Kultur T H E AT E R Jedermann und Jedefrau In seinem neuen, in Wien als bestechender Bilderbogen aufgeführten Stück widmet sich Botho Strauß virtuos der Profillosigkeit moderner Menschen. A Dann haben sich die Brüder mit Ellen und Odile, der neuen Partnerin des einen, im Schneesturm verirrt und versuchen, einer veritablen Märchenhexe ihr Reisigbündel zu entreißen – die aber, hinter deren Maske sich die verlassene Else verbirgt, reißt statt dessen dem Ex-Mann bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust. Nach diesem archaischen Höhepunkt (und nach der Pause) weicht Regisseur Stein von der gedruckten Fassung des Stücks ab: An die Stelle des kleinen Metaspiels „Einzelprobe“, einem Stück Theater im Theater, in dem sich die Verwandlung von Odile/Magda fortsetzt, stellt er eine Szene, die einem anderen neuen, noch nicht aufgeführten Strauß-Stück entnommen ist, gefolgt von einer eigens für diese Inszenierung geschriebenen Episode: In beiden Fällen wird der angedeutete Erzählbogen, der fragile Zusammenhalt des Stücks, ohne Not strapaziert. Schade – denn gerade in den noch folgenden Szenen erweisen sich Strauß und Stein als hinreißend genaue, herrlich witzige Inszenatoren heutiger, ewiger Geschlechter-Querelen. Wie da ein geschiedenes Ehepaar um den halbwüchsigen Sohn kämpft, wie da ein Halbentschlossener eine fast schon verführte Frau („Ich bin an sich geneigt, in dem Ereignis selbst – wenn’s je eines würde, Ihr Wort in Gottes Ohr! – restlos aufzugehen“) schließlich doch nicht erobert: Das sind Wortgefechte und Dialogverästelungen, denen man atemlos lauscht. „Das Chaos wächst, wir setzen unsere kleine Symmetrie entgegen“, knüpft Strauß bei Goethe an – die „Ähnlichen“ sind schließlich auch eine neue Spezies von Mensch. Die Befürchtung, „daß die Ähnlichen es am Ende schaffen werden“, die schon im Strauß-Band „Die Fehler des Kopisten“ (1997) vorkommt, heißt nichts anderes, als daß die zukünftigen „Menschenähnlichen“ kein Profil mehr haben könnten, kein eigenes Gesicht: lauter Jedermänner und Jedefrauen. Auch diesmal also übt Strauß, wie von vielen herbeigehaßt-ersehnt, Kulturkritik. Zum Theaterereignis aber macht die Wiener Uraufführung nicht zuletzt das Bühnenbild von Ferdinand Wögerbauer, der einen bestechend wandlungsfähigen Raum aus Lichtquadern vor zumeist schwarzem Hintergrund geschaffen hat: Darin gelingen Stein und seinen Schauspielern Bilder, die selbst in der an Blickfängen nicht armen Geschichte der Strauß-Inszenierungen Volker Hage ihresgleichen suchen. R. WALZ m Anfang und am Ende: drei Frauen auf einem Bett. Dazwischen, an unterschiedlichen Orten, Spiele: Liebesspiele, Wechselspiele, Zwischenspiele – moralisches und unmoralisches Episodentheater oder, in der Diktion des Dichters, „Moral Interludes“: So heißt das neue, am vergangenen Samstag im Rahmen der Wiener Festwochen im Theater in der Josefstadt uraufgeführte Stück von Botho Strauß im Untertitel. Schwestern, Freundinnen und Feindinnen – mit wechselnden Namen und Rollen. Zu Beginn heißen sie Agathe, Vilma und Magda: neuzeitliche Passantinnen, ganz im Hier und Heute mit Minirock und FalkStadtplan, und gleichzeitig weibliche Fabelwesen. Die drei sind, da erweist sich Strauß abermals als umfassend gebildeter Traditionalist, Wiedergängerinnen der Graien, jenes schwesterlichen Trios aus der griechischen Mythologie, das schon Goethe im „Faust“ sagen läßt: „Des Chaos Töchter sind wir unbestritten.“ Die erste große Leistung der drei Schauspielerinnen: wie hingebungsvoll sie die „Ähnlichen“ geben und auf Individualität verzichten, von nahezu identischem Outfit. Sie reden und quasseln wie aus einem Munde durcheinander, gegeneinander und miteinander. Agathe, Vilma und Magda wird es auf ihrem Hotelbett immer heißer und sie entledigen sich langsam des größten Teils ihrer zivilen Kleidungsstücke – wunderbares Boulevardtheater. Feste Rollen gibt es bei Strauß und Stein im ganzen Stück nicht, weder für die Frau- Strauß-Stück „Die Ähnlichen“ in Wien:* „Das Chaos wächst“ „Die Ähnlichen“ ist das 16. Stück des für die Bühnen mittlerweile fast konkurrenzlos attraktiven deutschen Gegenwartsdramatikers – in der Regie von Peter Stein, 60, dem seit alten Berliner Schaubühnen-Tagen bewährten Strauß-Intimus, erweist es sich als ein Schauspiel ganz auf der Höhe der Strauß-Klassiker „Groß und klein“, „Kalldewey, Farce“ und „Schlußchor“. Wieder einmal widmet sich Strauß, 53, den Fragen nach der menschlichen Identität und der Beziehung der Geschlechter – und hat dabei, wieder einmal, den Frauen die attraktiveren Parts zugedacht. Jutta Lampe, Mirjam Ploteny und Dörte Lyssewski spielen in schönem Einklang drei * Mit Dörte Lyssewski, Jutta Lampe und Mirjam Ploteny. 226 en noch für die Männer. Zum Stamm der „Ähnlichen“ gehören auch zwei Brüder aus dem eben noch geteilten Deutschland. Christian, der sich 1981 in den Westen abgesetzt hat, und Christoph, der in der DDR geblieben war, streiten um ihr Erbe: August Zirner und Daniel Friedrich erweisen sich – so auf der Hauptprobe in der vergangenen Woche – als regelrechte Kampfhähne und dann wieder als Kumpane, teils angestachelt, teils beschwichtigt von den drei Frauen, die nun zu Else und Ellen, den Gattinnen, und Odile, einer von beiden Männern besuchten Hure, mutiert sind: Fließende Übergänge sind eine Spezialität des Strauß-Theaters, das auf zusammenhängende Handlung verzichtet. d e r s p i e g e l 2 4 / 1 9 9 8