62 5 Gut Starten Lebensmitteln, Essen, Figur und Gewicht, kompensatorisches Erbrechen und Missbrauch von Abführmitteln, Kalorienzählen sowie in vielen Fällen auch extremer Sport. Therapeuten müssen die Symptome, die die Essstörung der Patientin aufrechterhalten, identifizieren und versuchen, diese zu reduzieren. Diese spezifische Vorgehensweise ist inzwischen möglich, da in den letzten 30 Jahren ein differenziertes Wissen über die Psychopathologie der Essstörung und über die Modifizierung aufrechterhaltender Prozesse entstanden ist (s. Kap. 2.2, S. 13). Das Ausmaß der Verhaltensänderung in den ersten Wochen der Behandlung ist bei vielen psychischen Störungen einschließlich der Bulimia nervosa und der Binge-Eating-Störung ein starker Prädiktor des Therapieergebnisses. Daher ist es wichtig, dass die ersten Wochen besonders gut verlaufen. Erkennbare Hindernisse für die Behandlung sollten möglichst im Voraus behoben werden. Entscheidend ist es, einen Fehlstart zu vermeiden. Verlorener Boden ist nur schwer wiedergutzumachen. Dieses Kapitel beinhaltet die ersten beiden Sitzungen der erweiterten kognitiven Verhaltenstherapie für Essstörungen (CBT-E), auf deren Grundlage die restliche Therapie aufbaut. 5.2 Initiale Sitzung Abhängig von der Aufgabenverteilung in der jeweiligen Klinik, Ambulanz oder Praxis ist die Person, die das Erstgespräch mit der Patientin durchführt, nicht notwendigerweise auch der Therapeut, der die Patientin betreuen wird. Es kann also sein, dass der Therapeut seiner Patientin bei der initialen Sitzung zum ersten Mal begegnet. Das bedeutet, dass eine erneute Diagnostik notwendig wird, damit er von der Patientin selbst über ihr Problem aufgeklärt wird. Diese Erhebung überschneidet sich notgedrungen mit der im Erstgespräch. Die initiale Sitzung ist in vielerlei Hinsicht atypisch. Sie dauert länger als alle anderen Sitzungen, in der Regel etwa 1,5 Stunden, und ihr Inhalt ist ziemlich festgelegt. Die Sitzung besteht aus sieben Hauptkomponenten: 1. Therapiemotivation schaffen und Ausblick auf Veränderung aufbauen 2. Art und Ausprägung der aktuellen Psychopathologie erfassen 3. ein Störungsmodell zu den aufrechterhaltenden Prozessen des Essproblems gemeinsam erarbeiten 4. Elemente der Behandlung erklären 5. in die Selbstbeobachtung in Echtzeit einführen 6. Hausaufgaben durchsprechen 7. Sitzung zusammenfassen und nächsten Termin vereinbaren 5.2 Initiale Sitzung Therapie- und Veränderungsmotivation schaffen Patientinnen mit einer Essstörung dazu zu motivieren, sich aktiv an der Behandlung zu beteiligen, ist eine besondere Herausforderung. Es gibt Aspekte ihrer Störung, die sie gern verändern würden, wie Essanfälle. Andere Aspekte schätzen sie durchaus oder sie identifizieren sich sogar damit, beispielsweise mit der strikten Kontrolle über das Essverhalten oder dem Ziel, abzunehmen. Viele kommen mit Befürchtungen und Skepsis gegenüber der Behandlung zur Therapie. Es ist sehr wichtig, dass der Therapeut verständnisvoll und sensibel auf die Ambivalenz der Patientin reagiert. Die initiale Sitzung ist in dieser Hinsicht besonders wichtig. Die Patientin nimmt die Einstellung und Wortwahl des Therapeuten auf und setzt sich kritisch damit auseinander. Daher bedarf es hier besonderer Aufmerksamkeit. Genauso wie der Therapeut die Patientin beurteilt, wird die Patientin ihrerseits den Therapeuten beurteilen. Es wurde viel darüber geschrieben, wie man Patientinnen zur Therapie motiviert. Einige Autoren schlagen vorbereitende psychotherapeutische Arbeit vor. Wir halten das nicht für notwendig. Wir bereiten die Patientinnen wie in Kapitel 4 beschrieben auf die Therapie vor, sehen aber darüber hinaus keinen zusätzlichen Bedarf. Kompetent angewendete CBT-E ist von Natur aus motivierend. Die stärkste Motivation geht davon aus, zu erleben, welche Vorteile es hat, eigene Probleme zu verstehen und erste Veränderungen wahrzunehmen – etwas, das die CBT-E von Anfang an anstrebt. Erfolg zieht in der Regel weitere Erfolge nach sich. Daher ist es so wichtig, den Abstand zwischen dem Erstgespräch und dem Beginn der eigentlichen Behandlung zu minimieren. Therapeuten können die Motivation ihrer Patientinnen verstärken, indem sie folgende Richtlinien beachten: ●● Seien Sie empathisch, unterstützend und engagiert. ●● Sprechen Sie die Patientin korrekt mit ihrem Namen an. ●● Seien Sie freundlich und professionell, nicht dominant, einschüchternd, belehrend oder kontrollierend. ●● Zeigen Sie Kompetenz bei der Diagnostik und Behandlung. Zeigen Sie der Patientin, dass Sie ihre Essprobleme verstanden haben. ●● Beteiligen Sie die Patientin aktiv an dem diagnostischen Prozess und dem Erarbeiten des individuellen Störungsmodells. ●● Vermitteln Sie Hoffnung. ●● Ermutigen Sie die Patientin, immer wieder Fragen zu stellen, und überprüfen Sie immer wieder, ob die Patientin in der Therapie aktiv mitarbeitet. 63 64 5 Gut Starten ●● Überprüfen Sie immer wieder, ob die Patientin irgendwelche Bedenken bezüglich der Therapie hat. Bestimmte spezifische Strategien und Vorgehensweisen sind vor allem bei untergewichtigen Patientinnen notwendig (s. Kap. 11, S. 189). Art und Ausprägung der Psychopathologie erfassen Die zweite diagnostische Erhebung fokussiert auf behandlungsrelevante Sachverhalte und unterscheidet sich hierin vom Erstgespräch mit der Patientin (s. Kap. 4.1, S. 45). Der folgende Kasten listet die Themen auf, die abgedeckt werden. Wenn nicht alle Themen besprochen werden können, werden diese auf die nächste Sitzung verschoben. Primär liegt der Fokus auf dem aktuellen Zustand der Patientin sowie auf den Faktoren, die eine wesentliche Rolle für die Aufrechterhaltung der Störung spielen. Auf dieser Grundlage wird dann ein individuelles Störungsmodell erstellt (s. S. 66). Der Stil des Gesprächs ist auf Informationsgewinnung ausgerichtet. Der Therapeut berücksichtigt dabei die mögliche Sensibilität der Patientin hinsichtlich mancher Themen, wie Essan­fälle oder selbstinduziertes Erbrechen. Bei der Erfassung des Essproblems abzudeckende Themen Aktueller Stand des Essproblems (über die letzten 4 Wochen und die letzten 3 Monate) ●● Einstellung der Patientin zu ihrem Problem. Welche Zustände und Verhaltensweisen möchte sie verändern? ●● Essgewohnheiten an einem typischen Tag, möglichst an einem „guten“ und an einem „schlechten“ Tag ●● gezügeltes Essverhalten: Diätregeln, Verhalten bei Nichteinhaltung der Regeln, Kalorienzählen, Kalorienlimit, Hinauszögern von Mahlzeiten ●● Nahrungsrestriktion (tatsächlich unzureichende Kalorienzufuhr) ●● weiteres Verhalten zur Gewichtskontrolle, z. B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxantien oder Diuretika, exzessiver Sport): Häufigkeit, Zusammenhang mit wahrgenommenem Überessen ●● Episoden von Überessen: Menge des Gegessenen, Kontext, Kontrollverlust, Häufigkeit, Auslöser ●● weitere Essgewohnheiten: Herumstochern, Kauen und Ausspucken, Hochwürgen von Essen (Rumination), Ernährungsrituale ●● Trinkgewohnheiten: Konsum von Wasser, Kaffee, Tee, kohlensäurehaltigen und alkoholischen Getränken und deren Zusammenhang mit dem Essproblem ●● Nikotingebrauch und dessen Zusammenhang mit dem Essproblem ●● Essen zusammen mit anderen; Essen in Restaurants, Mensa, Kantine ●● Sorgen um Figur und Gewicht ●● Einstellungen zu Figur und Gewicht 5.2 Initiale Sitzung ●● ●● ●● ●● ●● ●● ●● ●● ●● ●● Bedeutung von Figur und Gewicht für den Selbstwert köperbezogenes Kontrollverhalten (wiegen, in den Spiegel schauen, andere Formen von Kontrollen), körperbezogenes Vermeidungsverhalten (nicht wiegen, nicht in den Spiegel schauen usw.) Vergleich mit anderen sich dick fühlen Einfluss des Essproblems auf das psychische und soziale Funktionsniveau Auswirkungen auf Stimmung und Konzentration Auswirkungen auf die Arbeit Auswirkungen auf Partner, Familie, Freunde, Bekannte Auswirkungen auf Aktivitäten und Interessen weitere Auswirkungen Entwicklung des Essproblems ●● Details zum Beginn des Essproblems und vermutliche Auslöser ●● Abfolge der Ereignisse: Beginn der wesentlichen Verhaltensweisen und zeitliche Beziehung des Beginns der Verhaltensweisen zueinander, Entwicklung des Problems in den ersten sechs Monaten und im weiteren Verlauf ●● Gewichtsverlauf vor und seit dem Essproblem; Adipositas im Kindesalter: geringstes Gewicht im Erwachsenenalter; höchstes Gewicht im Erwachsenenalter ●● vorherige Behandlung wegen eines Ess- oder Gewichtsproblems; Erfahrungen bei der Suche nach Behandlung, angebotene Behandlungen; Erfahrungen mit Behandlungen und Einstellung dazu; Mitarbeit bei früheren Behandlungen, Erfolg früherer Behandlungen Persönliche und Familienanamnese ●● Ort, an dem die Patientin geboren und aufgewachsen ist ●● Familie während der Kindheit; Eltern, Geschwister, Atmosphäre, Störungen und/oder Probleme, aktueller Kontakt zur Familie ●● Schule, Ausbildung und berufliche Vorgeschichte ●● Vorgeschichte zwischenmenschlicher Beziehungen (interpersonelles Funktionsniveau während Kindheit/Jugend/Erwachsenenalter) ●● Anamnese der Familie hinsichtlich psychischer Störungen (besonders Depression und Alkoholmissbrauch) ●● Essstörung und Adipositas in der Familie ●● aversive Erlebnisse: körperlicher oder sexueller Missbrauch, Todesfälle von wichtigen Bezugspersonen, Unfälle, Mobbing und Hänseleien ●● persönliche Vorgeschichte psychischer Störungen: besonders Angststörungen, Depression, Perfektionismus, geringes Selbstbewusstsein, Selbstverletzung, Substanz­ missbrauch; Beginn in Bezug auf den Anfang des Essproblems; Wechselwirkung zwischen den Störungen ●● frühere Interessen und Fertigkeiten; Entwicklung von Interessen und Fertigkeiten seit dem Essproblem 65 66 5 Gut Starten Aktuelle Umstände und Funktionsniveau Lebensumstände ●● Beruf ●● Familienstand, Kinder ●● Kontakt zur Familie ●● interpersonelles Funktionsniveau: Partner, Familie, Vertraute, Freunde, Geselligkeit ●● Interessen und Fertigkeiten ●● Komorbide Psychopathologie ●● aktuelle psychische Störungen (Depression, Angststörung, Substanzmissbrauch, Selbstverletzung, suizidales Verhalten) ●● aktuelle psychotherapeutische und/oder pharmakologische Behandlung Körperliche Gesundheit ●● aktuelle körperliche Gesundheit (auch Menstruation) ●● allgemeine medizinische Vorgeschichte (einschließlich Pubertät) in Bezug auf das Essproblem ●● aktuelle Medikation (auch Antibabypille) Einstellung zum Essproblem und dessen Behandlung ●● Wie erklärt die Patientin die Aufrechterhaltung des Essproblems? ●● Bereitschaft, eine Behandlung zu beginnen ●● Bedenken bezüglich der Behandlung und damit verbundener Veränderungen ●● Ziele Sonstiges „Gibt es noch irgendetwas, das Sie mir gerne erzählen möchten, oder irgendetwas, was ich wissen sollte?“ Individuelles Störungsmodell erarbeiten Der nächste Schritt ist das Erstellen des Störungsmodells. Es handelt sich um ein individuelles Diagramm der Prozesse, die das Essproblem der Patientin aufrechterhalten. Dies erfolgt in der initialen Sitzung, es sei denn, die Patientin ist signifikant untergewichtig (s. Kap. 11.2, S. 193) oder das Essproblem ist in seiner Form ungewöhnlich und schwer verständlich. In solchen Fällen ist es ratsam, die Vervollständigung des Modells auf die nächste Sitzung zu verschieben. So hat der Therapeut ausreichend Zeit, sich über die wahrscheinliche Ausführung Gedanken zu machen. Das Erstellen des Modells erfolgt mit einer Reihe von Zielen: ●● Das Erstellen des Modells motiviert die Patientin zur Behandlung. ●● Das Erstellen des Modells führt zu einer Distanzierung von dem Problem. Die Patientin wird ermutigt, einen Schritt zurückzutreten und zu verstehen, 5.2 Initiale Sitzung warum das Essproblem aufrechterhalten bleibt, anstatt das Essproblem nur zu haben. Das Einnehmen einer Sicht von außen ist wesentlich für den Veränderungsprozess. Es kommt erst einmal darauf an, dass die Patientin neugierig wird und anfängt, sich für ihr Essproblem zu interessieren. ●● ●● Das Modell verdeutlicht, dass Essprobleme verstanden werden können und durch eine Reihe interagierender Mechanismen aufrechterhalten werden. Bei der Besprechung kann der Therapeut darauf hinweisen, dass es ihn nicht überrascht, wie schwer der Patientin eine Verhaltensänderung bisher gefallen ist. Indem die aufrechterhaltenden Mechanismen des Essproblems herausgestellt werden, liefert das Modell einen Leitfaden dafür, was in der Behandlung angegangen werden sollte (um bei dem Kartenhaus-Bild zu bleiben: welche Karten aus dem Kartenhaus entfernt werden müssen; s. Kap. 5.1). Das Modell stellt keine Sammlung von Gründen dar, die zur Entwicklung des Problems geführt haben. Patientinnen, die erstaunt darüber sind, dass die Behandlung nicht auf die Ursprünge ihres Essproblems zurückgeht, erklärt der Therapeut, dass dies nicht allgemein notwendig ist. Die Umstände, die das Problem vor vielen Jahren ursprünglich auslösten, haben jetzt möglicherweise keine Bedeutung mehr; falls sie sie doch haben, werden sie auch thematisiert.1 Es ist wichtig, hinzuzufügen, dass die Ursprünge des Problems nochmals später in der Behandlung thematisiert werden (s. Kap. 8.6, S. 151). Ein transdiagnostisches CBT-E-Modell mit allen typischen Komponenten ist in Abbildung 5-1 dargestellt. Es sollte vom Therapeuten als Vorlage genutzt werden, um das individuelle Modell für das Essproblem der Patientin abzuleiten. Je vertrauter der Therapeut mit der Vorlage ist, desto einfacher ist es, für die betroffene Patientin ein passendes individuelles Modell zu erstellen. Wir sind bisher auf keine Patientin gestoßen, deren Essproblem sich nicht auf diese Weise darstellen lässt. Abbildung 5-2 zeigt das Modell einer Patientin mit einer nicht näher bezeichneten Essstörung (NNB), bei dem die Wortwahl der Patientin verwendet wurde. Der Therapeut sollte das Erstellen des Modells üben, denn es ist wichtig, dass er es gut beherrscht. Das Modell wird Schritt für Schritt mit der nötigen Ruhe und Sorgfalt erstellt. Der Therapeut übernimmt die Führung, achtet aber darauf, 1 Im Schnitt haben unsere Patientinnen bereits seit acht Jahren eine Essstörung und haben ein Alter von Mitte bis Ende 20. Daher ist es nicht überraschend, dass die Faktoren und Prozesse, die zur Entwicklung der Essproblematik geführt haben, nicht mehr notwendigerweise relevant sind. Dies trifft nicht auf adoleszente Patientinnen mit kurzer Vorgeschichte zu (s. Kap. 14, S. 289). 67 68 5 Gut Starten Überbewertung von Figur und Gewicht und ihre Kontrolle Gezügeltes Essverhalten; nichtkompensatorisches gewichtsregulierendes Verhalten Äußere Ereignisse und damit einhergehende Stimmungsschwankungen Essanfälle Signifikantes Untergewicht Kompensatorisches Erbrechen/Laxantienmissbrauch Abb. 5-1 Das transdiagnostische CBT-E-Modell mit allen typischen Komponenten als Vorlage für individuelle Störungsmodelle. Ich mag mein Gewicht und Aussehen nicht. Diät halten, viel Sport treiben Unglücklich sein Gelegentliche Essanfälle Geringes Gewicht? Sich übergeben Abb. 5-2 Ein individuelles Modell einer Patientin mit einer Essstörung NNB (in den eigenen Worten der Patientin).