge des tropischen maritimen Ökosystems sichtbar. Der Rückgang bestimmter Fischarten wie der Barschart Snapper, so Georg Kühlmorgen-Hille, könnte wohl „auf die Zerstörung […] der großen pfifferlingsartigen Schwämme […] durch die Schleppnetzfischerei zurückzuführen sein.“45 Das prekäre Gleichgewicht zwischen Ökologie und Ökonomie prägte die vierte Phase des Projekts von 1972 bis 1975, in der die Folgelasten nun vollends sichtbar wurden. Nicht nur das Ökosystem des Golfs von Thailand war stark beschädigt, die fischverarbeitenden Industrien hatten zudem die Binnengewässer verschmutzt. Im Jahr 1972 reisten der Taxonom Wolfgang Klausewitz und die Biologin Elisabeth Huschenbeth vom Forschungsinstitut Senckenberg an. Ihre Aufgabe bestand darin, die volle Tragweite der ökologischen Veränderungen zu analysieren und daraus Vorschläge zu erarbeiten, wie mit 41 42 43 44 45 Bundesrepublik Deutschland, Wirtschaftsreferat an Dr. Klaus Tiews, Bangkok, den 2. 9. 1965, S. 1. De facto lief das Projekt vor Ort ohne Unterbrechung durch. BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an Prida Karnasut, 8. 8. 1963, S. 1 f. Dazu und zur Arbeitsteilung innerhalb der einzelnen Labore: BArch, B 278 / 87, Klaus Tiews, Third Report to the Director General of the Department of Fisheries on Marine Fisheries Research Programming, Bangkok, 2. 3. 1966, S. 17 – 20; ebd., Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 6. Dazu in aller Kürze: Tiews, Fishery Development, S. 47. Eine exakte Auflistung der geplanten Forschungsprogramme findet sich hier : BArch, B 278 / 87, Tiews, Third Report, 2. 3. 1966, S. 6 f. Ebd., Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 7. Ebd., Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, 4. 9. 1967, S. 3. 364 Franziska Torma den Folgeschäden des entwicklungspolitischen Projekts umzugehen sei. Wolfgang Klausewitz untersuchte das Ausmaß der Überfischung,46 und Elisabeth Huschenbeth analysierte den größeren Zusammenhang zwischen Entwicklungspolitik und Umweltzerstörung. Die rapide „Industrialisierung und Verstädterung“47 Thailands habe die aquatischen Ökosysteme stark in Mitleidenschaft gezogen: „Es existieren noch keinerlei Auflagen für die Industrie. […] Mit dem vorgebrachten Vorschlag, den Müll an der Küste ins Meer zu leiten, […] kann man nicht einverstanden sein.“48 Huschenbeth sollte ein neues Forschungsprogramm initialisieren, um Wissen zu sammeln, wie gegen die Meeresverschmutzung vorgegangen werden könne.49 In der Zeit, als die Umweltexperten ihre Arbeit aufnahmen, zogen sich die technischen Experten aus Thailand zurück. Die deutsche und die thailändische Regierung schlossen 1974 / 1975 Partnerschaftsverträge, um die Zukunft der Zusammenarbeit zu regeln. Mit diesen Abkommen erhielt Thailand zwar die alleinige Verantwortung für das Projekt, sie regelten aber auch die zukünftige Kooperation zwischen dem Seefischereilaboratorium in Bangkok und der Bundesforschungsanstalt für Fischerei in Hamburg. Diese Absprachen waren nicht ohne innere Widersprüche. Einerseits sollten als Zukunftsprojekte die Tiefseefischerei ausgebaut, die Aquakultur eingeführt sowie Fischfangtechnologien entwickelt werden, die auch in Zeiten schwindender Fischbestände noch ökonomischen Gewinn versprachen. Diese Maßnahmen stellten die Zeichen weiterhin auf Wachstum und Expansion der Fischerei. Andererseits regelte das Abkommen das genaue Gegenteil: Es verankerte das Ökosystemmanagement und den Umweltschutz, sogar auf überregionaler südostasiatischer Ebene, als zentrale Aufgaben einer zukunftsweisenden Entwicklungspolitik.50 Welche Prozesse und Bruchlinien standen hinter den sich zuwiderlaufenden Tendenzen am Ende des Projekts? Der Schlüssel zu dieser Frage liegt in den Bedeutungsebenen, die die Fische und die Fischerei zwischen Ökonomie und Ökologie einnahmen. 46 BArch, B 278 / 90, Dr. Wolfgang Klausewitz, Bericht über den Verlauf der Thailand-Reise, 15. 12. 1972; bereits auch BArch, B 278 / 89, Dr. Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, 23. 4. 1971. 47 BArch, B 278 / 90, Elisabeth Huschenbeth, Bericht über eine im Rahmen der Entwicklungshilfe nach Thailand durchgeführte Dienstreise, 20. 8. – 17. 9. 1972, S. 3. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 1. 50 BArch, B 278 / 90, Klaus Tiews, Bericht über eine im Rahmen der Entwicklungshilfe nach Thailand durchgeführte Dienstreise, 11. 9. – 15. 9. 1974; ebd., Report on the Meeting Between Thai and German Officers on the Situation of Thai Marine Fisheries and the Beginning of the 4th Phase of the Thai-German Bilateral Aid Programme on Marine Fisheries Development Held at Ban Pae [Ban Phe] Marine Fisheries Station. ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 365 II. Fisch als lebende Ressource Die politische Semantik des Fisches als lebender Ressource entstand im Umfeld der Vereinten Nationen. Im Jahr 1955 hatten die UNESCO und die Food and Agriculture Organization (FAO) die „International Technical Conference on the Conservation of the Living Resources of the Sea“ abgehalten. Sinkende Erträge und die drohende Überfischung der Weltmeere machten diese Zusammenkunft auf internationaler Ebene nötig.51 Diese Konferenz war die zweite UNESCO-Veranstaltung, auf der der Schutz von Meeresressourcen diskutiert wurde.52 Bereits im Jahr 1949 waren die Weltmeere Thema einer Tagung gewesen, die den Schutz und die Nutzung von Ressourcen als zwei Seiten einer Medaille behandelt hatte.53 Diese Konferenzen prägten den modernen Ressourcenbegriff nachhaltig. Sie unterschieden mineralische und fossile Ressourcen sowie natürliche und lebende Ressourcen nach ihrem jeweiligen Nutzungspotential.54 Mineralische und fossile Ressourcen seien nicht erneuerbar und müssten aus diesem Grund zunehmend schonend ausgebeutet werden. Die natürlichen und lebenden Ressourcen dagegen erneuerten sich von selbst, sodass die menschliche Nutzung weder ihr Vorkommen reduzieren noch ihre Regenerationsfähigkeit beeinträchtigen könne.55 Aus diesen Ausführungen spricht die utopische Auffassung, dass nachwachsende Rohstoffe diejenigen Ressourcenengpässe kompensieren könnten, die der jahrhundertelange Verbrauch von fossilen und mineralischen Rohstoffen geschaffen habe. Diese Verhandlungen legen vier Facetten des Ressourcenbegriffs offen: Unter den Begriff der „Ressource“ fielen, erstens, neben der unbelebten Materie die belebte Natur und die Tierwelt. Zweitens entsprach die Idee, dass Fische sich als Rohstoffquelle ständig selbst erneuerten, kulturell gewachsenen Vorstellungen, dass die Weltmeere ein utopisches Rohstofflager seien. In Zeiten planetarischer Rohstoffknappheit erschienen die Meere damit praktisch unerschöpflich. Drittens wird durch diese Diskussionen ersichtlich, dass das Ressourcenverständnis bis in die 1970er Jahre vor allem von ökonomischen Überlegungen geprägt war. Damit erscheint das Konfliktfeld des Thailandprojekts – das 51 Die Vorträge wurden von den Vereinten Nationen veröffentlicht: Papers Presented at the International Technical Conference on the Conservation of the Living Resources of the Sea, Rome, 18 April to 10 May 1955, New York 1956, S. v. 52 Ebd., S. iii. 53 Proceedings of the United Nations Scientific Conference on the Conservation and Utilization of Resources, 17 August to 6 September 1949, Bd. VII: Wildlife and Fish Resources, New York 1950. 54 Milner B. Schaefer, The Scientific Basis for a Conservation Programme, in: Papers Presented at the International Technical Conference on the Conservation of the Living Resources of the Sea, S. 14 – 55. 55 Ebd., S. 15. 366 Franziska Torma Spannungsfeld zwischen Ausbeutung und Schutz – als allgemeines Problem des zeitgenössischen Ressourcenbegriffs. Viertens untermauerte die Idee der Umwelt als Ressourcenlager auch technokratische Naturbilder. Sie festigte Vorstellungen einer berechenbaren und steuerbaren Natur, deren Eigendynamiken durch mathematische Modelle zu verstehen und zu kontrollieren seien. Wie gelangte nun dieses abstrakte Wissen von lebenden Ressourcen aus den internationalen Agenturen in den Kontext der thailändischen Fischerei? Wie setzte sich in den Köpfen beider Projektteams die Vorstellung fest, dass der Weg in die Moderne über die Wertschöpfung lebender Rohstoffe führte? Welche neuen Dimensionen erhielten Ressourcen in diesen Nutzungskontexten? Wie das hier untersuchte Beispiel zeigt, verließ dieses Wissen die Ebene der Begriffsdefinition auf dem Weg personeller Netzwerke. Die Fischereiexperten, die zwischen internationalen Organisationen und nationalen Einrichtungen vermittelten, brachten es in die Einsatzregion.56 Um zu verstehen, wie Fische letztlich zur lebenden Ressource wurden, sind somit neben den Semantiken im Umfeld der Vereinten Nationen die Praktiken der Ausbeutung bedeutsam. Erst diese definierten Ressourcen in sich wandelnden Anwendungskontexten. Dazu bedurfte es spezifischer wissenschaftlicher Kulturtechniken. Wie James Scott festgestellt hat, fielen die Jahre der Entwicklungszusammenarbeit in eine Zeitspanne hochmodernistischer Planungskultur.57 Die Frage, wie Planungskulturen Tiere und die Umwelt in Rohstoffe umwandelten, lässt sich anhand von Fallbeispielen untersuchen. Der große Wert von Projekten wie dem deutsch-thailändischen Fischereiprojekt für Forschungen zur Entwicklungspolitik liegt eben darin, dass sie zeigen, wie Planungskulturen Umwelten veränderten, Planung aber auch in der Umwelt an ihre Grenzen stieß. Außerdem wird ersichtlich, dass Entwicklungsprojekte kein bloßes Mittel postkolonialer Beherrschung vermeintlich unterentwickelter Regionen waren. In diesen Projekten entstanden vielmehr internationale Expertenkulturen, die auf gemeinsamen Praktiken der Ressourcenausbeutung basierten.58 Die deutschen Experten brachten im Jahr 1959 nicht nur Fischereitechnologien nach Thailand. Bereits das Schau- und Probefischen in den ersten Projektphasen erschuf Fische als lebende Ressourcen: Um das effektivste Netz zu finden, katalogisierten die westdeutschen Experten während ihrer Fischereiversuche, wie viele Fische sie in einer Stunde gefangen hatten. Im 56 BArch, B 278 / 84, Tiews, Deutsche Wirtschaftsförderungs- u. Treuhand GmbH, 15. 11. 1960, S. 2; ebd., Klaus Tiews an G. Schaar, Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, 11. 10. 1961; ebd., Hans-Hermann Engel an Klaus Tiews, Bangkok, 8. 9. 1961; BArch, B 278 / 87, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966. 57 James Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1999. 58 Zu Expertenkulturen: Themenheft „Wissensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte“, GG 34. 2008, hg. v. Wolfgang Kaschuba. ipabo_66.249.64.190 367 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital Fischereifachjargon hieß diese Quote „Stundenfang“. Sie zog als Maßeinheit in die Fischerei des Golfs von Thailand ein und lieferte Anhaltspunkte über die Produktivität des Ökosystems und damit über die intendierte Rentabilität der aufzubauenden Fischerei. Sie initialisierte damit auch eine spezifische Repräsentation von aquatischen Lebewesen, indem sie die Perspektive des Planes auf die Natur übertrug. Die thailändischen Projektpartner übernahmen nicht nur die Methoden des Fischfangs, sondern verwendeten auch die Maßeinheit des Stundenfangs, mit der sich die Natur als purer Rohstofflieferant verstehen ließ. Diese Praxis zog sich durch alle Ebenen der Projekthierarchie, von den Direktoren des Departments for Fisheries über die thailändischen Fischereibiologen bis hin zum einfachen Fischer. Ein Brief des thailändischen Wissenschaftlers Deb Sanan an Klaus Tiews zeigt, wie das Umrechnen von Fischereistunden in Kilogramm zum festen Bestandteil der geteilten Ausbeutungspraxis wurde: „1 hour can be catch 300 kgs“, wobei Deb Sanan den zukünftigen Nutzen abschätzte: „I think these area can be utilize 8 – 10 year.“59 Tabelle 1: Durchschnittlicher Stundenfang in Kilogramm, R. V. Pramong Bestandsaufnahme der Schleppnetzfänge 1963, 1968 – 1971 Year Area 1963 1966 1967 1968 1969 1970 1971 I II III IV V VI VII VIII IX 342.5 229.7 264.2 255.8 200.6 286.4 189.7 246.8 211.7 112.38 57.64 109.22 152.77 138.91 137.48 120.75 182.97 165.13 127.18 40.93 95.35 86.50 151.93 90.50 101.16 181.73 179.87 66.05 54.50 67.94 71.97 95.57 187.45 32.64 171.57 141.50 57.08 64.20 73.58 89.80 122.67 114.52 112.67 147.50 149.44 81.66 49.45 51.80 95.79 122.49 98.83 109.95 123.84 116.71 33.22 49.87 46.08 69.97 86.63 76.31 96.83 75.15 82.17 I – IX 248.9 130.77 115.95 135.92 102.74 97.41 56.25 Quelle: Tiews, Fishery Development and Management in Thailand, S. 46. Aus den Rohdaten der Stundenfänge erstellten die Beteiligten Tabellen. Im Verwendungskontext des Projekts waren die Tabellen als Repräsentationen der natürlichen Gegebenheiten und ihres Entwicklungspotentials gedacht. Aus heutiger Lesart erzählen sie Geschichten über die von der zeitgenössischen Planungskultur ausgelösten Umweltveränderungen. Tabellen ließen und lassen sich – wie Ressourcen – zunächst ökonomisch und dann auch ökologisch 59 BArch, B 278 / 88, Deb Sanan an Klaus Tiews, 5. 8. 1968, S. 1. 368 Franziska Torma verstehen. Stellvertretend stehen hier zwei Tabellenarten. Die erste Art von Tabelle verdeutlicht die Ressourcennutzung in ihrem zeitlichen Verlauf. Sie war nach der Fangzeit und den Fanggründen organisiert, wobei diese Einteilung den Gebieten der bestandserhebenden Surveys entsprach. Für jeden dieser Abschnitte notierten die Experten die Stundenfänge per Jahr sowie die jährlichen Durchschnittswerte. Diese Kalkulationen dienten im zeitgenössischen Kontext der Rentabilitätskontrolle.60 Die hier ersichtlich werdende Rückläufigkeit der Erträge machte jedoch auch die durch die Überfischung ausgelöste Veränderung des Ökosystems deutlich. Tabelle 2: Durchschnittlicher Stundenfang in Kilogramm, gelistet nach Spezies Catch per hour in kg 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Leiognathidae Carangidae Nemipteridae Rays and Sharks Synodontidae Trichiduridae Tachysuridae Lutianidae Polynemidae Priacanthidae Scolopsidae Sepia and Loligo Caesiodidae Sphyraenidae 53 44 35 17 15 10 10 8 7 5 4 4 3 3 Catch per hour in kg 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. Thenus sp. Serranidae Plectorhynchidae Lactaridae Megatopsidae Sciaenidae Mullidae Lethrinidae Scomberomoridae Triacanthidae Chaetodontidae Scombridae Other Fishes (Gerridae etc.) Total 3 2 2 2 2 1 1 0.3 0.2 0.1 0.1 0.1 66 297.8 Quelle: Tiews, Experimental Trawl Fishing, S. 41. Die zweite Art von Tabelle war nach den unterschiedlichen Spezies organisiert, die pro Stunde gefangen wurden.61 Im zeitgenössischen Verwendungskontext ergab sie einen Überblick über Quantität und Qualität der Ressource Fisch. Die Tatsache, dass manche Spezies im Lauf der Zeit verschwanden, lieferte jedoch 60 Tiews, Fishery Development, S. 46. 61 Ders., Experimental Trawl Fishing in the Gulf of Thailand and Its Results Regarding the Possibilities of Trawl Fisheries Development in Thailand (= Veröffentlichungen des Instituts für Küsten- und Binnenfischerei, Bd. 25), Hamburg 1962, S. 41. ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 369 nicht nur ökonomisch relevante Einsichten in Prozesse der Überfischung, sondern hätte auch den Rückgang der Biodiversität erkennen lassen können. Die Anwendungskontexte zeigten deutlich eine andere Facette des Ressourcenbegriffs als die politische Semantik der Planungskulturen. Sie legten offen, dass auch lebende Ressourcen nicht unendlich waren, sondern jenseits ökonomischer Hochrechnungen und entwicklungspolitischer Kalküle durchaus ein ökologisches Eigenleben führten. Es stellt sich die Frage, warum die ökologischen Problemlagen, die diese Tabellen bereits frühzeitig zeigten, lange Zeit keine ernsthafte Besorgnis bei den Expertenteams erregten.62 Begründen lässt sich diese Sicht durch ein Spezifikum hochmodernistischer Planungskulturen. Die Übersetzung von Lebewesen in Ressourcen modellierte geradezu eine Umwelt, die nur noch als berechenbare Simulation bestand. Auf dieser modellierten Natur ließen sich Hochrechnungen aufbauen, die die Bodenhaftung zur materiellen Umwelt des Golfs von Thailand komplett zu verlieren drohten. Hier gilt, dass nicht nur westliche Planungseuphorie die Umwelt als kontrollierbare Illusion neu erschuf. Die thailändische Seite teilte diese Praktiken und Weltbilder. Charoon Phasukavanich, der Direktor der Fish Marketing Organisation of Thailand, lieferte Ende der 1960er Jahre eine regionale Hochrechnung der jährlichen Fangstatistiken für den Bangkoker Fischmarkt. Sie umfasste den Zeitraum von 1953 bis in das Jahr 2004. Auf dem Papier stieg die intendierte Fangquote von 27.661 metrischen Tonnen im Jahr 1953 auf 580.957 im Jahr 2004.63 Die Berechnung der nationalen Fangquoten Thailands war noch optimistischer : Sie steigerten sich von 148.000 metrischen Tonnen im Jahr 1953 auf 4.055.784 im Jahr 2004.64 Diese Hochrechnungen machten Entwicklung zu einer statistischen Rechenaufgabe. In ihrem Kern stand Wachstum durch Ressourcenausbeutung. Ziffern aus dem Bereich der natur- und lebenswissenschaftlichen Welt der Modelle erlangten damit politische Brisanz. Für Klaus Tiews gaben Ausbeutungszahlen einen direkten Hinweis auf das Entwicklungstempo des Landes: „These figures show that the Thai fisheries and fundamentally the marine fisheries are passing a period of rapid development.“65 Fisch diente in diesen Planspielen als eine Schlüsselressource, die sich in andere Arten von ökonomischen Ressourcen umsetzen ließ. Klaus Tiews und der thailändische Fischereidirektor sahen in den natürlichen Ressourcen Exportgüter und somit 62 BArch, B 278 / 85, Aktenvermerk über den bisherigen Verlauf der Entwicklungshilfe für Thailand auf dem Gebiet der Seefischerei, S. 2. 63 BArch, B 278 / 88, Charoon Phasukavanich, A Project on the Establishment of the New Bangkok Fish Market in Accordance with the Economic Development Plan of Thailand for 1969 – 1973, S. 6. 64 Ebd., S. 7. 65 BArch, B 278 / 87, Tiews, Third Report, 2. 3. 1966, S. 2. 370 Franziska Torma Möglichkeiten, Gewinne zu erwirtschaften.66 Doch auch die untere und mittlere Ebene der thailändischen Fischer und Wissenschaftler erkannten eine Art Wertschöpfungskette, an deren Anfang der Rohstoff Fisch stand. Deb Sanan rechnete anläßlich einer Ausfahrt zum Fischfang vor: 1 TRIP = 10 Day (6 Days fishing and 4 days for go and back […]. 1 TRIP = 15 Days 4 Day = Travel 11 Day = for fishing 1 Day = 1.2 Tons of fish 11 Day = 80 Tons 1 month = 160 Tons one boat (100 – 120 Tons) 160 tons = 160 x 2000 = 320,000 BAHTS (16,000 US$).67 Zwar teilten die deutsche und die thailändische Seite dieselbe Kultur der Planung und Ausbeutung. Sie verfolgten das gemeinsame Ziel, Fisch als lebende Ressource möglichst effizient zu verwerten, um daraus ökonomisches Kapital zu gewinnen. Als symbolisches Kapital erfüllte Fisch für beide Seiten jedoch unterschiedliche Funktionen. In dieser symbolischen und politischen Bedeutungsebene von Fisch liegt eine weitere Antwort auf die Frage, warum die ökologischen Probleme nur zu zögerlichen Lösungsstrategien führten. III. Fisch als symbolisches Kapital In der Entwicklungspolitik zirkulierten mehrere Arten von Ressourcen: Rohstoffe, Wissen und Technologien sowie Kapital. Unter den Begriff des Kapitals fielen einerseits die Geldmittel, die in entwicklungspolitische Initiativen investiert wurden, andererseits diejenigen Gewinne, die am Ende einer intendierten Wertschöpfungskette standen. Kapital konnte wirtschaftlich und politisch wirksam werden, zählte doch das Bruttosozialprodukt als Kenngröße der Entwicklungsfähigkeit eines Landes.68 Der Begriff des Kapitals hat noch weitere Bedeutungsdimensionen, welche die Bereiche des Sozialen und der Kultur in den Ressourcenkreislauf einbanden. Als soziales Gut ist Kapital eng mit dem Namen Pierre Bourdieu verknüpft, der zwischen vier Kapitalsorten unterscheidet: Ökonomisches Kapital stützt sich auf materielle Ressourcen wie Reichtum. Kulturelles Kapital umfasst den 66 Ebd.; BArch, B 278 / 86, Auszug aus der thailändischen Tageszeitung „Siam Rath“ vom 29. 8. 1963. 67 BArch, B 278 / 88, Deb Sanan an Klaus Tiews, 18. 7. 1968, S. 2. 68 Daniel Speich, Travelling with the GDP Through Early Development Economics’ History, hg. v. LSE, Department of Economic History, http://www.tg.ethz.ch/dokumen te/pdf_files/2008_Speich_Travelling_GDP.pdf. ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 371 Besitz von Kulturgütern sowie kulturelle Fertigkeiten und Wissensformen. Soziales Kapital ergibt sich aus einem Netzwerk von institutionalisierten Beziehungen. Symbolisches Kapital ist den anderen Kapitalformen übergeordnet, da ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen zum Gewinn von Prestige eingesetzt werden können. Diese verschiedenen Kapitalformen sind voneinander abhängig und ineinander übersetzbar.69 Obwohl bisher in der Forschung kaum thematisiert, spielten diese sozialen und kulturellen Ressourcen in der Entwicklungspolitik eine ebenso große Rolle wie Rohstoffe und Finanzen. Projekte der Technischen Hilfe erschufen zusätzlich zur ökonomischen eine zweite Wertschöpfungskette, zu der die Ressource Fisch als symbolisches Kapital der Schlüssel ist. Unzählige Unterlagen zu Fischereiabkommen zeugen von dieser großen Bedeutung, die die lebenden Ressourcen des Meeres einnahmen. Meerestiere hatten nicht nur Eingang in die staatlichen Verwaltungsvorgänge und deren Aktenüberlieferung gefunden, sondern Fisch wurde auch zu einem Bestandteil der offiziellen deutschen Außenpolitik.70 Für Westdeutschland eröffnete Fisch den Zugang zur internationalen politischen Arena im Kalten Krieg. Insgesamt war Entwicklungspolitik ein Bestandteil der deutschen Außenhandelspolitik und einer humanitär gefärbten Außenpolitik im Kalten Krieg.71 Als Entwicklungshilfe trug sie eine eindeutige Stoßrichtung gegen die beobachtete „Wirtschaftsoffensive des Ostblocks“.72 Der westdeutsche Außenminister Heinrich von Brentano warnte in einer Grundsatzrede im Jahr 1956 vor den vermeintlichen entwicklungspolitischen 69 Zu den Kapitalsorten: Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183 – 198; ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 1982; Ingo Mörth (Hg.), Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt 1994. 70 Zu Formen auswärtiger Politik und Repräsentation der Bundesrepublik grundlegend: Johannes Paulmann (Hg.), Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, Köln 2005; ders., Die Haltung der Zurückhaltung. Auswärtige Selbstdarstellungen nach 1945 und die Suche nach einem erneuerten Selbstverständnis in der Bundesrepublik, Bremen 2006. 71 Zur Entwicklungspolitik der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik in Afrika und Vorderasien: Hubertus Büschel, In Afrika helfen. Akteure westdeutscher „Entwicklungshilfe“ und ostdeutscher „Solidarität“ 1955 – 1975, in: AfS 48. 2008, S. 333 – 365; Massimiliano Trentin, Modernization as State Building. The Two Germanies in Syria, 1963 – 1972, in: Diplomatic History 33. 2009, S. 487 – 506. Zur bundesdeutschen Südasien- bzw. Indienpolitik: Amit Das Gupta, Handel, Hilfe, Hallstein-Doktrin. Die bundesdeutsche Südasienpolitik unter Adenauer und Erhard 1949 bis 1966, Husum 2004. 72 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes [im Folgenden PA AA], B 56 / 64, Außenpolitische Fragen der Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern. Rede des Herrn Bundesministers des Auswärtigen am 24. 11. 1956 in Stuttgart, S. 14. 372 Franziska Torma Intentionen des „Ostblocks“. Die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die politische Freiheit und Rechte gewonnen hätten, setzten nun alles daran, ihren Lebensstandard zu sichern sowie die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik für sich zu nutzen:73 Diesen Entwicklungsprozess versucht […] die Sowjetunion auszunutzen […]. Unter Anwendung der verschiedenen Methoden bemüht sie sich hierbei, ihr Endziel, den Weltbolschewismus, zu erreichen. Mit einer Propaganda gegen den kapitalistischen Imperialismus und einer Wirtschaftsoffensive geht sie zum Angriff über und versucht den eigenen Einfluss in diesen Gebieten zu stärken.74 In von Brentanos Einschätzung war die Technische Hilfe eine der größten Trumpfkarten des „Ostblocks“, da sich damit ein umfassendes personelles und ideologisches Netzwerk aufbauen ließ. Der Technik folgten Ausbilder und Experten in die Einsatzregion, die nicht nur Wissen und technologische Fertigkeiten vermittelten, sondern auch für das politische System „Sympathien erwerben sollen.“75 Für von Brentano spielten in diesem Kontext Faktoren wie Vertrauen und Sympathie eine Rolle, und wie könne der Kampf um diese Ressourcen besser gewonnen werden als durch die Präsenz von Staaten, die jenseits kolonialer Interessen zu stehen schienen? Gerade diese Dimension prädestiniere die Bundesrepublik zu einer Sonderstellung in der entwicklungspolitischen Allianz des Westens:76 „Die Bundesrepublik besitzt bei den Entwicklungsländern einen ,good-will‘“, der auf zwei Säulen beruhe. Die entstehende Dritte Welt erkenne das „wirtschaftliche, technische und organisatorische Können“ Westdeutschlands an. Der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder, die „Westdeutschland wieder zu einer führenden Industrienation Europas“ nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hätten, galten ihm als Hoffnung der sogenannten Entwicklungsländer, dass sich die westdeutsche Erfolgsgeschichte auch in ihrer Heimat wiederholen könne.77 Im Zeitalter der Dekolonisation und der damit verbundenen gewaltsamen Konflikte war ein weiterer Faktor wichtig: Das „Fehlen einer kolonialen Vorbelastung“ mache Westdeutschland zu einem favorisierten Partner und gebe dem Land einen Vertrauensvorschuss.78 Damit war ein Verständnis des deutschen Kolonialismus verbunden, das von der neueren Forschung widerlegt ist.79 Im zeitge73 74 75 76 77 Ebd., S. 2. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd., S. 17. Im Folgenden verzichte ich auf den Verweis, dass der Begriff „Entwicklungsländer“ die westliche Perspektive beschreibt und verwende ihn als Quellenbegriff. 78 PA AA, B 56 / 64, Außenpolitische Fragen der Zusammenarbeit, S. 18. 79 Diese zeitgenössische Einschätzung deutscher kolonialer Herrschaft entspricht der Denkhaltung, die Sebastian Conrad als „doppelte Marginalisierung“ des deutschen Kolonialismus beschrieben hat. Grundlage dafür war ein politisches Verständnis von ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 373 nössischen Selbstverständnis jedoch galt Westdeutschland als lebender Beweis, dass die Entwicklungspolitik des Westens nicht bedeute, die politische Abhängigkeit des kolonialen Systems in der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Kapitalismus fortzusetzen.80 In der Arena symbolischen Kapitals vermischte sich die politische Ebene mit humanitären Motiven. In Debatten um den Kampf gegen den Welthunger, die entwicklungspolitische Initiativen begleiteten, verschmolzen Ängste des 19. und des 20. Jahrhunderts. Dem malthusianischen Szenario, dass die Lebensmittelreserven der Erde nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten könnten, könne durch die Ausdehnung der Wachstumsgrenzen in bisher kaum ausgebeutete Regionen begegnet werden. Dieses Weltbild bezog die Meere in spezifischer Weise in Nutzungsregime ein.81 Fisch als eines der zentralen Nahrungsmittel für Ozeananrainerstaaten in Asien, Lateinamerika und Afrika war Bestandteil der größer angelegten Welt-Ernährungspolitik, die im Zeitalter des Kalten Krieges eine brisante Dimension bekam. Die Ausbeutung scheinbar unendlich verfügbarer Ressourcen im Meer sollte den Hunger in den Entwicklungsländern stillen helfen. Aus westlicher Sicht schien ein Erfolg die kommunistischen Initiativen in ihre Schranken zu verweisen.82 Dieser weltpolitische Rahmen schlug sich in den einzelnen Projekten nieder. So wurden im deutsch-thailändischen Projekt Ansehen und Vertrauen zur Währung in den bilateralen Beziehungen: „Die zwischen dem thailändischen Department [of Fisheries] und den in Thailand tätigen deutschen Sachverständigen bestehenden Beziehungen sind sehr eng und freundschaftlich.“83 Diese freundschaftlichen Beziehungen, die durch entwicklungspolitische Projekte geformt worden waren, schlugen sich wiederum im Ausbau der auswärtigen Vertretung nieder. Die thailändische Botschaft in Bonn war nach Washington die stärkste diplomatische Vertretung des Landes im Ausland.84 Auf dem diplomatischen Parkett wurde Fisch Bestandteil der außenpolitischen 80 81 82 83 84 Kolonialismus als Territorialherrschaft, in dem Formen von Einflussnahme und kultureller und sozialer Abhängigkeit nicht gesehen wurden. Dazu grundlegend: Sebastian Conrad, Doppelte Marginalisierung. Plädoyer für eine transnationale Perspektive auf die deutsche Geschichte, in: GG 28. 2002, S. 145 – 169. PA AA, B 56 / 64, Außenpolitische Fragen der Zusammenarbeit, S. 8. Vgl. Fritz Baade, Welternährungswirtschaft, Hamburg 1956, insb. S. 7 – 14 u. S. 61 – 68; Heinrich Hartmann u. Corinna R. Unger, Bevölkerungswissenschaften im 20. Jahrhundert. Diskurse und Praktiken in transnationaler Perspektive, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33. 2010, S. 235 – 245. Für die 1970er Jahre: Sabine Höhler, Die Wissenschaft von der „Überbevölkerung“. Paul Ehrlichs „Bevölkerungsbombe“ als Fanal für die 1970er Jahre, in: Zeithistorische Forschungen 3. 2006, S. 60 – 64. Vgl. zum größeren Kontext: William Glenn Gray, Germany’s Cold War. The Global Campaign to Isolate East Germany, 1949 – 1969, Chapel Hill 2003. BArch, B 278 / 86, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 27. 7. – 18. 8. 1962, S. 4 f. BArch, B 278 / 87, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 9. 374 Franziska Torma Inszenierung. Der Einweihung des Seefischereilaboratoriums in Bangkok wohnten der thailändische Landwirtschaftsminister und der deutsche Botschafter bei, der zudem in einem symbolischen Akt die von Deutschland gestifteten Ausrüstungsgegenstände übergab. Presse, Rundfunk und Fernsehen begleiteten und übertrugen diese Festlichkeit.85 Wenn westdeutsche Politiker Thailand besuchten, war das Fischereiprojekt fester Bestandteil des Programms. Im November 1962 kam der Bundespräsident Heinrich Lübke nach Thailand. Zu diesem Anlass entschied sich die Deutsche Botschaft, Fisch als den Rohstoff, auf dem der Prestigegewinn basierte, als Mittel der auswärtigen Repräsentation einzusetzen: „Es ist daran gedacht, im Besuchsprogramm einen der von uns im Vorjahre benutzten Kutter mit voller Fischladung am Fischmarkt in Bangkok zu besichtigen.“86 Im Sommer 1966 reiste ein Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Entwicklungsausschusses nach Thailand. Georg Kühlmorgen-Hille und der Presseattach der Deutschen Botschaft, Dr. Volkmar Zühlsdorff, setzten die Projektarbeit bewusst in Szene: „Wir werden die Sache so regeln, daß der Abgeordnete am 30. 7. von Sattahib aus an einer Ausfahrt mit ,Pramong 2‘ teilnehmen kann.“87 Der Erfolg des deutsch-thailändischen Fischereiprojekts sollte nicht nur die westdeutsch-thailändischen Beziehungen, sondern auch die deutsche Präsenz in Südostasien verstetigen. Der Grundstein dieser Art von überregionaler Diplomatie lag im Vertrauensvorschuss, den sich die Westdeutschen über die Jahre in Entwicklungsinitiativen erarbeitet hatten. Deutsche Experten hätten sich „in Südostasien durch die erfolgreiche Tätigkeit in den Philippinen und in Thailand einen guten Namen gemacht […] und vielleicht von allen Nationen, die hier einschlägig tätig sind, am besten abgeschnitten.“88 Zwar prägten wirtschaftspolitische Ambitionen den Hintergrund entwicklungspolitischer Initiativen, was sich auch an den ökonomischen Floskeln in der Sprache der Entwicklungsexperten ablesen lässt. So war zum Beispiel in den Akten davon die Rede, dass in kaum einem anderen Projekt ein „so hoher Wirkungsgrad“ erzielt worden sei wie im Fischereiprojekt. Der gute Ruf jedoch galt als zusätzlicher, nicht zu unterschätzender Türöffner nach Südostasien und damit in neue Einflusssphären und Wirtschaftsräume.89 Bereits am Anfang des Projekts hofften Klaus Tiews und der Wirtschaftsattach der Deutschen Botschaft, Dr. G. Schaar, auf die überregionale Ausstrahlung des Projekts in den südostasiatischen Wirtschaftsraum.90 In diesem Kontext dienten Fische 85 86 87 88 89 Ebd., S. 6. BArch, B 278 / 86, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 27. 7. – 18. 8. 1962, S. 5. BArch, B 278 / 87, Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, 21. 7. 1966, S. 2. BArch, B 278 / 86, Klaus Tiews an Mesek, Abschrift, Bangkok, 4. 8. 1962, S. 2. BArch, B 278 / 88, Dr. Klaus Tiews an die Deutsche Förderungsgesellschaft für Entwicklungsländer (GAWI), 9. 1. 1967, S. 1. 90 BArch, B 278 / 84, Tiews, Deutsche Wirtschaftsförderungs- u. Treuhand GmbH, 15. 11. 1960, S. 1. ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 375 und das diplomatische Instrument der Fischereiforschungsabkommen als Grundsteine einer zu errichtenden westdeutschen Präsenz in Südostasien, wobei diese Region als Wirtschaftsmarkt der Zukunft bewertet wurde. Das aus Fisch gewonnene symbolische Kapital floss jedoch auch in die Bundesrepublik zurück. Erfolgsgeschichten konnten die Kritik, die an entwicklungspolitischen Projekten seit den 1960er Jahren lauter wurde, widerlegen.91 Presseartikel wie „In Thailand kennt jeder den Mister Fritz“ legitimierten die finanziellen Ausgaben der Entwicklungspolitik innenpolitisch durch die medienwirksam inszenierte Geschichte des Krabbenfischers Fritz Eggers, der als Durchschnittsbürger die globale Präsenz der Bundesrepublik verkörperte.92 Ein anderer Artikel, „Krabbenfischer Eggers half entwickeln“, hob nicht auf abstrakte Zahlungsvorgänge ab, sondern entwarf persönliche Kontakte als Räume der Wissensvermittlung: „In der Entwicklungshilfe ist es nicht mit Millionenbeträgen getan. […] Menschen sind genauso wichtig.“93 Die Geschichten dieser Menschen sollten auch die Bundesbürger vom Sinn humanitärer Missionen überzeugen. Der Film „Partners in Progress“, der 1973 über Entwicklungshilfe in Asien produziert worden war, inszenierte in großangelegter Weise, wie sich aus maritimen Ressourcen symbolisches Kapital im Dienst der gesamten Menschheit erwirtschaften ließ. So lauteten die letzten Sätze im Filmskript, das in englischer Sprache an eine Weltöffentlichkeit gerichtet war : It is encouraging to have met the biologists, technicians, businessmen and farmers who are working to close the gap between rich and poor. Their success is a challenge to us to help wherever we can to establish the dignity of all mankind.94 Auch für die thailändische Seite lassen sich aus den ausgewerteten Quellen spezifische Hoffnungen skizzieren, die an den Ausbau der Fischerei geknüpft waren. Für Thailand sollte die Ressource Fisch den Weg in eine industrialisierte Konsumgesellschaft nach westlichem Vorbild ebnen. Die Ausbeutung dieser Ressource brachte den Fortschritt mit sich. Insofern war das symbolische Kapital, das Thailand gewinnen konnte, die Moderne selbst. Mechanisierte Fischereitechnologien dienten der Industrialisierung des Landes und bekräftigten das Selbstbild Thailands als moderner Staat. Die Tatsache, dass thailändische Medien das Projekt seit der Frühphase begleiteten, zeugt nicht nur vom Aufbau einer Informations- und Medienkultur, die sich an westlichen Standards orientierte. Thai TV hatte das Schau- und Probefischen gefilmt, um mit der Übernahme dieser Fischereimethoden den Aufbruch des eigenen 91 Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt, S. 97 – 103 u. S. 129 – 146. 92 BArch, B 278 / 88, In Thailand kennt jeder den „Mister Fritz“. 93 BArch, B 278 / 84, Krabbenfischer Eggers half entwickeln, in: Deutsche Nachrichten Sao Paulo, 23. 11. 1961. 94 BArch, B 278 / 90, Dr. J. Haese, Deutsche Gesellschaft für Film- und Fernsehproduktion mbH an Klaus Tiews, 8. 12. 1972, S. 15. 376 Franziska Torma Staates in die Moderne zu inszenieren. Die Ausbeutung immer neuer Rohstoffquellen durch Wissen und Technik ebnete in den Augen des thailändischen Fischereidirektors, Prida Karnasut, den Weg in die Zukunft.95 Die eigene Entwicklung prädestinierte das Land somit zu einer Vorreiterrolle in Südostasien. Dieser Aufbruch in die Industriegesellschaft gab Thailand die nötigen Fähigkeiten, aber auch das erforderliche Prestige in der Region, um selbst Motor der Entwicklungsplanung in Südostasien zu werden.96 Zusammen mit den westdeutschen Experten plante das thailändische Department for Fisheries „exploratory fishing operations to unknown or little explored fishing grounds such as the continental shelves of South Vietnam, North of Borneo, in the Bay of Bengal, and in the Andaman Sea.“97 Der thailändische Entwicklungsfortschritt schuf symbolisches Kapital gegenüber den Nachbarstaaten, der sich in konkreten Projektinitiativen niederschlug.98 Als nächster Schritt sollte die Fischerei Malaysias ausgebaut werden, und ein thailändisches Forschungsschiff die erste Bestandsaufnahme der malaysischen Gewässer übernehmen. Geografisch teilten sich diese beiden Staaten Fischereigründe, und das gemeinsame lokale Wissen legte dieses Vorgehen nahe. Eine Analyse der Gewässer Malaysias half darüber hinaus, die Dynamiken der Nutzfischbestände in dieser Region zu verstehen. Die Rolle, die Thailand beim Aufbau der Fischerei in Malaysia spielen sollte, ging jedoch über diese pragmatischen Begründungen hinaus. Im Vordergrund stand das technokratische Wissen, das sich Thailand durch das entwicklungspolitische Projekt erworben hatte: „Malaysia would greatly profit from such a survey, since no other nation could offer similarly quick and conclusive information on the size of demersal fish stocks in these waters.“99 Führungsrollen in überregionalen Initiativen galten als Thailands Chance, um vom Kreis der Empfängerländer in den Kreis derjenigen Länder zu gelangen, die selbst Technische Hilfe leisteten.100 Thailand wurde in der Tat zu einem Motor der Entwicklungspolitik im Fischereibereich. Das Land war Mitglied des von der FAO organisierten IndoPacific Fisheries Council.101 In der Association of Southeast Asian Nations, zu der sich die Regierungen von Thailand, Malaysia, Indonesien, Singapur und den Philippinen zusammengeschlossen hatten, versprach die regionale Zusammenarbeit gute Erfolgschancen, den „sehr unterschiedliche[n] Entwick95 BArch, B 278 / 86, Auszug aus der thailändischen Tageszeitung Siam Rath vom 29. 8. 1963. 96 Hinter diesen technokratischen Visionen von Entwicklung und den damit verbundenen Modellen von Entwicklungsstufen standen Ideen der Pfadabhängigkeit, die im Technologietransfer als Handlungsanleitung galten. 97 BArch, B 278 / 87, Tiews, Third Report, 2. 3. 1966, S. 5. 98 Ebd., S. 23. 99 Ebd. 100 Ebd. 101 BArch, B 278 / 87, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 8. ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 377 lungsstand in den Fischereien in der Region“ zu nivellieren.102 Thailand galt als ein geeigneter Stützpunkt entwicklungspolitischer Initiativen, um die Fischerei in den Indischen Ozean auszudehnen.103 Basierend auf symbolischem Kapital wurde das Land selbst zu einem Zentrum der regionalen Technischen Hilfe. In Bangkok fanden Tagungen und internationale Verhandlungen zum Ausbau der Fischerei in Südostasien statt, und das Land wurde zum Fortbildungsplatz von Fischereibiologen aus angrenzenden Regionen. Finanziert von der UNESCO kamen zwei Biologen aus Malaysia in das deutschthailändische Laboratorium zur Ausbildung.104 Auch der FAO galt die Entwicklung Thailands als eine Art Muster, wie sich internationale Kooperationen im südostasiatischen Raum anregen ließen.105 Thailands symbolischem Kapital in Form internationaler Wertschätzung mag es auch zuzuschreiben sein, dass die FAO das regionale Fischereibüro für Südostasien in Thailand einrichtete.106 Im Jahr 1967 gründete sich als regionaler Zusammenschluss das Southeast Asian Fisheries Development Center in Bangkok, über das internationale Organisationen ihre Kooperationen mit Südostasien abwickelten.107 Die Wertschöpfungsketten von lebenden Ressourcen und symbolischem Kapital funktionierten so lange, wie ihre Basis, der Fisch, und das daraus abgeleitete Wachstum verfügbar waren. Das Projektende zeigt, dass mit dem Versiegen dieser Ressourcen die Widersprüche und Konfliktlinien zwischen Wachstumseuphorie und Ressourcenschonung in der entwicklungspolitischen Initiative aufbrachen. Was hatten Deutschland und Thailand jeweils zu verlieren, wenn die Ressource Fisch versiegte? Die westdeutschen Experten hätten ein außenpolitisches Betätigungs- und Außenhandelsfeld verloren, eventuell Ansehen und Vertrauen und im schlimmsten Fall eine Region an die Systemkonkurrenz. Thailand hätte dagegen nicht nur symbolisches Kapital verloren, sondern auch eine der Grundlagen der Entwicklungspolitik selbst,108 wie Klaus Tiews feststellte: 102 Ebd. 103 BArch, B 278 / 88, Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, Bangkok, 24. 10. 1969, S. 2. 104 BArch, B 278 / 87, Dr. Georg Kühlmorgen-Hille, Projekt FE 544, Bericht über die Zeit vom 1. 9. bis 30. 11. 1966, S. 3. 105 Ebd., Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 3. 106 Ebd., S. 4. 107 Zur Kooperation des Southeast Asian Fisheries Development Center (SEAFDEC) mit der Intergovernmental Oceanic Commission (IOC): UNESCO Archives, 551.46 A 02 IOC 8 SEAFDEC. 108 BArch, B 278 / 84, Tiews, Deutsche Wirtschaftsförderungs- u. Treuhand GmbH, 15. 11. 1960, S. 1 f. 378 Franziska Torma Es mag erwähnt werden, dass als Folge der Fischereientwicklung ein starker Anstieg des Lebensstandards in der Fischereibevölkerung entlang der gesamten Küste beobachtet werden kann. Viele Fischer haben sich neue Häuser gebaut.109 Der Rückgang der Fischbestände gefährdete eine Einnahmequelle, an die ein kompletter Industriezweig und die sozialpolitische Vision eines Weges in die sogenannte Erste Welt geknüpft waren. Die in den 1970er Jahren geforderten Schutzmaßnahmen brachten somit nicht nur Wertschöpfungsketten und Zukunftsutopien in Konkurrenz. Es standen darüber hinaus das Recht auf Entwicklung und der Schutz der Natur zur Verhandlung.110 IV. Umwelt und Entwicklungspolitik Klaus Tiews und Andhi P. Isanakura, sein Kollege im Bangkoker Department for Fisheries, hatten bereits im Jahr 1967 anlässlich einer offiziellen Bewertung der Schleppnetzfischerei festgestellt, dass die Bodenfischbestände zu sehr ausgebeutet worden seien. Die Fischerei zahle sich zwar gerade noch aus, jedoch sei es nun höchste Zeit für Regulierungsmaßnahmen.111 Auch Georg Kühlmorgen-Hille befasste sich seit Mitte der 1960er Jahre verstärkt mit dem Problem der Überfischung. Seine Berichte und Briefe, die aus dem Fischereilaboratorium Bangkok in Hamburg und Bonn eintrafen, dokumentieren ausführlich die ökologischen Veränderungen vor Ort. Eine seiner brennenden Kernfragen lautete: „Was kann getan werden, um Fischerei und Fischbestand gegeneinander aus zu bilanzieren?“112 Einerseits überlegten die westdeutschen und thailändischen Experten auf lokaler Ebene drastische Schutzmaßnahmen, wie zum Beispiel zwei extrem überfischte Gebiete für bis zu zwei Jahre komplett zu sperren.113 Andererseits basierte das gesamte Projekt immer noch auf den Zauberformeln der Wirtschaftlichkeit und des Wachstums.114 Der Glaube an die Planbarkeit natürlicher Prozesse machte beide Seiten für die Folgeschäden blind. Diese komplexe Situation spiegelt darüber hinaus Bruchlinien Technischer Hilfsprojekte wider. Sie verliefen zwischen 109 BArch, B 278 / 87, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 30. 3. 1966, S. 4. 110 Zum prinzipiellen Problem, dass die Dritte Welt die Umweltpolitik der westlichen Welt nicht teilte: Kai F. Hünemörder, Vom Expertennetzwerk zur Umweltpolitik. Frühe Umweltkonferenzen und die Ausweitung der öffentlichen Aufmerksamkeit für Umweltfragen in Europa (1959 – 1972), in: AfS 43. 2003, S. 275 – 296, hier S. 294. 111 Klaus Tiews, Fishery Development, S. 53. 112 BArch, B 278 / 88, Georg Kühlmorgen-Hille, Seefischereiforschung in Thailand, November 1969, S. 3. 113 BArch, B 278 / 90, Staff Meeting Ban Pae [Ban Phe] Marine Fisheries Station, 1972, S. 5. 114 BArch, B 278 / 88, Seefischerei-Labor, Dezember 1966; BArch, B 278 / 90, Tiews, Bericht über die Dienstreise, 11. 9. – 15. 9. 1974, S. 4. ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 379 Deutschland und Thailand, aber auch zwischen den unterschiedlichen Ebenen des Projekts. Die Planer am Schreibtisch und die Menschen vor Ort hatten jeweils eine andere Perspektive auf das Meer. Klaus Tiews und die thailändischen Experten im Department for Fisheries verfochten Regulierungsmaßnahmen. Georg Kühlmorgen-Hille war aber mit den lokalen Problemen konfrontiert. Ihn beschäftigte die Frage, ob und wie sich diese Schutzmaßnahmen, die zu einem sinnvollen Ressourcenmanagement führen sollten, überhaupt umsetzen ließen. Ministerien und Expertenteams in den Städten hingegen blickten auf die Entwicklungspolitik durch die Perspektive der Jahrespläne und erarbeiteten davon ausgehend Vorschläge. Vor Ort funktionierte diese Vogelperspektive der abstrakten Zahl jedoch nur bedingt. Denn nicht nur die Planungskultur der Entwicklungshilfe, auch die materielle Kultur der Fischerei war aus dem Ruder gelaufen. Nicht einmal die Zahl der thailändischen Fischereikutter war festzustellen, obwohl sie alle registriert sein sollten.115 Zwischen den Entwicklungsexperten und den lokalen Fischern öffneten sich weitere Konfliktlinien. Die Umsetzung des von der Planungsebene geforderten Stopps der Schleppnetzfischerei sorgte bei den Fischern für „böses Blut“,116 da sie damit ihren mühsam erarbeiteten Lebensstandard zu verlieren drohten. Letztlich scheiterte dann auch die Einführung der geforderten Schutzmaßnahmen am Golf von Thailand an der politischen Situation, wie Georg Kühlmorgen-Hille vor Ort beobachtete117 und Klaus Tiews in einer seiner Schlusspublikationen aus dem Jahr 1973 festhielt: „The political situation in Thailand did not permit implementing regulation measures.“118 Wie Klaus Tiews bemerkte, war Thailand in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Er bewertete die Überfischung als allgemeines Problem der Dritten Welt. Durch die Entwicklungspolitik hätten diese Länder gerade die Stufe der großangelegten Fischerei erreicht. Keiner könne sie nun dafür beschuldigen, wenn sie lieber die Überfischung riskierten, als diese Ressource nicht zu nutzen.119 In diesem Spannungsfeld endete das Projekt mit einem Kompromiss, der beide Werte, die schützenswerte Umwelt und das Recht auf Entwicklung, auszutarieren suchte. Für die Zeit der Partnerschaftsverträge ab Mitte der 1970er Jahre entwarf das deutsch-thailändische Planungsteam eine Art von Ökosystemmanagement, das die Produktivität der Fischerei garantierte, um Thailands Wertschöpfungsketten aufrechtzuerhalten. Das war nicht nur geschickt, weil es den Erfolg der westdeutschen Mission bestätigte. Auch die wichtigen BArch, B 278 / 88, Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, 1. 6. 1967, S. 2. Ebd., Georg Kühlmorgen-Hille an Klaus Tiews, Bangkok, 6. 6. 1969, S. 1 f. Ebd. Tiews, Fishery Development, S. 56. In Thailand herrschten Ende der 1960er Jahre und Anfang der 1970er Jahre ohnehin politische Unruhen, die zu einer Demokratisierung Thailands bis 1976 führten. Danach folgte wiederum eine Militärdiktatur. 119 Ebd. 115 116 117 118 380 Franziska Torma Ressourcen Vertrauen, Prestige und Anerkennung konnten in Zeiten des Kalten Krieges und der Wahlfreiheit der Entwicklungsländer, mit wem sie in Zukunft kooperieren wollten, durch dieses Entgegenkommen gesichert werden. V. Fazit Dieser Aufsatz hat sich mit einem spezifischen Projekt westdeutscher Entwicklungspolitik in Thailand befasst, nämlich dem Einsatz von Fischereiexperten am Golf von Thailand. Zwischen 1959 und 1974 sollten sie gemeinsam mit ihren thailändischen Partnern die Fischerei des Landes modernisieren, wie es im entwicklungspolitischen Weltbild hieß. Im Rahmen der Technischen Hilfe entstand eine deutsch-thailändische Kultur der Wertschöpfung, die Fisch zur lebenden Ressource machte. Aus den internationalen Organisationen und den Diskussionsräumen der Vereinten Nationen kommend, hatte der Ressourcenbegriff zunächst eine rein ökonomische Bedeutung. Erst die Anwendungskontexte im Einsatzland ergänzten das Verständnis der lebenden Ressource in ökologischer Hinsicht. An den verursachten Schäden wurde deutlich, dass Ressourcen auch Bestandteile der Natur waren und damit eigenen Dynamiken folgten. Die Tatsache, dass diese Einsichten nicht in stringenter Form zu einem Stopp der Fischerei führten, lässt sich durch eine weitere Ebene des Ressourcenbegriffs erklären: Zwar stieß das technische Planungswissen im Golf von Thailand an seine Grenzen, doch es war trotzdem entwicklungspolitisch nötig und nützlich. In Wertschöpfungsketten ließ sich aus der Ressource Fisch ökonomisches, politisches, soziales und symbolisches Kapital gewinnen. Als Lieferant von symbolischem Kapital eröffnete Fisch für beide Projektpartner unterschiedliche Bedeutungskontexte: Für die westdeutsche Seite war Fisch Bestandteil einer Außenpolitik, die auf dem Gewinn von Prestige und Vertrauen in Südostasien basierte. Im Kalten Krieg galt dieser weiche Faktor der Politik als Möglichkeit, die Dritte Welt an den Westen zu binden. Für Thailand hatte Fisch jedoch weitaus substantiellere Bedeutung: Fisch war der Nukleus, von dem ein Entwicklungspfad des Landes abhing.120 Der Ausbau der Fischerei versprach den Weg in die Moderne zu weisen, wobei sich daraus Ansehen und politische Macht in Südostasien gewinnen ließen. Das Fallbeispiel lässt darüber hinaus übergreifende Aussagen zu. Zwischen Wachstumseuphorie und dem Erkennen ökologischer Problemlagen standen die Werte von Umwelt und Entwicklung zur Verhandlung. Einerseits waren trotz aller Rhetorik von Partnerschaft und aktiver Partizipation entwick120 Zum zeitgenössischen Verständnis der Wachstumspfade und Pfadabhängigkeit in der Entwicklungspolitik: Rommel, Technologietransfer als Entwicklungshilfe, S. 389 – 403, insb. S. 393. ipabo_66.249.64.190 Lebende Ressourcen und symbolisches Kapital 381 lungspolitische Initiativen nicht frei von eurozentrischen Annahmen. Aus thailändischer Sicht mochte Umweltschutz als westliche Projektion und (erneute) Bevormundung erscheinen und zudem als Einschnitt in die eigene Zukunftsplanung, da das Land mit dem Stopp des Projekts die Chance auf seine Entwicklung zu verlieren drohte. Anderseits verliefen die Bruchlinien und Konfliktfelder nicht ausschließlich zwischen Westdeutschland und Thailand, sondern lassen die Umrisse transnationaler Koalitionen erahnen, die jeweils von gruppenspezifischen Interessen geprägt waren. So hatten deutschthailändische Expertenteams in den Planungsbüros der Hauptstädte abstraktere Vorstellungen von Entwicklungsprozessen und Umweltschutz als die Wissenschaftler vor Ort, die Entwicklungspolitik und ihre ökologischen Folgen täglich auf lokaler Ebene erlebten. Entwicklung durch Ressourcenausbeutung sicherte auch die Wirtschaftsgrundlage für die Fischer, die ihren mühsam erarbeiteten Lebensstandard nicht mehr zugunsten von Schutzmaßnahmen aufgeben wollten. Mit dem Mitte der 1970er Jahre geschlossenen Kompromiss zwischen Ökonomie und Ökologie wäre die Geschichte vorüber, wenn es nicht ein weiteres Archiv gäbe: In der Umwelt sind bis heute die ökologischen Folgeschäden sichtbar, die die Technische Hilfe im Einsatzland verursacht hat. Veränderungen der Natur sind mitunter die irreversibelsten Konsequenzen entwicklungspolitischer Missionen. Das Ziel, diese Veränderungen maritimer Ökosysteme durch den Menschen besser zu verstehen, macht umwelthistorische Perspektiven auf die Geschichte der Entwicklungspolitik notwendig. Der Versuch nachzuvollziehen, wie die Projektbeteiligten die soziale und natürliche Umwelt ummodellierten, erfordert darüber hinaus auch kulturhistorische Perspektiven, die die Kulturtechniken der Entwicklungspolitik selbst zum Thema machen. Dr. Franziska Torma, Universität Augsburg, Europäische Kulturgeschichte, Universitätsstraße 10, 86159 Augsburg E-Mail: [email protected] Globale Güter und territoriale Ansprüche Meerespolitik in der Bundesrepublik Deutschland und den USA in den 1960er Jahren von Sven Asim Mesinovic Abstract: The idea of installing an underwater laboratory in 1968 to run experiments was connected with the international debate about the sovereignty of the seabed beyond national borders. After a US consortium had occupied parts of the international seabed, international experts and the United Nations were concerned, that claiming parts of the seabed were under national jurisdiction might lead international law towards allowing such appropriation. In 1969, the German Government and the US Administration set up state agencies responsible for ocean research. The paper argues that underwater laboratories were partly organized in order to influence upcoming regulations on the use of the seabed. I. Die 1960er Jahre: Meerespolitik als Territorialpolitik 1960 erscheint das populäre Sachbuch „Der Griff nach dem Meer. Amerika und Rußland im Kampf um die Ozeane der Welt“ des Wissenschaftsjournalisten Cord-Christian Troebst. Darin beschreibt er die Ozeane als Eiweiß- und Rohstoffschatzkammer.1 In der Gliederung seines Buches tauchen schon die Begriffe auf, die die Diskussion um die Eroberung der Meere in der Dekade von 1960 bis 1970 dominieren sollten: „Zu viele Menschen?“, „Brot und Heilmittel aus dem Meeresgrund“ sowie „Bergwerke am Meeresgrund“. Troebst warnte vor einer drohenden Überbevölkerung der Erde, die die Ausnutzung sowohl der lebenden als auch der geologischen Schätze im Meer notwendig mache. Schon 1956 hatte der deutsche Meeresforscher Friedrich Hermann, Direktor des Institutes für Meeresforschung in Kiel, die Nutzung von Meeresalgen für die Ernährung der wachsenden Bevölkerung vorgeschlagen. Triebkräfte der 1 Cord-Christian Troebst, Der Griff nach dem Meer. Amerika und Rußland im Kampf um die Ozeane der Welt, Düsseldorf 1960; Eberhard Czaya, Aquanauten erobern die Tiefsee, Berlin 1977; Franz Kurowski, Unsere Zukunft – das Meer, Wien 1970; Alexander F. Marfeld, Zukunft im Meer, Berlin 1972; Rüdiger Proske, Auf der Suche nach der Welt von morgen. Ein erster Überblick, Köln 1968; Ulrich Schippke, Die Besiedlung der Kontinente unter Wasser, in: ders. u. Roland Gööck (Hg.), Zukunft. Das Bild der Welt von morgen, Gütersloh 1975, S. 112 133; Pierre Simonitsch, Die Entdeckung der Ozeane, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 20. 1969, S. 173 177; Harris B. Stewart, The Ocean. A Scientific and Technical Challenge, in: Arthur B. Bronwell (Hg.), Science and Technology in the World of the Future, New York 1970, S. 13 31. Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 382 – 402 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000 ipabo_66.249.64.190 Globale Güter und territoriale Ansprüche 383 Meereswissenschaften seien, so fasste 1969 Fred Osten zusammen, die Sicherstellung der Welternährung und die Erschließung maritimer Rohstoffe.2 Mit solchen Rohstoffen waren nicht nur Erdöl oder Gasfelder in den Kontinentalschelfen gemeint, sondern zum Beispiel auch Manganknollen, erzhaltiges kartoffelförmiges Gestein mit einem hohen Gehalt an Metallen, das an bestimmten Stellen des Meeresbodens vorkam und dessen Förderung in der Energiekrise Anfang der 1970er Jahre attraktiv erschien.3 Und Hermann, Troebst und Osten waren bei weitem nicht die Einzigen, die die Rohstoffreichtümer des Meeresbodens beschrieben.4 Die Debatte um die Eroberung des Meeresbodens führte folgerichtig auch zu einer Diskussion über eine neue Rechtsordnung des Meeresbodens außerhalb staatlicher Grenzen.5 Dabei handelte es sich im Kern um die Frage einer neuen globalen Besitzordnung. Wem sollten diese bislang noch nicht als Landgebiete in Erscheinung getretenen Orte gehören? Bisher waren diese noch nicht der Jurisdiktion der Staaten unterworfen und nicht als Gebiete definiert worden. In ganz ähnlicher Weise gilt dies auch für den Weltraum oder die Antarktis. Alle diese Räume wurden zu Territorien, sie gerieten zu Landflächen mit Besitzordnungen. Es ging dabei um die Frage der gerechten Verteilung der im Meeresboden befindlichen Bodenschätze. Sollte der Meeresboden außerhalb der bestehenden nationalen Hoheiten demjenigen gehören, der es zu erobern vermochte, oder sollte man diese Gebiete dem gemeinsamen Erbe der Menschheit unterstellen? In dieser Weise verbanden sich konkrete wirtschaftliche Fragen mit allgemeinen politischen Forderungen nach einer gerechteren Aufteilung zwischen reichen und armen Ländern. Wegen der technologischen Herausforderungen der Förderung von Meeresbodenschätzen war die Frage der politischen Verteilungsgerechtigkeit auch an den Besitz von Technologien und technologischem Wissen gebunden. Die Förderung von Rohstoffen aus dem Meer erforderte hohe Investitionen, die sich Entwicklungsländer nicht leisten konnten. Allerdings stand außer Frage, dass Entwicklungsländer bei der Aufteilung des Meeresbodens nicht unberücksichtigt gelassen werden konnten. 2 Fred Osten, Wasser statt Wind vorm Fenster, in: Jugend und Technik 17. 1969, S. 746. 3 Jürgen Schneider, Manganknollen. Der „run“ auf die Tiefseeböden, in: Umschau in Wissenschaft und Technik 23. 1975, S. 724 726. 4 Rudolf Schemainda, Rohstofflager Weltmeer. Unerschöpfliche Quellen in Ozeanen und auf Meeresgründen, in: Neues Deutschland, 18. 9. 1965. 5 Günter Dietrich u. a., Denkschrift zur Lage der Meeresforschung. Deutsche Meeresforschung 1962 – 1973, Bd. 2: Fortschritte, Vorhaben und Aufgaben, Wiesbaden 1968. 384 Sven Asim Mesinovic Im Rahmen der Meeresbodenpolitik rangen Staaten um territoriale Ansprüche in einer sich wandelnden dekolonisierten Welt.6 Meerespolitik verband geopolitische mit wirtschaftlichen Erwägungen. Dies wirft die Frage auf, ob die Debatte um die Eroberung des Meeresbodens einen Wendepunkt in der Territorialpolitik darstellte.7 Im Folgenden wird die Meeres- und Territorialpolitik der USA und der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren in Verbindung mit der Entstehung der Unterwasserlaboratorien beider Länder erörtert. Diese Unterwasserlaboratorien waren in den 1960er Jahren zahlreich und populär. Sie entstanden in einer wirtschafts- und rechtspolitischen Gemengelage: Erst die Debatte um die Eroberung des Meeresbodens führte in den USA und der Bundesrepublik zu der Behauptung, man müsse auch den Meeresboden technologisch erobern.8 Unterwasserlaboratorien gerieten zu technologischen Vorposten für solche unbesiedelten Gebiete. So dienten die Laboratorien, die von über achtzig Industriestaaten seit Mitte der 1960er Jahre errichtet worden sind, auch als Modell der Raumaneignung.9 Technisch boten sie – dies war ihr Spezifikum – gerade für tauchende Forscher neue Möglichkeiten, da der Druck in den Laboratorien dem Außendruck im Wasser entsprach, und die Taucher – ohne Dekompression – länger im Wasser arbeiten konnten.10 Die Betrachtung der Geschichte der Unterwasserlaboratorien in der Bundesrepublik Deutschland muss auch die USA mit einbeziehen, denn die Entwicklungen deutscher und US-amerikanischer Unterwasserlaboratorien waren auf vielfältige Art und Weise miteinander verknüpft.11 Zum einen diente das amerikanische Unterwasserlaboratorium als Vorbild, zum anderen waren die Entwicklungen des deutschen und des amerikanischen Unterwasserlaboratoriums personell eng miteinander verwoben. Diese enge Verbindung beider Unterwasserlaboratorien liegt nicht nur darin begründet, dass sich die Bundesrepublik als enger Kooperationspartner der USA verstand, sondern auch darin, dass die Unterwasserlaboratorien von Luft- und Raumfahrtme6 1955 waren nur 13,2 Prozent der UN-Mitgliedsstaaten ehemalige Kolonien, 1960 bereits 45 Prozent. Siehe David A. Kay, The Politics of Decolonization. The New Nations and the United Nations Political Process, in: International Organization 21. 1967, S. 786 811. 7 Siehe auch: Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: The American Historical Review 105. 2000, S. 807 831. 8 National Archive and Record Administration, College Park, MD [im Folgenden NARA], RG 303, Records on the National Council on Marine Resources and Engineering Development (COMSER), A Summary of a National Man-in-the-Sea Program, 10. 9. 1969, S. 3 – 11. 9 James W. Miller u. Ian G. Koblick, Living and Working in the Sea, New York 1984. 10 Eine Anpassung an den „normalen“ Luftdruck der Erdoberfläche wurde nur noch am Ende der Unterwassermission nötig. 11 Miller u. Koblick, Living and Working in the Sea, S. 382. ipabo_66.249.64.190 Globale Güter und territoriale Ansprüche 385 dizinern initiiert wurden, die durch ein personelles Netzwerk miteinander verflochten waren. Führende Raumfahrtmediziner wie Hubertus Strughold wurden nach 1945 im Rahmen des „Project Paperclip“ aus Deutschland in die USA gebracht, um im dortigen Raketenprogramm mitzuarbeiten. Dieser Aufsatz soll herausstellen, wie Unterwasserlaboratorien mit der Debatte um die Eroberung der Meere in der Bundesrepublik und den USA zusammenhingen und wie sich dies in der Meerespolitik beider Länder darstellte. II. Wem gehört der Meeresboden? Drei Strategien zur Aneignung staatsferner Räume Die Wahrnehmung des Meeresbodens als wirtschaftlich auszubeutendes Territorium war ein Ergebnis der insbesondere seit den 1960er Jahren boomenden Meeresforschung. Teilweise waren schon dreißig Jahre zuvor die technischen und auch die rechtlichen Möglichkeiten erprobt worden.12 Vorreiter dieser Technologie waren die USA, die schon 1926 begonnen hatten, aus Meerwasser Brom zu gewinnen, das als Zusatz zu Kraftstoffen (gegen das Klopfen) beliebt wurde. Ab 1941 förderten die Amerikaner im Zuge der Kriegsrüstung Magnesium aus dem Meerwasser, denn dieses wurde wichtig als leichter Baustoff für den Flugzeugbau. Die US-amerikanische Firma Dow Chemicals nahm damals in Freeport, Texas die erste derartige Anlage in Betrieb.13 Der technologische Fortschritt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ließ zudem eine Exploration der unter See gelegenen Erdölfelder realistisch erscheinen. Denn obgleich es schon seit dem 19. Jahrhundert ein profundes Wissen über die Ozeane gab, begünstigte erst das Interesse des Militärs im Kalten Krieg an einer besseren Kontrolle des Meeres die Wissenschaft der Ozeanografie als empirisch-quantitative Wissenschaft.14 Die dafür gesammelten erdphysikali- 12 So wurde seit 1938 Öl aus dem Meeresboden vor der Küste des US-amerikanischen Bundesstaates Louisiana gefördert. Am 30. September 1945 hatte US-Präsident Harry S. Truman eine Festlandproklamation erlassen, die das künftige Besitzrecht der USA an dem unterseeisch liegenden Festlandsockel sichern sollte. Wolfgang Schott, Das Meer und der Meeresboden als mineralische Rohstoffquelle, in: Peter Halbach (Hg.), Marine Rohstoffgewinnung, Bd. 1: Marine Rohstoffe und Meerestechnik, Essen 1979, S. 2 17. 13 Harald Steinert, Lebensraum der Zukunft das Meer, in: Westermann Monatshefte 111. 1970, S. 18 26. 14 Paul N. Edwards, The World in a Machine. Origins and Impacts of Early Computerized Global Systems Models, in: Agatha C. Hughes u. Thomas P. Hughes (Hg.), Systems, Experts, and Computers. The System Approach in Management and Engineering, World War II and After, Cambridge, MA 2000, S. 221 254. 386 Sven Asim Mesinovic schen Daten halfen, mineralische Rohstoffe im Meeresboden zu finden.15 Daher schien die Exploration von im Meer gelegenen Bodenschätzen mit dem Beginn der 1960er Jahre in greifbare Nähe zu rücken. Diese Explorationen erschienen umso attraktiver, als das Meer, zumindest die Tiefsee, frei von nationalen Beschränkungen war. Es handelte sich um submarines Niemandsland, das rechtsfrei war, bis sich erstmals die Genfer Seerechtskonferenz von 1958 dieser Frage annahm. Bis dahin hatte es keine völkerrechtliche Regelung für den Abbau von Mineralien im Meeresboden internationaler Gewässer gegeben. Erst durch die beiden Seerechtskonferenzen der Vereinten Nationen 1958 und 1960 wurden Versuche unternommen, die Gebiete der internationalen See, auf der das Prinzip der Freiheit der Meere galt, schärfer von den nationalen Hoheitsgebieten abzutrennen, die den jeweiligen Küstenstaaten unterstanden. In dieser Zeit hatte sich die Wahrnehmung der Ozeane verändert: von einem Überquerungs- zu einem Explorationsgebiet. Dieser Prozess der Verräumlichung der Meere ließ die Ozeane als neue Ressource, als Hort von „living“ und „mineral resources“, in den Vordergrund treten. Gerade aber die Ausrichtung auf die Gewinnung von Rohstoffen aus dem Meeresboden zwang dazu, diesen juristisch dem Land gleichzustellen. Dies war problematisch. Die Rohstoffe, zum Beispiel Gas oder Erdöl, befinden sich an einer ortsfesten lokalisierbaren Stelle, sie sind nicht – wie Fischschwärme – ortsunabhängig. Solange sich die Fördergebiete innerhalb der Seerechtsgrenzen der Staaten befanden, stellte dies kein Problem dar ; im Falle der Gebiete in internationalen Gewässern änderte sich dieser Umstand. Entsprechend kam es zu der Frage, wem der Meeresboden außerhalb der nationalen Seerechtsgrenzen gehöre. Die Frage stellte sich vor allem deshalb, weil eine technologische Förderung der Schätze des Meeresbodens nunmehr möglich schien. In den Verhandlungen der UN-Seerechtskonferenzen ab 1958 positionierten sich zwei konträre Gruppen. Auf der einen Seite gab es die Akteure, die aktiv die Internationalisierung des bislang staatsfernen Raumes Tiefsee vorantreiben wollten und die daran interessiert waren, die Schätze der internationalen See für die Weltgemeinschaft zu nutzen. So gab es sogar innerhalb der Vereinten Nationen die Überlegung, sich von den Erträgen des Meeresbodenbergbaus zu finanzieren.16 In diesem Fall hätte man die Vereinten Nationen von 15 Warren S. Wooster, The Ocean and Man, in: Scientific American 221. 1969, S. 218 233, hier S. 225. 16 Food and Agriculture Organization of the United Nations Archives, Rom, Italien [im Folgenden FAO], UN-3 / 45, Letter Roy I. Jackson, 12. 6. 1967: „During a conversation on 9 June with the Director General he asked me to put up a note setting up the history of the concept that the resources for the sea should be turned over to the UN […], a book by Christy and Scott on Marine Fisheries puts forward the basic idea. Also a commission to study the Organization of Peace, funded by the Carnegie Foundation, supported this idea. Clark Eichelberger has published several articles to this topic. It is also apparent ipabo_66.249.64.190 Globale Güter und territoriale Ansprüche 387 den Zuschüssen der reichen Länder unabhängig machen können. Im Rahmen der Welternährungsbehörde der Vereinten Nationen (FAO) überlegte man, „living resources“ wie etwa Algen für die Ernährung der ansteigenden Weltbevölkerung zu nutzen.17 Schließlich gab es auch eine Gruppe von Entwicklungsländern, die eine Eroberung des Meeresbodens durch die Industrieländer als „kolonial“ anprangerten und angesichts des zu erwartenden Meeresbodenbergbaus eine finanzielle Schlechterstellung ihrer eigenen Rohstoffexporte befürchteten.18 Auf der anderen Seite standen einzelne Staaten, die aus den unterschiedlichsten Gründen eine Internationalisierung des Meeres ablehnten. Darunter fanden sich die Küstenstaaten, die an der Ausweitung ihrer eigenen Küstenmeere interessiert waren, aber auch industrialisierte Binnenländer oder Kurzküstenstaaten, die selbst an einem Meeresbodenbergbau interessiert waren und daher sowohl die Internationalisierung als auch eine Ausweitung der Nationalisierung der Meere ablehnten. Eine Sonderrolle spielten die USA, die sich einer eindeutigen Zuordnung enthielten, weil sie die internationalen Regelungen als für sie nicht zuständig erachteten.19 Die Frage nach einer neuen Ordnung für den Meeresboden entwickelte sich in den späten 1960er Jahren zu einem globalen Thema. Dazu gehörte auch die Angst vor einer Militarisierung des Meeresbodens, die insbesondere die blockfreien Staaten beschäftigte. Zu that Mr de Seynes of the UN Secretariat is interested in the possibility of using such a method as a source of financing for the UN. This may be difficult to document, but it can be inferred from some of the correspondence in our files and from the contents of earlier versions of the UN Resolution 2172 and possibly from the debates which preceded its adoption.“ 17 Ebd. 18 Damon C. Morris, Bolivia Sea Access (BOLSEA Case), http://www1.american.edu/ted/ bolsea.htm; Francis Gerard Adams, The Effects of Possible Exploitation of the Sea-Bed on the Earnings of Developing Countries from Copper Exports (United Nations Conference on Trade and Development, TD / B / 484), Geneva 1974. 19 Diese Aussage bedarf einer Präzisierung. Die Delegation der USA kam den Forderungen der Entwicklungsländer entgegen und die USA waren nicht die einzige Nation, die eine 200-Seemeilen-Zone forderten. 1980, kurz vor Abschluss der Verhandlungen der Law of the Sea Conference, verweigerten sich die USA einer Ratifizierung. Die Gründe dafür erklärt die Politikwissenschaftlerin Sheila Jasanoff mit einem Regierungswechsel. Der 1980 gewählte Ronald Reagan wollte die Interessen der amerikanischen Minenindustrie nicht gefährden. Erst 1994 unter der neuen Regierung Bill Clintons wurde eine revidierte Fassung von den USA ratifiziert, da diese den USA einen Sitz in Schlüsselkomitees, ein Vetorecht sowie die Bestätigung der Explorationen der amerikanischen Firmen erlaubt habe. Insgesamt, so Jasanoff, seien die Ergebnisse der Konferenz ein Triumph nationaler claims über internationale Visionen. Vgl. Sheila Jasanoff, Image and Imagination. The Formation of Global Environmental Consciousness, in: Clark A. Miller u. Paul N. Edwards (Hg.), Changing the Atmosphere. Expert Knowledge and Environmental Governance, Cambridge, MA 2001, S. 309 – 337, hier S. 326 f. 388 Sven Asim Mesinovic ihrem Sprachrohr wurde Arvid Pardo, der Botschafter der kleinen, ehemals zum britischen Kolonialreich gehörenden Mittelmeerinsel Malta. Dieser Botschafter brachte in der 22. Sitzung der Vollversammlung der UN am 17. August 1967 einen Antrag zur friedlichen Nutzung des Meeresbodens (exclusively peaceful uses of the seabed) ein.20 1970 veranstaltete das private Center for the Study of Democratic Institutions in Malta die erste Pacem-inMaribus-Konferenz. Auch in Deutschland befassten sich Wissenschaft und Verwaltung mit dieser Frage.21 Auf internationaler Ebene veranstaltete das Istituto Affari Internazionali vom 30. Juni bis 5. Juli 1969 in Rom ein Rechtssymposium, um Lösungen und Antworten auf die Frage nach dem Besitztum des Meeresbodens zu finden.22 An diesem Rechtssymposium, dessen Beiträge ein Jahr darauf publiziert wurden, nahmen 51 Teilnehmer aus 22 sozialistischen und nichtsozialistischen Ländern teil, wobei kaum Vertreter aus Nichtindustrieländern anwesend waren. Auf diesem Symposium debattierten Völkerrechtler, aber auch Ökonomen Möglichkeiten und Bedingungen der Meeresbodennutzung. Dabei standen drei Meinungen im Vordergrund: 1. Oda-Theorie: Die nach Professor Shigeru Oda benannte Theorie befürwortete die komplette Aufteilung der Weltmeere unter den Küstenstaaten, denn, so Oda: „All the submerged lands of the world are necessarily part of the continental shelf by the very definition of the Convention.“23 Dieser Vorschlag belohnte Länder mit langer Küste und bestrafte solche ohne Küstenzugang, unterschied dafür aber nicht zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. 2. First come, first serve: Dieser Vorschlag bezeichnete die Schätze des Meeresbodens als terra nullius, das heißt keinem zugehörig, doch jedem zugänglich, der sie technisch ausbeuten könne. Dies war die konservative Position – konservativ in dem Sinne, dass diese Rechtsauffassung gelten würde, wenn man keine internationale Regelung fände. Sie machte keinen Unterschied zwischen Binnen- und Küstenländern, bevorzugte aber die 20 FAO, UN-3 / 45, Memorandum, A / 6695, English, S. 2: „this is likely to result in the militarization of the accessible ocean floor through the establishment of fixed military installations.“ 21 Vom 25. bis 28. 3. 1969 versammelten sich in Kiel führende Vertreter der deutschen wissenschaftlichen Ozeanografie mit Vertretern des Bundeslandwirtschafts-, Verkehrs-, Verteidigungs- und Bildungsministeriums und der Preussag AG, um Probleme und Lösungsmöglichkeiten zu erörtern. Siehe dazu Eberhard Menzel, Die drei Grundtypen einer Rechtsordnung für den Meeresgrund der Tiefsee, in: ders. (Hg.), Die Nutzung des Meeresgrundes außerhalb des Festlandsockels (Tiefsee). Vorträge und Diskussionen eines Symposiums veranstaltet vom Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel 25. 28. 3. 1969, Hamburg 1970, S. 171 194. 22 Jerzy Sztucki (Hg.), Symposium on the International Regime of the Sea-Bed. Proceedings, Rom 1970. 23 Evan Luard, The Control of the Sea-Bed. A New International Issue, London 1974, S. 41. ipabo_66.249.64.190 Globale Güter und territoriale Ansprüche 389 Industriestaaten und gründete auf der Annahme, dass behauptete freie Gebiete auf der Erde automatisch demjenigen gehören, der sie technologisch erschließen und benutzen kann. 3. Common heritage: Diese Idee sah vor, den internationalen Meeresboden unter eine internationale Verwaltung zu stellen.24 Auch wenn die meisten Staaten diesem Vorschlag zustimmten, ergaben sich jedoch Detailprobleme, ob nun die internationale Verwaltung Schürfrechte erteilen (dies war der Vorschlag der meisten Industrieländer) oder ob eine internationale Behörde selbst schürfen solle. In letzterem Fall, so fürchteten einige Experten, würde dies auf ein Moratorium hinauslaufen, denn die meisten Entwicklungsländer, vor allem diejenigen, die bereits Rohstoffe in ihrem Land abbauten, hatten kein Interesse an einem Meeresbergbau, befürchteten sie doch, dass die zusätzlichen Explorationen ihre Exporterlöse schmälern könnten.25 Während das erste Prinzip, die Oda-Theorie, die vollkommene Aufteilung der Meere durch die Ausweitung der Jurisdiktion der Küstenstaaten bedeutet hätte, standen die beiden anderen Vorschläge für zwei sich widersprechende Prinzipien: zum einen die Idee, dass staatsfreie Räume (beyond borders of national jurisdiction) wie die Antarktis, die internationale See oder der Weltraum frei, also noch zu erobern seien (terra nullius), zum anderen die Vorstellung, dass solche Räume außerhalb der Staatsgrenzen bereits allen Staaten gehörten (terra communis). Auch in den darauf folgenden Seerechtskonferenzen wurde diese Frage behandelt. Die Terranisierung verwandelte die Meere in den Debatten der Zeit in neue Kolonien. Der Meeresboden wurde zu einem neuen, noch nicht unterworfenen Landgebiet. „Das Meer wird vom letzten freien Raum zum kolonisierbaren siebten Kontinent“, führte Wolfgang Graf Vitzthum in seinem Artikel von 1976 aus,26 während ein Kommentar auf der Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. Juli 1976 zur Seerechtskonferenz noch deutlichere Worte fand: „Um diese Bodenschätze wird ein Kampf geführt, der in seiner Bedeutung den Vergleich mit dem imperialistischen Wettrennen um die Kolonien im vorigen Jahrhundert leicht aushält.“27 In derselben Ausgabe sah Fernando Wassner angesichts der Seerechtskonferenz das Ende der Freiheit der See kommen.28 Die Artikel und Kommentare der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bezogen sich auf eine Bundestagssitzung vom 2. Juli 1976, in der die Ergebnisse der internationalen 24 Jerzy Sztucki, Working Group III. Present Legal Regime of the Sea-Bed, in: ders., Symposium on the International Regime, S. 469 497. 25 Adams, The Effects of Possible Exploitation of the Sea-Bed. 26 Wolfgang Graf Vitzthum, Wem gehört das Meer?, in: Die Zeit, 30. 11. 1973, S. 56. 27 Heinz Heck, Wie lange noch Freiheit der Meere? Zur 3. Seerechtskonferenz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. 3. 1976, S. 11. 28 Fernando Wassner, Die Gier nach den Schätzen der See. Anfang und Ende der Freiheit der Meere, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 7. 1976, S. 3. 390 Sven Asim Mesinovic Seerechtskonferenz debattiert wurden.29 Die Argumentationen von 1976 zeigen eine veränderte Sichtweise auf die Meere. Durch die Hoffnung auf Gewinnung von Rohstoffen erhielt der Meeresboden einen ökonomischen Wert. Die Hoffnung auf frei verfügbare Rohstoffe setzte eine Flut von Zeitungsartikeln in Gang, die im Falle des rohstoffarmen Kurzküstenstaates Bundesrepublik auch ihre Wirkung auf die Politik zeigte. Die Meeresboden-RohstoffEuphorie basierte auf zwei Ideen: zum einen auf der Vorstellung des Meeres als neues Land und zum anderen auf der Verlockung von frei verfügbaren Rohstoffen in Gebieten, die bislang noch keiner staatlichen Herrschaft unterworfen worden waren.30 Doch sollte sich bald herausstellen, dass diese Rohstoffe im Meeresboden nicht in dem erwünschten Maße frei verfügbar waren, da erstens die technologischen Schwierigkeiten ihrer Exploration immens waren und zweitens eine internationale Rechtsdebatte über ihre Verfügung begann. Die Berücksichtigung des Meeres als politisch wichtiges Territorium zeigte sich sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik durch Umgestaltungen der Verwaltungsapparate. So zeugen die Akten des National Council on Marine Resources and Engineering (COMSER), eines vom US-Kongress einberufenen Expertengremiums zur Meerespolitik, von den Bemühungen, die Meere technologisch zu erobern.31 Auch in der Bundesrepublik wurde im Forschungsministerium ein Referat unter dem Titel „Meerestechnik“ eingerichtet, das sich um neue Meerestechnologien kümmern sollte.32 In beiden Ländern ging es nicht allein um die Erforschung des Meeres, es ging auch darum herauszufinden, wie die Meere in technologischer Weise besser genutzt werden könnten, um im „run for resources“ nicht zurückzufallen.33 29 Große Anfrage der Fraktion der CDU / CSU betr. Auswirkungen der Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, 1976; CDU / CSU Bundestagsfraktion, Entschließungsantrag der Fraktion der CDU / CSU zur Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der CDU / CSU betr. Auswirkungen der Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, 1976. Online-Archiv des Deutschen Bundestages, Bundestagsdrucksache 7 / 5120, 5. 5. 1976, S. 1 – 7, http://pdok.bundestag.de. 30 Rolf Prudent, Industrie formiert sich. Tauziehen um Meeres-Millionen. WiM: Ein neuer Verband mit Geburtswehen, in: Industriekurier, 23. 9. 1969, S. 3. 31 NARA, RG 303, Box 1, Marine Sciences and Research Act of 1960, 5. 9. 1959, S. 3. 32 Bundesarchiv Koblenz [im Folgenden BArch], B 196 / 7086, Vermerk: Förderung der Meeresforschung, 17. 8. 1967, S. 1 – 30. 33 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.), Gesamtprogramm Meeresforschung und Meerestechnik in der Bundesrepublik Deutschland 1972 1975, Bonn 1972. ipabo_66.249.64.190 Globale Güter und territoriale Ansprüche 391 III. Last Frontiers: Eroberung und Kolonisierung der Meere als letzte unbesetzte Räume durch die USA In den USA stand zu Beginn der 1960er Jahre zunächst noch das Sammeln von Daten im Rahmen eines ocean survey im Vordergrund. Erst gegen Ende der 1960er Jahre rückte nationales Handeln auf dem Gebiet der Meeresbodenpolitik in den Fokus. Angestoßen wurde diese Politik durch die internationale Debatte um eine Neuregelung der Gebiete der Hohen See. Dieser Zusammenstoß von internationalem Recht und Wissenschaftspolitik zeigte sich, als am 19. Juli 1968 Marti Mueller im amerikanischen Wissenschaftsjournal Science über den aufsehenerregenden Fall einer Meeresbodenaneignung durch die University of Washington, das Battelle-Memorial Institute, die Firma Honeywell und das ozeanografische Institut von Hawaii berichtete.34 Diese hatten in einem gemeinsamen meereswissenschaftlichen Forschungsprojekt den Meeresboden des Cobb Seamount besetzt, eines untergegangenen Vulkanes 435 Kilometer westlich vor der Küste des US-Bundesstaates Washington. Die Wissenschaftler hatten dieses Gebiet dem Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten von Amerika unterstellt, obgleich es sich doch in internationalen Gewässern befand. Die Meeresbodenaneignung geschah auch, um den Absichten der Vereinten Nationen zur Internationalisierung des Meeresbodens zuvorzukommen. Denn zur selben Zeit suchten internationale Rechtsexperten nach einem neuen „Rechtssystem“ für solche Gebiete. Bezeichnenderweise hatte das amerikanische Konsortium ebenfalls die Aufstellung eines Unterwasserlaboratoriums auf dem Grund des Cobb Seamount geplant – Wissenschaftsunternehmung und territoriale Aneignung waren bei diesem Projekt, das eine wissenschaftliche Erforschung des Meeresbodens in der Nähe des Vulkans plante, kaum voneinander zu trennen. Die Landaneignung des Meeres geschah in den USA zu einer Blütezeit der Meeresforschung. Diese hatte hier immer eine Rolle gespielt, doch insbesondere die 1960er Jahre stellten – infolge der vermehrten Zahlungen der Militärs an die Ozeanografie – eine Boomzeit der Meeresforschung dar, die dazu führte, dass mehr Kenntnisse über den Ozean gewonnen werden konnten und damit auch zivile Projekte eher realisierbar waren.35 Dies zeigte sich 1969 in der Gründung der bundesstaatlichen Meeresbehörde der USA, der National Oceanic and Atmospheric Agency (NOAA). Dem war eine zehn Jahre andauernde Folge von Gesetzesinitiativen und Beschlüssen des US-Repräsentantenhauses und des US-Senates vorausgegangen. Die Flut an Gesetzen zur Förderung der Meeresforschung begann am 5. September 1959, 34 Marti Mueller, Oceanography. Who Will Control Cobb Seamount?, in: Science 161. 1968, S. 252 f. 35 Jacob Darwin Hamblin, Oceanographers and the Cold War. Disciples of Marine Science, Seattle 2005. 392 Sven Asim Mesinovic als Warren G. Magnuson im Senat den „Marine Sciences and Research Act“ einbrachte.36 Dabei waren zwei Gründe für eine aktive nationale Meeresforschungspolitik ausschlaggebend: Zum einen waren dies die Geschehnisse um die internationale Seerechtsdebatte. 1958 hatte in Genf die erste Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen stattgefunden, die erstmals die Kontinentalschelfe – unterseeische, aber geologisch den Kontinenten zugehörige Landmassen – der Hoheit der angrenzenden Küstenländer zugesprochen hatte. Die internationalen Debatten über eine mögliche Unterstellung des Meeresbodens der internationalen See unter Aufsicht der Vereinten Nationen setzten die Amerikaner aber unter Druck. Der zweite, wichtigere Grund resultierte aus der US-Innenpolitik. Politiker in den USA fürchteten einen zweiten Sputnik-Schock, die Wiederholung einer technologischen Unterlegenheit gegenüber der Sowjetunion. Deshalb sprach man auch von einer „nassen NASA“, die gegründet werden sollte. Bereits am 10. November 1957 – im Gründungsjahr der NASA – wurde in der National Academy of Sciences eine Abteilung zur Meeresforschung gegründet (NASCO). Am 15. Februar 1959 brachte die NASCO den zwölfbändigen Report „Oceanography 1960 – 1970“ heraus, der ein meerespolitisches Programm für die nächsten zehn Jahre entwarf. Die Hauptforderung des Berichts war eine Verdoppelung der Ausgaben für grundlagenorientierte Meeresforschung. Die NASCO hatte während ihrer Meetings Kongresspolitiker wie Senator Warren G. Magnuson eingeladen. Dieser bemühte sich erfolgreich um eine verbesserte Förderung der Meerespolitik. Die Resolution, die er angestoßen hatte, wurde vom Kongress einstimmig angenommen.37 Bald folgten weitere Anträge im US-Kongress zur Förderung der Meeresforschung.38 Am 13. Februar 1961 brachte George P. Miller im Repräsentantenhaus einen Gesetzesvorschlag ein, den „Oceanographic Act of 1961“, der die Gründung einer neuen Expertenkommission vorsah, die den US-Kongress im Zuge einer neu zu gestaltenden meerespolitischen Gesetzgebung beraten sollte. Dieses Verfahren lief nach dem Vorbild des National Aeronautic and Space Council ab, aus dem einst die amerikanische Raumfahrtbehörde hervorgegangen war. Unter einer verbesserten Meerespolitik verstand der „Oceanographic Act“ die Schaffung eines Meeresforschungsprogramms, die bessere Koordination der Bundesbehörden, die sich bislang mit Meerespolitik 36 NARA, Marine Sciences and Research Act. 37 Ebd. 38 George P. Miller schlug am 15. Februar 1960 im Repräsentantenhaus vor, eine neue föderale Organisation eines Oceanographic Surveys zu schaffen (H. R. 10412). Am 17. Juni 1960 stellte Overton Brooks im Repräsentantenhaus den Gesetzesantrag, innerhalb der National Science Foundation ein Spezialkommittee zur Marine Science zu etablieren, mit der Aufgabe, mit bundesstaatlichen Mitteln die Meereswissenschaften zu fördern (H. R. 12700). Am 28. 6. 1961 wurde der „Marine Sciences and Research Act“ im Senat verabschiedet. ipabo_66.249.64.190 Globale Güter und territoriale Ansprüche 393 befasst hatten, die Gründung einer zentralen Datensammelstelle, die Beteiligung des Smithsonian Institutes und die Pflicht der jährlichen Berichterstattung vor dem Kongress.39 1966 wurde der „Marine Resource and Engineering Development Act“ vom Repräsentantenhaus und vom Senat verabschiedet und schließlich im Mai desselben Jahres von Präsident Lyndon B. Johnson unterzeichnet. 1967 legten dann sowohl COMSER als auch die (nach ihrem Vorsitzenden benannten) Stratton Commission einen ersten Zwischenbericht vor. Doch die beiden Gremien kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, die in der Organisationsstruktur begründet waren. Während COMSER als ein vom US-Präsidenten eingesetztes Gremium über ausgewiesene Fachleute mit Expertenwissen verfügte, musste die Stratton Commission auf externe Experten zurückgreifen. Entsprechend waren ihre Empfehlungen sehr weit gefasst und ohne viel Wissen um die Möglichkeiten einer Umsetzung zustande gekommen. IV. Förderung von Meeresforschung in der Bundesrepublik Die bundesdeutsche Meerespolitik unterschied sich von der US-amerikanischen; gleichzeitig war aber die Bundesrepublik eng an den Bündnispartner gebunden. Ein Interessenkonflikt von Meeresforschung und Territorialfrage zwischen den Bündnispartnern mit ihren unterschiedlichen Auffassungen zeigte sich bereits am 20. Januar 1964. An diesem Tag ersuchten die USamerikanischen Firmen Caltex und American Overseas Petroleum Ltd. sowie das von deutschen Firmen getragene Nordseekonsortium um eine staatliche Erlaubnis zur Exploration von Erdöl in den vor der Küste der Bundesrepublik Deutschland liegenden Kontinentalschelfen.40 Zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch kein Gesetz, das sich mit einem solchen Vorhaben befasste, und so konnten die Behörden der Bundesrepublik den Antrag der Firmen auf Explorationen weder lizenzieren noch verbieten.41 Um künftige territoriale Ansprüche abzusichern, verkündete die Bundesrepublik Deutschland schon am 22. Januar 1964 die sogenannte Festlandproklamation, eine Erklärung, die explizit den Hoheitsanspruch der Bundesrepublik auf die 39 NARA, RG 303, Records of the National Council on Marine Resources and Engineering Development (COMSER), Oceanographic Act, 13. 2. 1961, S. 1 – 108. 40 O. A., Neue Konzessionen für Bohrungen in der Tiefsee, in: Die Welt, 30. 3. 1965. 41 Dedo von Schenck, Die Festlandsockel-Proklamation der Bundesregierung vom 20. 1. 1964, in: Walter J. Schütz (Hg.), Aus der Schule der Diplomatie. Beiträge zu Außenpolitik, Recht, Kultur, Menschenführung. Festschrift zum 70. Geburtstag von Peter H. Pfeiffer, Düsseldorf 1965, S. 485 499. 394 Sven Asim Mesinovic der bundesdeutschen Küste zugehörigen Kontinentalschelfe festsetzte.42 Dieser Festlandproklamation folgte am 24. Juli 1964 das „Gesetz zur vorläufigen Regelung der Rechte am Festlandsockel“, das die Gewinnung von Bodenschätzen aus dem Meer regelte.43 Dies zeigt deutlich, dass die Bundesrepublik Deutschland und die USA die Meeresbodeneroberung sowohl aus politischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen vorantrieben. Ein Aspekt dieser Eroberung bestand im Bau von Unterwasserlaboratorien: Man glaubte, dass ein bemanntes Habitat politisch die Aussichten auf eine Aneignung der noch nicht verteilten Fläche verbessere. Der Nutzen einer politischen Aneignung des Meeresbodens war die wirtschaftliche Ausbeutung der dortigen Ressourcen. So listete am 17. August 1967 ein Ministeriumsvermerk die Gründe für die Förderung der Meereswissenschaften für den Bundeshaushaltsplan 1968 auf: Meereswissenschaft sei als Nahrungsmittelreservoir angesichts der Weltbevölkerungsexplosion wichtig, zudem gebe es Rohstoffe im Meeresboden. Des Weiteren wurde auf nationale Meeresforschungsbehörden in anderen Ländern verwiesen: auf das COMSER, auf das Natural Environment Research Council Großbritanniens und das Centre National pour l’Exploration Ocanographique Frankreichs. Der Vermerk endete mit dem Hinweis, dass gerade der Wettbewerb zwischen den industrialisierten Staaten (inklusive der UdSSR) eine rechtzeitige Präsenz auf dem Meeresboden notwendig mache. Deshalb sei es unumgänglich, den Meeresboden technologisch zu erobern – gerade im Hinblick auf die ungeklärte Rechtslage der Ausbeutung der Meere. Hier wird ein Ziel der Förderung der Meeresforschung genannt: die Kontrolle des Meeresbodens, um etwaige Völkerrechtsabkommen zur Nutzung des Meeresbodens zu beeinflussen.44 Die Förderung des Unterwasserlaboratoriums Helgoland fiel in eine neue, ökonomisch ausgerichtete und zentralstaatlich organisierte Wissenschaftspolitik der Bundesrepublik. Die Zentralisierung und Ökonomisierung der Wissenschaftspolitik verband sich mit der Debatte um die unentdeckten 42 Bekanntmachung der Proklamation der Bundesregierung über die Erforschung und Ausbeutung des deutschen Festlandsockels vom 22. Januar 1964, in: Bundesgesetzblatt 1964, Teil 2, Nr. 5 vom 6. 2. 1964, S. 104, http://www.bgbl.de. 43 Der erste Paragraf vermerkte: „Die Aufsuchung von Bodenschätzen des deutschen Festlandsockels im Sinne der Proklamation der Bundesregierung vom 20. Januar 1964 (Bundesgesetzblatt II, S. 104), die Gewinnung solcher Bodenschätze und jede mit Bezug auf den Festlandsockel an Ort und Stelle vorgenommene Forschungshandlung sind verboten, soweit sie nicht nach § 2 vorläufig erlaubt werden.“ Gesetz zur vorläufigen Regelung der Rechte am Festlandsockel vom 24. 7. 1964, in: Bundesgesetzblatt 1964, Teil 1, Nr. 38 vom 29. 7. 1964, S. 497. 44 BArch, B 138 / 7085, Referat II 8, Vermerk: Förderung der Meeresforschung, Ergänzende Begründung zu Kap. 3102, Tit. 671 neu des Voranschlags des Bundeshaushaltsplans 1968, 17. 8. 1967, S. 2 – 6. ipabo_66.249.64.190 Globale Güter und territoriale Ansprüche 395 Schätze des noch als frei geltenden Meeresbodens. Ebenso wie in den Vereinigten Staaten entwarfen Politiker in der Bundesrepublik nationale Meeresforschungsprogramme. Die Frage, ob die Bundesrepublik direkt – und nicht mehr nur indirekt über die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Meeresforschung fördern solle, war bereits entschieden: Am 9. Juli 1969 hatte das Bundeskabinett ohne weitere Aussprache – nach Vorlagen des Bundesministers für wissenschaftliche Forschung vom 3. Juli 1969 und des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom 4. Juli 1969 – das „I. Gesamtprogramm Meeresforschung“ für die Jahre 1969 bis 1973 verabschiedet.45 Dieses Engagement der Bundesregierung für eine neue Meerespolitik hatte sich schon ein Jahr zuvor angekündigt. Am 3. Mai 1968 hatte Gerhard Stoltenberg, damals Minister für wissenschaftliche Forschung der Bundesrepublik, in einer Rede in Kiel von den großen Chancen der Meereseroberung gesprochen und dabei auch Unterwasserlaboratorien erwähnt: Auch das Leben unter dem Meer ist nicht mehr als zukunftsferne Vision zu sehen. An vielen Stellen werden Druckkammern geplant und getestet, die einen längeren stationären Aufenthalt des Menschen unter Wasser erlauben, was wiederum eine wichtige Voraussetzung für eine weitergehende Nutzung des Meeres ist.46 Von der Notwendigkeit der Meeresforschung und der Anpassung des Menschen an ein Leben im Meer zum Zweck der Meeresnutzung war auch Gerhard Stoltenberg überzeugt. Seine Worte fielen während einer Rede, die er anlässlich der Unterzeichnung eines Verwaltungsabkommens hielt. Dieses Verwaltungsabkommen sah – auf der Basis eines Vertrages zwischen der Bundesregierung und der Landesregierung von Schleswig-Holstein – die finanzielle Förderung des Kieler Institutes für Meeresforschung durch den Bund vor. Auch wenn der aus Schleswig-Holstein stammende Minister Stoltenberg seinem ursprünglichen Wunsch eines zentralen Meeresforschungsinstituts des Bundes in Kiel nicht nähergekommen war, so erreichte er doch die herausgehobene Stellung dieses Institutes durch Bundesgelder.47 Die Zunahme der bundesstaatlichen Kompetenzen für die Forschungseinrichtungen kam auch in der Gesetzgebung zum Ausdruck. Die erste Sitzung der Kommission für Ozeanographie fand am 5. September 1968 in Bonn unter dem Vorsitz Gerhard Stoltenbergs statt. Ihr gehörten 45 E-Mail-Auskunft von Dr. Walter Naasner, BArch, Bearbeiter Edition Kabinettsprotokolle. Das Kabinettsprotokoll vom 9. Juli 1969 ist unveröffentlicht und als Verschlusssache eingestuft und deshalb nicht zugänglich. 46 BArch, B 138 / 7086, Der Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, Pressereferat, 2. 5. 1968. 47 Harald Steinert, Bundesanstalt oder Universitätsinstitut? Zur Situation der deutschen Meeresforschung und des Kieler Institutes für Meereskunde, in: Handelsblatt, 15. 8. 1967. 396 Sven Asim Mesinovic zudem fünf Vertreter anderer Ministerien, je ein Vertreter der vier norddeutschen Küstenländer (Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen), die Leiter der im Besitz des Bundes befindlichen Institute für Meeresforschung sowie zehn von der DFG zu bestimmende und zehn weitere Personen aus der Wirtschaft und den Wissenschaften an. Knapp ein Jahr später, am 9. Juli 1969, verabschiedete das Bundeskabinett das Gesamtprogramm Meeresforschung – die „Zentralisierung“ der Meeresforschung fand ihren Abschluss. 1969 wurde die zentralstaatliche Einflussnahme auf das Wissenschaftssystem durch die Artikel 91a und 91b des Grundgesetzes festgelegt, 1975 einigten sich Bund und Länder auf die Rahmenvereinbarung zur Forschungsförderung.48 Im selben Monat, am 28. Juli 1969, begann die erste Mission des Unterwasserlaboratoriums Helgoland. Das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung förderte das Unterwasserlaboratorium mit einer Million DM als einmalige Investitionssumme auch aus wirtschaftspolitischen Gründen.49 So war das Unterwasserlaboratorium Teil einer Wirtschaftspolitik, die sich viel von einer künftigen Nutzung der Meere versprach. Die Bundesrepublik betrieb in den 1970er und 1980er Jahren eine aktive Energiepolitik. Sie beteiligte sich an Ölförderstätten, und bis zu ihrer Auflösung 1998 bestand in der Bundesrepublik eine staatliche Ölförderexplorationsgesellschaft, DEMINEX. Diese war, wie Die Welt am 18. Juli 1998 anlässlich ihrer Auflösung schrieb, 1969 auf staatliche Initiative gegründet worden mit dem Ziel, direkte Beteiligungen an Ölfördergebieten weltweit zu erwerben.50 Das staatliche Interesse an einer Sicherung der Energiereserven schlug sich auch in der Meeresforschungspolitik der Bundesrepublik nieder. Im Jahre 1972 brachte das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (das 1969 aus dem vormaligen Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung hervorgegangen war) das „II. Gesamtprogramm Meeresforschung und Meerestechnik in der Bundesrepublik Deutschland“ heraus.51 Die sogenannte rohstoffbezogene Meeresforschung war einer der Hauptpfeiler der Forschungsförderung in der Bundesrepublik. Dies ergab sich durch ihre geopolitische Lage. Der Vorsitzende der Deutschen Geologischen Gesellschaft, 48 Helmuth Trischler, Die „amerikanische Herausforderung“ in den „langen“ siebziger Jahren. Konzeptionelle Überlegungen, in: Gerhard A. Ritter u. Margit Szöllösi-Janze (Hg.), Antworten auf die amerikanische Herausforderung. Forschung in der Bundesrepublik und der DDR in den „langen“ siebziger Jahren, Frankfurt 1999, S. 11 – 18, hier S. 15. 49 Archiv der Deutschen Forschungsgemeinschaft, DFG-Akten zum Vorgang Unterwasserlaboratorium Helgoland, Niederschrift über die Sitzung der ad hoc-Besprechungsgruppe Biologische Anstalt Helgoland, 9:30 – 13:30 Uhr, 15. 10. 1969, S. 5 – 10, 50 O. A., Ölförderer Deminex wird aufgelöst, in: Die Welt, 18. 7. 1998. 51 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Gesamtprogramm Meeresforschung, S. 6. ipabo_66.249.64.190 Globale Güter und territoriale Ansprüche 397 Professor Dr. Krebs, bat am 17. Januar 1972 Ministerialrat Dr. Wilckens vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft um einen Vortrag auf der Hauptversammlung der Deutschen Geologischen Gesellschaft in Braunschweig. Dieser sollte dort über die vom Ministerium geförderte rohstoffbezogene Meeresforschung sprechen. Dass man sich viel von den im Meeresboden verborgenen Rohstoffen erhoffte, wird aus zwei parlamentarischen Anfragen des SPD-Bundestagsabgeordneten Klaus Konrad deutlich: Die erste Anfrage betraf die mangelhafte Förderung und Zersplitterung der Meeresforschung, die zweite zielte auf Maßnahmen zur Zusammenarbeit mit der Industrie.52 Die Bundesregierung beantwortete die erste Anfrage mit den Haushaltszahlen: Die Aufwendungen des Bundes für Meeresforschung seien von 45 Millionen DM im Jahre 1969 auf rund 75 Millionen DM im Jahre 1971 gestiegen. Auch wenn die Vielfalt der naturwissenschaftlichen Disziplinen der Meeresforschung eine gewisse Aufspaltung in Landes- und Bundeskompetenzen ergebe, sei doch eine gute Zusammenarbeit durch die deutsche Kommission für Ozeanographie gegeben. Auf die zweite Anfrage antwortete die Bundesregierung mit Verweis auf das konkrete Vorhaben, nach mineralischen Rohstoffen im Ausland zu suchen. Dieses Vorhaben – für das das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft neun Millionen DM für 1972 bereitstelle – werde in Zusammenarbeit mit der westdeutschen meerestechnischen Industrie und ihrer Interessensvertretung, der Wirtschaftsvereinigung industrielle Meerestechnik e. V., betrieben. Die rohstoffbezogene Meeresforschung der Bundesrepublik manifestierte sich in der Valdivia-Expedition. Sie diente vor allem der technischen Entwicklung, um Rohstoffe aus dem Meeresboden zu fördern. Vom 6. August bis zum 4. Dezember 1971 sowie 1972 und 1973 suchte die Bundesanstalt für Bodenforschung in Hannover mit dem vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft gecharterten Schiff „Valdivia“ im Kontinentalschelf vor der afrikanischen Küste nach Rohstoffen. Die meerestechnische Industrie der Bundesrepublik war auch daran beteiligt. Schon am 12. Juni 1970 hatte das Vorstandsmitglied der Preussag AG, Günther Saßmannshausen, Wilckens darüber informiert, dass zwischen der Preussag und dem äthiopischen Bergbauministerium ein Vertrag unterzeichnet worden sei. Dieser räume der Preussag AG das alleinige Recht zur Erforschung der äthiopischen Küste für einen Zeitraum von 18 Monaten ein.53 Die Preussag AG gründete zusammen mit der Metallgesellschaft und der Salzgitter AG im Dezember 1972 die AMR, die Arbeitsgemeinschaft meerestechnisch gewinnbarer Rohstoffe. Die Notwendigkeit zur Gewinnung dieser Rohstoffe im Meer begründete Hans 52 BArch, B 196 / 07281, Ministerbüro, Beantwortung der Anfrage des Abgeordneten Klaus Konrad, 25. 2. 1972. 53 BArch, B 196 / 07310, Betr. Expedition Erzschlämme im Roten Meer, 12. 6. 1970. 398 Sven Asim Mesinovic Amann, Leiter der Abteilung Meerestechnik der Preussag AG, in einer Pressemitteilung vom 28. Februar 1973 mit einer sich weltweit abzeichnenden Energieknappheit und dem Interesse großer Erdölkonzerne an neuen Bohrungen in Tiefwassergebieten. Ferner hob Amann hervor, die Untersuchungen zur Sicherung der Rohstoffbasis der Bundesrepublik Deutschland würden vom Bundesministerium für Wirtschaft mit bedingt rückzahlbaren Krediten gefördert.54 Dass die Gewinnung von Rohstoffen für ein importabhängiges Land wie die Bundesrepublik bedeutend sei, betonte auch Horst Schröder, Bundestagsabgeordneter der CDU, in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt vom 4. Juli 1973.55 Schröder beklagte in seinem Kommentar vor allem die 50-prozentige Kürzung der im Gesamtprogramm Meeresforschung vorgesehenen Investitionssummen. Denn im Rahmen der Umorientierung der Forschungspolitik habe die Meerestechnik eine erhebliche Bedeutung. So sei es ratsam, ähnlich wie in der Kernforschung und Kerntechnik, die Ausgaben im Bereich von Meeresforschung und Meerestechnik voneinander zu trennen. Die Debatten um die rohstoffbezogene Meeresforschung spielten sich vor dem Hintergrund der internationalen Neuregelung der Nutzung der Weltmeere ab. Der seit 1967 bestehende Meeresbodenausschuss der Vereinten Nationen war 1973 aufgelöst worden. Im Dezember 1973 fand die Auftaktkonferenz zur Meeresbodenfrage in New York statt, die den eigentlichen Konferenzbeginn auf den 20. Juni 1974 in Caracas festlegte (138 Länder nahmen letztlich an der Konferenz teil).56 Die Fragen der Nutzung des Meeresbodens verbanden sich mit Fragen der Rohstoffnutzung und dem Wachstum der Weltbevölkerung. So mag es kein Zufall sein, dass im selben Jahr 1974 die Weltrohstoffkonferenz in New York eröffnet wurde, im August sich die Teilnehmer der Weltbevölkerungskonferenz in Bukarest einfanden und im November die Welternährungskonferenz in Rom das Karussell der internationalen Treffen abschloss. Doch die Dritte Seerechtskonferenz endete zunächst am 29. August 1974. Erst zwei Jahre später wurde sie in Genf weitergeführt. V. Angst des kolonialen Zuspätkommens? Die Bundesrepublik und der Zugang zum Meeresboden Über die Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen diskutierte der Deutsche Bundestag am 2. Juli 1976. Auch die Medien beteiligten sich an dieser Debatte um Rohstoffe. Die Wochenzeitschrift Die Zeit befürchtete eine Benachteiligung des Kurzküstenstaates Bundesrepublik Deutschland: „Wird 54 BArch, B 196 / 07282, Pressemitteilung Preussag berichtet, 28. 2. 1973. 55 Horst Schröder, Für die Meerestechnik mehr Propaganda als Geld. Bundesregierung hat die Mittel um 50 Prozent gekürzt, in: Handelsblatt, 4. 7. 1973. 56 Wolfgang Graf Vitzthum, Der Meeresboden, in: Vereinte Nationen 22. 1974, S. 129 135. ipabo_66.249.64.190 Globale Güter und territoriale Ansprüche 399 die Bundesrepublik von den Schätzen der Tiefsee ausgeschlossen? Kampf um den Meeresboden“, lautete die Überschrift des Artikels über die Dritte Seerechtskonferenz.57 Manganknollen auf dem Grund des Meeresbodens seien die neuen Schlüsselrohstoffe und die Wirtschaftlichkeit ihres Abbaus so gut wie sicher. Nun drohe Gefahr durch die auf der Seerechtskonferenz geplante Einrichtung einer Meeresbodenabbaubehörde unter der Kontrolle der Entwicklungsländer. Die Sichtweise, dass die Bundesrepublik im Wettlauf um die Schätze des Meeresbodens zu kurz kommen könnte, wurde sowohl von den bundesdeutschen Parlamentariern als auch von den Medien geteilt. In der 257. Sitzung des 7. Bundestages vom 2. Juli 1976, die aufgrund einer großen Anfrage der CDU / CSU-Bundestagsfraktion einberufen worden war, warfen die Oppositionsparteien CDU und CSU der Regierungskoalition von SPD und FDP Versagen bei der Verhandlungsführung der Dritten Seerechtskonferenz vor.58 Sie bezeichneten diese als Meeresaufteilungskonferenz. Ferner warfen sie der Bundesregierung vor, dieser Aufteilung nicht Einhalt geboten zu haben. Die Bundesrepublik sei als Exportnation und gleichzeitig als rohstoffarmer Kurzküstenstaat sowohl auf die freie Nutzung der Meere als auch auf die Nutzung der Ressourcen im Meeresboden angewiesen. Auf der Konferenz hätten hingegen zwei große Gruppen das Verhandlungsergebnis bestimmt: zum einen die Dirigisten, die eine neue Wirtschaftsordnung in Bezug auf die Verwaltung des Meeresbodens durchsetzen wollten, und zum anderen die Wirtschaftsnationalisten, die eine Ausweitung der nationalen Schutzzonen auf Kosten der internationalen See wollten – beides zum Nachteil der Interessen der Bundesrepublik. Die Vertreter der Bundesregierung, unter ihnen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Jürgen W. Möllemann, rechtfertigten ihr Verhandlungsergebnis als Kompromiss. Außenminister Genscher betonte, dass nicht nur die Entwicklungsländer die Einrichtung einer 200-Seemeilen-Zone anstrebten, sondern eben auch die USA („unser Hauptverbündeter“), die dies bereits in ihre Gesetzgebung aufgenommen hätten. Ferner stellte er einen „Wechsel in der Weltpolitik“ fest, den er vor dem Hintergrund zweier Herausforderungen erklärte: der ansteigenden Weltbevölkerung und der Ressourcenfrage. Beide, so Genscher, bedrohten die Interessensphäre der Staaten: „Neue Territorien unter Wasser rücken mit einem außerordentlichen und heute eben erschließbaren Reichtum an Naturschätzen in die Interessensphäre der Staaten ein.“ Explizit erwähnte der Außenminister, dass die Bundesregierung von jeher „gegen eine monopolistische internationale Meeresbodenbehörde“ gewesen sei und sich deshalb auf der Konferenz um eine revidierte Fassung des Beschlusses zu einer Meeresbodenbehörde bemüht habe. Auch teile die 57 Wolfgang Hoffmann, Kampf um den Meeresboden, in: Die Zeit, 30. 7. 1976. 58 Bundestagsdrucksache 7 / 5120. 400 Sven Asim Mesinovic Bundesregierung die Forderung der Opposition, dass sich eine Meeresbodenbehörde nur um den Meeresboden und nicht um die Wassersäule und den Luftraum darüber kümmern dürfe. Schließlich brachte Genscher seine Hoffnung auf einen freien Zugang zu den Rohstoffen des Tiefseebodens, einen ungehinderten Seeverkehr sowie eine freie wissenschaftliche Meeresforschung zum Ausdruck.59 Diese Forderungen wurden auch von der Opposition unterstützt. Anträge forderten einen freien Zugang zu den Rohstoffen im Meeresboden und eine freie, nicht durch Kontrolle eingeengte Meeresforschung. Der SPD-Abgeordnete Horst Grunenberg bezog sich auf die Schlagworte, die die Debatte damals beherrschten. Zu diesen Schlagworten zählten das Ende des kolonialen Zeitalters, das Geraune um die zu erwartenden Schätze im Meeresboden, die Angst vor einem drohenden Bevölkerungszuwachses sowie die Hoffnung, das Plankton des Meeres als neue Nahrungsquelle gewinnen zu können. Aus diesem „Dreiklang“ von Dekolonialisierung, neuen Schätzen im Meer und Bevölkerungszuwachs bestand der Meeresbodendiskurs der 1960er Jahre.60 Interessanterweise verwarfen die im Parlament vertretenen Parteien die Idee der Einrichtung einer Meeresbodenabbaubehörde, die innerhalb der Gremien der Vereinten Nationen diskutiert worden war und schließlich 1982 in die Gründung einer solchen UN-Behörde mündete. Sowohl die Redner der Opposition als auch diejenigen der Regierung blieben in ihren Diskussionsbeiträgen in der Struktur der Debatte über die Eroberung des Meeres gefangen. Die Vertreter beider Gruppen sahen im Meeresboden vor allem ein noch zu eroberndes, freies Land, das aufgrund der dort vermuteten Rohstoffe Vorteile versprach. Die Bundesrepublik als exportorientierter und rohstoffarmer Staat interessierte sich hauptsächlich für die Möglichkeit, Rohstoffe außerhalb des Bundesgebietes zu gewinnen. Ihr erschienen die farbigen Schilderungen der neuen Meeresbodenschätze umso verlockender, da diese sich in den noch nicht verteilten Gebieten der internationalen See befanden.61 Die Rede von der „rohstoffbezogenen Meeresforschung“ geriet zum Schlagwort der Meeresforschungsdebatten in der Bundesrepublik. In den USA ergab sich ein anderes, komplexeres Bild: Zum einen waren die USA, anders als Deutschland, nicht willens, sich internationalen Vereinbarungen der Seerechtskonferenzen zu beugen. Obgleich hier die Einstellung wankte, arbeiteten die USA doch in den ersten Konferenzen mit, während sie die abschließende Vereinbarung zur Regelung der Nutzung des Meeresbodens nicht unterschrieben. Zum anderen wurde in den USA die Eroberung des Meeres viel stärker mit der Weltraumeroberung verknüpft – aus dem einfachen 59 Hans-Dietrich Genscher, Bundesregierung. Fortführung konstruktiver Politik, in: Das Parlament, 31. 7. 1976, S. 2. 60 Karl-Heinz Narjes, Probleme zu spät erkannt, in: ebd., S. 4. 61 Genscher, Bundesregierung, S. 2. ipabo_66.249.64.190 Globale Güter und territoriale Ansprüche 401 Grund, dass das Budget der Raumfahrt der USA das der Bundesrepublik um ein Vielfaches überstieg.62 Dennoch konnten sich auch die USA der internationalen Debatte um eine Eroberung des Meeres nicht entziehen. So gab es Streitigkeiten zwischen Washington und dem Staat Kalifornien über die Rechte der Meeresbodenschätze vor der Küste Kaliforniens, der zugunsten des Bundesstaates entschieden wurde. VI. Fazit: Die USA, die Bundesrepublik Deutschland und das Ende der Freiheit der Meere Um den Meeresboden entbrannte ein Verteilungskampf, der nicht nur mit juristischen, sondern auch mit wissenschaftspolitischen Mitteln geführt wurde. Dazu gehörte auch die Etablierung von Unterwasserlaboratorien. Sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik verband sich die Eroberung des Meeresbodens mit der staatlichen Förderung der Unterwasserlaboratorien. Die Nutzung der in die Kontinentalschelfe reichenden Erzlagerstätten erfasste die politischen Diskussionen in den USA als Teil eines globalen Diskurses um erhoffte Reichtümer des Meeres. Diese Aussichten verstärkten zudem zu einem nicht unerheblichen Teil die völkerrechtliche Debatte um die Hoheitsrechte der Kontinentalschelfe. Die praktische Entwicklung des Sättigungstauchens und die Unterwasserlaboratorien waren so Teil der technologischen, rechtlichen und politischen Aneignung des Meeresbodens. Diese Aneignung der außerhalb der nationalen Grenzen liegenden Meeresbodengebiete ließ sich nicht abtrennen von der völkerrechtlichen Debatte um das Besitzrecht dieser Gebiete, ging es doch auch darum, mögliche Investitionen von Technologieunternehmen zu schützen. Sowohl die USA als auch die Bundesrepublik beteiligten sich auch an dem Verteilungskampf um internationale Vorkommen im Meeresboden. Die Förderung des deutschen Unterwasserlaboratoriums Helgoland muss vor dem Hintergrund des Bemühens um eine Zentralisierung und Politisierung der Meeresforschung sowie der „Eroberung“ bislang noch nicht der nationalen Herrschaft unterstellter Räume wie Meeresboden und Weltraum gesehen werden. Die zeitgenössischen Debatten zeigen, dass die Vertreter staatlicher Organe – in enger Zusammenarbeit mit deutschen Ozeanografen – unbedingt am internationalen Wettbewerb um die Ausbeutung der Rohstoffe des internationalen Meeresbodens teilnehmen wollten. Die Förderung der Rohstoffe in einem nicht staatlicher Herrschaft unterstellten Bereich erschien besonders für ein rohstoffarmes Land wie die Bundesrepublik attraktiv. Doch benötigten diese Gebiete technologische Habitate, die dem Menschen das Überleben 62 Jasanoff, Image and Imagination, S. 326 f. 402 Sven Asim Mesinovic sicherten. Die Frage, wer über diese Räume verfügen dürfe, verband sich mit diesen technologischen Raumerprobungen. Ferner stützte im Fall der Bundesrepublik das wirtschaftspolitische Argument des „technological gap“ die Notwendigkeit des Baus eines Unterwasserlaboratoriums, die Behauptung, dass der Abstand zwischen den westeuropäischen Staaten und den USA auf dem Gebiet der Hochtechnologie wie Computer oder Flugzeuge durch eine geringere Binnennachfrage in den westeuropäischen Staaten verursacht werde. Der erste Bundesforschungsbericht von 1965 betonte, dass die Ausgaben der USA 15-mal höher seien als die der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs.63 Daraus folgerte man einen direkten Zusammenhang zwischen den Ausgaben eines Staates für Forschung und Entwicklung und seinem ökonomischen Erfolg. So wuchs insbesondere im Zeitraum von 1965 bis 1975 in der Bundesrepublik der Einfluss des Bundes auf die Wissenschaftsförderung. Die Bundesrepublik konzentrierte sich auf Wissenschaftsförderung auch als Ersatz für eine Territorialpolitik, während US-amerikanische Meerespolitik ebenfalls durch den Kontext der internationalen Debatte um die Eroberung der Meere geprägt war. Letztere zeigte eine stark durch die militärische Bedeutung des Meeres geprägte Forschungspolitik, die dann aber auch Antworten suchte auf die von ihr ausgelöste internationale Rechtsdebatte um die Eroberung und Kolonisierung des Meeres. Ohne die von den USA nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges stark forcierte Aufwertung und den damit ausgelösten Boom der Meeresforschung hätte es nicht die Frage über die Kolonisierung des Meeres gegeben. Beide Staaten reagierten auf die „drohende“ Internationalisierung des Meeresbodens durch die Gremien der Vereinten Nationen, indem sie in Meeresforschung und Meerestechnik investierten. Da jedoch zum Ende der Seerechtskonferenzen die Grenzen der Nationalstaaten stark auf die Meere ausgeweitet wurden, entfiel die Notwendigkeit einer realen Aneignung des Meeresbodens. Zumal auch die technologische Förderung sehr tief gelegener Gebiete in internationalen Gewässern schwierig blieb. Damit schien die Förderung von Unterwasserlaboratorien nicht mehr notwendig zu sein. Dr. Sven Asim Mesinovic, Osloer Straße 118, 13359 Berlin E-Mail: [email protected] 63 Hariolf Grupp u. Barbara Breitschopf, Innovationskultur in Deutschland. Qualitäten und Quantitäten im letzten Jahrhundert, in: Peter Weingart u. Niels C. Taubert (Hg.), Das Wissensministerium. Ein halbes Jahrhundert Forschungs- und Bildungspolitik in Deutschland, Weilerswist 2006, S. 169 199, hier S. 175 f. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ Antarktisches Wissensregime und globale Ressourcenkonflikte in den 1970er Jahren von Christian Kehrt Abstract: In the context of global resource issues that were high on the political agenda in the 1970s Krill brought together stakeholders from science, politics and economics. This little shrimp-like crustacean near the bottom of the food chain did not only promise to provide enough protein for a growing world population. It also paved Germany’s way into the Antarctic Treaty System and led to the foundation of the Alfred-Wegener-Institute for Polar and Marine Research in 1981. Marine biologists and fisheries scientists played a crucial role in this story. Their knowledge provides access to this potentially immense resource and opened the door to the Antarctic Treaty System. In den 1970er Jahren waren deutsche Meeresforscher und Fischereiexperten dem „Krill auf der Spur“.1 Der seit langem als Walnahrung bekannte eiweißhaltige Kleinkrebs nimmt eine zentrale Rolle in der Nahrungskette der Meere ein. In einer Zeit, in der die Grenzen mineralischer wie auch lebender Ressourcen in den Fokus rückten, avancierte der antarktische Krill zu einem Schlüsselobjekt, das verschiedene Akteure aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft im Kontext globaler Ressourcenfragen miteinander verband. Mit seiner gigantischen Biomasse von schätzungsweise über 500 Millionen Tonnen pro Jahr verhieß er, die Welternährungsproblematik und Überfischung der Meere zu lösen und neue, nahezu unerschöpfliche Nahrungsressourcen zu erschließen. Der antarktische Krill sollte durch aufwändige und kostenintensive wissenschaftliche und lebensmitteltechnische Forschung als Nahrungsalternative zu den überfischten Beständen der Weltmeere entwickelt werden und als Fertig- oder Zwischenprodukt in Form von Suppen, Cremes oder fischähnlichen Gerichten seinen Weg in die Küchen vor allem der Dritten Welt finden.2 Zugleich eröffnete diese potentiell globale Nahrungsressource der an sich nicht an Eiweißmangel leidenden Bundesrepublik die Möglichkeit, 1 So lautete der Titel eines Dokumentarfilms über die erste deutsche Krillexpedition im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie: Dem Krill auf der Spur, Terra KG, BRD 1978. 2 Im Folgenden verzichte ich auf den Verweis, dass die Begriffe „Entwicklungsländer“ und „Dritte Welt“ die westliche Perspektive beschreiben und verwende die Termini als Quellenbegriffe. Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 403 – 436 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000 404 Christian Kehrt deutsche Interessen in globalen Ressourcenfragen zu wahren, die auf der weltpolitischen Bühne der Antarktis- und Meerespolitik verhandelt wurden. Krillforschung, so die Grundannahme dieses Beitrags, war das ticket d’entre der Bundesrepublik in das Antarktisvertragssystem. Im Rahmen eines globalen, politisch motivierten Wettstreits um Rohstoffe und Ressourcen hatte Polarforschung eine wichtige, strategisch motivierte Platzhalterfunktion für politische Interessen. Forschungsexpeditionen in die Antarktis verlangten ein massives staatliches Engagement. Denn nur wer einen längerfristigen wissenschaftlichen Beitrag leistete, zum Beispiel durch die Errichtung einer Forschungsstation oder den Bau eines Forschungsschiffes, hatte Aussicht auf Beitritt in den exklusiven Club der Antarktisvertragsstaaten, die über die Nutzung und Erschließung der Antarktis entschieden. Im Folgenden wird deshalb nach der strategischen Rolle von Umweltwissen im Kontext globaler Ressourcenkonflikte in den 1970er Jahren am Beispiel der antarktischen Krillforschung gefragt. Welche politischen Motive verband die Bundesrepublik mit der Antarktis und welche Rolle spielten der antarktische Krill und die Fischereiexperten auf nationaler und internationaler forschungspolitischer Bühne? Von besonderem Interesse ist dabei das sich im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie herausbildende Wissensregime, das durch deutsche Akteure der Krillforschung mitgestaltet wurde.3 Wissen war ein machtpolitischer Faktor, der die Erschließung knapper natürlicher Ressourcen ermöglichte und damit über Handlungschancen und die Verteilung von Reichtum im globalen Maßstab entschied. Ein Blick auf die deutsche Polarforschung verspricht daher nicht nur einen neuen, wissens- und globalgeschichtlichen Zugang zu den umwelt- und wirtschaftsgeschichtlichen Kernthemen der Rohstoffe und Ressourcen, sondern auch ein besseres Verständnis der mit der Polarforschung einhergehenden nationalen Interessen und Strategien, die im Rahmen internationaler Regelungen und Kooperationen des Antarktisvertragssystems verhandelt und transportiert wurden. Aus zeitgeschichtlicher Perspektive stellt sich die Antarktis als ein Wissensraum dar, in dem globale Problemfelder des Kalten Krieges, der Grenzen des Wachstums, der Welternährung und auch der Fragilität der Umwelt sichtbar werden.4 Das im Kontext geopolitischer Konfliktkonstellationen des Kalten Krieges begründete Antarktisvertragssystem erfuhr in den 1970er und 1980er Jahren eine neue Dynamik, die sich durch das gesteigerte Interesse an potentiellen antarktischen Rohstoffen, wie Fisch, Krill, Gas, Uran, Öl, Kohle 3 Vgl. Peter Wehling, Wissensregime, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 704 – 712. 4 Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wurde die Antarktis durch den Antarktisvertrag am 1. 12. 1959 als atomwaffenfreie Zone erklärt, um mögliche Atomtests oder die Ablagerung von Atommüll in der Eiskappe zu verhindern. Auch territoriale Ansprüche wurden ausgehebelt und in die Zukunft verlagert, um eine militärische Eskalation und brisante territoriale Konflikte zu verhindern. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 405 und Süßwasser, erklärt. Zugleich rückten in dieser Zeit ökologische Aspekte und Fragen des Umweltschutzes auf die Agenda, sodass am Beispiel deutscher Polarexpeditionen zentrale Debatten um den globalen Wissensraum Antarktis sichtbar werden.5 Die Polarregionen haben nach dem Ende des Kalten Krieges im Kontext von Ressourcenkonflikten und nicht zuletzt im Zuge der Debatten um den anthropogenen Klimawandel eine große mediale Aufmerksamkeit erfahren. Demgegenüber ist das zeitgeschichtliche Interesse an diesen globalen Wissensräumen zumindest in der deutschen Forschungslandschaft gering ausgeprägt. So fehlen Studien zu den 1970er und 1980er Jahren, in denen sich neue umwelt- und wissenspolitische Konflikte und Problemfelder herauskristallisierten.6 Die Geschichte von Global Commons ist bislang nicht hinreichend erforscht.7 Dagegen haben sich politik- und insbesondere völkerrechtliche Ansätze früh mit staatsfreien Räumen und globalen Gütern befasst, ohne dabei aber näher auf die Rolle von Wissen und die entsprechenden historischen 5 Zum Begriff der „langen 1970er Jahre“ vgl. Gerhard A. Ritter u. a. (Hg.), Antworten auf die amerikanische Herausforderung. Forschung in der Bundesrepublik und der DDR in den „langen“ siebziger Jahren, Frankfurt 1999; Helmuth Trischler, Hoffnungsträger oder Sorgenkind der Forschungspolitik? Die bundesdeutsche Großforschung in den „langen“ siebziger Jahren, in: Rüdiger vom Bruch u. Eckart Henning (Hg.), Wissenschaftsfördernde Institutionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 200 – 214; Frank Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 81), München 2007, S. 57; Konrad H. Jarausch, Zwischen „Reformstau“ und „Sozialabbau“. Anmerkungen zur Globalisierungsdebatte in Deutschland, 1973 – 2003, in: ders. (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 330 – 349; Anselm Doering-Manteuffel, Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. Zur historischen Einordnung der siebziger Jahre, in: ebd., S. 315 – 329; ders. u. Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 20102. 6 Zum Begriff der Wissenspolitik vgl. Peter Wehling, Wissenspolitik, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 694 – 703; Nico Stehr, Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens, Frankfurt 2003. 7 Vgl. John Vogler, The Global Commons. Environmental and Technological Challenges, Chichester 20002 ; Cornelis Disco u. Eda Kranakis (Hg.), Cosmopolitan Commons. Sharing Resources and Risks Across Borders, Cambridge, MA 2013; Melanie MorisseSchilbach u. Jost Halfmann, Wissen, Wissenschaft und Global Commons. Forschungen zu Wissenschaft und Politik jenseits des Staates am Beispiel von Regulierung und Konstruktion globaler Gemeinschaftsgüter (= Internationale Beziehungen, Bd. 17), Baden-Baden 2012; Jürgen Renn (Hg.), The Globalization of Knowledge in History, Berlin 2012; Jeremy Vetter, Introduction, in: ders. (Hg.), Knowing Global Environments. New Historical Perspectives on the Field Sciences, New Brunswick, NJ 2011, S. 1 – 16, hier S. 1. 406 Christian Kehrt Kontexte einzugehen.8 Technopolitische Vernetzungen und transnationale Wissensflüsse sind in jüngerer Zeit auf die Forschungsagenda gerückt, und auch die Umwelt wurde als neues Themenfeld des Kalten Krieges entdeckt.9 Nach wie vor besteht jedoch ein Mangel an Studien zu europäischen Ländern und der Sowjetunion.10 Die Antarktispolitik ist ein klassisches Thema der Antarktisgeschichtsschreibung, die sich vorrangig auf die Jahrhundertwende sowie die Frühphase des Antarktisvertragssystems konzentriert.11 Ferner 8 Vgl. Klaus D. Wolf, Internationale Regime zur Verteilung globaler Ressourcen. Eine vergleichende Analyse der Grundlagen ihrer Entstehung am Beispiel der Regelung des Zugangs zur wirtschaftlichen Nutzung des Meeresbodens, des geostationären Orbits, der Antarktis und zu Wissenschaft und Technologie, Baden-Baden 1991; Rüdiger Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume. Die Entwicklung einer internationalen Verwaltung für Antarktis, Weltraum, Hohe See und Meeresboden, Berlin 1984; ders. (Hg.), Antarctic Challenge. Conflicting Interests, Cooperation, Environmental Protection, Economic Development, Berlin 1984; Wolfgang Vitzthum, From the Rhodian Sea Law to UNCLOS III, in: Helmut Steinberger u. Hans-Joachim Cremer (Hg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin 2002, S. 351 – 373; Wolfgang Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens. Völkerrechtliche Probleme der Zuordnung und Nutzung des Grundes und Untergrundes der Hohen See außerhalb des Festlandsockels (= Schriften zum Völkerrecht, Bd. 22), Berlin 1972; Seyom Brown u. a., Regimes for the Ocean, Outer Space, and Weather, Washington, D. C. 1977. 9 John Krige, American Hegemony and the Postwar Reconstruction of Science in Europe, Cambridge, MA 2008; ders. u. Kai-Henrik Barth, Introduction. Science, Technology and International Affairs, in: Osiris 21. 2006, S. 1 – 21; Bernd Greiner, Macht und Geist im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick, in: ders. u. a. (Hg.), Macht und Geist im Kalten Krieg, Hamburg 2011, S. 7 – 27, hier S. 14; John R. McNeill u. Corinna R. Unger, Introduction. The Big Picture, in: dies. (Hg.), Environmental Histories of the Cold War, Cambridge 2010, S. 1 – 18; John R. McNeill, The Biosphere and the Cold War, in: Melvyn Leffler u. Odd Arne Westad (Hg.), The Cambridge History of the Cold War, Bd. 3: Endings, Cambridge 2010, S. 422 – 444; John R. McNeill u. Peter Engelke, Into the Anthropocene. People and Their Planet, in: Akira Iriye (Hg.), Global Interdependence. The World After 1945, London 2014, S. 365 – 533. 10 Klaus Gestwa, Polarisierung der Sowjetgeschichte. Die Antarktis im Kalten Krieg, in: Osteuropa 61. 2011, S. 271 – 289; ders. u. Stefan Rohdenwald, Verflechtungsstudien. Naturwissenschaft und Technik im Kalten Krieg, in: Osteuropa 59. 2009, S. 5 – 15. 11 Zur Geschichte der Antarktisforschung nach 1945 vgl. Gordon E. Fogg, A History of Antarctic Science, Cambridge 1992; Aant Elzinga, Antarctica. The Construction of a Continent by and for Science, in: Elisabeth Crawford u. a. (Hg.), Denationalizing Science. The Contexts of International Scientific Practice, Dordrecht 1993, S. 73 – 106; Klaus Dodds, Geopolitics in Antarctica. Views from the Southern Oceanic Rim, Chichester 1997; ders., Assault on the Unknown. Geopolitics, Antarctic Science and the International Geophysical Year 1957 / 58, in: Simon Naylor u. James R. Ryan (Hg.), New Spaces of Exploration. Geographies of Discovery in the Twentieth Century (= Tauris Historical Geography, Bd. 2), London 2010, S. 148 – 172; Stephen J. Pyne, The Ice. A ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 407 wurden in jüngerer Zeit die Geschichte Grönlands im Kalten Krieg sowie die Internationalen Polarjahre behandelt,12 wenngleich nicht aus Sicht der Bundesrepublik oder der DDR.13 Im Unterschied zu den USA gibt es noch keine zeithistorisch relevanten Arbeiten zur Klimageschichte, Meteorologie, Meeresforschung, Geophysik oder auch Polarforschung der Bundesrepublik oder DDR.14 Die Antarktis ist, wie der Weltraum oder der Meeresboden, ein staatsfreier, nicht-territorialer Raum, der sich nationalen Besitzansprüchen entzieht und ein spezifisches Regime und Zugangsbedingungen voraussetzt. Wissen und die damit einhergehenden technisch-logistischen Infrastrukturen und länderübergreifenden wissenschaftlichen Kooperationen stellen hierbei die zentralen Zugangsvoraussetzungen dar. Wissensgeschichtliche Ansätze, die nach den über das System der Wissenschaften hinausgehenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bedeutungen von Wissen fragen, eignen sich besonders zur Analyse von Umwelt- und Ressourcenfragen, da hier außerwissenschaftliche Akteure, Anwendungskontexte, Interessen und KonJourney to Antarctica, Seattle 1998; Peter Abbink, Antarctica in the 1980s. Subject of International Politics, in: Cornelia Lüdecke (Hg.), Steps of Foundation of Institutionalized Antarctic Research. Proceedings of the 1st SCAR Workshop on the History of Antarctic Research, Bremerhaven 2007, S. 163 – 177; Simone Turchetti u. a., Accidents and Opportunities. A History of the Radio Echo-Sounding of Antarctica, 1958 – 79, in: British Journal for the History of Science 41. 2008, S. 417 – 444; Peder Roberts, The European Antarctic. Science and Strategy in Scandinavia and the British Empire, New York 2011; Adrian Howkins, Melting Empires? Climate Change and Politics in Antarctica Since the International Geophysical Year, in: Osiris 26. 2011, S. 180 – 197; ders., Frozen Empires. A History of the Antarctic Sovereignty Dispute Between Britain, Argentina, and Chile, 1939 – 1959, Ph. D. Diss. University of Texas at Austin 2008. 12 Vgl. Matthias Heymann u. a., Exploring Greenland. Science and Technology in Cold War Settings, in: Scientia Canadensis 33. 2011, S. 11 – 42; Janet Martin-Nielsen, Eismitte in the Scientific Imagination. Knowledge and Politics at the Center of Greenland, New York 2013. 13 Roger D. Launius u. a., Globalizing Polar Science. Reconsidering the International Polar and Geophysical Years, New York 2010; Susan Barr u. Cornelia Lüdecke (Hg.), The History of the International Polar Years, Berlin 2010. 14 Auch ihre Rolle im Internationalen Geophysikalischen Jahr 1957 / 1958 wurde bislang nicht erforscht. Allein Peter Abbinks politikwissenschaftliche Dissertation hat die allgemeinen politischen Zusammenhänge der Polarforschung am Beispiel der Niederlande, Belgiens und Deutschlands vergleichend betrachtet. Klaus Fleischmanns informatives Buch über die deutsche Polarforschung nach 1945, das im Auftrag des AlfredWegener-Instituts verfasst wurde, verzichtete leider auf den Nachweis der verwendeten Quellen. Vgl. Peter Abbink, Antarctic Policymaking and Science in the Netherlands, Belgium and Germany (1957 – 1990) (= Circumpolar Studies, Bd. 6), Groningen 2009, S. 10; Klaus Fleischmann, Zu den Kältepolen der Erde. 50 Jahre deutsche Polarforschung, Bielefeld 2005. 408 Christian Kehrt fliktfelder ins Spiel kommen.15 Zugleich setzt die Nutzung von Ressourcen wissenschaftliche und technische Expertise voraus, die die Bedingungen für zukünftige Ressourcenexplorationen schaffen. Wie ein wissensgeschichtlicher Ansatz für Ressourcenfragen fruchtbar gemacht werden kann, hat Rüdiger Graf am Beispiel des Erdöls gezeigt.16 Frank Uekötter hat eine wissens- und umweltgeschichtliche Studie der modernen Landwirtschaft vorgelegt und Jakob Vogel sich mit den Hintergründen und Voraussetzungen der Industrialisierung und Verwissenschaftlichung des Salzabbaus befasst.17 Auch Wissen um Eis und Schnee sowie das antarktische Ökosystem waren nicht allein von grundlagenwissenschaftlichem Wert für die jeweiligen Teildisziplinen der Glaziologie, Meeresbiologie, Ichthyologie, Meteorologie oder Geologie, sondern eng mit politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Motiven verbunden. Deshalb wird im Rahmen dieses Beitrages „Umweltwissen“ in einem umfassenden Sinne verstanden, der sich auf die Wissensproduktion all jener „Umweltwissenschaften“ wie der Geologie, der Geophysik oder auch der Meeresforschung bezieht, und nicht nur Umweltschutzinteressen betrifft, sondern auch militärische, ökonomische und politische Motive miteinschließt. Zur wissensgeschichtlichen Analyse der mit der antarktischen Krillforschung einhergehenden gesellschaftlichen Problemstellungen orientiert sich dieser Beitrag an dem relativ neuen Begriff des „Wissensregimes“.18 Die Entstehung, 15 Die gesellschaftliche und nutzenorientierte Dimension von wissenschaftlichem Wissen haben Gernot Böhme und seine Kollegen am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg mit der sogenannten Finalisierungsthese bereits in den 1970er Jahren entwickelt. Diese hatte nachhaltige Wirkung auf die Wissenschaftssoziologie und auch die Wissenschaftsgeschichte. Vgl. Gernot Böhme u. a., Die Finalisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 2. 1973, S. 128 – 144; Peter Weingart, From „Finalization“ to „Mode 2“. Old Wine in New Bottles?, in: Social Science Information 36. 1997, S. 591 – 613; Helmuth Trischler u. Rüdiger vom Bruch, Forschung für den Markt. Geschichte der FraunhoferGesellschaft, München 1999, S. 84 – 86; Ritter, Antworten auf die amerikanische Herausforderung. Der Begriff der „Wissensgeschichte“ bleibt jedoch in seiner Unterscheidung zur Wissenschafts- und Technikgeschichte nach wie vor unscharf, da Wissen in seiner erweiterten Bedeutung sowohl wissenschaftliche als auch nicht-wissenschaftliche Wissensformen umfasst. 16 Rüdiger Graf, Ressourcenkonflikte als Wissenskonflikte, in: GWU 63. 2012, S. 582 – 599; ders., Das Petroknowledge des Kalten Krieges, in: Greiner, Macht und Geist im Kalten Krieg, S. 201 – 222. 17 Frank Uekötter, Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft (= Umwelt und Gesellschaft, Bd. 1), Göttingen 20123 ; Jakob Vogel, Ein schillerndes Kristall. Eine Wissensgeschichte des Salzes zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Köln 2008. 18 Vgl. Wehling, Wissensregime, S. 704 – 712; Dominique Pestre, Regimes of Knowledge Production in Society. Towards a More Political and Social Reading, in: Minerva ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 409 Wirkung und Wandel von Wissensregimen werden, so Peter Wehling, vermutlich zu einer der wichtigsten Aufgaben der Wissensforschung und -soziologie gehören.19 Historische Perspektiven sind in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich, da sie Auskunft über die mit einem spezifischen Wissensregime einhergehenden historischen Kontexte und Problemfelder geben können. So liegt der Fokus auf der Entstehung eines „stabilisierten Zusammenhangs von Praktiken, Regeln, Prinzipien und Normen des Umgangs mit Wissen und unterschiedlichen Wissensformen“, die sich auf die angestrebte Nutzung der antarktischen Ressourcen beziehen und am Beispiel der deutschen Krillforschung im Spannungsfeld von Ökologie und Ökonomie untersucht werden.20 In methodischer Hinsicht impliziert solch ein wissensgeschichtlicher Ansatz, dass weniger institutionelle, organisatorische oder disziplinengeschichtliche Zusammenhänge der Polarforschung analysiert werden; ebenso wenig geht es vorrangig um die Antarktispolitik der Bundesrepublik aus Sicht der zuständigen politischen Instanzen. Vielmehr werden hier das Wissen selbst und die damit einhergehenden Handlungsmöglichkeiten betrachtet.21 Im Falle der ressourcenorientierten Polarforschung stehen das Schlüsselobjekt des antarktischen Krills sowie deutsche Wissenschaftler im Blickpunkt, deren länderübergreifende Vernetzungen und Bezüge zur Antarktispolitik untersucht werden.22 Der antarktische Fisch und Krill und die damit verbundenen Wissenszirkulationen überschreiten nationale Grenzen und Territorien und verlangen ein kooperatives internationales Wissensregime.23 Die Nation ist damit aber als Analyseeinheit für Fragen der Wissensgeschichte nicht notwendigerweise obsolet, wie Philipp Sarasin behauptet.24 Die länderübergreifende, durch Expertennetzwerke realisierte antarktische Wissenspolitik 19 20 21 22 23 24 41. 2003, S. 245 – 261; ders., contre-science. Politiques et savoirs des socits contemporaines, Paris 2013; Michael Gibbons, The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London 2000. Wehling, Wissensregime, S. 710. Ebd., S. 704. Jakob Vogel, Wissen, Technik, Wirtschaft. Die modernen Wissenschaften und die Konstruktion der „industriellen Gesellschaft“, in: ders. u. Hartmut Berghoff (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt 2004, S. 295 – 323, hier S. 297. Ähnliches gilt für die ebenfalls ressourcenorientierte geologische Forschung in der Antarktis durch die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), die in diesem Beitrag nicht behandelt wird. Brown, Regimes for the Ocean; Helen M. Rozwadowski, The Sea Knows No Boundaries. A Century of Marine Science Under ICES, Copenhagen 2002, S. 2. Vgl. Philipp Sarasins Plädoyer gegen die bislang dominanten Erzählformen der an Nation und Gesellschaft orientierten Geschichtswissenschaften, ders., Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36. 2011, S. 159 – 172, hier S. 160. 410 Christian Kehrt steht in engem Bezug zu den jeweiligen Interessen der am Antarktisvertragssystem teilhabenden Länder, die durch meeresbiologische Experten in internationalen Ausschüssen und Vereinigungen25 und zugleich im nationalen Rahmen in verschiedenen Gremien und Institutionen vertreten wurden.26 Im Folgenden wird vor dem Hintergrund der internationalen Hochseefischerei um 1970 (Kapitel I), die den globalgeschichtlichen Rahmen für die Krillexpeditionen abgibt, die Krillforschung der Bundesrepublik betrachtet. Die politisch motivierte Förderung der Krillforschung in den langen 1970er Jahren erklärt sich aus deutscher Perspektive durch die Folgen der UN-Seerechtskonvention, die den Zugang zu weltweiten Fischbeständen einschränkte (Kapitel II). Da Antarktispolitik sich nur im Rahmen internationaler wissenschaftlicher Kooperationen realisieren lässt, wird die Rolle deutscher Krillforscher auf nationaler wie auch internationaler Ebene untersucht (Kapitel III). Schließlich geht es um das sich im Zuge der Krillforschung herausbildende Wissensregime im Spannungsfeld ökologischer und ökonomischer Motive (Kapitel IV), das in der Formulierung einer internationalen Konvention zum Schutz der lebenden antarktischen Meeresressourcen mündete. I. Zur globalen Situation der Hochseefischerei um 1970 Die Etablierung der modernen Fischereiwissenschaften ist eng mit dem historischen Prozess der Industrialisierung und Globalisierung des Fischfangs verbunden.27 Da Fischschwärme, Wasserströme und Fanggründe zumeist nicht entlang nationalstaatlicher Grenzen verlaufen, waren mit der Ausweitung der Fanggebiete ein länderübergreifendes Management der Fischressourcen und internationale Kooperationen der Fischereiexperten gefragt. Hierbei 25 Scientific Committee on Antarctic Research (SCAR), Scientific Committee on Oceanographic Research (SCOR), International Council for the Exploration of the Sea (ICES), Convention for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources (CCAMLR), Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen (FAO). 26 Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT), Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Bundeswirtschaftsministerium, Bundeskanzleramt, Auswärtiges Amt. 27 Vgl. David J. Starkey u. Ingo Heidbrink, A History of the North Atlantic Fisheries (= Deutsche Maritime Studien, Bd. 19), Bremen 2012; Micah S. Muscolino, Fishing and Whaling, in: John Robert McNeill u. Erin Stewart Mauldin (Hg.), A Companion to Global Environmental History, Chichester 2012, S. 279 – 296; Poul Holm u. a., The Exploited Seas. New Directions for Marine Environmental History (= Research in Maritime History, Bd. 21), St. John’s 2001; ders., Fishing, in: Shepard Krech u. a. (Hg.), Encyclopedia of World Environmental History, Bd. 2, New York 2004, S. 529 – 535; David J. Starkey u. a. (Hg.), Oceans Past. Management Insights from the History of Marine Animal Populations, London 2007. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 411 spielten zwischenstaatliche Organisationen, wie das 1902 gegründete International Council for the Exploration of the Sea (ICES) und nach dem Zweiten Weltkrieg die fischereiwissenschaftliche Abteilung der Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen (FAO), eine maßgebliche Rolle.28 Wissen um Fische und ihre Bestände ist von unmittelbarer praktischer Bedeutung für die jeweiligen Hafenstädte, Küstengesellschaften und Fischereinationen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts landeten moderne Fischdampfer Frischfische aus der Nordsee in großen Mengen an, sodass wichtige Fischarten wie der Hering von Überfischung bedroht waren.29 In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weiteten sich die Fanggebiete auf den gesamten Globus aus. Die Fangmengen stiegen nicht zuletzt dank neuer hochtechnisierter Fabrikschiffe und Hecktrawler, die für mehrere Wochen weit ab von den Heimathäfen große Mengen Fisch unmittelbar an Bord verarbeiten konnten.30 Allerdings betonen nicht nur Wissenschafts-, sondern auch Umwelthistoriker, dass wesentliche Entwicklungslinien auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurückgehen. Zwar konnten sich die Fischbestände in Kriegszeiten erholen, jedoch führte die kriegsbedingte Förderung der Schifffahrtstechnik und nicht zuletzt auch die modernen Navigations- und Ortungstechniken zu einem industrialisierten Fischfang im großen Stil. Auch die Bundesrepublik baute in den 1950er Jahren ihre Hochseefischerei aus und war in technischer Hinsicht international führend.31 Die Umstellung auf eine an Massenerträgen orientierte global agierende Fischwirtschaft hing auch mit den niedrigen Preisen auf dem Weltmarkt zusammen. Fischressourcen wurden zudem nicht mehr allein für den menschlichen Verbrauch, sondern auch als Futtermittel verkauft.32 Fischfang war jedoch nicht allein eine Frage wissenschaftlicher und technischer Möglichkeiten, sondern auch der rechtlichen und politischen Zugangsbedingungen zu den jeweiligen Fischbeständen. Nach 1945 kam es im Zuge von Dekolonisationsprozessen, der Ausweitung der nationalen Küstenzonen durch die „United Nations Convention on the Law of the Sea“ (UNCLOS) sowie der Konfliktkonstellationen des Kalten Krieges zu einer neuen, globalen 28 Vgl. Rozwadowski, The Sea Knows No Boundaries. 29 Vgl. Ingo Heidbrink, „Deutschlands einzige Kolonie ist das Meer!“ Die deutsche Hochseefischerei und die Fischereikonflikte des 20. Jahrhunderts (= Schriften des Deutschen Schifffahrtsmuseums, Bd. 63), Hamburg 2004, S. 185; Ole Sparenberg, „Segen des Meeres“. Hochseefischerei und Walfang im Rahmen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik, Berlin 2012, S. 374; Peter A. Larkin, Fisheries Management. An Essay for Ecologists, in: Annual Review of Ecology and Systematics 9. 1978, S. 57 – 73, hier S. 58; Carmen Finley, All the Fish in the Sea. Maximum Sustainable Yield and the Failure of Fisheries Management, Chicago 2011, S. 8. 30 Heidbrink, Deutschlands einzige Kolonie, S. 190. 31 Vgl. ebd.; Poul Holm, World War II and the „Great Acceleration“ of North Atlantic Fisheries, in: Global Environment 10. 2013, S. 66 – 91, hier S. 85. 32 Ebd., S. 84. 412 Christian Kehrt Dynamik der Hochseefischerei. Schwellen- und Entwicklungsländer stiegen in die Hochseefischerei ein, begannen ihre Fänge auf dem Weltmarkt zu verkaufen und zusätzliche Proteinquellen zu erschließen.33 Zugleich sahen die Industrieländer hier eine Chance, durch Entwicklungshilfe und Technologietransfers ihre moderne Fischfangtechnik in ärmere, sich modernisierende Länder zu verkaufen. Auch die Sowjetunion baute ihre Fischfangflotte massiv aus. Sowjetische Trawler suchten die Weltmeere ab, um im Verbund über mehrere Wochen weit ab der Heimathäfen, etwa vor den fischreichen Küsten Nordamerikas oder in antarktischen Gewässern, die Fischbestände „abzuernten“.34 Diese enormen Veränderungen der Mensch-Umwelt-Beziehung nach 1945 werden von Umwelthistorikern als „große Beschleunigung“ beschrieben und in der jüngeren Forschung in direkten Zusammenhang mit dem Kalten Krieg gebracht.35 Der Trend zu einer Intensivierung und Globalisierung des Fischfangs nach 1945 zeigt sich deutlich anhand der Statistiken der FAO. 1971 publizierte John A. Gulland in deren Auftrag erstmals eine einflussreiche Übersicht über die globalen Fischbestände.36 Grundlage hierfür waren Fischfangstatistiken, die die FAO seit den 1950er Jahren zusammenstellte. Ziel des Gulland-Reports „The Fish Resources of the Ocean“ war es, die wissenschaftlichen Grundlagen für einen weltweit koordinierten Fischfang zu legen und mithilfe populationsstatistischer Methoden die Zukunft des globalen Fischfangs zu planen. Diese Übersicht der FAO wurde durch ein internationales Expertenteam aus den USA, Kanada, England und der Sowjetunion zusammengestellt. Auch deutsche Fischereiwissenschaftler waren an dieser globalen Inventur der Fischbestände beteiligt. Gotthilf Hempel – neben dem Krill der Hauptakteur dieses Beitrags – war bereits seit Mitte der 1960er Jahre als junger Fischereibiologe für die FAO tätig und hatte erste Schätzungen der antarktischen Krillund Fischbestände unternommen, die in den Gulland-Report eingeflossen sind.37 Aus Sicht der FAO galt es, angesichts einer dramatisch wachsenden 33 Zu diesen Ländern zählten Taiwan, Ghana, Südkorea, Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ceylon, Thailand und Singapur. 34 Paul Josephson, Industrialized Nature. Brute Force Technology and the Transformation of the Natural World, Washington, D. C. 2002, S. 219. 35 Holm, World War II, S. 81. 36 John A. Gulland (Hg.), The Fish Resources of the Ocean, Surrey 1971. Gulland (1923 – 1990) war einer der führenden Fischereiwissenschaftler, der die statistische Erhebung von Fischbeständen maßgeblich prägte. Der in Cambridge ausgebildete Mathematiker arbeitete für das Englische Fischereiforschungsinstitut in Lowestoft und war von 1966 bis 1984 für die FAO in Rom tätig. 37 Gotthilf Hempel, Area Reviews on Living Resources of the World’s Oceans. Antarctica, in: FAO Fisheries Circular 1968, Nr. 109 / 3; ders., Notizen zum wissenschaftlichen Lebenslauf, in: Ludger Kappen (Hg.), Gotthilf Hempel, Kiel 1994, S. 32 – 36, hier S. 34; Martin Hoffmeyer (Hg.), Partner des Deutschen Polar-Instituts. Ergänzungsheft zum ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 413 Weltbevölkerung, die notwendigen Eiweißressourcen zu erschließen. Dies macht bereits der erste Satz des Reports deutlich: „The fish resources of the ocean form one of the major sources of protein in the world.“38 Zugleich sollten auch mögliche Grenzen der globalen Fischerei festgelegt werden.39 Denn angesichts der 1970 vorliegenden Daten und Erfahrungen war ersichtlich, dass die Kapazitätsgrenzen etlicher Fischbestände bereits weit überschritten waren.40 Die FAO bezifferte 1970 den globalen Fischfang auf 57 Millionen Tonnen mit einem Marktwert von etwa acht Milliarden Dollar.41 Angesichts dieses Wachstumstrends war das Erreichen und Überschreiten der Bestandsgrenzen absehbar und machte neue Fischereistrategien notwendig.42 Tatsächlich sanken in den 1970er Jahren die Wachstumsraten infolge des Kollapses der Sardellen-Bestände vor Peru.43Auf der Basis der Schätzungen der FAO und anderer internationaler Organisationen wie der UNESCO oder ICES sollte ein globales Fischereimanagement durch die Errichtung von Fischfangzonen und die Bestimmung verbindlicher Fangmengen etabliert werden. Anliegen des Ressourcenschutzes und das Wissen um die Grenzen zahlreicher Fischbestände gingen Hand in Hand mit der Absicht, die globalen Fischbestände zu managen, zu entwickeln und weiterhin die wachsende Weltbevölkerung mit Eiweiß zu versorgen. Ökologische und bestandserhaltende Maßnahmen waren zumindest von Seiten der fischereiwissenschaftlichen Abteilungen der FAO im Rahmen eines an Wachstum und Produktivität der Weltmeere orientierten Paradigmas zu verorten. Fischereiexperten sahen das Meer als einen fruchtbaren Acker an, dessen Produktivität gemessen, Bestände entwickelt und Früchte geerntet wurden.44 Die Verwissenschaftlichung der Hochseefischerei 38 39 40 41 42 43 44 Stand der für die Antarktisforschung relevanten wissenschaftlichen Vorhaben in Kiel, Kiel 1978, S. 29. Gulland, Fish Resources, S. vii. Allerdings fehlten den hierfür zuständigen Wissenschaftlern letztlich die entsprechenden Machtbefugnisse, diese Fanggrenzen zu überwachen. Die verschiedenen nationalstaatlichen Interessen waren durch die Konfliktkonstellationen des Kalten Krieges und die Dekolonisierungsprozesse zu unterschiedlich und zu komplex. Gulland, Fish Resources, S. 9; Lucian M. Sprague, Prospects of the World’s Fishery Resources with Emphasis on the Western Hemisphere, in: Clinton O. Chichester u. Horace D. Graham (Hg.), Microbial Safety of Fishery Products, New York 1973, S. 41 – 51; Larkin, Fisheries Management, S. 59. FAO, The Living Resources of the Sea. An Illustrative Atlas, Rom 1971. FAO, Report on Informal Consultations on Antarctic Krill, Rome 14. 10. 1974, Rom 1976; Sprague, Prospects of the World’s Fishery Resources, S. 42. Der Sardellenfang vor Peru stieg von 200.000 Tonnen im Jahr 1955 auf 12 Millionen Tonnen im Jahr 1970, die hauptsächlich in der Futtermittelindustrie Verwendung fanden. Vgl. Dietrich Sahrhage u. Johannes Lundbeck, A History of Fishing, Berlin 1992, S. 251 – 252; Larkin, Fisheries Management, S. 59. Finley, All the Fish, S. 7. 414 Christian Kehrt und die zeitgleich stattfindende Industrialisierung des Fischfangs trugen somit maßgeblich zur Wahrnehmung der Weltmeere als globaler Ressourcenraum bei.45 Die wissenschaftlich begründete nachhaltige wie rationelle Nutzung und Entwicklung der Fischressourcen durch die Einhaltung des „most sustainable yields“ wurde zur Leitidee für das internationale Fischereimanagement.46 Selbst als Fischereiexperten die Überfischung der Bestände erkannten und alternative Strategien sowie die Begrenzung der Fangmengen einforderten, gab es kaum Anreize für die Fischfangindustrie, sich an bestandserhaltende Fischfanggrenzen zu halten. Diese hatte mit staatlicher Unterstützung in moderne Fischfangtrawler investiert. Zudem gab es auf offener See kaum Möglichkeiten, das Überschreiten von Fangmengen zu überwachen oder gar zu sanktionieren.47 Vor dem Hintergrund der Globalisierung des Fischfangs und der drastisch steigenden Fangmengen deuteten sich allerdings Anfang der 1970er Jahre Grenzen der bislang im Fokus stehenden Fischbestände an. Der Grenzwert des „most sustainable yields“ war für einige beliebte Fischarten, wie Kabeljau oder Hering, bereits überschritten und der Walbestand hatte in den 1960er Jahren trotz bestehender Schutzkonventionen einen dramatischen und artenbedrohenden Tiefstand erreicht. Dennoch waren die Fischereiexperten nach wie vor optimistisch und extrapolierten positive Wachstumstrends bis ins Jahr 2000. Die Strategie des sogenannten „fishing down the foodweb“ sah vor, auf neue Bestände und Arten im unteren Bereich der Nahrungskette zurückzugreifen.48 Diese waren zwar bislang kaum auf der Speisekarte westlicher Länder zu finden, zeichneten sich jedoch, so die Fischereiexperten, durch einen hohen Eiweißgehalt aus. Diese globalen Zusammenhänge erklären, weshalb der Krill Ende der 1960er Jahre nicht nur von der Sowjetunion und Polen befischt, sondern auch von den planerischen Eliten und Fischereiexperten als neue Ressource entdeckt und in ihre wissensbasierten Kalküle und Nutzungsregimes einbezogen wurden.49 45 Philip E. Steinberg, The Social Construction of the Ocean (= Cambridge Studies in International Relations, Bd. 78), Cambridge 2001. 46 Finley, All the Fish, S. 2. 47 Brown, Regimes for the Ocean, S. 51. 48 So zeigt gerade das langfristige Scheitern des wissensbasierten internationalen Fischereimanagements, dass ökologische und nachhaltige Strategien unter anderem in der Antarktis nicht wirklich umgesetzt wurden. Dies betont insbesondere Daniel Pauly, der die bisherige Fischereiforschung scharf kritisiert und mehr historisches Wissen für seine Disziplin einfordert. Vgl. ders., Anectodes and the Shifting Baseline Syndrome of Fisheries, in: Trends in Ecology and Evolution 10. 1995, S. 430; ders. u. a., Global Trends in World Fisheries. Impacts on Marine Ecosystems and Food Security, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London 360. 2005, S. 5 – 12; ders. u. a., Fishing Down Marine Food Webs, in: Science 279. 1998, S. 860 – 863. 49 FAO, Report on Informal Consultations on Antarctic Krill, S. 7. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 415 II. Ressourcenfragen als Leitmotiv der Antarktispolitik der Bundesrepublik Verglichen mit den zwölf Staaten, die am 1. Dezember 1959 in Washington den Antarktisvertrag unterschrieben hatten, stieg die Bundesrepublik spät in die Antarktisforschung ein.50 Zwar leiteten Erich von Drygalski (1865 – 1949) und Wilhelm Filchner (1877 – 1957) bereits vor dem Ersten Weltkrieg wissenschaftliche Expeditionen zum sechsten Kontinent. Auch die „SchwabenlandExpedition“ 1938 / 1939 stand im Kontext einer ressourcenorientierten Antarktisforschung und sollte territoriale Besitzansprüche durch eine großflächige Vermessung und Kartierung der Antarktis vorbereiten.51 Dennoch bleibt die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende deutsche Antarktisforschung und die damit einhergehende Erfindung von Traditionslinien durch zahlreiche Brüche und politisch bedingte Neuorientierungen geprägt. Grund hierfür war weniger das mangelnde Interesse deutscher Wissenschaftler als vielmehr die langfristigen Folgen des Zweiten Weltkriegs.52 Im Unterschied zur DDR, die seit den 1960er Jahren kontinuierlich an sowjetischen Antarktisexpeditionen teilnahm, diskutierte man auf politischer Ebene erst im Zuge einer ressourcengetriebenen Antarktisforschung in den 1970er Jahren den Beitritt der Bundesrepublik ins Antarktisvertragssystem.53 50 Hierzu zählten Frankreich, Belgien, die Sowjetunion, die USA, England, Neuseeland, Australien, Norwegen, Argentinien, Chile, Japan und Südafrika. Zu den Anfängen der Antarktisforschung vgl. Cornelia Lüdecke, Die deutsche Polarforschung seit der Jahrhundertwende und der Einfluß Erich von Drygalskis (= Berichte zur Polarforschung, Bd. 158), Bremerhaven 1995; David Thomas Murphy, German Exploration of the Polar World, Lincoln 2002. 51 Die deutsche Antarktisexpedition 1938 verwendete erstmals Flugboote, die per Katapultstart von einem Schiff aus starteten und dann mithilfe von Luftbildkameras die Antarktis kartierten. Allerdings fehlten die Referenzpunkte am Boden, um die Bilder eindeutig zuordnen zu können. Vgl. Cornelia Lüdecke, In geheimer Mission zur Antarktis. Die dritte Deutsche Antarktische Expedition 1938 / 39 und der Plan einer territorialen Festsetzung zur Sicherung des Walfangs, in: Deutsches Schifffahrtsarchiv 26. 2003, S. 75 – 100; dies. u. Colin Summerhayes, The Third Reich in Antarctica. The German Antarctic Expedition 1938 – 39, Norwich 2012. 52 So forderte im Jahr 1962 ein Meeresforscher die DFG auf, zur Sicherung „nationaler Interessen im Antarktischen Raum“ „auf diesem für uns traditionellen Forschungsgebiet“ wissenschaftlich aktiv zu werden; siehe DFG-Archiv, SCAR 1977 / 78, Dr. Gerd Hartmann, Bericht zur Information der DFG über das in Paris vom 2. – 8. September durchgeführte „Symposium on Antarctic Biology“, S. 9. 53 Lange Zeit gab es kein Schwerpunktprogramm der DFG zur Antarktisforschung, vermutlich aufgrund der hohen Kosten und enormen politischen und diplomatischen Herausforderungen, die ein solches Engagement mit sich brachte. Vgl. zur Polarforschung der DDR Diedrich Fritzsche, Geowissenschaftliche Forschung der DDR in der 416 Christian Kehrt Die 1970er Jahre stellten eine neue Phase in der Antarktisforschung dar, in der das weltweite Interesse an der Antarktis und ihren Rohstoffen stieg. So schrieb Hans Matthöfer als Bundesminister für Forschung und Technologie an Bundeskanzler Helmut Schmidt: Die Antarktisforschung war bis Ende der sechziger Jahre rein wissenschaftlich orientiert. Erst Anfang der siebziger Jahre zeichnete sich eine Wende zur rohstofforientierten Forschung ab – unter anderem als Folge der Diskussion um die Begrenztheit der Rohstoffvorräte. Neues Schlagwort wurde resource evaluation.54 Nun standen vermehrt Disziplinen wie Fischereiforschung oder Geologie im Blickpunkt, die der Erschließung neuer lebender und mineralischer Ressourcen dienten.55 Die ressourcenorientierte Antarktisforschung wurde als Ressortforschung im Auftrag des Wirtschaftsministeriums durch die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe sowie die Bundesforschungsanstalt für Fischerei im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betrieben. Auch das Bundesministerium für Forschung und Technologie beteiligte sich an der Förderung der Antarktisforschung. In diesem Kontext treten der antarktische Krill und die deutsche Fischereiwissenschaft, insbesondere der Leiter der Bundesforschungsanstalt für Fischerei Dietrich Sahrhage und der Kieler Fischereibiologe Gotthilf Hempel, auf die Bühne. Die im atlantischen Sektor der Antarktis agierende erste deutsche Krillexpedition wollte potentielle Nutzfische und Nahrungsreserven und damit die „Möglichkeiten für eine kommerzielle Fischerei in diesem Seegebiet“ untersuchen.56 Das mit speziellen Echoloten und Satellitennavigationstechnik ausgestattete Forschungsschiff „Walther Herwig“ und das begleitende Fabrikschiff „Weser“ liefen am 20. Oktober 1975 in Bremerhaven aus und waren bis zum 14. Juni 1976 auf See. Insgesamt führte die Bundesrepublik im Zeitraum der Beitrittsverhandlungen zum Antarktisvertrag drei große Krillexpeditionen durch.57 Die Expedition war Teil des übergreifenden „Gesamtprogramms 54 55 56 57 Antarktis, in: Martin Guntau u. a. (Hg.), Zur Geschichte der Geowissenschaften in der DDR, Teil 2, Ostklüne 2011, S. 303 – 317; Fleischmann, Zu den Kältepolen der Erde, S. 82 – 151. Bundesarchiv Koblenz [im folgenden BArch], B 102 / 184071, Schreiben des Bundesministers für Forschung und Technologie Hans Matthöfer an Bundeskanzler Helmut Schmidt, 31. 1. 1978, Anlage. Gotthilf Hempel, Blühende Landschaften im Ewigen Eis, in: Polarforschung 79. 2009, S. 181 – 191. Dietrich Sahrhage, Antarktis-Expedition 1975 / 76 der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978, S. 4. 1975 / 1976 erste deutsche Krillexpedition, 1977 / 1978 zweite deutsche Krillexpedition, 1980 / 1981 Teilnahme an der BIOMASS-Expedition „First Internationale BIOMASS Expedition“ (FIBEX) und 1983 an der „Second International BIOMASS Expedition“ (SIBEX). ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 417 zur Erschließung neuer Fangmöglichkeiten für die deutsche Hochseefischerei“.58 Dabei befasste man sich systematisch mit meeresbiologischen Fragen des antarktischen Ökosystems, der Ortung und dem Fang von Fisch- und Krillschwärmen sowie der Verarbeitung und Produktentwicklung dieser lebenden Meeresressourcen. Ziel war es, eine Inventur der Krillbestände zu unternehmen, um auf der Basis dieser Daten eine gezielte und nachhaltige Krillfischerei zu entwickeln. Genauere Daten und Zahlen über das konkrete Krillvorkommen waren Voraussetzung für die Entwicklung einer zukünftigen kommerziellen Krillfischerei, wie es im Jargon der Fischereiexperten hieß. Der Expeditionsbericht geht von etwa 200 Millionen Tonnen pro Jahr insgesamt aus, von denen fünfzig bis sechzig Millionen geerntet werden könnten.59 Andere Berechnungen kamen gar auf eine Gesamtkrillbiomasse von 800 Millionen bis fünf Milliarden Tonnen.60 Angesichts der tatsächlichen globalen Fischfangmengen hatten diese Zahlen entsprechendes Gewicht für Fragen der Welternährung, aber auch national motivierte kommerzielle Fischereistrategien. Krillfischerei war im Übrigen kein rein deutsches Unterfangen, sondern wurde vor allem von Japan und im größeren Stil von der Sowjetunion betrieben. Zweifelsohne prägten ökonomische Motive die vom Staat geförderte Krillforschung.61 Vor dem Hintergrund der schwierigen Entwicklungen auf dem globalen Fischmarkt wurde der Krill als strategische Alternative zu den bisherigen Meeresressourcen am oberen Ende der Nahrungskette verstanden.62 Dass wissenschaftliche Interessen allein nicht ausschlaggebend waren, sondern ökonomische und politische Motive diese Expeditionen bestimmten, wird explizit im Expeditionsbericht angesprochen.63 Die gesellschaftliche Relevanz dieser Ressourcenforschung zeigt sich auch daran, dass im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten der Expeditionsfilm „Dem Krill auf der Spur“ produziert wurde, um die Anliegen der Krillforschung zu popularisieren und die Öffentlichkeit früh mit einzubinden. Grund hierfür war die öffentliche Sensibilität gegenüber Umweltthemen, insbesondere der Walfang wurde sehr kritisch gesehen. Während in der Öffentlichkeit Fragen der Welternährung und der Ökologie betont wurden, galt es intern, auf der politischen Ebene der Ministerien und Fachreferate eine ressourcenorientierte Forschung zu forcieren. Wie ein 58 59 60 61 Sahrhage, Antarktisexpedition 1975 / 76, S. 4. Ebd., S. 11. FAO, Report on Informal Consultations on Antarctic Krill, S. 11. Bettina Meyer, Antarctic Krill, Euphausia Superba. A Model Organism to Understand the Impact of Global Warming on the Marine Antarctic Ecosystem, in: Polarforschung 80. 2010, S. 17 – 22, hier S. 18. 62 Gotthilf Hempel, Antarktis-Expedition 1977 / 78 der Bundesrepublik Deutschland (= Archiv für Fischereiwissenschaft, Bd. 30), Berlin 1979, S. 7. 63 Ebd. 418 Christian Kehrt Schreiben Dietrich Sahrhages über die Planungen der ersten Krillexpedition verdeutlicht, ist Krillforschung in wirtschafts- und geopolitischen Zusammenhängen zu betrachten, die insbesondere die anstehenden Neuregelungen der UN-Seerechtskonvention mit sich brachten.64 Im Zuge der Verhandlungen um das Internationale Seerecht in den 1970er Jahren kam es zu einer Ausdehnung der nationalen Wirtschaftszonen und einer Nationalisierung des Seerechts, das küstenarme Staaten wie Deutschland den Zugang zu lukrativen Fischbeständen erschwerte und zu einem regelrechten Kabeljaukrieg führte.65 Insbesondere Länder der Dritten Welt forderten, die Küstenzonen auf 200 Seemeilen auszudehnen, sodass Küstenstaaten wieder mehr Zugriffsrechte auf ihre Bestände hatten. Infolgedessen verlor die Hochseeflotte der Bundesrepublik etwa drei Viertel ihrer traditionellen Fanggründe um Island und in der Nordsee, die Zahl der Trawler sank von 140 im Jahr 1968 auf zwölf im Jahr 1988, die Fangerträge von 460.000 auf 120.000 Tonnen.66 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ausgangsthese, dass das Engagement der Bundesrepublik in der Polarforschung ressourcenorientierten und damit geopolitischen Motiven zugrunde lag, dahingehend präzisieren, dass die neue und massive Beteiligung der Bundesrepublik in der Antarktisforschung als direkte Folge der Reform der UN-Seerechtskonvention zu verstehen ist. Dies verdeutlicht die Interviewaussage Volker Siegels, eines langjährig in der Krillforschung aktiven Wissenschaftlers der Bundesforschungsanstalt für Fischerei: Und man kann jetzt auf den Ursprung der ganzen Sache zu sprechen kommen, weswegen an diesem Institut überhaupt die Krillforschung eingeführt worden ist, das waren ja damals die Zeiten gewesen, als Island und andere Länder ihre Hoheitsgebiete in Wirtschaftszonen ausdehnten, dass man also von diesen Hoheitsgewässern auf die 200 Seemeilen Nutzungszonen ging, dadurch hatten dann Länder mit wenig Küstenbereichen, wie Deutschland z. B., das Problem, dass sie ihre großen Fischfangflotten nicht mehr mit voller Auslastung und rentabel einsetzen konnten und dadurch wurde explizit nach Fanggründen gesucht, die außerhalb solcher Wirtschaftszonen lagen und deshalb ist eben auch das Bundesministerium für Landwirtschaft da eingestiegen und hat dann in Kooperation mit dem Forschungsministerium diese Projekte entwickelt, um zu sehen, wo kann die deutsche Hochseefischerei im Prinzip noch prospektiv eingesetzt werden.67 64 Dietrich Sahrhage u. a., Programm und Planung der 1. Deutschen Krill-Expedition in die Antarktis 1975 / 76, in: Claus Kruppa (Hg.), Interocean ‘76. Kongreß Berichtswerke, Hamburg 1976, S. 1152 – 1157. 65 Bald sind die Meere leergefischt. SPIEGEL-Report über den Raubbau in der See und die Bedrohung der Nahrungsmittel-Reserven, in: Der Spiegel, 28. 7. 1975; vgl. Heidbrink, Deutschlands einzige Kolonie, S. 190. 66 Sahrhage u. Lundbeck, History of Fishing, S. 267. 67 Christian Kehrt, Interview mit Volker Siegel, Thünen-Institut für Seefischerei, Hamburg, 22. 5. 2012. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 419 Spätestens als Kanada in den 1970er Jahren seine Küstenzone auf 200 Seemeilen ausdehnte, war die große Zeit der deutschen Hochseefischerei vorbei.68 Dietrich Sahrhage, Leiter der Bundesforschungsanstalt für Fischerei, formulierte dies nachträglich unverblümter, indem er die UN-Seerechtsverhandlungen als größte Umverteilung von Land und Ressourcen in der Geschichte der Menschheit bezeichnete.69 Für die Fernfischerei wie auch die damit verbundene Meeresforschung und Schifffahrtsindustrie zeichnete sich ein Strukturwandel ab, der erhebliche Beschränkungen mit sich brachte und neue strategische Alternativen verlangte. Auch Pfadabhängigkeiten, jener in der Nachkriegszeit getroffenen Weichenstellungen der Hochseefischerei, zwangen die deutschen Reedereien nach alternativen Fanggründen in antarktischen Gewässern zu suchen. Da die Fernfischerei und die damit einhergehende Umstellung auf riesige Fangmengen im globalen Maßstab mit erheblichen Investitionen verbunden waren, sah sich die deutsche Fischfangindustrie dazu gezwungen, nach Fanggründen außerhalb der Nord- und Ostsee zu suchen.70 Die Entwicklung des Internationalen Seerechts erklärt somit, weshalb genau in dem Zeitfenster, in dem sich das neue UN-Regime abzeichnete, die Bundesrepublik nach alternativen Fanggründen Ausschau hielt und aus strategischen Gründen in die Krillforschung investierte. Aus Sicht der Bundesrepublik sollte Krillforschung nicht primär dem damals diskutierten abstrakten Ziel der Welternährung und der Schließung vorhandener Proteinlücken dienen, sondern verdankte sich handfesten geopolitischen Motiven, die im beschränkten Zugang zu globalen Meeresressourcen begründet liegen. Diese staatlichen Interessen korrespondierten mit den Anliegen deutscher Meeresforscher aus Kiel und Hamburg insofern, als die Ausweitung der nationalen Küstenzonen auch die Forschungsmöglichkeiten deutscher Expeditionen auf den Weltmeeren einschränkte. Die Diskussion über die künftige Beteiligung der Bundesrepublik an der Antarktisforschung ist nun offenbar auch im BMFT angelaufen. Die Hinwendung zur Antarktisforschung war ja u. a. auch damit begründet worden, daß man sich bei weiter fortschreitender Einschränkung der Forschungsfreiheit auf den Meeren sozusagen neue Freiräume sichern müßte, zu welchen – zur Zeit noch – die Antarktis gehört.71 68 Heidbrink, Deutschlands einzige Kolonie, S. 9 u. S. 193; Sparenberg, Segen des Meeres, S. 371. 69 Sahrhage u. Lundbeck, History of Fishing, S. 279. 70 DFG-Archiv, 6046-3-27, Antarktisforschung 1977 – 1982, Bd. 1, Kurzprotokoll der ad hoc-Arbeitsgruppe der Senatskommission für Ozeanographie der DFG, Deutsche Meeresforschung und internationales Seerecht, Deutsches Hydrographisches InstitutHamburg, o. D., S. 6. 71 Ebd., Antarktisforschung 1977 – 1982, Bd. 1, Meyel an Seybold, Deutsches Hydrographisches Institut-Hamburg, o. D., S. 1. 420 Christian Kehrt Meeresbiologie und Fischereiforschung waren mit Fragen der Fischereiwirtschaft verknüpft und unmittelbar durch die UN-Seerechtskonvention betroffen. Wie brisant diese Diskussionen auf UN-Ebene waren, zeigt sich an der Tatsache, dass deutsche Meeresforscher eine ad hoc-Gruppe bildeten, um die Folgen der UNCLOS Verhandlungen zu diskutieren. Politik und Wissenschaft nahmen die Antarktis als Möglichkeitsraum wahr, der die erheblichen Auswirkungen der UN-Seerechtskonvention abfangen sollte.72 Allerdings war die Antarktis schwer zu erreichen und versprach in ökonomischer Hinsicht keine unmittelbaren Profite, sodass das Engagement der Bundesrepublik als langfristige und rein potentielle Ressourcensicherung zu bewerten ist. De facto hat die Antarktisforschung den mit der Seerechtsreform eingeleiteten Niedergang der Fernfischerei und den Strukturwandel der Küstenstädte Cuxhaven, Bremerhaven und auch Hamburgs nicht aufhalten können. Diese neutral als „Strukturwandel“ oder deutlicher als „Niedergang“ beschriebene Geschichte der deutschen Hochseefischerei stellt sich jedoch aus Sicht der Meeres- und Polarforschung nicht ausschließlich als lokale und regionale Niedergangsgeschichte dar.73 Wissen hatte hier die strategisch wichtige Funktion, neue Handlungsoptionen zu eröffnen und gesellschaftliche Interessen an Rohstoffen zu wahren, um die Bundesrepublik im globalen Rahmen der Antarktispolitik zu verorten. Da der Zugang zur Antarktis nur über den Nachweis eines signifikanten wissenschaftlichen Engagements möglich war, kam den Meeresforschern eine Schlüsselrolle zu. Gotthilf Hempel und Dietrich Sahrhage nahmen bei diesen die Antarktis- und Meeresforschung betreffenden Verhandlungen eine wichtige Position ein und machten auch auf nationaler forschungspolitischer Ebene deutlich, dass „das Interesse an der Antarktisforschung überall steige.“74 Sie waren über neue Forschungstrends ebenso gut informiert wie über die damit einhergehenden politischen Problemkonstellationen und konnten in den entscheidenden Gremien und Sitzungen der Senatskommission für Ozeanographie der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der 72 Vgl. DFG-Archiv, SCAR 1977 / 78, H. Walden, Bericht über meine Teilnahme an der 7. Sitzungsperiode der 3. Seerechtskonferenz in Genf und vertraulicher Zusatz zum Bericht über die Teilnahme an der Seerechts-Konferenz in der Zeit vom 3. – 11. 5. 1978. 73 Vgl. Sparenberg, Segen des Meeres, S. 367; Heidbrink, Deutschlands einzige Kolonie, S. 123; Roland Baartz, Entwicklung und Strukturwandel der deutschen Hochseefischerei unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bedeutung für Siedlung, Wirtschaft und Verkehr (= Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft Hamburg, Bd. 81), Stuttgart 1991. 74 DFG-Archiv, 6046-3-27, Antarktisforschung 1977 – 1982, Bd. 1, Brief Meyel (DFG) an Dr. Lehr (BMFT), Deutsches Hydrographisches Institut-Hamburg, o. D., S. 2. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 421 Bundesregierung wichtige Weichenstellungen anbahnen und Argumente für den Einstieg in die Antarktisforschung einbringen.75 Die Strategie der Bundesrepublik war es nun, aus „politischen Gründen“ Forschungsinteressen vor die ressourcengetriebenen Hauptinteressen zu stellen und damit nicht dem Wirtschafts-, sondern dem Forschungsministerium die Federführung zu überlassen. Der an sich für Ressourcenfragen zuständige Wirtschaftsminister hatte aus „politischen Gründen“ auf sein Vorrecht auf die Koordination der ressourcengetriebenen Polarforschung verzichtet. So vergewisserte sich der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf von Lambsdorff in einem Brief an das Forschungsministerium, ob er die Ressortbesprechung im Kanzleramt richtig verstanden hätte, „dass wir [den] Beitritt zur Konsultativrunde aus politischen Gründen unter den Forschungsaspekt stellen sollten.“76 Deshalb wurde in den politischen Beratungen zum Konsultativstatus der BRD intern vermerkt, dass Einigkeit darüber bestehe, dass wissenschaftlich-technologische Aspekte in den Vordergrund zu stellen seien, während die eigentlich ausschlaggebenden Rohstoffinteressen nicht dominieren sollten, um den anstehenden Beitritt zum Antarktisvertrag nicht zu gefährden.77 Dass die Institutionalisierung der deutschen Polarforschung jedoch unmittelbar mit Rohstoff- und Ressourcenfragen zusammenhing, zeigt sich deutlich an wissenschaftlichen Stellungnahmen, nachrichtendienstlichen Lageberichten und ministeriellen Korrespondenzen im unmittelbaren Vorfeld des Beitritts zum Antarktisvertragssystem. Der Bundesminister für Forschung und Technologie forderte die Bundesregierung auf, Mitglied im „Antarctic Treaty System“ zu werden, da „erhebliche Interessen“ auf dem Spiel ständen.78 Diese könnten nur gewahrt werden, wenn Deutschland in den Kreis der Konsultativstaaten, die sich den Zugang zu den antarktischen Rohstoffen sichern wollten, aufgenommen werde. Die Voraussetzungen hierfür erfüllte die Bundesrepublik schließlich mit der Gründung des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven im Jahr 1981, dem Bau des Forschungsschiffes „Polarstern“ und der Errichtung der permanenten Antarktisstation „Georg von Neumeyer“. Die erheblichen finanziellen Aufwendungen, die zu der Institutionalisierung der Polarforschung und dem Beitritt der Bundesrepublik zum Antarktisvertrags- 75 BArch, B 108 / 65345, Auszug aus zusammenfassender Niederschrift der 36. Sitzung der Senatskommission für Ozeanographie der DFG, 2. 11. 1976, Hamburg. 76 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes [im Folgendem PA AA], B 73119715, Vermerk, Antarktisvertrag, Konsultativstatus für die BRD, 23. 3. 1978. 77 Ebd., Vermerk, Antarktisvertrag, Konsultativstatus für die BRD, 7. 3. 1978. 78 BArch, B 102 / 184071, Schreiben des Bundesminister für Forschung und Technologie Hans Matthöfer an Bundeskanzler Helmut Schmidt, 31. 1. 1978. 422 Christian Kehrt system führten, unterstreichen das enorme politische Interesse der Bundesrepublik an den antarktischen Rohstoffen.79 III. Wissenschaftliche Kooperationen und diplomatische Konflikte Kennzeichen der Krillforschung war ein hohes Maß an internationaler Kooperation. Dies liegt in der Natur der Antarktis- und Meeresforschung begründet, die aufgrund der notwendigen großen Datenmengen über Wind, Wetter, Wasser, Eis- und Schneeverhältnisse in den riesigen, staatsfreien Räumen der Antarktis und der Weltmeere eine länderübergreifende, arbeitsteilige Forschung verlangte. Aus diesem Grund basierte diese Art der umweltbezogenen Forschung auf internationalen Expertennetzwerken, die in zwischenstaatlichen Organisationen wie ICES oder der Intergovernmental Oceanographic Commission und auch in Nichtregierungsorganisationen wie dem Scientific Committee on Antarctic Research (SCAR) und dem Scientific Committee on Oceanographic Research (SCOR) koordiniert wurden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass deutsche Forscher in internationalen Organisationen früh in führenden Positionen vertreten waren. Auf diesem Weg konnten sie aus der durch den Zweiten Weltkrieg bedingten Isolation heraustreten und durch friedliche, internationale wissenschaftliche Kooperationen neuen Einfluss gewinnen.80 Zudem war der länderübergreifende Wissensaustausch ein konstitutives Element des Antarktisvertragssystems. Der Antarktisvertrag aus dem Jahr 1959 und die während des Internationalen Geophysikalischen Jahres 1957 / 1958 gemachten Erfahrungen sind vor dem 79 Die finanziellen Aufwendungen zum Bau einer permanenten Forschungsstation, eines Forschungsschiffes und eines Forschungsinstituts sowie der Unterhalt dieser Einrichtungen wurden im Zeitraum des Beitritts zum Antarctic Treaty System mit einem dreistelligen Millionenbetrag berechnet: 228,5 Millionen DM des Bundes, 21 Millionen DM der Länder und 6,5 Millionen DM der DFG. Vgl. PA AA, B 73-114097, Gesamtprogramm BRD (auch Geowissenschaften), 24. 9. 1979; DFG-Archiv, 322 529, Schwerpunktprogramm Antarktisforschung, Bd. 1., Rundgespräch „Biologie und Ozeanographie der Antarktis“, Protokoll über das Rundgespräch geowissenschaftliche Antarktisforschung, 27. / 28. 3. 1980. In der Zeitspanne von 1979 bis 1994 wurden etwa 1,5 Milliarden DM für die Polarforschung aufgewendet. Vgl. Gerd Hubold, Der Sprung ins kalte Wasser. Die Kaltwasserphase 1966 – 1994, in: Mitteilungen zur Kieler Polarforschung 10. 1994, S. 17. 80 Dies zeigt sich beim Neuanfang der Meeresforschung nach 1945 an der Person Günther Böhneckes (1896 – 1981), aber auch später an den für die Meeresbiologie und Fischereiforschung zuständigen Sahrhage und Hempel. Auch der Münchner Geodät Richard Finsterwalder war in den 1950er Jahren Vizepräsident der „Ice and Snow“Kommission der Internationalen Union für Geodäsie und Geophysik. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 423 Hintergrund der politischen Spannungen des Kalten Krieges zu betrachten, die die Polarregionen zum Labor des Kalten Krieges machten. Auch die Antarktis war von einer Militarisierung und Nuklearisierung bedroht. Folglich galten friedliche internationale Kooperationen und Wissen als ausschließliche Zugangsbedingungen, um die Deponierung von Nuklearwaffen oder auch nuklearen Abfällen in der Antarktis zu verhindern. Ebenso unterbanden sie die Eskalation territorialer Konflikte, die sich durch die Besitzansprüche verschiedener Länder wie etwa Argentiniens, Chiles und die machtpolitischen Interessen der Sowjetunion und der USA erklären.81 Forschungsexpeditionen in die Antarktis waren ein heikles diplomatisches Unterfangen, zumal wenn es um Ressourcenfragen ging, die schwelende territoriale Konflikte tangierten. Im sensiblen Zeitfenster der Beitrittsbemühungen der Bundesrepublik galt es, eine möglichst breite internationale Zustimmung zu erreichen und eine Positionierung in diplomatischen Konflikten, zum Beispiel zwischen Großbritannien und Argentinien, zu vermeiden. Da die deutschen Aktivitäten unter internationaler Beobachtung standen und letztlich der Beitritt von der Zustimmung der anderen Signatarstaaten abhängig blieb, wollte man jegliche Missstimmung im Vorfeld des Beitrittsgesuchs unterbinden und insbesondere kein Misstrauen durch ressourcenorientierte Forschung erwecken. Auch die Botschaften und das Auswärtige Amt waren eingeschaltet, um die Durchquerung konfliktträchtiger Küstenzonen und Hoheitsgebiete vorzubereiten. Der Grad der Kooperationen variierte hierbei und hing von den jeweiligen Interessen der beteiligten Akteure und den politischen Rahmenbedingungen ab. So berichtete der deutsche Botschafter in Chile dem Auswärtigen Amt anlässlich eines internationalen Symposiums über die Entwicklung der Antarktis, dass die deutsche Krillexpedition „nicht überall ohne Mißtrauen zur Kenntnis genommen worden sei, obwohl die Mitnahme ausländischer Wissenschaftler und die umfassende Unterrichtung interessierter ausländischer Stellen lobend hervorgehoben wurden.“82 Die Kooperationen gingen von losen Kontakten und dem Anlaufen fremder Häfen über das unverbindliche Werben für deutsche Wissenschaft und Technik, den Austausch wissenschaftlicher Daten und Objekte, logistische Unterstützung und die Teilnahme ausländischer Wissenschaftler an deutschen Expeditionen bis hin zu gemeinsam geplanten multinationalen Forschungsexpeditionen. Ein Höhepunkt bildete in diesem Zusammenhang das große, auf mehrere Jahre angelegte 81 Vgl. Dodds, Geopolitics in Antarctica; Peter Beck, The International Politics of Antarctica, New York 1986; Fae L. Korsmo, The Genesis of the International Geophysical Year, in: Physics Today 60. 2007, S. 38 – 43; Barr u. Lüdecke, The History of the International Polar Years; Launius u. a., Globalizing Polar Science. 82 BArch, B 108 / 65345, Botschaft der BRD an AA Referat 413, Betr. Internationales Symposium über die Entwicklung der Antarktis in Punta Arenas, 12. – 14. 4. 1977, 28. 4. 1977, S. 2. 424 Christian Kehrt Programm „Biological Investigations of Marine Antarctic Systems and Stocks“ (BIOMASS), bei dem zehn Länder versuchten, die antarktischen Krillbestände großflächig zu kartieren.83 Es gab auch Kontakte zu Kollegen aus Ostblockstaaten, da diese ebenfalls in den internationalen Gremien der Antarktis- und Meeresforschung vertreten waren. Ost- und westdeutsche Fischereiwissenschaftler konnten sich im Rahmen internationaler Konferenzen treffen und sich über die Antarktisforschung austauschen. So berichtete ein westdeutscher Ichthyologe anlässlich einer Jahrestagung der Ostsee-Fischereikommission, „daß dortige [antarktische] Fischbestände ,wohl schon überfischt‘ seien.“84 Ferner habe er in einem polnischen Restaurant eine Fischvorspeise namens Kergulena gefunden, die vermutlich aus den französischen Antarktisgebieten stammte. Dabei handelte es sich um „einen sprottengroßen, ganzen, mit (nichtstörender) Gräte in Aspik angebotenen Fisch mit sehr weißem, konsistentem schmackhaftem Fleisch, der etwa zu demselben Preis angeboten wird wie Heringsvorspeisen oder Zander in Gelee.“85 Durch solche regelmäßigen, im Rahmen internationaler Tagungen und Gremien stattfindenden Kontakte bestanden durchaus gegenseitige Kenntnisse über den Stand der Antarktisforschung und die Nutzung antarktischer Ressourcen. Allerdings verliefen die Kooperationen vorwiegend innerhalb der jeweiligen Machtblöcke des Kalten Krieges, so zumindest die Einschätzung Volker Siegels.86 Die deutschen Forscher arbeiteten aus wissenschaftlichen, logistischen und diplomatischen Gründen insbesondere eng mit Wissenschaftlern des British Antarctic Survey (BAS) zusammen.87 Der „Walther Herwig“ wurde erlaubt, in britischen Hoheitsgewässern im Südatlantik Probefischungen durchzuführen und einen Erfahrungsaustausch mit britischen Kollegen zu unternehmen. Deutsche Forscher konnten in der britischen Station physiologische Studien am Krill durchführen und deren Laboreinrichtungen nutzen, während britische Wissenschaftler an Bord deutscher Forschungsschiffe kamen, um Fische für eigene Versuche zu fangen. Auch logistisch arbeitete man zusammen. Das BAS stellte 150 Tonnen Treibstoff, die auf der Insel Südgeorgien 83 Zu SIBEX gehörten Deutschland, Großbritannien, Chile, die UdSSR, Frankreich, Japan, Argentinien, Australien, USA, Südafrika, Brasilien. 84 BArch, B 116 / 65356, Referat 724, Vermerk Antarktis-Fischerei, 2. 10. 1979. 85 Ebd. 86 Christian Kehrt, Interview mit Volker Siegel, Thünen-Institut für Seefischerei, Hamburg, 22. 5. 2012. 87 BArch, B 102 / 184068, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Ressortbesprechung im Auswärtigen Amt und im Bundesministerium für Forschung und Technologie, Beitritt der BRD zum Antarktisvertrag, Krillexpedition, 18. 9. 1975, S. 2; PA AA, B 73-114097, Bundesforschungsanstalt für Fischerei Hamburg, Prof. Sahrhage, Vermerk über Gespräch mit British Antarctic Survey, Cambridge am 31. 3. 1977, 7. 4. 1977, S. 1. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 425 gelagert wurden, für die deutschen Forschungsschiffe zur Verfügung und bot auch an, Informationen über den Stand der Schiffe und Wetterdaten auszutauschen, ein für Antarktisexpeditionen ganz entscheidender Aspekt. Allerdings wollte man aus politischen Gründen nicht unbedingt mit Südafrika, Rumänien oder Chile zusammenarbeiten, und auch mit Polen sollte allenfalls ein wissenschaftlicher Informationsaustausch stattfinden.88 Diese feinen Unterschiede im Grad der jeweiligen Kooperation erklären sich durch die politischen Rahmenbedingungen, geopolitischen Konfliktlinien und Interessen der jeweiligen Länder. Die Kooperation mit Argentinien beispielsweise war diplomatisch heikel, da man Argentiniens Besitzansprüche in der Antarktis nicht unterstützen wollte, andererseits aber an bilateralen Fischereiabkommen interessiert war. Die Bundesforschungsanstalt für Fischerei verhielt sich eher defensiv, was das Durchfahren argentinischer Gewässer oder die Mitnahme argentinischer Wissenschaftler anbelangte, da sie eine zu große Einflussnahme Argentiniens auf ihr Forschungsprogramm fürchtete.89 Argentinien jedoch wünschte, stärker eingebunden zu werden, da die Untersuchungen auch den von Argentinien beanspruchten Sektor der Antarktis südlich des 60. Breitengrades berührten und dass die argentinische Regierung wegen ihrer Ansprüche und angesichts der Tatsache, dass die BRD noch nicht Mitglied des Antarktisvertrages sei, wegen der Forschungsreise ,gefragt zu werden wünsche‘, so die deutsche Botschaft in Buenos Aires.90 Der Botschaftsrat forderte die deutschen Akteure auf, die bisherige diplomatische Haltung zu überprüfen und sich stärker mit der argentinischen Seite zu koordinieren, um „Schwierigkeiten und Verstimmungen“ zu vermeiden.91 Eine Option in diesem Zusammenhang war die Mitnahme eines argentinischen Wissenschaftlers auf einem deutschen Forschungsschiff, ohne dies als direkte Zusammenarbeit im engeren Sinne zu verstehen. Folglich wurde vor allem die symbolische Ebene genutzt, um gegenseitiges Interesse durch unverbindliche Schiffsbesichtigungen und herzliche Empfänge zu unterstreichen: Die ,Walther Herwig‘ mit ihrer eindrucksvollen modernen Ausrüstung und insbesondere ihrer fachkundigen und im Umgang mit Ausländern gewandten wissenschaftlichen und seemännischen Leitung ist eine wirkungsvolle ,Visitenkarte‘ für die Bundesrepublik 88 PA AA, B 73-114097, An deutsche Botschaften weltweit, Programm der Bundesforschungsanstalt für Fischerei, Antarktisexpedition, 26. 5. 1977. 89 Ebd., Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten an Auswärtiges Amt, Bericht der Botschaft aus Buenos Aires, Betr. Erforschung und wirt. Erschließung der Krillbestände und Nutzfische in der Antarktis, 29. 6. 1977; BArch, B 102 / 184068, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Ressortbesprechung, 18. 9. 1975, S. 3. 90 BArch, B 108 / 65345, Schnellbrief des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten an Auswärtiges Amt, 3. 10. 1975. 91 Ebd. 426 Christian Kehrt Deutschland. […] Der Besuch hat somit das Interesse an der deutsch-argentinischen Fischereizusammenarbeit weiter verstärkt.92 Die Ergebnisse der ersten deutschen Krillexpedition wurden dann auf einer wegweisenden, von SCAR und SCOR veranstalteten „Conference on the Living Resources of the Southern Ocean“ in Woods Hole, Massachusetts im Jahr 1976 vorgestellt, bei der die zukünftige internationale BIOMASS-Expedition geplant wurde. Diese wurde durch die beiden internationalen Nichtregierungsorganisationen SCAR und SCOR koordiniert.93 Die Zusammenarbeit ging über eine rein symbolische Ebene der gegenseitigen „herzlichen Empfänge“ an Bord oder bei Stationsbesichtigungen zwischen Ostblockstaaten und westlichen Industrieländern hinaus und erinnert in Umfang und auch Grad der Kooperation an die Forschungsansätze aus dem Internationalen Geophysikalischen Jahr 1957 / 1958.94 Konkret wurden bei BIOMASS der Fahrtverlauf und Einsatz der Forschungsschiffe wie auch die wissenschaftlichen Programme koordiniert. In diesem Zusammenhang nahmen deutsche Wissenschaftler eine durchaus zentrale Position ein. Gotthilf Hempel war im Rahmen von SCOR und SCAR als Programmdirektor und internationaler Koordinator der „First International BIOMASS Expedition“ (FIBEX) verantwortlich für den Einsatz der Schiffe. Er hielt täglichen Funkkontakt und war zudem verantwortlich für das Sammeln, Aufbereiten und Verbreiten der ermittelten Daten, die die Grundlage der Antarktisforschung bildeten.95 Damit bestätigt sich am Beispiel der internationalen BIOMASS-Expeditionen, dass deutsche Wissenschaftler es verstanden, durch internationale Kooperationen nationale Interessen ebenso wie länderübergreifende Anliegen der Meeres- und Polarforschung zu vertreten. Gerade in dem sensiblen Zeitfenster der Beitrittsverhandlungen Ende der siebziger Jahre waren gute diplomatische Beziehungen und internationale wissenschaftliche Kooperationen von strategischem Interesse für die Bundesrepublik. Auch hier spielte Gotthilf Hempel sowohl auf nationaler wie auch internationaler Ebene eine wichtige for92 PA AA, B 73-114097, Botschaft BRD, Buenos Aires, Betr. 2. Antarktisexpedition zur Erschließung der Krillbestände und Nutzfische, 3. 11. 1977, S. 2. 93 Die Beteiligung der Intergovernmental Oceanographic Commission (IOC), der UNESCO, des Advisory Committee on Marine Resources der FAO sowie der International Association of Biological Oceanography unterstreicht die internationale Dimension der Krillforschung. Vgl. Sayed Z. El-Sayed, Biological Investigations of Marine Antarctic Systems and Stocks (BIOMASS), Bd. 1: Research Proposals, Cambridge 1977, S. 61. 94 Ders., History, Organization and Accomplishments of the BIOMASS Programme, in: ders. (Hg.), Southern Ocean Ecology. The BIOMASS Perspective, Cambridge 1994, S. 1 – 8, hier S. 7. 95 Gotthilf Hempel, Einleitung. Aufgaben der Expedition, Organisation sowie nationale und internationale Zusammenarbeit, in: ders. u. a. (Hg.), Antarktis-Expedition 1981 der Bundesrepublik Deutschland mit FFS „Walter Herwig“, Berlin 1982, S. 15. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 427 schungspolitische Rolle. Diese internationale Dimension der Antarktisforschung und ihre Bedeutung für die sich formierende deutsche Polarforschung kommt in einem Brief Hempels an den Bundesminister für Forschung und Technologie, Volker Hauff, zum Ausdruck: Ich fliege heute nach Argentinien, um als internationaler Koordinator die BIOMASSExpeditionen in die Antarktis zu planen. So erlaube ich mir, mich direkt und persönlich an Sie zu wenden, da die Entscheidung ihres Hauses drängt. Sie wird in starkem Maße die internationale Stellung der deutschen Polarforschung und das Verhältnis der Polarforscher zu ihrem Hause tangieren.96 Hempel wandte sich hier offiziell als internationaler Koordinator des BIOMASS-Programms an die Bundesregierung, um eine Entscheidung für ein nationales Engagement in der Antarktisforschung zu forcieren. Zugleich eröffnete seine Schlüsselposition gute Verhandlungspositionen für ein deutsches Engagement in der Polarforschung. Hempel mahnte eine baldige Entscheidung zur Gründung eines Polarforschungsinstituts und damit zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der Bundesrepublik zum Antarktisvertrag an. IV. Umweltwissen im Spannungsfeld von Ökologie und Ökonomie Die Krillexpeditionen zielten darauf ab, den eiweißhaltigen Kleinkrebs als Nahrungsressource zu erschließen und das hierfür notwendige Wissen und Know-how zu entwickeln. „Ökologische Bedenken“ wurden hierbei von Anfang an ernst genommen und einer zukünftigen Befischung antarktischer Fisch- und Krillbestände auf die Agenda geschrieben.97 Vor dem Hintergrund der Dezimierung der Walbestände wurde vor einem allzu starken Eingriff ins antarktische Ökosystem gewarnt, da der Krill eine sensible wie zentrale Stelle in der Nahrungskette der Meere einnahm. Frühere Fehler, die zur Überfischung oder gar dem Kollaps von Fischbeständen geführt hatten, sollten vermieden werden, um den „optimalen Höchstbetrag“ des „most sustainable yields“, das als Leitlinie der internationalen Fischereiwissenschaften gilt, zu erzielen und damit eine rationelle Befischung zu ermöglichen.98 Das mangelnde Wissen über die tatsächlichen Krillbestände war Motor der Forschung, um die zukünftigen Folgen einer gezielten Befischung und damit einer menschlichen Beeinflussung des fragilen antarktischen Lebensraumes 96 BArch, B 196 / 19967, Prof. Dr. Gotthilf Hempel an Dr. Volker Hauff (BMFT), 3. 6. 1979. 97 Sahrhage, Antarktis-Expedition 1975 / 76, S. 2. 98 BArch, B 196 / 20608, Dietrich Sahrhage u. a., Programm und Planung der 1. Deutschen Krill-Expedition. 428 Christian Kehrt abzuschätzen und in ein Nutzungsregime zu integrieren.99 Bereits 1968 hatte man im Rahmen von SCAR mögliche Probleme einer intensivierten Krillfischerei diskutiert und mehr Wissen über dieses für die Nahrungsketten der Meere wichtige Krebstier gefordert.100 Eine biologische Expertengruppe wurde unter Beteiligung deutscher Wissenschaftler gebildet, deren ökologische Fragestellungen dann im Rahmen der Krillexpeditionen verfolgt wurden. Die Krillexperten und Meeresbiologen bewegten sich allerdings in einem politisch aufgeladenen Spannungsfeld, das über den Bereich der Wissenschaften hinausging. Mit ihrem Umweltwissen konnten sie eine Nutzung und damit auch die Gefährdung des antarktischen Ökosystems ebenso befördern wie auch einer unkontrollierten Befischung wissenschaftlich fundierte Grenzen setzen, indem sie ihr meeresbiologisches Wissen in die Formulierung internationaler Schutzkonventionen einfließen ließen. So stellt sich die Frage, wie das Wissen über das antarktische Ökosystem zu einem neuen Wissensregime führte, das zwischen der Skylla einer ungebremsten Ausbeutung durch moderne Fangflotten einerseits und der Charybdis eines kategorischen Verzichts auf die verlockenden Ressourcenpotentiale der Antarktis vermittelte. Das Rohprodukt des fangfrischen Krills bereitete allerdings im Unterschied zu Fisch große Schwierigkeiten in der Verarbeitung und verlangte neue lebensmitteltechnische Ansätze. Das Krillfleisch ließ sich, trotz moderner Schälapparaturen aus der Shrimpsverarbeitung, nur schwer von der Schale trennen, drohte in der Weiterverarbeitung seinen Geschmack zu verlieren und verfiel zudem innerhalb weniger Stunden. Diese unmittelbare mit den stofflichen Eigenschaften des Krills zusammenhängende Problematik ist im Kontext von Ressourcenfragen relevant, da sich hier das Naturprodukt Krill den Nutzungskalkülen und Verarbeitungsversuchen beharrlich widersetzte. Aus diesem Grund arbeiteten Fischereiwissenschaftler eng mit Lebensmitteltechnikern zusammen, um marktfähige Krillprodukte zu entwickeln.101 All diese auf die Herstellung eines Zwischen- oder Endprodukts abzielenden Experimente und die damit einhergehenden technischen Fragen waren integraler Bestandteil der Forschungsexpedition. So hatte das Bundesministerium für Forschung und Technik im Rahmen der ersten deutschen Krillexpedition für zehn Millionen DM ein kommerzielles Fabrikschiff gechartert, um lebensmitteltechnische Versuche im großen Stil durchzuführen. Schließlich ging es darum, aus den verschiedenen Zwischenprodukten, wie etwa der Krillfarce, Produkte wie 99 Stefan Böschen u. Peter Wehling, Wissenschaft zwischen Folgenverantwortung und Nichtwissen. Aktuelle Perspektiven der Wissenschaftsforschung, Wiesbaden 2004; Peter Wehling, Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens, Konstanz 2006. 100 El-Sayed, History of BIOMASS, S. 1. 101 Sahrhage, Antarktis-Expedition 1975 / 76, S. 8; Wolfgang Schreiber u. a. (Hg.), Die Verarbeitung von Krill (Euphausia superba Dana) zu Lebensmitteln, Hamburg 1981. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 429 Krillfrikadellen, Suppen, Saucen oder Cremes herzustellen und diese auf Geschmack und Konsistenz zu testen: Rohkrillfarce ist eine in Farbe und Konsistenz lebhaft an Tomatenketchup erinnernde, gallertartige Flüssigkeit, während Kochkrillfarce im Erscheinungsbild einer gröberen Leberwurst gleicht (helle und dunklere, millimetergroße Teilchen), in der Konsistenz breiig bis quarkähnlich ist und krebsartig-süß, im Anklang etwas nach Leber, schmeckt.102 Am aussichtsreichsten, aber auch aufwändigsten, erwies sich die sogenannte Kochkrillfarce, die durch Abtrennen der Schalen vom Fleisch in einem Grätenseparator erfolgte.103 Die restlichen großen, schnell verrottenden Mengen reduzierte man zu Futtermehl, das im wachsenden Bereich der Aquakulturen Verwendung fand. Als Fazit wurde festgehalten, dass die Kochkrillfarce wohl am besten für tiefgefrorene Fertigerzeugnisse sei und damit ein hochwertiges Eiweißnahrungsmittel darstelle.104 Krillprodukten wurden jedoch keine allzu großen Marktchancen eingeräumt, allenfalls in Form von Suppen und tiefgefrorenen Fertiggerichten, da der Preis und das Nahrungsangebot darüber entschieden, ob Krill als Ersatz für bestehende Lebensmittel infrage käme. Zudem traf das antarktische Krebstierchen nicht unbedingt die Geschmäcker der verwöhnten Industrienationen, die Fleisch und auch Fische vom oberen Ende der Nahrungskette bevorzugten. Vergeblich versuchte Bundesforschungsminister Hans Matthöfer, die unter enormen finanziellem Aufwand geförderten Lebensmittelalternativen wie Krillcremesuppen, Algenkekse und Fischfilets aus der Antarktis oder Aquakulturen in einem öffentlichen Testessen anzupreisen: Ein von der deutschen Hochseefischerei gestellter Koch verfeinerte die auf Kosten des deutschen Steuerzahlers besorgten und vor allem für die Unterernährten dieser Welt ausgesuchten Nahrungsmittel im feinen Restaurant ,Am Tulpenfeld‘.105 Aber nicht nur Essgewohnheiten und finanzielle Erwägungen, sondern auch plötzlich auftretende toxikologische Bedenken stellten den antarktischen Krill als Nahrungsressource grundsätzlich infrage. So fand man gegen Ende der 1970er Jahre heraus, dass der Chitinpanzer das für den Menschen giftige Fluor aus dem Meer anreicherte: Es handelt sich hierbei um das kürzlich aufgetauchte, höchst unerwartete und in dieser Höhe im ganzen Tierreich einmalige Vorkommen von Fluor im antarktischen Krill. Der Gehalt liegt so hoch, daß der Krill als Lebensmittel so nicht in Frage kommt. Wir wollen nun natürlich versuchen, durch technologische Maßnahmen den Fluorgehalt auf ein vertretbares 102 103 104 105 Sahrhage, Antarktis-Expedition 1975 / 76, S. 87. Es gab auch Ansätze, aus dem erhitzten Krillsaft durch Koagulation Eiweiß zu gewinnen. Sahrhage, Antarktis-Expedition 1975 / 76, S. 88. Peter Brügge, Vielleicht im Leben nie wieder Krill. Über ein Probe-Essen mit Bundesforschungsminister Hans Matthöfer, in: Der Spiegel, 23. 8. 1976, S. 42. 430 Christian Kehrt Maß zu senken, um diese Eiweißquelle doch noch direkt für die menschliche Ernährung nutzbar zu machen.106 Die Fluorproblematik hatte Auswirkungen auf die Krillforschung wie auch die Antarktispolitik der Bundesrepublik, da beide ihr Interesse an der Antarktis mit dem Ressourcenpotential des Krebstieres begründeten. Allein das Bundesministerium für Forschung und Technologie hatte bereits dreißig Millionen DM in die Krillforschung investiert. So betonte der Leiter der Bundesforschungsanstalt für Fischerei in einem Brief an seinen Auftraggeber, dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, „daß hinter dieser Problemstellung [des Fluors im Chitinpanzer des Krills] ein erhebliches und sehr aktuelles Interesse steht.“107 Auf jeden Fall mussten nun die bisherigen Verarbeitungsansätze umgestellt werden, da die favorisierte Krillfarce wegen des hohen Fluorgehaltes nicht mehr infrage kam. Aber auch hier versuchten die Wissenschaftler, durch neue lebensmitteltechnische und chemische Ansätze, die charakteristisch für die Herangehensweise der Nahrungsmittel- und Krillexperten der Bundesforschungsanstalt für Fischerei waren, die Fluorproblematik zu lösen. Die Krillfischerei wurde jedoch nicht nur im Spiegel kritisiert. Auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft sprach dieser mit großer politischer Aufmerksamkeit bedachten Meeresressource die Wirtschaftlichkeit ab.108 Demgegenüber verteidigte sich die Bundesforschungsanstalt für Fischerei in diesen sich anbahnenden Wissenskonflikten um Sinn und Unsinn einer Befischung des antarktischen Krills mit dem Argument, dass es sich um ein längerfristiges Programm handele, das der Bundesrepublik in der schwierigen Situation der Hochseefischerei Zugang zur Antarktis sichere. Zudem habe die deutsche Fischerei auch bisher schon bewiesen, dass sie sich in Notzeiten recht kurzfristig auf neue Produkte umstellen könne.109 Die Fischereiwissenschaftler argumentierten gegen das Unwirtschaftlichkeitsargument der Wirtschaftsexperten mit längerfristigen strategischen Zielsetzungen und „einer dringend benötigten Verbreiterung der wirtschaftlichen Basis unserer Fischerei“, die durchaus rentabel sein könnten.110 Bedenken eher grundsätzlicher und ökologischer Art formulierte hingegen ein Zoologe der Universität Heidelberg und Experte für bedrohte Säugetiere im 106 BArch, B 116 / 59795, Bundesforschungsanstalt für Fischerei, Institut für Biochemie und Technologie an Prof. Diehl, Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, 17. 1. 1980. 107 Ebd. 108 Martin Hoffmeyer u. a., Marine antarktische Ressourcen und Antarktisforschung, Kiel 1982. 109 BArch, B 108 / 65345, Bundesforschungsanstalt für Fischerei an Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, Betr. Studie des Instituts für Weltwirtschaft Kiel „Antarktische Ressourcen und künftige deutsche Antarktisforschung“, 12. 9. 1978. 110 Ebd. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 431 Europarat, Peter Röben, mit einem Brief an Bundesforschungsminister Matthöfer : Ich möchte Sie, sehr geehrter Herr Minister, bitten, die bundesdeutsche Beteiligung an diesem Krillfischereiprogramm doch eingehend zu überdenken, und sich dafür einzusetzen, daß eine Beteiligung unseres Landes an diesem – verzeihen Sie den harten Ausdruck – unter unseren Ernährungsbedingungen gigantischen Unfug zurückgestellt wird. Es besteht doch in der Tat für uns keinerlei Notwendigkeit, weitere Protein-Ressourcen auf ökologisch bedenklichem Weg zu erschließen.111 Damit betonte der Umweltexperte, der der Nutzung des Krills sehr kritisch gegenüberstand, die Tatsache, dass in Deutschland keine Versorgungsprobleme mit Fleisch oder Fisch beständen. Dennoch beharrte das Bundesministerium für Forschung und Technik trotz aller geteilten ökologischen Bedenken auf der Notwendigkeit, weiterhin Ressourcenforschung zu betreiben. In der recht allgemein ausfallenden Antwort wurde auf den Eiweißbedarf von Entwicklungsländern sowie die Abhängigkeit Deutschlands von Einfuhren im Primärsektor hingewiesen.112 Der Heidelberger Krillkritiker befürchtete dennoch, dass bereits Fangmengen von etwa 100.000 Tonnen das fragile ökologische Gleichgewicht der Antarktis stören könnten. Er zeigte sich in seinem Antwortschreiben aber beruhigt darüber, dass die Bundesrepublik der „Convention for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources“ (CCAMLR) beitreten und hierfür umweltwissenschaftliche Forschung betreiben wolle.113 Die Fragen des antarktischen Ökosystems und die Grenzen der Krillfischerei bestimmten auch BIOMASS Ende der 1970er Jahre, das die Datengrundlage zu einer ökologisch sinnvollen Nutzung der Krillbestände legen und zugleich der Formulierung einer internationalen Schutzkonvention der antarktischen Meeresressourcen dienen sollte. Wissenschaftlicher Kern von BIOMASS war eine „Volkszählung des Krills“ mit hydroakustischen Methoden.114 Diese Datenerhebungen zur Biomasse sowie Fangstatistiken bildeten die Grundlage für ein zukünftiges Ressourcenmanagement. Damit setzte die BIOMASSExpedition im großen Maßstab zentrale Ansätze der deutschen Krillexpeditionen fort. Es verwundert nicht, dass auch hier deutsche Wissenschaftler erneut Schlüsselpositionen besetzten, wie etwa im wissenschaftlichen Aus111 BArch, B 116 / 65356, Peter Röben, Zoologisches Institut, an Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, Krill-Fischerei, 17. 5. 1979. 112 Ebd., Kleeschulte an Herrn Röben, Zoologisches Institut Heidelberg, 30. 5. 1979. 113 Ebd., Zoologisches Institut Heidelberg an Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, Betr. Krill-Fischerei, 7. 6. 1979. 114 Deutsches Hydrographisches Institut (Hg.), Antarktis 1980 / 81. Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zum First International BIOMASS Experiment (FIBEX), FS „Meteor“ Reise 56, FFS „Walter Herwig“ Reise 44, Hamburg 1981, S. 20. 432 Christian Kehrt schuss von CCAMLR, der erstmals im Jahr 1983 unter der Leitung von Dietrich Sahrhage zusammentrat. CCAMLR ist eine zwischenstaatliche Organisation, die zum Schutz der marinen Lebewesen im südlichen Ozean durch die Antarktisvertragsstaaten initiiert wurde. Die Konvention ging aus dem Antarktisvertrag hervor und folgte dem gleichen Regime, insofern Fragen der Ressourcennutzung und des Umweltschutzes durch wissenschaftliche Experten behandelt wurden. Sie wurde 1980 in Canberra, Australien durch 15 Länder, darunter auch die BRD und die DDR, unterzeichnet.115 An der Teilnahme weltweit organisierter Umweltschutzorganisationen zeigt sich, dass über den engeren Bereich der Meeresforschung hinaus globale Fragen der Nutzung und Bewahrung des antarktischen Ökosystems behandelt wurden.116 Im Zentrum der Krillforschung und auch von CCAMLR stand ein Ansatz, der die Komplexität des antarktischen Ökosystems zur Voraussetzung der Ressourcennutzung machte.117 Die Antarktis wurde als Lebensraum für zahlreiche Tierarten verstanden, die in vielfältigen und komplexen Wechselbeziehungen standen. Diese verfügten zwar über eine große Biomasse, waren jedoch aufgrund der kalten Wassertemperaturen und längeren Reproduktionszyklen besonders anfällig gegen Verschmutzung und äußere Eingriffe. Krill galt in diesem Zusammenhang als ein Schlüsselobjekt, das Auskunft über den Zustand des antarktischen Ökosystems geben konnte. Von grundlegendem Interesse auch für das angestrebte wissensbasierte Management des Krills waren sogenannte baseline-Daten, das heißt Wissen über den Krillbestand vor der Beeinflussung durch den Menschen, um die eigentlichen Auswirkungen der Fischerei überhaupt richtig beurteilen zu können.118 Vor dem Hintergrund der intensivierten Krillforschung und auch der steigenden Fangerträge konnten im Rahmen von BIOMASS und CCAMLR erhebliche und anfangs unerklärliche Fluktuationen der Krillbestände festgestellt werden, die eine intensivierte Nutzung infrage stellten. Für ein zukünftiges Management wurden mehrere Optionen diskutiert: erstens, das Verbot jeglicher Nutzung antarktischer Meeresressourcen mit dem Ziel einer Wiederherstellung des 115 Argentinien, Australien, Belgien, Chile, Frankreich, DDR, BRD, Japan, Neuseeland, Norwegen, Polen, Südafrika, UdSSR, Großbritannien, USA, Südkorea, Namibia, Spanien, Schweden, Ukraine, Uruguay. Seit 1982 gehören ebenfalls Brasilien, China, die Europäische Gemeinschaft, Indien und Italien dazu. Bulgarien, Kanada, Cook Islands, Finnland, Griechenland, Mauritius, Niederlande, Peru und Vanuatu haben ebenfalls die Konvention unterschrieben, waren aber nicht Mitglieder der Kommission. 116 Hinzu kamen Vertreter der EU, der FAO, der International Whaling Commission (IWC), des SCAR, des IOC, der UNESCO, des SCOR und der International Union for the Conservation of Nature (IUCN). Vgl. CCAMLR, Report of the First Meeting of the Commission for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources, Hobart 1982. 117 Gotthilf Hempel, BIOMASS, in: Environment International 13. 1987, S. 27 – 31. 118 CCAMLR, Report of the Third Meeting of the Scientific Committee, Hobart 1984. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 433 Ökosystems vor Eingriff des Menschen; zweitens, die Reduzierung jener mit Walen konkurrierenden Krillfresser, die sich negativ auf die dezimierten Walbestände auswirkten; drittens, die rationelle Nutzung von Ressourcen, die noch nicht ausgebeutet waren, und welche innerhalb von dreißig Jahren gegebenenfalls wieder rückgängig gemacht werden könnte. Diese Variante wurde von den Teilnehmern von CCAMLR beschlossen.119 Im Fokus standen damit nicht allein wissenschaftsinterne, epistemologische oder forschungspolitische Fragen, sondern die Abwägung und Aushandlung zukünftiger Möglichkeiten und Grenzen der Ressourcenexploration. Gerade die Dezimierung der antarktischen Walbestände, die zuallererst Krill als Ressource sichtbar machte, führte den Meeresbiologen die Problematik einer ungebremsten industrialisierten Nutzung der antarktischen Meeresressourcen vor Augen. Andererseits waren die Wissenschaftler von ihren Staaten beauftragt, die Ressourcenpotentiale im jeweiligen nationalen Interesse zu erschließen. Ein kategorisches Nein zur Nutzung der antarktischen Ressourcen, wie sie bereits Anfang der 1970er Jahre von Neuseeland im Rahmen der UN-Weltparkkonferenz formuliert und in den 1980er Jahren insbesondere durch Greenpeace vertreten wurde, stellte keine wirkliche Option für die damaligen Akteure der Antarktisforschung dar : Der Verzicht auf jegliche Nutzung der Antarktis, in der Hoffnung, daß sich das alte Gleichgewicht zwischen den Krillkonsumenten und dem Krill wieder einstellt, scheint unrealistisch. Ein totaler Naturschutz für ein Sechstel des Weltmeeres ist politisch nicht durchsetzbar und angesichts der Eiweißlücke auch nicht vertretbar, obschon auch die Antarktisfischerei das globale Verteilungsproblem nicht lösen wird.120 Eine gezielte Befischung sollte vielmehr dazu beitragen, die antarktischen Fischbestände zu steigern und zu verbessern. So sei der weißblütige Antarktisfisch nur deshalb mit Parasiten befallen, weil hier noch keine wirkliche Befischung und Belebung der Kulturen stattgefunden habe. Im Unterschied zur Variante eines UNRegimes, das eine unkontrollierte Nutzung ohne wissenschaftliche Begleitforschung ermöglichte, oder zu dem Weltparkmodell, das den Krill nicht als Ressource nutzen wollte, gelang es den hier beteiligten Wissenschaftlern, ein Wissensregime zu etablieren, das zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen, ökologischen, nationalen und internationalen Interessen mithilfe eines rationellen wissensbasierten Lösungsansatzes zu vermitteln suchte. Ein Verzicht auf Krillfischerei aus wirtschaftlichen oder ökologischen Motiven war für die beteiligten Akteure aus Wissenschaft und Politik jedenfalls keine Option. Vielmehr galt es, innerhalb des sich neu etablierenden Nutzungsregimes eigene Interessen zu artikulieren und möglichst frühzeitig in führender Position beteiligt zu sein. Diese Strategie der Teilhabe im internationalen Schutzregime war nicht 119 Ebd., S. 27. 120 Gotthilf Hempel, Das antarktische Ökosystem und seine fischereiliche Nutzung, in: Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 25. 1981, S. 55 – 68, hier S. 67. 434 Christian Kehrt allein ökologisch motiviert, sondern vor allem machtpolitisch. Dies lässt sich anhand der Aktenlage belegen. Aus Sicht der Bundesrepublik wollte man möglichst früh an dieser Konvention und an der Formulierung möglichst hoher Fangquoten beteiligt sein, damit die „Entwicklung einer Krillfischerei in vertretbarem Umfange keine Behinderung erfährt.“121 Durch ihre wissenschaftlichen Experten konnte die Bundesrepublik Einfluss auf die Endfassung der Konvention zum Schutz der lebenden antarktischen Ressourcen nehmen.122 Im Verlauf der 1980er Jahre setzte sich im Rahmen von CCAMLR ein wissensbasiertes Monitoring der antarktischen Meeresressourcen durch. Das wirtschaftliche Interesse an Krill schien allerdings zu sinken, wenngleich verschiedene Nationen weiterhin Krillfischerei betrieben, um daraus Futtermehl für Lachsaquakulturen oder Krillöl herzustellen.123 Dietrich Sahrhage kam Anfang der 1990er Jahre schließlich zu der nüchternen Bilanz, dass die Möglichkeiten des Krills als Ressource überschätzt wurden.124 Für die Meeresforscher ergab sich dann eine neue Situation, als sich herausstellte, dass die Schwankungen der Krillbiomasse vermutlich mit den Umweltbedingungen der Packeiszone und damit mit langfristigen klimatischen Veränderungen in Verbindung standen. Offensichtlich hat die Krillbiomasse in den letzten dreißig Jahren um rund achtzig Prozent abgenommen.125 Diese beträchtliche Reduktion der Krillbestände wurde bereits Anfang der 1980er Jahre von den Krillforschern diskutiert, als die ersten soliden Datenerhebungen und Fangstatistiken auf dem Tisch lagen. Vor dem Hintergrund der Wissenskonflikte um den anthropogenen Klimawandel gewannen diese Einsichten eine neue gesellschaftliche Relevanz. Nun wechselte der kleine Walkrebs erneut seine Bedeutung und avancierte zum Schlüsselindikator des Klimawandels.126 121 BArch, B 116 / 65356, Bundesforschungsanstalt für Fischerei an Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, Antarktisvertrag, Konvention zum Schutze der lebenden antarktischen Ressourcen, 24. 8. 1978. 122 Ebd., Antarktisvertrag, Konvention zum Schutze der lebenden antarktischen Ressourcen, 7. 6. 1978. 123 Krillöl war wegen seiner ungesättigten Omega-3-Fettsäuren für Ernährungszwecke gefragt. 124 Aufgrund der geringen Reproduktionsrate setzten die Krillexperten die jährlichen Fangmengen im Verhältnis zur Gesamtbiomasse „niedrig“ an, sodass mit einem angemessenen Management („proper management“) eine jährliche Fangmenge von zehn Millionen Tonnen möglich wäre. Dieser Betrag überschritt die höchsten tatsächlichen Fangmengen immerhin um das zwanzigfache und blieb gemessen an den tatsächlichen globalen Fangmengen, die im Bereich von siebzig Millionen Tonnen lagen, signifikant. Vgl. Sahrhage u. Lundbeck, History of Fishing, S. 295. 125 Meyer, Antarctic Krill, S. 17. 126 Volker Siegel, The Antarctic Krill. Resource and Climate Indicator. 35 Years of German Krill Research, in: Journal of Applied Ichthyology 26. 2010, S. 41 – 46. ipabo_66.249.64.190 „Dem Krill auf der Spur“ 435 V. Fazit: Wissensregime und Ressourcenpolitik Die Geschichte des antarktischen Krills, der in den 1970er Jahren auf die internationalen Forschungsagenden rückte, ist ein gutes Beispiel, an dem sich die Entstehung eines Wissensregimes im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie untersuchen lässt. Das antarktische Wissensregime zeichnet sich durch internationale Kooperationen und die Hegemonie wissenschaftlicher Expertise aus. Allerdings zeitigten die in den 1970er Jahren neu auftretenden und bis dato durch den Antarktisvertrag nicht hinreichend geregelten Fragen einer zukünftigen Ressourcennutzung neue Probleme, die ein Wissensregime notwendig machten, das stärker als bisher ökologische Gesichtspunkte berücksichtigte. Meeresbiologisches Wissen sollte dazu beitragen, die Probleme der Überfischung zu vermeiden, klare Fangquoten zu formulieren und für den Schutz der Bestände zu sorgen, aber letztlich auch ihre Nutzung ermöglichen. Insofern spielte fischereiwissenschaftliches und meeresbiologisches Wissen, wie es in Deutschland insbesondere in Kiel und Hamburg produziert wurde, eine große Rolle. Ökologische Fragen wurden in ein wissensbasiertes Management der Ressource integriert, ohne dieses grundsätzlich infrage zu stellen. Dieses Regime war nicht unumstritten und ging mit Konflikten und alternativen Ansätzen einher. Umweltschützer forderten, die Antarktis ganz unter Naturschutz zu stellen, während insbesondere Staaten der Dritten Welt ein UN-Regime ohne die Voraussetzung eines wissenschaftlichen Engagements und damit einen freien Zugang zur Antarktis und ihren Rohstoffen favorisierten. Letztlich konnten sich jedoch die für das Antarktisvertragssystem typische Vorrangstellung der Wissenschaften und die damit transportierten strategischen Interessen der Teilnehmerstaaten durchsetzen. Da im Rahmen des Antarktisvertrages Wissen die einzige Möglichkeit darstellte, Zugang zur Antarktis und ihren Rohstoffen zu erlangen, und die Bundesrepublik befürchtete, dass der exklusive Club der Antarktisvertragsstaaten diesen Kuchen allein unter sich aufteilen würden, kam den Wissenschaftlern eine Schlüsselposition zu, die sie ins Zentrum ressourcenorientierter politischer Kalküle stellte. Wissen hatte eine strategische, auf die Zukunft abzielende Bedeutung, da es einen Möglichkeitsraum aufspannte, der neue Handlungsoptionen für die Politik eröffnete. Die Wissenschaftler hatten in diesem Zusammenhang nicht nur eine beratende Funktion für die Politik inne, sondern wurden selbst zu Akteuren der Antarktispolitik, da Wissen das entscheidende Kriterium in diesem Regime darstellte und globale, ressourcengetriebene geopolitische Interessen kanalisierte. Dass die Antarktisforschung nicht rein innerwissenschaftlich motiviert war, sondern mit geopolitischen Motiven einherging, verdeutlicht das deutsche Fallbeispiel. Aufgrund der Neuregelungen der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen verloren die unter deutscher Flagge fahrenden Fischfangflotten Zugang zu wichtigen Fanggründen. Aus global- und wissensgeschichtlicher Perspektive stellt sich diese Geschichte jedoch nicht allein als „Struktur- 436 Christian Kehrt wandel“ oder „Niedergang“ dar, sondern verortet die Bundesrepublik in globalen Problemhorizonten der Ressourcennutzung, die durchaus typisch für das Antarktisvertragssystem in den langen 1970er Jahren waren. Im Zeitraum der drei deutschen Krillexpeditionen in den Jahren 1975 bis 1981 etablierte sich auf internationalem Parkett ein neues Wissensregime zum Schutz der lebenden antarktischen Meeresressourcen, an dem die Bunderepublik durch ihre Fischereiexperten aus ressourcenpolitischen Gründen teilnahm.127 Wissenschaftler der Bundesforschungsanstalt für Fischerei in Hamburg sowie Kieler Meeresbiologen vermittelten zwischen nationalen Interessen und länderübergreifenden Anliegen der Meeres- und Polarforschung und hatten eine wissenspolitische Scharnierfunktion inne. Aus diesem ressourcenpolitisch motivierten Zusammenhang institutionalisierte sich Ende der 1970er Jahre die deutsche Polarforschung mit der Gründung des Alfred-Wegener-Instituts und dem Beitritt zum Antarktisvertrag. Deutschland wurde innerhalb weniger Jahre zu einem wichtigen Spieler im Club der Polarnationen. Diese Geschichte ist eng mit dem kleinen Krebstierchen des antarktischen Krills und mit dem Fischereibiologen Gotthilf Hempel verknüpft, der 1981 zum Gründungsdirektor des Alfred-WegenerInstituts für Polar- und Meeresforschung ernannt wurde. Allerdings konnte der antarktische Krill trotz seiner immensen Biomasse die in ihn gesetzten Erwartungen nur bedingt erfüllen. Letztlich sprachen Essgewohnheiten, Wirtschaftlichkeitserwägungen, aber auch stoffliche Eigenschaften und ökologische Bedenken gegen einen intensivierten Krillfang im globalen Maßstab. Als Schlüsselobjekt hat er jedoch neue Einsichten in das komplexe antarktische Ökosystem ermöglicht und der Bundesrepublik den Weg ins Antarktisvertragssystem gebahnt. Dr. Christian Kehrt, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte, Holstenhofweg 85, 22039 Hamburg E-Mail: [email protected] 127 Die Etablierung eines Regimes zur Nutzung mineralischer Ressourcen der Antarktis war hingegen weitaus konfliktbeladener und scheiterte lange an den divergierenden Interessen der Signatarstaaten, da hier brisante territoriale Besitzansprüche ins Spiel kamen. ipabo_66.249.64.190 Die Weltmeere Science und Fiction des Unerschöpflichen in Zeiten neuer Wachstumsgrenzen von Sabine Höhler Abstract: In the 1970s the world’s oceans were not just another resource to be developed, they were imagined as a place of inexhaustible supply, an unlimited reservoir of proteins, mineral resources and human living space, supplementing the exploited landmasses. This article argues that the sciences, technologies and politics of ocean exploration promoted the image of the earth’s biotic and abiotic matter as convertible and replaceable in perfect metabolic cycles. Human matter, the earth’s only excess living resource, was seen as feeding directly into these global supply chains and recycling systems. The eco-technological reorganization of the earth’s environment, based on biomass as the communal unit, opened the oceans up as a new dimension in the global economy and ecology of flows. I. Neue Grenzen und Horizonte um 1970 „Soylent Green“ heißt ein Film aus dem Jahr 1973, der das New York City der Zukunft als verschmutzt, überhitzt und vollkommen überfüllt vorstellt. Der Regisseur des Films Richard Fleischer erklärte, er habe „schmerzlich prophetisch“ zeigen wollen, was passierte, wenn sich zu viele Menschen einen zu kleinen Raum teilten. Im Jahre 2022 könnten es Fleischer zufolge vierzig Millionen sein. Rücksichtslose Polizeitruppen halten die ausgehungerte Menschenmenge mit Schaufelbaggern in Schach. Lebensmittel, wie wir sie kennen, sind nur noch für eine winzige Elite verfügbar. Die Millionen hingegen ernähren sich von den synthetischen Eiweißchips der Soylent Corporation. Der letzte Schrei auf den rationierten Wochenmärkten ist Soylent Green, ein hochkonzentrierter Keks aus Plankton, angeblich gewonnen aus der unerschöpflichen Proteinmasse der Weltmeere.1 Nicht zufällig beschließt Ariane Tanner ihren Beitrag im vorliegenden Heft mit einem Hinweis auf diesen Film, der die apokalyptischen Visionen und die wissenschaftlichen Daten zusammenbringt, die um 1970 über die Versorgungslage einer rasant wachsenden Weltbevölkerung im Umlauf waren. Das Unternehmen Soylent, so erfahren die Zuschauer in einem besonders herzzerreißenden Moment des Filmes, hat die scheinbar unerschöpflichen Ressourcen der Weltmeere bereits vor Jahren ausgeplündert. Die Ozeane sind 1 Soylent Green, Metro-Goldwyn-Mayer, USA 1973. Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 437 – 451 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000 438 Sabine Höhler wie die Landmassen der Erde längst ausgetrocknet, vergiftet und leblos. Soylent Green ist das Ergebnis einer geheimen Absprache herrschender Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler, die getroffen wurde, um Hungerrevolten und Massenaufstände zu vermeiden und bestehende Machtgefüge zu erhalten. Das nahrhafte Gebäck besteht nicht aus Meeresalgen, sondern aus einem anderen nahrhaften Stoff, der vielleicht letzten im 21. Jahrhundert noch im Überfluss vorhandenen biotischen Ressource: aus Menschenmasse. Der Mensch ist buchstäblich in den globalen Nährstoffkreislauf eingespeist worden. Das Problem wachsender Bevölkerungen und schwindender Rohstoffe, so die furchtbare Vision des Films, ließe womöglich eine Situation denkbar werden, in der die verbrauchte Natur einfach abgetrennt und die Nahrungskette kurzgeschlossen wird. Der Mensch stellt nun den Anfang und auch das Ende eines wissenschaftlich-technisch realisierten Prozesses dar, der alle Materie restlos verstoffwechselt. Der Film radikalisiert die Überhöhung des Menschen über die Natur, indem er als Folge dieser Hybris einen perfekten Kreislauf imaginiert, den der Mensch zu regulieren meint und der den Menschen doch vollständig verschlingt. Damit kommentiert der Film auf zynische Weise die Kontrollphantasien der Kybernetiker der 1960er und 1970er Jahre, die glaubten, soziale und natürliche Prozesse gemeinsam in regulative Feedback-Schleifen fassen zu können.2 Tatsächlich wurde insbesondere in den westlichen Industriestaaten die Ökologie der irdischen Wasser-, Energie-, Mineralien- und Nährstoffzyklen um 1970 holistisch als ein System fragiler globaler Kreisläufe diskutiert und mit Berechnungen der natürlichen Vorräte und der wachsenden weltweiten Bedarfe in Zusammenhang gebracht. Einige der im Film angesprochenen Prozesstechniken der Gewinnung und Raffinerie von Soja und Plankton als Nahrungsmittel wurden bereits erprobt oder waren schon verfügbar. Die Leistung des Films besteht darin, die Überlegungen von Wissenschaftlern und Technikern zum irdischen Metabolismus in die nahe Zukunft zu verlängern, und so zu zeigen, wie ausgerechnet ein staatlich reguliertes Massenleben und Massensterben zum Motor einer effizienten Versorgungs- und Verwertungsmaschinerie werden könnte, die genügsamer und wirtschaftlicher wäre als die ausschweifende westliche Ökonomie der Nachkriegszeit. Bezeichnenderweise arbeitet diese visionäre Industrie mit den Prinzipien und Infrastrukturen des vorhandenen Abfalltransport- und Aufbereitungswesens. Damit schließt der Film einen weiteren Kreis. Er antwortet auf zeitgenössische Aufrufe von amerikanischen und europäischen Systemökologen und ökolo- 2 Zur kybernetischen Phantasie der Beherrschbarkeit der Zukunft siehe Michael Hagner u. Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt 2008; Andrew Pickering, Kybernetik und neue Ontologien, Berlin 2007. ipabo_66.249.64.190 Die Weltmeere 439 gisch motivierten Ökonomen, das kapitalistische Wachstumsgebot des Westens zu brechen und stattdessen in materiell geschlossenen Kreisläufen zu wirtschaften. Das Bewusstsein um die Begrenztheit der Erde im 20. Jahrhundert und die Endlichkeit ihrer Rohstoffe und Absorptionsfähigkeit müsse sich darin niederschlagen, dass mit natürlichen Ressourcen in suffizienter und zugleich effizienter Weise gehaushaltet werde. Einem endlichen geschlossenen System könne weder etwas zugeführt noch etwas abgeführt werden. Sämtliche Materie, Grund- und Reststoffe, so die Forderung, sollten gewissenhaft genutzt und vollständig wiederverwertet werden.3 II. Die Meere: Vom Transitraum zum Weltraum Was wie Science-Fiction anmutet, wurde zeitgenössisch durchaus als Science Fact verhandelt, als wissenschaftlich beglaubigte Tatsache. Um 1970 legten westliche Ökologen immer neue Berechnungen darüber vor, wie sich natürliche Rohstoffe, Bevölkerungen und Umwelten auf einem absolut begrenzten Planeten Erde zueinander verhielten. Mit Science-Fiction-Autoren teilten diese Wissenschaftler ähnlich umfassende Anliegen von angeblich globaler Reichweite. Mit ihrem Bild einer einzigen Erde oder One Earth setzten sie sich über Problembeschreibungen und Lösungsvorschläge anderer Nationen insbesondere des Globalen Südens hinweg.4 Sie beklagten die Vergiftung des Planeten und den Raubbau an der Natur und sie wiesen wiederholt auf das gefährdete „Überleben der Menschheit“ hin. Sie entwarfen bedrohliche Szenarien, trafen weitreichende Vorhersagen und wiesen Regulations- und Steuerungspotenziale aus. Dabei nutzten sie ähnliche narrative Strategien, 3 Kenneth E. Boulding, The Economics of the Coming Spaceship Earth, in: Henry Jarrett (Hg.), Environmental Quality in a Growing Economy. Essays from the Sixth RFF Forum, Baltimore 1966, S. 3 – 14; Howard T. Odum, Environment, Power, and Society, New York 1970; Hans Magnus Enzensberger u. Karl Markus Michel (Hg.), Ökologie und Politik, oder Die Zukunft der Industrialisierung (= Kursbuch, Bd. 33), Berlin 1973. 4 Diese Situiertheit der Problemwahrnehmung wurde spätestens beim ersten Umweltgipfel der Vereinten Nationen 1972 in Stockholm deutlich. Die sogenannten Entwicklungsländer begegneten den vermeintlich globalen Umweltfragen der Industriestaaten mit der Forderung nach einem globalen Entwicklungsgipfel. Siehe Barbara Ward u. Ren Dubos, Only One Earth. The Care and Maintenance of a Small Planet. An Unofficial Report Commissioned by the Secretary-General of the United Nations Conference on the Human Environment, New York 1972; John McCormick, The Global Environmental Movement. Reclaiming Paradise, London 1989, Kap. 5: „The Stockholm Conference (1970 – 1972)“, S. 88 – 105. 440 Sabine Höhler indem sie gegenwärtige Beobachtungen über Wachstums- und Schwundprozesse in die Zukunft verlegten.5 Die Sicht auf die Weltmeere als Füllhörner der Erde spiegelt die zeitgenössischen Ängste und die Hoffnungen wider, die in den Staaten des Westens mit der Frage der Grenzen des Planeten um 1970 verbunden waren. Als diese Diskurse über die verbleibenden Möglichkeiten der Menschheit und über mögliche neue Horizonte vorherrschend wurden, kamen die Meere als Rohstoffreservoire und als Lebensraum auf die nationalen und internationalen Tagesordnungen.6 Die Vorstellung der Meere als Nahrungs- und Rohstoffspeicher der Gegenwart und Zukunft erhielt auch dadurch Auftrieb, dass Mitte des 20. Jahrhunderts neue technowissenschaftliche Möglichkeiten eine baldige Erschließung des ozeanischen Raumes verhießen. Vormals utopisch scheinende Nutzungsformen, wie die Algenzucht, die Krillernte, die Abschöpfung immer entlegenerer Fischgründe, der Abbau unterseeischer Erze, das Anzapfen von Ölvorräten in vormals unerreichbaren Tiefen und selbst die Kolonisation von neuem Grund und Boden gelangten jetzt in praktische Reichweite. Die Beiträge dieses Heftes verdeutlichen das Phantastische daran, die Meere im „Ökologischen Zeitalter“ als Ergänzungsräume einer endlichen Welt zu verhandeln, die historisch landbasiert war.7 Ob als Proteinmasse, Meeresbodenschatz, Lebensraum oder Abfallbecken – die Meere versprachen praktisch unbegrenzte Kapazitäten. Sie wurden daher, so ein zentrales Argument dieses Heftes, nicht schlicht als eine weitere zu erschließende Rohstoffquelle wahrgenommen, sondern als Orte des Unerschöpflichen in Zeiten neuer Wachstumsgrenzen. Mit diesem Argument plädieren die Autorinnen und Autoren dieses Heftes für eine neue Stellung der Meere in der zeitgeschichtlichen Forschung. Sozial- und kulturgeschichtlich, wissenschafts- und technikgeschichtlich, umweltgeschichtlich und nicht zuletzt rechtsgeschichtlich verdient das Meer ebenso viel historiografische Aufmerksamkeit wie das Land, wenn es darum gehen soll, die Umwelt- und Ressourcenfragen zu verstehen, die sich um 1970 herum in der hochindustrialisierten Welt verdichteten. Die Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung, so legen es die Beiträge nahe, muss dabei über Aspekte 5 Donella H. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, New York 1972. Zur Zukunftsmetapher der Blaupause siehe z. B. Paul R. Ehrlich u. Anne H. Ehrlich, The End of Affluence. A Blueprint for Your Future, New York 1974; Edward Goldsmith u. a., A Blueprint for Survival, London 1972; Sabine Höhler, „The Real Problem of a Spaceship Is Its People“. Spaceship Earth as Ecological Science Fiction, in: Gerry Canavan u. Kim Stanley Robinson (Hg.), Green Planets. Ecology and Science Fiction, Middletown, CT 2014, S. 99 – 114. 6 Patrick Kupper, Die „1970er Diagnose“. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: AfS 43. 2003, S. 325 – 348. 7 Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011; Sabine Höhler, Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960 – 1990, London [2015]. ipabo_66.249.64.190 Die Weltmeere 441 des Handels und der internationalen Schiffsrouten, über seerechtliche Fragen und militärische Flottenstrategien deutlich hinausgehen. Sie muss über eine Forschungstradition hinausweisen, die das Meer vorrangig als Transit- und Zwischenraum der Kontinente wahrgenommen hat. Die zeitgenössisch so intensiv diskutierten Fragen der Meereserschließung und der völkerrechtlichen Stellung der Hoch- und Tiefsee zeigen, dass die Meere als geopolitisch umkämpfte und geostrategisch operationalisierte Räume und Umwelten ganz eigener Art angesehen werden müssen. Eine historische Forschung, die das Meer als einen Weltraum ernst nimmt, wird die Kulturgeschichte, die Forschung und Technik und die Territorialpolitik der Meereserschließung mit der Wahrnehmung einer globalen Umweltproblematik verknüpfen. Jede Einzelstudie, so führt es das Heft vor, muss die historische Kontextualisierung in verschiedene Richtungen vorantreiben, um das Eigentümliche und das Eigensinnige des Meeres als neue Umwelt herauszuarbeiten. Um diesen Forschungsauftrag weiter zu präzisieren, möchte ich im Folgenden drei globale Räume skizzieren, in welche die tradierten Narrative der Meere im 20. Jahrhundert eingelassen wurden: Ich beginne mit dem neuen geografischen Raum, der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch die Vermessung, Kartierung und Sichtbarmachung der Tiefsee und des Meeresbodens herausbildete. Daran anschließend beleuchte ich das Meer als einen Raum der Macht, der sich weit über militärische Operationen hinausgehend durch eine neue internationale Meerespolitik konstituierte. Drittens betrachte ich das Meer als einen Raum der Flüsse und Kreisläufe, gebildet durch jene Stoffe und Substanzen, die eine globale Ökonomie und Ökologie der Meere mobilisierten. Mithilfe dieser drei Räume, die nicht getrennt voneinander, sondern als sich überlagernd betrachtet werden sollten, möchte ich abschließend die Beiträge dieses Heftes unter dem Aspekt des „Amphibischen“ diskutieren: Wie war das amphibische Projekt der Meereserschließung verfasst, und wie schrieb sich der Mensch in dieses Projekt ein? III. Raum der Tiefe Lange vor dem 20. Jahrhundert waren die Ozeane tief: abgründig, fremd und bedrohlich, aber auch mystisch, unermesslich und verheißungsvoll.8 Wenn man von der Fischerei, dem Walfang, der Flottenpolitik und der Kriegsführung einmal absieht, stellte die Hochsee im Wesentlichen eine praktisch zu überwindende Oberfläche dar, wenn auch eine gefahrvolle und oftmals 8 Stefan Helmreich, Alien Ocean. Anthropological Voyages in Microbial Seas, Berkeley, CA 2009; Natascha Adamowsky, Annäherungen an eine Ästhetik des Geheimnisvollen. Beispiele aus der Meeresforschung des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Krohn (Hg.), Ästhetik in der Wissenschaft. Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen, Hamburg 2006, S. 219 – 232. 442 Sabine Höhler tückische. Wenn es um Erkundung und Navigation, um transnationalen Schiffsverkehr oder um Gütertransport ging, waren die Meere flach. Tief im wissenschaftlichen Sinne ihrer gründlichen Vermessung und Kartierung wurden sie erst im 19. Jahrhundert. Mit der Bezifferung entstand erst die moderne metrische Meerestiefe, die sich durch erschöpfende biologische, physikalische und geologische Explorationen materialisierte: durch Tiefenlotungen und Temperaturwerte, Sedimentproben und Salzgehaltsbestimmungen, und nicht zuletzt durch die aus den tiefsten Tiefen entnommenen Exemplare bis dato unbekannter Arten, die auf den Ursprung des Lebens selbst rückschließen lassen sollten. Im 20. Jahrhundert wurden die Meere als mehrdimensionale Räume erfahrbar und durch die Zusammenschau der gewonnenen Daten sichtbar : In Profilzeichnungen, bathymetrischen Karten und evolutionstheoretischen Modellen entstanden die Weltozeane neu.9 Die ozeanografische Vorstellung des Meeres als eines „versiegelten (Wissens-) Volumens, überfließend an Wissen und Instruktion“ weist auf den neuen Zugang zur Tiefe als eines immensen und doch ermessbaren Raumes hin.10 Die Science-Fiction-Romane Jules Vernes vermittelten zwischen den beiden Perspektiven auf die Tiefe. Vernes Erzählung über die Reise des Unterseeboots „Nautilus“ aus dem Jahre 1870 beschreibt einen Raum, der bekannt und fremd zugleich ist. Die „Nautilus“ ist selbst ein Meisterwerk wissenschaftlicher und technischer Präzision. Ausgestattet mit präzisen Kontrollgeräten und selbstregistrierenden Instrumenten navigiert sie den unterseeischen Raum. Fortwährend werden Leserinnen und Leser mit physikalischen, geografischen und nautischen Details versorgt. Dennoch trifft die „Nautilus“ auf ihrer „außergewöhnlichen Reise“ auf mythische Wesen und auf den versunkenen Kontinent Atlantis. Vernes Geschichte zeigt, dass die moderne Wahrnehmung der Meere populäre Phantasmen nicht ablegte, sondern dass sie das Unwahrscheinliche und schier Unglaubliche in neue Erzählungen einband. Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer koexistierten Wissenschaft und Fiktion in einem Raum, der zugleich faktisch und fantasievoll war.11 Vernes Geschichte präsentiert die Meere als eigene Welten, die der Mensch nicht mehr nur überqueren sollte, sondern die er durchpflügen und für sich nutzbar machen konnte: als Fischgrund, Anbau- und Abbaufläche, als 9 Helen M. Rozwadowski, Fathoming the Ocean. The Discovery and Exploration of the Deep Sea, Cambridge, MA 2005; Sabine Höhler, „Dichte Beschreibungen“. Die Profilierung ozeanischer Tiefe im Lotverfahren von 1850 bis 1930, in: David Gugerli u. Barbara Orland (Hg.), Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2002, S. 19 – 46. 10 Matthew Fontaine Maury, Explanations and Sailing Directions to Accompany the Wind and Current Charts, 2 Bde., Washington 18588, hier Bd. 1, S. 114: „a sealed volume, abounding in knowledge and instruction“. 11 Jules Verne, 20.000 Meilen unter den Meeren [1870], Frankfurt 2003. ipabo_66.249.64.190 Die Weltmeere 443 Wohnraum oder Versteck. Im 20. Jahrhundert sollten sich solche Visionen mithilfe neuer Technologien realisieren. Experimente, die Meere als Raum und Grund für den Menschen urbar zu machen und den Menschen in der Tiefe anzusiedeln, kamen während des Kalten Krieges zur Blüte, als politische und militärische Interessen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs enorme finanzielle Mittel in die ozeanografische Forschung und Technik spülten. Selbst die gefürchteten U-Boot-Flotten des Zweiten Weltkriegs erschienen technisch anspruchslos angesichts der Versuche, Menschen an die herrschenden physischen Bedingungen auf dem Meeresgrund anzupassen.12 Die Meere stellten in vielerlei Hinsicht Spiegelbilder der Erkundung und Einnahme extremer Umwelten an Land dar, wie der höchsten Berge oder der unwirtlichsten und entlegensten Regionen der Erde. In der Tradition der großen Forschungsreisenden tauchte im Jahre 1960, verfolgt von erheblicher Medienaufmerksamkeit, das bemannte US-amerikanische Tauchboot „Trieste“ in die tiefste Rinne der Ozeane hinab, in den knapp 11.000 Meter tiefen Marianengraben im Pazifischen Ozean. In Kosten und Aufwand standen die Technik des Tieftauchens und die unterseeische Habitatforschung der Besiedelung von unwirtlichem Terrain oberhalb der Meeresspiegel in nichts nach. Dies verwundert nicht, versprachen doch militärische Operationen unter Wasser mehr Flexibilität und Bewegungsraum als die Verteidigung zu Lande. In Bezug auf die damit verknüpften Hoffnungen lässt sich die Eroberung der Meere eher mit jener anderen vertikalen Eroberung des 20. Jahrhunderts vergleichen, nämlich die des Luftraumes.13 IV. Machtraum Die Weltmeere als im 19. und 20. Jahrhundert neu aufgespannte geografische Räume waren machtdurchzogen im Sinne der wissenschaftlichen Präsenz und der imperialen und militärischen Vorherrschaft. Als mit allen anderen irdischen Räumen in Bezug stehend waren sie überdies Machträume der internationalen Politik. Die Beiträge des Heftes zeigen, dass die Meere neben den besiedelten Landmassen der Erde in neuer Weise zum Gegenstand nationaler Besitzansprüche und internationaler Vereinbarungen wurden. Über Jahrhunderte hinweg galten Hochsee und Tiefsee als freies Land. Außerhalb der Küstengebiete konnten die Meere weder formal besetzt noch besessen werden, weshalb ihre Schätze allen zugutekommen sollten. Das 12 Sven Asim Mesinovic, Die Eroberung der Meere. Die Unterwasserlaboratorien Helgoland (BRD) und Tektite (USA) im Umweltdiskurs 1968 – 1973, Diss. EUI Florenz 2012; Jacob Darwin Hamblin, Oceanographers and the Cold War. Disciples of Marine Science, Seattle 2005. 13 Sabine Höhler, Luftfahrtforschung und Luftfahrtmythos. Wissenschaftliche Ballonfahrt in Deutschland, 1880 – 1910, Frankfurt 2001. 444 Sabine Höhler Prinzip der Freiheit der Meere, mare liberum, wurde im frühen 17. Jahrhundert nach dem römischen Konzept des ius naturale beziehungsweise des Naturrechts formuliert und im 19. Jahrhundert völkerrechtlich allgemein anerkannt. Rechtlich geregelt wurden außerdem die Hochseefischerei und die Handelsschifffahrt. Der Meeresboden und der Meeresuntergrund spielten zu dieser Zeit in wirtschaftlicher und in militärischer Hinsicht kaum eine Rolle. Wie die Hochsee blieben sie frei – Räume, die immerhin rund siebzig Prozent der Erdoberfläche ausmachten.14 Das 20. Jahrhundert forderte diese jahrhundertealten Arrangements technologisch heraus. In den 1960er Jahren nahm die unterseeische Erdöl- und Erdgasförderung zu. Manganfunde in der Tiefsee versprachen neue Erzquellen. 1969 bereitete die Buchveröffentlichung des Deutschamerikaners Joachim Joesten, „Wem gehört der Ozean?“, den neu entfachten Kampf um die Weltmeere und insbesondere um die untermeerisch „schlummernden Schätze“ für eine breite Leserschaft auf.15 Sven Mesinovic zeigt in seinem Beitrag in diesem Heft, wie angesichts des lückenhaften Seerechts, der überschäumenden wirtschaftlichen Hoffnungen, der Pläne zur militärischen Nutzung, aber auch der zunehmenden Überfischung und Verschmutzung der Meere die traditionellen völkerrechtlichen Prinzipien erneut auf den Prüfstand kamen und binnen zweier Jahrzehnte in neue Eigentumsregime überführt wurden. Drei große Konferenzen der Vereinten Nationen berieten 1956, 1960 und nochmals ab 1973 über die Neuregelung der ozeanischen Eigentums- und Nutzungsrechte. An deren Ende sollte das im Jahre 1982 beschlossene und 1994 ratifizierte internationale Seerechtsabkommen („United Nations Convention on the Law of the Sea“, UNCLOS) stehen, das Territorialgewässer neu definierte und das Konzept der exklusiven Wirtschaftszonen (Exclusive Economic Zones) für den küstennahen Rohstoffabbau und Fischfang etablierte.16 1969, im Jahr der ersten Mondlandung, war es der zweifache „Griff des Menschen nach bisher unerreichbaren Höhen und Tiefen“, der diesen neuen Abschnitt der Meeresgeschichte einläutete und die Frage aufwarf: „Soll allein 14 Hugo Grotius, The Free Sea [1609], hg. v. David Armitage, Indianapolis 2004; Norman Weiß (Hg.), Hugo Grotius. Mare Liberum, Potsdam 2009; Sabine Höhler, Exterritoriale Ressourcen. Die Diskussion um die Meere, die Pole und das Weltall um 1970, in: Johannes Paulmann u. a. (Hg.), Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine globale Welt (= Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook, Bd. 15), München [2014]. 15 Joachim Joesten, Wem gehört der Ozean? Politiker, Wirtschaftler und moderne Piraten greifen nach den Weltmeeren, München 1969. 16 United Nations Convention on the Law of the Sea (UNCLOS) 1982, http://www.un.org/ Depts/los/convention_agreements/texts/unclos/unclos_e.pdf; Edward L. Miles, Global Ocean Politics. The Decision Process at the Third United Nations Conference on the Law of the Sea, 1973 – 1982, Cambridge, MA 1998. ipabo_66.249.64.190 Die Weltmeere 445 das Recht des Erstgekommenen und des Stärkeren gelten, oder aber sollen Weltraum und Meeresboden zur res communis der Menschheit werden?“17 Die Weltmeere bildeten neben dem erdnahen Weltraum und den Polargebieten die bedeutendsten Räume im Diskurs über mögliche und wünschenswerte Zuschnitte terrestrischer und extraterrestrischer Gebiete zwischen Niemandsland und Gemeindeland. Als einschlägig für den Ansatz, die Meere als Global Commons beziehungsweise als globales Gemeinschaftsgut zu deklarieren, gilt der Vorstoß des Mittelmeerstaates Malta in Person seines UN-Botschafters Arvid Pardo, der vor der UN-Vollversammlung im Jahre 1967 dafür plädierte, den Boden der Weltmeere außerhalb nationalstaatlicher Hoheitsgewässer zum Gemeingut zu erklären, das ausschließlich friedlichen Zwecken vorbehalten bleiben und dessen natürliche Rohstoffe ausschließlich dem allgemeinen Interesse der Menschheit dienen sollten. Pardo knüpfte die Tradition der Freiheit der Meere an ein neues internationales Regime, das nur durch die Vereinten Nationen gewährleistet werden könne.18 Die Vertreter globaler Commons-Regelungen betonten die Notwendigkeit des gerechten Zugangs aller zu lebenswichtigen irdischen Ressourcen wie Luft und Wasser. Irdische Räume, die natürliche Prozesse aufrechterhielten – wie die Atmosphäre oder eben die Meere, aber auch Räume, in die infrastrukturelle Prozesse eingelagert waren, so wie der Luftraum und der Weltraum außerhalb der Grenzen nationaler Souveränität –, sollten gemeinschaftliches Eigentum aller Menschen bleiben. Verantwortlichkeiten und Verfügungsrechte sollten nicht zuerst gemäß physischer Präsenz, geografischer Nähe oder dem technischen, militärischen und ökonomischen Vermögen einzelner Nationen verteilt werden, sondern entlang neuer partizipatorischer Grundsätze, die auch die Bedürfnisse der Länder der sogenannten sich entwickelnden Welt des Globalen Südens gegenüber dem privilegierten Norden anerkannten. So ist es kein Zufall, dass das Prinzip des Common Heritage of Mankind, des gemeinsamen Erbes der Menschheit, zuerst im internationalen Seerecht formal artikuliert und auf den Meeresboden als gemeinschaftlich verwalteten irdischen Raum zugeschnitten wurde. Die Erklärung der Vereinten Nationen von 1970 über die Nutzung des Meeresbodens besagte: „The seabed and ocean floor, and the subsoil thereof, beyond the limits of national jurisdiction […], as well as the resources of the area, are the common heritage of mankind.“19 Dabei waren es die modernen Wissenschaften der Ozeanografie und die Techniken der Tiefseeforschung, die den Meeresgrund erst als erschließbare und ertragreiche Ressource in die allgemeine Wahrnehmung brachten. Das 17 Joesten, Wem gehört der Ozean?, S. 7, Herv. i. O. 18 Arvid Pardo, Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, 1. 11. 1967, http://www.un.org/depts/los/convention_agreements/texts/pardo_ga1967.pdf. 19 UN General Assembly Resolution A / Res / 25 / 2749, 12. 12. 1970, Declaration of Principles Governing the Seabed and the Ocean Floor, and the Subsoil Thereof, beyond the Limits of National Jurisdiction, Art. 1, http://www.un-documents.net/a25r2749.htm. 446 Sabine Höhler internationale Ringen um die Meere um 1970 muss auch als Zeichen dafür gesehen werden, dass Tiefsee und Meeresgrund nicht vorrangig geschützt, sondern vielmehr genutzt werden sollten. Die verhandelten Schutzprinzipien verwahrten die Meere vor allem vor den militärischen und ökonomischen Zugriffen einzelner mächtiger Staaten und Unternehmen. Sven Mesinovic zeigt anhand der gebräuchlichen Landmetaphorik der „Urbarmachung“ des Meeresbodens, wie nahe die Politiken der internationalen Vergemeinschaftung und der nationalen Aneignung der Meere beieinander lagen. V. Raum der Flüsse Eine Geschichte der Meere im 20. Jahrhundert, die inter- und transnationale Fragen ihrer Kommunalisierung oder Territorialisierung in ihr Zentrum stellt, erfordert einen Perspektivwechsel: Das Festland wird zum Zwischenraum, die Kontinente werden zu Inseln in einer Welt der Flüsse. Die Beiträge des vorliegenden Heftes argumentieren, dass dieser Raum der Flüsse anders als die irdischen Landmassen nicht durch die Fiktion fester Ordnungen charakterisiert ist, sondern durch die Fiktion schier endloser Ströme und Kreislaufprozesse. Wieder zeigt sich eine epochale Koinzidenz: Ebenfalls seit dem Jahr 1970 werden die klimatischen Bedingungen der Biosphäre verstanden als durch geschlossene Stoffkreisläufe aufrechterhalten, die die Grundlage für sämtliche Lebensprozesse auf der Erde bilden.20 Die ökologische „Entdeckung“ des irdischen Metabolismus um 1970 macht verständlich, dass die Meere als Teil des fragil und bedroht erscheinenden globalen irdischen Ökosystems in den Blick gerieten. Einerseits übernahmen die Meere die Funktion der Absorption von Giftstoffen, die sich an Land mit nicht intendierten Folgen verdichteten: Abwässer und Altlasten, aber auch toxische Rückstände wurden bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein verklappt, das heißt illegal im Meer entsorgt, bevor die sogenannte „London Dumping Convention“ 1972 dieser Praxis weltweit zumindest formal einen Riegel vorschob.21 Andererseits bildeten die Meere einen zentralen Teil der ökologischen Kreislaufprozesse. Sie wurden als geradezu unerschöpfliche Quelle imaginiert, die scheinbar mühelos nachlieferte, was an Land knapp geworden war : Wasser, Proteine, Mineralien und Öl. Die Schatzkammer der Menschheit legte 20 George Evelyn Hutchinson, The Biosphere. A Scientific American Book, San Francisco 1970. 21 Die Convention on the Prevention of Marine Pollution by Dumping of Wastes and Other Matter wurde im November 1972 verabschiedet und trat 1975 in Kraft. International Maritime Organization, http://www.imo.org/about/conventions/listofconventions/ Pages/Default.aspx. Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Ozeane in einer weiteren Senken-Funktion als Kohlendioxid-Speicher interessant. ipabo_66.249.64.190 Die Weltmeere 447 den Abbau neuer Bodenschätze, wie es Mesinovic darstellt, und die intensivierte und planmäßige Ausbeutung der „lebenden Ressourcen“ der Meere, wie Franziska Torma ausführt, nahe.22 Modelle des nachhaltigen Ertrags, wie sie in der Populationsforschung des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt worden waren, wurden dabei auf sämtliche Ressourcenflüsse der Erde erweitert.23 Das Meer, das dem deutschen Meeresbiologen Gotthilf Hempel zufolge als „größter Lebensraum der Erde“ wertgeschätzt werden sollte, so verdeutlicht es Christian Kehrt in seinem Beitrag, lud zu einem neuen Begriff des Lebensraumes ein. Dieser Lebensraumbegriff bezeichnete nicht mehr in erster Linie das geopolitische, territoriale Konzept, wie es im frühen 20. Jahrhundert propagiert wurde, sondern ein bio-geo-ökologisches Verständnis der räumlichen Lebensbedingungen auf der Erde, das den Menschen in die globalen biosphärischen Kreisläufe miteinbezog.24 Dieser Stoffwechsel des Meeres, an den sich die ökologische Forschung und die Ressourcenökonomik richteten, stellte neben der Boden- und Landmetaphorik der Aneignung und Ausbeutung, wie sie Mesinovic anführt, vor allem eine organische Metapher vor, die Metapher des zirkulierenden Stoffes beziehungsweise des Blutes. Dieser Perspektivwechsel von der „Urbarmachung“ zur „Urnahrung“ des Meeres, wie er so eindrücklich von Ariane Tanner beschrieben wird, konnte sich deshalb vollziehen, weil in der Mitte des 20. Jahrhunderts neben der Territorialisierung irdischer Räume auch die Theorie und Praxis der Quantifizierung zur Analyse und Bilanz ökologischer Räume in den Vordergrund rückten. Der eingangs beschriebene Science-Fiction-Film „Soylent Green“ von 1973 nahm diese Praxis der Ökobilanzierung vorweg, um die ihr eingeschriebene Fiktion der exakten Bezifferung, der Verrechenbarkeit kommensurabler Einheiten und der Restlosigkeit auf die Spitze zu treiben.25 22 Vergleiche die Beiträge von Franziska Torma und Sven Mesinovic in diesem Heft, S. 354 – 381 u. S. 382 – 402. 23 Themenheft „Nature’s Accountability“, Science as Culture 19. 2010, hg. v. Sabine Höhler u. Rafael Ziegler. 24 Zum Lebensraum in der Politischen Ökonomie und Politischen Geografie des frühen 20. Jahrhunderts siehe Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012; zum Konzept des Lebensraums in der Geoökologie und Politischen Ökologie des späteren 20. Jahrhunderts z. B. Frank Benjamin Golley, A History of the Ecosystem Concept in Ecology. More Than the Sum of the Parts, New Haven, CT 1993. 25 Themenheft „Rechnen mit der Natur. Ökonomische Kalküle um Ressourcen“, Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 37. 2014, hg. v. Lea Haller u. a. 448 Sabine Höhler VI. Lebensraum Meer: Ein amphibisches Projekt Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die neue Sicht des Westens auf die Meere als ökologische Räume in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Ökologie der globalen Stoffkreisläufe antrieb, die verbunden war mit der Fiktion, biotische und abiotische Substanzen in endlosen Schleifen zirkulieren, konvertieren und substituieren zu können. Technokratische Zukunftsvisionen legten nahe, die Ozeane könnten, wie Tanner ausführt, entgegen thermodynamischen Grundsätzen die von den Menschen benötigte Nahrung und Energie quasi „wie von selbst“ allein durch Sonnenlicht produzieren. Neu an dieser Vorstellung war, dass sich der Mensch nicht nur als Administrator, sondern auch als ein Teil des globalen ökologischen Dienstleistungssystems verstand. Die Beiträge des vorliegenden Heftes beleuchten unterschiedlichste Projekte der Meeresbewirtschaftung als Versuche der effizienten Reorganisation einer absolut begrenzten irdischen Umwelt, die den Menschen als Akteur und als Bestandteil enthielt. Die neue Aufmerksamkeit für die Meere als (menschliche) Lebensräume um 1970 kann damit auch als Indiz für einen neuen Organizismus gelesen werden. Die Meere, so das in den Beiträgen zum Ausdruck kommende Bild, trieben eine Unternehmung an, die ich als amphibisch bezeichnen möchte. Die Vorstellung eines umfassenden funktionalen Metabolismus der Erde umschloss auch eine neue Form der ökologischen Vergemeinschaftung, die den Menschen in die zirkulierenden Massen beziehungsweise in die irdische Biomasse miteinschloss. „Politische Probleme galten als biologisch in ihrer Ursache, und als womöglich die ganze Spezies Mensch betreffend“, so die Beobachtung des Bevölkerungshistorikers Matthew Connelly zu den Kalkülen der Humanökologen westlicher Provenienz in den 1970er Jahren.26 Seine Beobachtung verweist darauf, dass zeitgenössische Vorschläge zur Lösung von Raum- und Ressourcenfragen meist biologisch formatiert wurden. In ihren Berechnungen und Warnungen scheuten diese Ökologen weder vor sehr großen Zeiträumen noch vor sehr großen Zahlen zurück. Ihre Masseäquivalenzen und -umformungen natürlicher Rohstoffe und Lebensräume einerseits und menschlicher Verbraucher andererseits machen noch heute schier schwindeln. Der US-amerikanische Humanökologe Garrett Hardin etwa rechnete hoch, dass mit der Bevölkerungswachstumsrate von zwei Prozent im Jahre 1970 in nur 600 Jahren bei einer Bevölkerung von 8,27 x 1014 Menschen auf sämtlichen Landflächen der Erde nur noch „Stehplätze“ verfügbar seien. Wolle man sich vorstellen, dass nach und nach die gesamte Erdmasse aufgezehrt und in Menschenmasse verwandelt würde, wäre in nur 26 Matthew Connelly, Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge, MA 2008. ipabo_66.249.64.190 Die Weltmeere 449 1.557 Jahren die irdische Maximalbevölkerung von 1,33 x 1023 Menschen erreicht.27 Hardin gab zu, dass solche Rechenexperimente mit hochaggregierten Lebensformen beziehungsweise Massen durchaus lächerlich anmuteten.28 Der Sinn solcher mathematischer Übungen sei es, eine politische Wahl zu erzwingen. Die Beiträge dieses Heftes, die über Unterwasserhausexperimente, das Expertenmanagement von Fischbeständen, die neue Krill-Cuisine und die Algenaufzucht berichten, führen vor, wie in Zeiten absoluter irdischer Grenzen ein Zwang zur Wahl samt eines limitierten Spektrums von Wahlmöglichkeiten erst konstruiert wurde. Kehrt zeigt am Beispiel der bundesdeutschen Krillforschung, wie „Notzeiten“ diskursiv konstruiert wurden, die nicht auf die Gegenwart der wohlhabenden Nachkriegsgesellschaft abzielten, sondern auf eine unsichere Zukunft. Die Referenz an die Weltkriege unterstützte dieses Projekt, hatten sich doch die Deutschen bereits als leidensfähig erwiesen. „Not“ versammelte die Gemeinschaft, indem sie diese auf harte Einschnitte vorbereitete. Not legitimierte notwendige Maßnahmen wie Nahrungsersatzprodukte, so lange nur die basalen Kreisläufe des Lebens funktional blieben. Nationale Notgemeinschaften wie die deutsche standen um 1970 einer imaginierten neuen globalen Notgemeinschaft gegenüber, der „ganzen Menschheit“, deren „Überleben“ zunehmend bedroht schien. Ebenso wie Krill und Plankton wurde diese ganze Menschheit als eine bezifferbare Menge aus abzählbaren Lebewesen und zugleich als Teil der planetarischen Biomasse betrachtet. Und wie die Planktonmasse, die Krillschwärme oder die Fischpopulationen verfolgte die neue globale Gemeinschaft der menschlichen Lebewesen angeblich kollektive Abhängigkeiten und Interessen sowie gemeinsame Werte und Verantwortungen, wie nationale Sicherheit, Ernährungssicherheit, Energiesicherheit und Ressourcenunabhängigkeit. Das amphibische Projekt der Durchdringung des Lebensraums Meer bezeichnet die Summe der Unternehmungen, um die Kultivierung der Ozeane voranzutreiben: die Terranisierung unterseeischer Rohstoffspeicher, der Aushub von Bodenschätzen, aber auch die Intensivierung der Hochseefischerei. Um 1970 fanden die menschlichen Interventionen in den Stoffwechsel des Meeres ihren bizarren Höhepunkt wohl in der von Tanner referierten Idee: „Der Mensch sollte da mitessen, wo im Allgemeinen das Zooplankton frisst.“29 Mit wissenschaftlich-technischem Optimierungsbestreben wurden vermeintlich identische Stoffe gegeneinander verrechnet oder substituiert. Die Tauschbeziehungen wurden so entworfen, dass in der Summe ein neues und ebenso 27 Garrett Hardin, Exploring New Ethics for Survival. The Voyage of the Spaceship Beagle, New York 1972, S. 172. Hardin bezieht sich auf vorangegangene Arbeiten zur These „Standing Room Only“: Edward A. Ross, Standing Room Only?, New York 1927; Karl Sax, Standing Room Only. The Challenge of Overpopulation, Boston 1955. 28 Hardin, Exploring New Ethics for Survival, S. 174. 29 Siehe den Beitrag von Ariane Tanner in diesem Heft, S. 323 – 353, hier S. 342. 450 Sabine Höhler adäquates Ganzes entstünde, im Anschluss an das utilitaristische Prinzip des Engländers Jeremy Bentham aus dem 19. Jahrhundert, „the greatest good for the greatest number“.30 Von Kehrt erfahren wir, dass das Vorhaben einer deutschen Krill-Massenspeisung schon zu seiner Zeit als „gigantischer Unfug“ bezeichnet wurde – als unsinnig, da volkswirtschaftlich unnötig, und darüber hinaus ungenießbar, und als ungehörig, da sie sich der Frage nach ihren ökologischen Konsequenzen vollständig verweigerte. Obwohl Alternativen im Raum standen, hielten aber Westdeutschland und andere westliche Industriestaaten an ihren Plänen fest. VII. Science und Fiction der Effizienz Spätestens an dieser Stelle erweist sich freilich, dass der Krill für die Bundesrepublik Deutschland nicht nur ein ernährungspolitisches Phantasma, sondern auch und vor allem ein geopolitisches Projekt von enormer Reichweite darstellte. Vor dem Hintergrund globaler Bevölkerungs- und Ernährungsfragen lieferte die Krillforschung die Eintrittskarte Westdeutschlands in die Polarforschung. Konkret, so führt Kehrt aus, ging es um die Mitbestimmung im Antarktischen Vertrag, einem internationalen Vertragswerk, das auf einer Politik der Präsenz fußte: Konsultativstaaten mussten ihr Mitspracherecht durch effektive permanente Besetzungsaktivität in der Antarktis legitimieren, und sie demonstrierten diese Aktivität durch ozeanografische, meteorologische oder geografische Forschungsexpeditionen und die Einrichtung von Forschungsstationen. Sämtliche Beiträge des Heftes weisen auf geografische Verschiebungen im globalen Gefüge um 1970 hin, die mit den epistemischen Verschiebungen hin zur Betrachtung des Meeres als Lebensraum Hand in Hand gingen. Ob Ressourcenökonomik, Ozeanografie, Meeresbiologie und Geologie, oder Populationsforschung und Humanökologie, die Wissenschaften versprachen Raumgewinn mit neuen Mitteln. Sven Mesinovic zeigt, wie eine hochtechnisierte Forschungsstation auf dem Meeresboden zum Zeichen der unterseeischen Siedlungspolitik Westdeutschlands als einem rohstoffarmen „Kurzküstenstaat“ werden konnte. Franziska Torma führt vor, wie die Bundesrepublik die antikommunistische Politik des Westens fortsetzte, indem sie deutsche Fischereiexperten an der asiatischen Küste anrücken ließ. Auf einer begrenzten Erde ließ sich das westliche Wohlstandsmodell nicht mehr nur direkt vor Ort, sondern auch vor Thailand verteidigen. Das Credo aller im Heft beschriebenen Prozessoptimierungen lautete „Entwicklung“. Entwickelt wurden nicht nur neue Technologien des Lebens unter 30 Jeremy Bentham, The Works of Jeremy Bentham, 11 Bde., Edinburgh 1838 – 1843, hier Bd. 10: Memoirs Part I and Correspondence, S. 142: „the greatest happiness of the greatest number is the foundation of morals and legislation“. ipabo_66.249.64.190 Die Weltmeere 451 Wasser, Technologien des Abbaus untermeerischer Rohstoffe und Technologien des Algenanbaus, sondern auch Wissenschaft und Technik, ja das Wissen selbst, wurden zum Teil globaler Entwicklungsmodelle, um die Länder des Globalen Südens nachholend als funktionalen Teil in die globale Gemeinschaft zu integrieren. Die Modernisierung der „Entwicklungsländer“ sollte globale Macht- und Wohlstandsgefälle nivellieren, wurde aber durch diese Gefälle angetrieben und reproduzierte sie zugleich. Torma führt vor, wie das Entwicklungsprojekt das westliche Wissen zu der zentralen Ressource machte, um die natürlichen „Bestände“ der sich entwickelnden Welt effizient zu nutzen und zu verwalten. Ökologische und ökonomische Ressourcenflüsse sollten sich auf wissenschaftliche Weise produktiv miteinander vermischen. In einem endlosen Kreislauf, so die Idee der Experten, sollten wissenschaftliches Wissen und Rohstoff Fisch ineinander konvertiert werden und sich dabei wie von selbst vermehren. Die beiden Kapitalformen mögen monetär gleichwertig gewesen sein, aber gleichartig waren sie nicht. Die Verwechslung von ökologischer Balance und ökonomischer Bilanz zog folgerichtig nach sich, dass das Naturkapital Fisch durch das Humankapital Wissen nicht nur verdrängt, sondern buchstäblich ersetzt wurde. Aber auch diese Substitution war durchaus konsequent. Denn faktisch gelang es der neuen globalen Ökonomie und Ökologie, einen Kreislauf zu schaffen, der alle Science-Fiction seiner Zeit einholte, indem er sich zügig und effizient gleichsam restlos selbst aufzehrte. Dr. Sabine Höhler, KTH Royal Institute of Technology, Division of History of Science, Technology and Environment, Teknikringen 74 D, 100 44 Stockholm, Schweden E-Mail: [email protected] Neu bei Mohr Siebeck Koni Weber Umstrittene Repräsentation der Schweiz Soziologie, Politik und Kunst bei der Landesausstellung 1964 2014. X, 364 Seiten (Historische Wissensforschung 1). ISBN 978-3-16-153173-6 gb € 59,– eBook Auf der Suche nach der Ökonomie Historische Annäherungen Hrsg. v. Christof Dejung, Monika Dommann u. Daniel Speich Chassé 2014. V, 325 Seiten. ISBN 978-3-16-153379-2 gb € 59,– eBook Henning Trüper Topography of a Method François Louis Ganshof and the Writing of History Jens Petersen Freiheit unter dem Gesetz Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken 2014. Ca. 550 Seiten (Historische Wissensforschung). ISBN 978-3-16-153177-4 gb ca. € 65,– (September) 2014. XIX, 414 Seiten. ISBN 978-3-16-153042-5 Ln € 99,– eBook Jens Petersen Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre Gershom Scholem in Deutschland Zwischen Seelenverwandtschaft 2. A. 2014. XIV, 181 Seiten. ISBN 978-3-16-153159-0 fBr € 54,– und Sprachlosigkeit Hrsg. v. Gerold Necker, Rechtsgeschichte heute Elke Morlok u. Religion und Politik in der Matthias Morgenstern Geschichte des Rechts – 2014. Ca. 350 Seiten. Schlaglichter einer Ringvorlesung ISBN 978-3-16-153262-7 Hrsg. v. Nils Jansen u. fBr ca. € 40,– (September) Peter Oestmann 2014. XXIII, 209 Seiten Die Humanitäre (Grundlagen der Intervention in der Rechtswissenschaft 22). ethischen Beurteilung ISBN 978-3-16-153108-8 fBr € 54,– Hrsg. v. Hubertus Busche u. Daniel Schubbe Deutungsmacht 2013. VIII, 336 Seiten. Religion und belief systems in ISBN 978-3-16-152255-0 fBr € 64,– Deutungsmachtkonflikten Hrsg. v. Philipp Stoellger Hans-Joachim Niemann 2014. IX, 617 Seiten Karl Popper and the (Hermeneutische Untersuchungen Two New Secrets of Life zur Theologie 63). Including Karl Popper’s ISBN 978-3-16-153031-9 fBr € 79,– Medawar Lecture 1986 and Three Related Texts 2014. VII, 157 Seiten. ISBN 978-3-16-153207-8 fBr € 39,– Informationen zum eBook-Angebot: www.mohr.de/ebooks eBook ipabo_66.249.64.190 Mohr Siebeck Tübingen [email protected] www.mohr.de Aus dem Inhalt von Heft 4-2014 Elizabeth Jones The Rural “Social Ladder”. Internal Colonization, Germanization and Civilizing Missions in the German Empire Robert Kramm Reine Körper. Praktiken der Regulierung von Prostitution, Geschlechtskrankheiten und Intimität während der frühen US-Okkupation Japans Tobias Huff Über die Umweltpolitik der DDR. Konzepte, Strukturen, Versagen Ariane Leendertz Medialisierung der Wissenschaft. Die öffentliche Kommunikation der Max-Planck-Gesellschaft und der Fall Starnberg (1969–1981) Diskussionsforum Hartmut Kaelble Abmilderung der sozialen Ungleichheit? Das westliche Europa während des Wirtschaftsbooms der 1950er bis 1970er Jahre Wissenschaftliche Nachrichten Charles S. Maier Nachruf auf Hans-Ulrich Wehler (1931–2014)