Schweiz am Sonntag 4. September 2016 «Basel hat bessere Architektu Architekt Jacques Herzog erforscht die Schweiz der Zukunft und sagt, wo Türme gebaut werden sollen und weshalb er fasziniert ist vom Pokémon-Phänomen. VON ANDREAS MAURER, CHRISTIAN MENSCH (TEXT) UND JURI JUNKOV (BILDER) Jacques Herzog (66) dirigiert seine Besucher durch seinen Campus im Basler St. Johann-Quartier und gibt den Tarif durch. Dem Fotografen erklärt er, wie er ihn ablichten solle. Seinem Kommunikationsverantwortlichen zeigt er, welches Sitzungszimmer sich eigne. Und den Journalisten sagt er, welche Fragestellungen ihn interessieren. Eigentlich wollte er nicht mehr über seine umstrittenen Roche-Türme sprechen. Doch er wird eine Ausnahme machen. wird die Stadt ans Umland binden und die Innenstadt aufwerten. In Zürich wirkt die S-Bahn integrierend: Sie bindet das Umland viel selbstverständlicher an die Metropolitanregion an, als dies heute in Basel der Fall ist. Herr Herzog, Sie bauen in der ganzen Welt, und doch beschäftigen Sie sich intensiv mit Basel. Weshalb? Jacques Herzog: Pierre de Meuron und ich sind in dieser Stadt aufgewachsen. Die Stadt ist eine Mischung aus Provinzstadt und Metropole. Es ist eine trinationale Stadt im Werden. Basel ist aber auch ein interessantes städtebauliches Labor, um Verdichtungsszenarien zu testen. …weil Sie, Herr Herzog, in Ihrer Heimatstadt so viel gebaut haben? Ich möchte uns mal ausklammern. Denken Sie an den Vitra Campus – eine Pionierleistung – oder den NovartisCampus, beide erstellt von den besten Architekten unserer Zeit. Die Verdichtung stösst bei vielen Leuten auf Widerstand. In Hongkong, wo unser Büro ja auch Projekte hat, sind die Menschen viel gelassener gegenüber sogenannter Dichte. In der Schweiz revoltiert man gegen Veränderungen, bevor man sich darauf einlässt. Dabei sind viele Quartiere gerade wegen ihrer immer grösseren baulichen Dichte und ihrem Bevölkerungsmix heute sehr populär. In den 60erund 70er-Jahren wurde alles Neue viel positiver angeschaut als heute. Vielleicht war man damals zu naiv. Heute hingegen ist man zu kritisch. In den 1970er-Jahren wurde ein grosser Teil der Altstädte zerstört. Stimmt! Die Städte wurden damals aus spekulativen und ideologischen Gründen kaputtgemacht. Die Ideologie der Nachkriegsmoderne war gekoppelt an die Vorstellung einer neuen, idealen Gesellschaft. Veränderung war deshalb erwünscht, das Neue war gut, Altes sollte überwunden werden – heute ist Veränderung für viele schwierig. Was könnte Zürich vom Labor Basel lernen? Es gibt wenige Städte der Welt, die wie Basel so viele grossartige Gebäude von weltberühmten Architekten haben … Wieso gibt es in Zürich weniger architektonische Meisterwerke? Die Initiative ist in Basel immer von einzelnen Leuten ausgegangen wie Rolf Fehlbaum (Vitra), Daniel Vasella (Novartis) oder Severin Schwan (Roche) – alle mit Gespür und mit Interesse an Architektur. Eine gute, das heisst kritische und engagierte Bauherrschaft ist für ein gutes Projekt unabdingbar, aber heute eher selten. Gute Architektur «Die Areale von Roche und Novartis sind mit früheren Klosterarealen vergleichbar.» braucht sowohl einen begabten Architekten als auch einen inspirierten Klienten. Das war in der Vergangenheit so, bei den Palazzi der Renaissance, den Kirchen des Barock, dem Stadtplan von Haussmann in Paris oder den Museen und Opernhäusern der Neuzeit. Geht Zürich anders mit Veränderungen um als Basel? Auch Zürich hat ein Problem mit Veränderung und mit moderner Architektur. Krasses Beispiel ist der Leidensweg des neuen Stadions. Projekte können bei uns wegen einer kleinen Minderheit scheitern, die durch endloses Einsprechen die rechtlichen Möglichkeiten unserer demokratischen Kultur überstrapazieren. Das ist ein weiterer Grund für die Zähigkeit städtebaulicher Veränderung. Vielleicht ist dies Bestandteil unserer bäuerlichen DNA. Treiben herausragende Gebäude die Entwicklung einer Stadt voran, oder braucht es ein städtebauliches Konzept, das gute Architektur erst ermöglicht? Die Quartiere, welche uns allen am besten gefallen, sind vor dem Krieg entstanden, in einer Zeit mit relativ anonymer Architektur, aber einer hohen handwerklichen Baukultur. Heute ist das «Stadt-Produzieren» ersetzt worden durch das Einpflanzen einzelner ikonischer Objekte oder durch schollenartige grosse Baublöcke von Investoren. Das ist eine weltweite Tendenz. Dadurch ist es viel schwieriger geworden, Quartiere zu bauen, die eine kleinteilige Qualität wie die von früher haben. Ist der Widerstand in Zürich grösser als etwa in Basel? Nein. Basel hat zwar bessere Architektur zu bieten, aber Zürich macht viele Modernisierungsschritte besser. Das entscheidende Projekt von Zürich ist die S-Bahn. Sie hat eine grosse Dynamik ausgelöst. Deshalb hoffe ich sehr, dass Basel begreift, dass das geplante unterirdische S-Bahn-Herzstück das entscheidende städtebauliche Projekt der nächsten Jahrzehnte ist. Es Sie planen derzeit den Zwillingsturm für den Roche-Turm. Er wird das mit Abstand höchste Gebäude der Schweiz. Wie sind die RocheTürme ikonografisch zu verstehen? Die Areale von Novartis und Roche sind vergleichbar mit früheren Klosterarealen. Es ist eine eigene Welt einer eigenen Macht und mit eigenem Denken, die sich eine gewisse Unabhängigkeit vom Rest der Stadt vorbehält. Unsere alltägliche Stadt wird nach einem ge- Architekt Jacques Herzog in einem Grossraumbüro seines Firmensitzes in Basel. Mit seinem Partner Pierre de Meuron beschäftigt er 4 das grosse interview 17 ur zu bieten als Zürich» 420 Mitarbeiter. Jacques Herzog wollte einen Turm in Davos bauen. Die Pläne in Vals lehnt er aber ab: «Es ist ein rein spekulatives Immobilieninvestment, das die Landschaft zerstört.» wissen Konsens gebaut. Industrieareale haben eine ganz andere Kontrolle über ihre Ästhetik. Es sind ideale Städte innerhalb einer nicht idealen, alltäglichen Stadt. Wie wirken die beiden Stadtteile aufeinander? In jeder Stadt geht die Dynamik von der Wirtschaft aus. Geradezu exemplarisch sind die Firmen Roche und Novartis. Sie stehen paradoxerweise sowohl für Kontinuität als auch für Veränderung. Sie verleihen der Stadt ihre heutige Dynamik. Ohne solche ökonomische Lokomotiven stirbt eine Stadt. Das führt dazu, dass sich die Stadt der Dynamik der Wirtschaft unterordnet. Die Roche-Türme werden nicht an einem Ort gebaut, der für die Stadtentwicklung ideal ist, sondern weil er für Roche ideal ist. Die Industrie hat sich in Basel seit hundert Jahren ausserhalb der Altstadt entwickelt. Im Gegensatz zu vielen anderen Schweizer Städten wurden die Industrieareale aber nicht verlassen und umgenutzt wie etwa in Zürich-West. Die Eigenheit von Basel ist, dass die Industrie sich weiterentwickelt hat und «Pokémon liefert eine Vorstellung, wie man die reale Welt mit virtuellen Gebäuden bereichern könnte.» immer erfolgreicher wurde. Zuerst war es die Seidenbandfärberei, dann die Chemie, dann die Pharma, und heute sind es die Life Sciences. Das hat dazu geführt, dass die Industrieareale stadtnah weiterentwickelt worden sind. Deshalb ist das Roche-Areal auch heute noch der ideale Ort für eine derartige Veränderung. In der Schweizer Architekturszene sind die Roche-Türme umstritten. Sie seien zu wuchtig. Dabei sind sie die logische Weiterentwicklung des Industrieareals ins 21. Jahrhundert. Diese Hochhäuser sind kein spekulatives Objekt von ein paar Reichen, sondern bieten Arbeitsplätze für Tausende Leute. Hier komme ich wieder zurück auf den Stellenwert von Basel als Labor für die Schweiz: Die Roche-Hochhäuser zeigen, wie man verdichtet bauen und dadurch ein Quartier aufwerten kann. Wenig bemerkt, aber bemerkenswert: zwischen den Hochhäusern entsteht eine parkähnliche Strasse, offen für jedermann. Wie wirken die Türme auf Basel? Viele Leute haben nach wie vor Mühe mit dem Roche-Hochhaus. Aber viele sagen auch, dass es der Stadt ein neues Gesicht gibt. Es ist interessant und aufschlussreich für uns zu beobachten, wie unterschiedlich die Menschen reagieren. Man sieht es aus immer anderem Blickwinkel, von nahe und von weit und unter wechselndem Licht. Es ist ein neuer Orientierungspunkt in der metropolitanen Landschaft. Woran orientiert man sich in Zürich? Ich kenne vor allem den Flugplatz und den Bahnhof. Ist der Prime Tower kein Orientierungspunkt? Den sieht man ja kaum, oder? Der Ort scheint irgendwie zufällig. Weltweit aktiv Jacques Herzog und Pierre de Meuron (beide 66) führen seit 38 Jahren das Architekturbüro Herzog & de Meuron. Neben dem Hauptsitz in Basel haben sie Büros in London, Hamburg, Madrid, New York und Hongkong. Ihre bekanntesten Bauten sind die Tate Gallery of Modern Art in London, der St. Jakob-Park in Basel, die Allianz-Arena in München, Nationalstadion in Peking, die Elbphilharmonie in Hamburg und der RocheTurm in Basel, das höchste Gebäude der Schweiz. Derzeit ist ein noch höherer Zwillingsturm in Planung. Herzog lebt in Basel, ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Wo sollte man Hochhäuser bauen? Hochhäuser können einen Stadtkörper ganz überziehen, aber wie Akupunkturnadeln, nur an präzis gewählten Orten. Sie können als vereinzelte Objekte funktionieren oder in Clustern. Sind sie aber am falschen Ort eingepflanzt, stört dies den gesamten Organismus. Was halten Sie vom Turm in Vals? Man muss sich immer fragen: Weshalb entsteht ein Turm? Aus einem Bedürfnis, oder aus reiner Spekulation? Diese Frage mussten wir uns auch in Davos stellen, wo wir ja auch Pläne für einen Turm entworfen haben. Davos hat eine gewisse Urbanität, der Ort ist ein Verkehrsknoten. Deshalb hielten wir einen Hotelturm für vertretbar. Vals kennt man eigentlich nur wegen des aussergewöhnlich schönen Thermalbads von Peter Zumthor. In Vals ist man wirklich am Ende der Schweiz. Ein Turm macht dort überhaupt keinen Sinn, denn es gibt ja keine entsprechende Verkehrsinfrastruktur. Er ist ein rein spekulatives Immobilieninvestment, das die Landschaft zerstört. Gefällt Ihnen das Luxusresort des Samih Sawiris in Andermatt besser? Ja. Ich würde dort zwar nicht mein eigenes Geld investieren wollen, aber das Projekt ist gut aufgegleist. Es wurde keine Landschaft zerstört, sondern ein militärisches Gebiet umgenutzt. Es ist ein interessanter Versuch, eine von Abwanderung und Klimawandel bedrohte Gegend neu zu erfinden. Ich habe aber meine Zweifel, ob es funktioniert. Vor zehn Jahren haben Sie mit dem ETH-Studio Basel die Studie «Die Schweiz, ein städtebauliches Porträt» publiziert. Was ist davon in die Raumplanung eingeflossen? Erstaunlich viel! Typologische Kategorien wie «alpine Brachen» oder die Aufteilung der Schweiz in die Metropolitanräume Basel, Genf und Zürich und die Hauptstadtregion Bern sind geläufige Begriffe geworden. Worin haben Sie sich geirrt? Wir haben vieles nicht zu Ende gebracht, was heute dringende Themen sind: Wir haben wenig gesagt zum Verkehr. Die Strassen und Züge sind überfüllt. Nicht vorausgesehen haben wir, wie die Technologie den Alltag verändert. Durch Car-Sharing und selbstfahrende Autos entstehen Mischformen von privatem und öffentlichem Verkehr. Uns interessiert, wie man sich mit dem Smartphone in der Stadt orientiert. Fasziniert bin ich vom PokémonPhänomen. Spielen Sie Pokémon? Ich beobachte es bei andern. Mich interessiert, wie dadurch die reale Stadt mit einer virtuellen Welt verbunden wird. Das wird Auswirkungen haben auf unsere Nutzung des öffentlichen Raums. Pokémon liefert eine Vorstellung, wie man die reale Welt mit virtuellen Gebäuden und Treffpunkten verändern und bereichern könnte. Wie wird die digitale Revolution die Architektur prägen? Ich beobachte widersprüchliche Tendenzen: Einerseits verändern unsere Smartphone-Tools die Wahrnehmung. Andererseits wird die Qualität von Architektur auch in Zukunft das Archaische und das Sinnliche sein. All das, was die digitale Welt bis dahin eben nicht zu bieten hat. Paris, Venedig oder der Rhein in Basel sind auch in virtuellen Ansichten schön. Aber ihre direkte Wahrnehmung ist doch eine viel eindrücklichere Erfahrung. Sie sind Architekt, Raumplaner, Forscher, Künstler und Unternehmer. Was ist Ihnen am wichtigsten? Mein wichtigstes Merkmal ist eigentlich ein anderes: Meine ganze Biografie ist identisch mit jener von Pierre de Meuron. Wir sind im Kleinbasel aufgewachsen, zwischen Roche und der Messe. Schon als Kinder haben wir vieles zusammen gemacht. Gemeinsam können wir unsere verschiedenen Talente sehr gut ausleben und die unterschiedlichen Rollen ausüben, die Sie aufzählten. Sie sind beide 66. Wie lange werden Sie noch weiter arbeiten? So lange ich lebe. Pensionierung ist kein Thema? Die Frage ist doch: Was will man überhaupt im Leben? Ich habe das Privileg, tolle Projekte auf der ganzen Welt zu machen. So lange es die Gesundheit erlaubt, werde ich sie antreiben und verfolgen. Wie gehen Sie mit Ihrer Rolle als Stararchitekt um? In der Schweiz gibt es keine Stars. In Hamburg, London oder Pekingwerden Sie gefeiert. In Ihrer Heimatstadt stehen Sie öfters in der Kritik. Ärgert Sie das? In Frankreich ist Jean Nouvel ein Nationalheld. In England Norman Foster ein Lord. In den USA Frank Lloyd Wright ein besungener Mythos. In der Schweiz ist der Umgang mit Architekten ein anderer. Die Schweiz ist kein Land der Heldenverehrung, und das ist gut so.