ZIP - Albert-Ludwigs

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WALTER BENJAMINS IDEENLEHRE
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung der Doktorwürde
der Philosophischen Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg i. Br.
vorgelegt von
Raffaella Soldani
aus Turin
Freiburg i. Br. 2005
1. Gutachter: Prof. Dr. Günther Figal
(Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.)
2. Gutachter: Prof. Dr. Andrea Poma
(Dipartimento di Filosofia, Università di Torino)
Tag der Promotion: 4. Oktober 2005
In Erinnerung an meinen Vater
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
S.1
Kapitel I
ERFAHRUNG UND ERKENNTNIS
S.8
1. Wissenschaftliche Erfahrung und unmittelbare Erfahrung
S.8
2. Die Beziehung Erkenntnis – Erfahrung und der Untergang des Subjektes
S.11
2.1 Erkenntnis und Erfahrung: die Termini eines Doppelbegriffes
S.12
2.2 Der Untergang des Subjektes
S.14
3. Eine höhere Erfahrung: die metaphysische Erfahrung
S.17
4. Die konkrete Totalität der Erfahrung: Was nie geschrieben wurde
S.20
5. Erfahrung und Religion
S.25
6. Wahrheit als Symbol. Die Zweideutigkeit der Erkenntnis
S.32
7. Erkenntnis ist Erfahrung
S.36
Kapitel II
DAS ZWEIDEUTIGE ANTLITZ DER WAHRHEIT. DER URSPRUNG EINER THEORIE DER IDEEN
S.38
1. Probleme, Fragen. Allgemeine Linien
S.38
2. Der Kunstinhalt: Die wahre Natur
S.40
3. Die Rezeption des Urphänomens. Der Ort der Wahrheit
S.42
4. Das zweideutige Antlitz der Wahrheit
S.46
4.1 Idee als unendliche Aufgabe: Neukantianismus Cohens
S.46
4.2 Der Funktionalismus der Idee
S.50
4.3 Idee: unmittelbare Erfahrung der Einheit
S.54
Kapitel III
DIE IDEENLEHRE IM URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS
S.58
1. Probleme, Fragen, Allgemeine Linien
S.58
2. Die Erkenntnis in der Vorrede zum Trauerspielbuch
S.59
3. Das „Objekt“ der Philosophie
S.61
I
3.1 Idee ist Einheit
S.61
3.2 Idee ist Monade
S.65
3.3 Idee ist Ursprung
S.66
3.4 Idee ist Name
S.71
4. Die Temporalität der Idee
S.75
5. Das Darstellungsproblem
S.78
6. Eine neue philosophische Einstellung
S.82
Kapitel IV
DIE ROLLE DER IDEE NACH DEM TRAUERSPIELBUCH
S.88
1. Probleme, Fragen. Allgemeine Linien
S.88
2. Erkenntnis und Erfahrung
S.89
3. Das dialektische Bild
S.97
3.1 Die Dialektik
S.98
3.2 Das dialektische Bild und die Lesbarkeit der Vergangenheit
S.105
4. Die „Wahrnehmung“ der Idee
S.111
5. Die Aufgabe des Intellektuellen: die Rettung der Phänomene
S.118
Kapitel V
DIE ROLLE DER IDEE IN DER PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE WALTER BENJAMINS
1. Probleme, Fragen. Allgemeine Linien
S.125
S.125
2. Die Ethik und die Idee in den Studentenschriften (1914): Die Religion
als neue Moral
S.126
3. Die Hoffnung und die Ethik: Goethes Wahlverwandtschaften
S.128
3.1 Der Mythos (d.h. das natürliche Leben) und der ethische
Kampf gegen den Mythos
S.129
3.2 Die Versöhnung aus dem Mythos
S.133
3.3 Erlösung und Versöhnung
S.144
4. Intellektuelle Versöhnung als existentielle Antizipation der
eschatologischen Erlösung
S.147
5. Die doppelte ethische Wahrheit: die komplementäre Welt
S.151
6. Der Mythos und die Vergessenheit
S.154
6.1 Die zwei Bedeutungen des Vergessens und die Weisheit der Erinnerung
7. Ethik als Utopie
S.158
S.161
II
Literaturverzeichnis
S.163
III
Der Apparat der vorliegenden Arbeit verwendet im weiteren die folgenden Abkürzungen für
die Schriften Benjamins:
B = Gesammelte Briefe, hrg. Von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Suhrkamp, Frankfurt am Mein 1995-2000:
Bd. I (1995): Briefe 1910-1918.
Bd. II (1996): Briefe 1919-1924.
Bd. III (1997): Briefe 1925-1930.
Bd. IV (1998): Briefe 1931-1934.
Bd. V (1999): Briefe 1935-1937.
Bd. VI (2000): Briefe 1938-1940.
BW = WALTER BENJAMIN – GERSHOM SCHOLEM, Briefwechseln 1933-1940, hrg. von G. Scholem, Suhrkamp,
Frankfurt am Mein 1980.
GS = Gesammelte Schriften, hrg. Von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Suhrkamp, Franfurt am Main
1972-1989:
Bd. I (1974): I 1; I 2; I 3.
Bd. II (1977): II 1; II 2; II 2.
Bd. III (1972): III.
Bd. IV (1972): IV 1; IV 2.
Bd. V (1982): V 1; V 2.
Bd. VI (1985): VI.
Bd. VII (1989): VII 1; VII 2.
In dem Text folgt die Bandnummer und die Seite der Abkürzung GS.
IV
EINLEITUNG
Es ist bekannt, dass sich das Leben Walter Benjamins zwischen den Grenzen verschiedener
Nationen abspielt, und dass eine Grenze – gemeint ist diejenige zwischen Frankreich und
Spanien – auch der Ort ist, an dem diese Erfahrung endet. Ausgerechnet an eben einee
Grenze, könnte man sagen, hat Benjamin seine Gedanken geführt, denn schon beim ersten
Aufschlagen der Lektüre dieses Autors gewinnt man nämlich den Eindruck, sich in
Anwesenheit eines Denkens zu finden, das zwischen einer Grenze und deren Überschreitung
schwankt. Das Überschreiten der Grenzen spiegelt sich zunächst in der äußeren Form des
Denkens Benjamins wider. Dies ist ein „Denken“ im weitesten Sinne des Wortes, weil es über
vielerlei Themen nachdenkt: von Kunst bis Kinematographie, von Politik bis Kindermärchen,
von Dichtung bis Religion. Somit überschreitet es die Grenzen der traditionellen
philosophischen Forschung. Die Grenze hat aber auch eine konzeptuelle Bedeutung. In
diesem Fall bewahrt, bestimmt die Grenze die tiefste Struktur von Benjamins Philosophie:
diese befindet sich an der Grenze zwischen dem Phänomen und der Idee, welche den Horizont
seiner Forschung ausmachen. Es gibt weder bloß die Idee noch das Phänomen allein.
Dennoch gibt es eine Bewegung, die von der einen zum anderen geht. Die Philosophie
Benjamins ist die Darstellung des Phänomens in seiner kontinuierlichen Spannung zur Idee
und in seiner kontinuierlichen Konzentration zur Überwindung des Phänomenalen. Die
Unmöglichkeit, die Grenze zu überschreiten, bedeutet, dass die Philosophie Benjamins –
genauso wie jegliche andere phänomenale Manifestation – darauf angewiesen ist, in dem
Profanen zu bleiben; aber ihr Wert und ihre Aktualität werden von der Anerkennung einer
Realität bestimmt, welche über die des Phänomens hinausgeht. Die beiden Extreme – d.h. das
Phänomen und die Idee – können nicht vereint werden, weil zwischen ihnen eine unendliche
Distanz bestehen bleibt, die niemals ausgefüllt werden kann. Zwischen diesen beiden
Extremen wirkt und arbeitet die Philosophie. Das Vorhaben dieser Arbeit ist es über diese
„Grenze“ nachzudenken und dementsprechend das Thema der Idee – oder besser das Problem
der Idee und deren Beziehung mit dem Endlichen – zu entwickeln.
Die Ideenlehre, welche Benjamin vorschlägt, bleibt aber bezüglich mehrerer Fragen
offen: wie gelangt nämlich der Philosoph zu der Idee? Wozu „dient“ die Idee? Und
1
schließlich: was ist die Idee? Benjamin systematisiert niemals seine Ideenlehre. Er wendet sie
aber – wie wir sehen werden – innerhalb seiner Schriften an. Darum ist es vorrangig die
Absicht dieser Forschung, die benjaminschen Ideenlehre aus seinen Texten zu extrahieren.
In den früheren Jahren seiner philosophischen Aktivität – wie die Briefen an Scholem
beweisen – hatte Benjamin ein Projekt über Kant und Cohen formuliert. Dieses war auf die
Möglichkeit zentriert, eine neue Theorie der Erkenntnis im Bezug auf den Begriff der
Erfahrung auszudenken. Das Bedürfnis die Integrität und die Einheit der Erfahrung zu
bewahren, bringt aber Benjamin dazu sich von Cohen zu entfernen und solche Problematiken
in eine andere Richtung zu entwickeln, indem er zu einem Begriff der Erkenntnis und zu
einem Begriff der Erfahrung gelangt, die wenig mit denen der Marburger Schule zu tun
haben. Die Erfahrung wird nämlich bei Benjamin zu einer „höheren Erfahrung“: d.h. eine
Erfahrung als Totalität verstanden, die folglich die wissenschaftliche Ausschließlichkeit des
Neukantianismus überwinden will, um in sich jede Art von Erfahrung einzuschließen,
inklusive der Religiösen. Der Leser der Programmschrift findet sich aber vor einer
Schwierigkeit: die Totalität der Erfahrung, von welcher bei Benjamin die Rede ist, stellt sich
nämlich auf der einen Seite als ein utopisches Ideal vor, welches, um erreicht zu werden, ein
unendliches Streben verlangt. Andererseits wird aber auf die Möglichkeit einer unmittelbaren
Wahrnehmung hingewiesen, die eine solche Totalität augenblicklich wahrzunehmen
ermöglicht. Genau die selbe Schwierigkeit begegnet uns bei dem Begriff der Erkenntnis: diese
letzte meint nicht mehr bloß die wissenschaftliche Erkenntnis, wie es bei Kant und den
Neukantianern der Fall war; vielmehr wird sie zum „Inbegriff aller Erkenntnisse“, indem sie –
wenigstens in der Absicht Benjamins – die Grenze des bloßen wissenschaftlichen Begriffes
der Erkenntnis überwindet und erneut auf eine Totalität hinweist, die einerseits ein
asymptotisches Prinzip ist, andererseits aber auf eine unmittelbare Wahrnehmung verweist.
Benjamin beginnt also mit den Kantischen und Neukantischen Begriffen – der Erkenntnis und
der Erfahrung – jedoch kehrt er deren ursprünglichen Bedeutung um. „Erkenntnis“ und
„Erfahrung“ verweisen beide auf eine Totalität und ideelle Einheit. Bewahrt Benjamin
einerseits das Prinzip der unendlichen Verfahren - d.h. der Aufgabe - in Annährung zu dieser
Totalität, taucht aber andererseits bereits in den jugendlichen Schriften die Möglichkeit einer
unmittelbaren Wahrnehmung dieser Totalität auf.
Die Ambivalenz, die diesen beiden Begriffen zugrunde liegt, hängt meiner Meinung
nach von der Zweideutigkeit des Benjaminschen Begriffes der „Idee“ ab, um welchen sich die
„Erkenntnis“ und die „Erfahrung“ drehen. Die Idee präsentiert sich im Denken Benjamins in
der Bedeutung des „regulativen Ideals“. Bereits in den jugendlichen Schriften und
2
Fragmenten wird die Idee als Führer und Aufgabe des erkenntnistheoretischen Verfahrens des
Philosophen übernommen. Wie bei Kant ist die Idee bei Benjamin eine Einheit, die niemals
gegeben wird, sondern als regulative – und deshalb logische – Einheit der Erkenntnis fungiert.
Zugleich erwirbt aber die Idee die Bedeutung der Wahrheit und des Ursprungs in einem
ontologischen Sinne. Die Idee, die ontologisch anders als das Phänomen ist, gründet das
Phänomen selbst, indem sie es in einer originären Beziehung bestimmt. Mit anderen Worten,
die Ambivalenz, vor der man den Eindruck hat zu stehen, ist, dass die Idee nicht nur im
Kantischen Sinne ein Ideal ist, an dem das Denken sich orientieren soll, sondern auch der
Terminus der ontologischen Beziehung, die das Phänomen konstituiert. Die phänomenale
Welt, d.h. die Welt des Scheins, ist die Manifestation der Idee, die sich - selbst wenn sie
jenseits der empirischen Realität bleibt – in dem Phänomen verkörpert. D.h. sie tritt in die
ontologische Konstitution des Phänomens ein. Das ist aber nicht alles. Ist die Idee einerseits –
konsequent im Sinne der Marburger Schule – eine „unendliche Aufgabe“, die eine progressive
aber niemals vollendete Annährung zu ihr impliziert (nach dem berühmten Satz Hermann
Cohens1, nach dem die größte Gabe, die je dem Menschen gegeben wurde, nicht die Wahrheit
selbst ist, sondern die unendliche Suche nach der Wahrheit), manifestiert Benjamin
andererseits das Bedürfnis eines unmittelbaren Ansatzes zu der Idee, der sich in den Begriffen
der „Betrachtung“, der „Darstellung“ und der Wahrnehmung“ konkretisiert. Die Wahrheit,
oder die Idee – da die beiden Begriffe nicht von dem Autor zu unterschieden werden scheinen
–, findet ihr Zugangsorgan: nämlich die Wahrnehmung. Wir haben also mit einer nichtwissenschaftlichen Wahrheit zu tun, zu der man etwa durch Zufall oder mittels einer
„Illumination“, allerdings ohne die Anwendung jeglicher etablierten Methode, gelangt. Diese
„Inkongruenz“ – oder Korrelation zweier gegensätzlicher Gedanken über die Wahrheit –
manifestiert sich bereits in der Programmschrift und in den jugendlichen Fragmenten, in
denen z.B. die Wahrheit nicht als „systematisch“, sondern als künstlerisch bezeichnet wird.
Der „Doppelbegriff“ der Wahrheit hat mich dazu gebracht, der Hypothese einer anderen
Quelle nachzugehen, welche Benjamin für die Konstruktion seiner Erkenntnistheorie
inspiriert hat: die Lektüre Goethes. Freilich – wie ein Teil der Sekundärliteratur feststellt –
wurde Benjamin in einem gewissen Masse von den mystischen Theorien des Judentums
beeinflusst (die er durch seinen Freund Gershom Scholem kennen gelernt hatte). Meiner
Meinung nach ist aber eben durch die Lektüre Goethes – dessen Begriff des Urphänomens
wichtig ist, um den der Idee bei Benjamin zu begreifen – zu erklären, dass Benjamin
1
Vgl. HERMANN COHEN, Ethik des reinen Willens, Hildesheim- New York 1981, I Kap.
3
schließlich dazu gelangt, den Begriff der unmittelbaren und wahrgenommenen Wahrheit zu
thematisieren.
Die scheinbare Duplizität der Idee wird also das Hauptthema, an dem ich die
vorliegende Arbeit orientieren werde: bleibt diese Zweideutigkeit in den späteren Schriften
Benjamins erhalten? Welche Bedeutung hat sie letztlich? Meine Auslegungshypothese ist,
dass diese Ambivalenz tatsächlich existiert. Jedoch ist sie nur scheinbar eine Ambivalenz. In
der Entwicklung dieses Problems spielt der Begriff des „Lesens“ eine grundsätzliche Rolle.
Die Aussage Benjamins, – welche auch der Titel eines früheren Fragmentes ist –,
„Wahrnehmung ist Lesen“ ist die Spur gewesen, die mich dazu gebracht hat diese
Ambivalenz der Idee zu beleuchten. Eben diese Ambivalenz erweist sich als der theoretische
Kern der Philosophie Benjamins und verweist bedeutungsvoll auf jene zwischen der Idee und
dem Phänomen bestehende „Grenze“, die problematisch war. Der Satz „Wahrnehmung ist
Lesen“ - wo sich der Begriff der Wahrnehmung auf die unmittelbare Wahrnehmung der Idee
bezieht – hat mich eben zu der Hypothese geführt, welche meine Arbeit beweisen will: die
Idee, die in Ursprung des deutschen Trauerspiels bedeutungsvoll als „Bild“ definiert wird, ist
die Auslegendenstruktur der phänomenalen Welt. Und das Lesen – welches die
Wahrnehmung der Idee mit sich bringt – ist das unendliche und immer für neue
Entwicklungen offene Verfahren dieser Interpretation. Dies bedeutet, dass die Unmittelbarkeit
der Wahrnehmung und die Idealität der unendlichen Aufgabe nicht einen Widerspruch in der
Philosophie Benjamins bilden, sondern vielmehr deren Originalität bestimmen.
Die dialektische Bewegung zwischen dem Phänomen und der Idee ist die „Grenze“,
auf welche sich die Philosophie bewegt und arbeitet. Von dem Phänomen geht man aus, um
es im Licht der Idee zu analysieren und zu lesen; von dieser steigt man in die phänomenale
Welt hinab. Diese Bewegung, die meiner Meinung nach der Leseschlüssel des Benjaminschen
Denkens ist, verweist auf einen anderen bekannten Begriff Benjamins: die „Rettung der
Phänomene“, welchen Benjamin in dem Trauerspielbuch einführt und der auch in seinen
späteren Schriften vorkommt. Die gleiche unendliche Bewegung, die das Verfahren des
Lesens (als Auslegungsaktivität) charakterisiert, ist – in einer radikalen Weise – in den
Begriff der „Rettung der Phänomene“ anwesend. Ein solcher Begriff hat Anlass zu
„theologischen“ Interpretationen der Schriften Benjamins gegeben. Die letzten beiden Kapitel
dieser Arbeit sind diesem Begriff gewidmet: sie beabsichtigen zu zeigen, dass dieser, selbst
wenn er ein religiöses Fundament hat und selbst wenn er auf dem jüdischen Begriff der
Erlösung hinweist, in dem Denken Benjamins zunächst eine operative Aufgabe ist. Die
Rettung der Phänomene hat bei Benjamin also zuerst eine methodisch-intellektuelle
4
Bedeutung, die zu der eschatologischen zurückführt, indem die erste die letzte antizipiert. Mit
dem Begriff der τά φαινόµενα σώζειν - (eben „Rettung der Phänomene“) – theoretisiert
Benjamin das, was ich als die „Methode“ seiner Philosophie definieren will. Die Rettung, als
intellektuelle Rettung ist für Benjamin die Aufgabe des Intellektuellen, welche in dem Zitat
von Karl Kraus’, das als Epigraph anfangs der vierzehnten These über die Geschichte
erscheint, synthetisiert ist: „Ursprung ist das Ziel“. Die Aufgabe der Philosophie besteht also
darin, unendlich von dem Phänomen zu der Idee hinaufzusteigen, die zugleich das Ziel und
der Ausgangspunkt des Denkens ist. Dies bedeutet, dass die Aufgabe – d.h. das Ziel der
Philosophie – darin besteht, die ursprüngliche Bedeutung des Phänomens zu finden. Wir
werden also die Stellen zutage bringen, in denen Benjamin die Methode der Rettung
thematisiert und jene Stellen, in denen er sie anwendet.
Die Methode der intellektuellen Rettung hat aber auch eine weitere Bedeutung, die ich
als moralisch bezeichnen möchte. In dem letzten Kapitel dieser Forschung wird durch die
Analyse des Essays Goethes Wahlverwandtschaften gezeigt, in welchem Sinne es möglich ist,
dass in der Philosophie Benjamin von einem ethischen Denken die Rede sein kann. Mein
Vorhaben ist es zu beweisen, dass wenn einerseits die Erlösung eine religiöse Bedeutung hat,
welche eine eschatologische Ethik gründet, andererseits der Begriff der Erlösung auf eine
Aussöhnung zwischen der Idee und dem Menschen hinweist, die aber eine „Ethik der
Hoffnung“ gründet. Diese letzte ist also das moralische Streben des Phänomens, um seinen
Ursprung in der Idee zu anerkennen und an dieser letzten orientiert zu handeln.
Die Aktualität der Philosophie Walter Benjamins, die in den letzten Jahren
zugenommen hat, ist vor allem auf die Originalität zurückzuführen, mit der er die Ränder der
technischen Gesellschaft und deren Entstellungen beschrieben hat. Die Moderne – und deren
existentielles Synonym: der Mythos – ist die historische (sowohl theoretische als auch
moralische) Situation der Verblendung der Idee. D.h. die Idee in dem Phänomen zu erblicken,
– und das eben ist, was in der Welt der Moderne eben immer schwieriger wird –, ermöglicht
das Phänomen emporzuheben und es vor dem bloßen Schein, zu dem es als Phänomen
verurteilt ist, zu retten. Das gleiche Prinzip gilt auch in der Moral: das Phänomen soll zu der
Idee emporgehoben werden, um somit einen Sinn und einen moralischen Wert zu erwerben.
Es darf also nicht von menschlichem Leben die Rede sein, sondern nur von natürlichem
Leben, wenn dem Menschlichen die von der Idee gegebene ethische Bedeutung fehlt: Eine
Person wird eben zu einer solchen, wenn sie sich zur Idee der Menschlichkeit und zu dem,
was diese impliziert – d.h. die Verantwortung und die Wahl – erhebt. Die Rettung des
5
Phänomens wird also in der Benjaminschen Ethik nicht nur die Aufgabe des Intellektuellen,
sondern jedes Menschen.
Impliziert die Erlösung eine völlige und radikale Befreiung von dem Schein, ist jedoch
die Versöhnung (also die intellektuelle und menschliche Erlösung), als Möglichkeit die Idee
in dem Schein zu anerkennen, nur das Symbol der eigentlichen Erlösung. Sie ist also deren
Antizipierung. Wir können noch sagen, dass, wenn die Hoffnung der Erlösung ein Streben zu
der vollendeten Resolution des Phänomens in der Idee ist, eine solche Hoffnung nur
denjenigen zu eigen sein kann, denen der ontologische Unterschied zwischen der Idee und der
phänomenalen Realität bewusst ist. Also denjenigen, die dazu gelangen, die Realität als eine
bloße Manifestation der Idee zu sehen. Dann taucht erneut das folgende Problem auf: wem
manifestiert sich die Idee? Und wie? Diesbezüglich erweist sich das Denken Benjamins als
elitär. Die Möglichkeit, die Idee im Zeitalter ihrer Verblendung wahrzunehmen, sieht
Benjamin nämlich für einen begrenzten Kreis – der als „komplementäre Welt“ bezeichnet
wird – von Intellektuellen und Künstler vor, die eben die einzigen sind, die noch imstande
sind die Idee in ihren mittlerweile vagen phänomenalen Manifestationen wahrzunehmen.
Im Laufe der Arbeit beabsichtige ich, über die Benjaminschen Konzeption der „Zeit“
nachzudenken, in welcher der Begriff des „Jetzt“ zwar von zentraler Bedeutung ist, wie auch
in der Sekundärliteratur immer wieder betont wird. Denn es kreisen auch noch zwei Elemente
um ihn herum, die ebenso grundsätzlich zum Begreifen der Benjaminschen Temporalität sind:
die Vergangenheit, in ihrer besonderen Form des „Gewesenen“, und die Zukunft, in ihrer
besonderen Form des „Wartens“. Das alles hat, wie wir sehen werden, eine sehr deutliche
jüdische Herkunft. Die Zeit der Idee verweist auf die Dialektik des Begriffes der Rettung,
erneut in der Formel „Ursprung ist das Ziel“ ausgedrückt. Dieser Ausdruck zeigt nämlich eine
zeitliche und zugleich ideelle Zirkularität: die „Vergangenheit“ des Ursprungs ist auch die
„Zukunft“ des Zieles. Die Vergangenheit ist nicht die bereits gestorbene und vergessene
Vergangenheit, sondern sie erwirbt die ideale Bedeutung einer Vergangenheit, die
wiederaktualisiert werden kann (und muss): d.h. vor dem Vergessenen gerettet. Zugleich ist
die Zukunft nicht die künftige kommende Zeit, sondern sie ist die unendliche Bewegung der
Rettung des Phänomens, das wieder zur Idee geführt wird. Das Benjaminsche Gewesene ist
bedeutungsvoll mit dem Begriff des „Eingedenkens“ verbunden, d.h. mit einem aktiven
Erinnern, das die vergangene Zeit wiedererleben will. Die Zukunft ist mit dem Begriff der
Hoffnung verbunden, der die ständige Spannung des Phänomens zur Idee ausdrückt.
Der Begriff der Zeit bringt uns außerdem dazu zu beweisen, inwiefern die Rettung
auch eine existentielle Bedeutung hat. Die bekannte Figur des Benjaminschen Engels, der in
6
die Zukunft aufbricht, dessen Blick aber melancholisch der Vergangenheit starrt, als ob er sie
mit ihm in seiner Reise Richtung Zukunft mitnehmen wollte, ist etwa das Symbol dieser
existentiellen Rettung. Der „Heimweg“, auf dem sich die Hoffnung des Engels konzentriert,
ist der metaphorische Ausdruck des existentiellen Bedürfnisses der Möglichkeit, die
Vergangenheit wiederzuerlangen, da für Benjamin die Vergänglichkeit des Menschen die
Unmöglichkeit, die vergangene Zeit wiederzuleben, ausdrückt. Nur die Rettung, im
eschatologischen Sinne verstanden, rettet die Menschheit für immer vor der Grenze ihrer
Endlichkeit und vor dem, was ewig vergeht. Dennoch ist die intellektuelle Rettung bloß das
Symbol des eschatologischen Endes, und außerdem deren Antizipierung. Die Erlösung zu
antizipieren bedeutet, sowohl die existentielle Möglichkeit in den dem Menschen gestatteten
Grenzen - d.h. durch die Erinnerung - zur Vergangenheit zurückzukehren als auch die
(ethische und theoretische) Möglichkeit einen neuen Begriff der Geschichte (anders als der
der Tradition) zu erschaffen, aber auch die existentielle Möglichkeit in der Erinnerung die
bereits erlebte Vergangenheit wiederzuerlangen. Die intellektuelle Erlösung ermöglicht also
dem Menschen nicht nur die Hoffnung auf ein neues historisches Gedächtnis, sondern auch
die Hoffnung auf ein existentielles Gedächtnis zu haben.
7
ERSTES KAPITEL
ERFAHRUNG UND ERKENNTNIS
1.
Wissenschaftliche Erfahrung und unmittelbare Erfahrung
Ich möchte meine Arbeit mit einer Analyse der Begriffe „Erkenntnis“ und „Erfahrung“
innerhalb des Fragmentes 19, Über die Wahrnehmung, der Gesammelte Schriften anfangen.
Benjamin hat gegen 1917 das Fragment geschrieben, das von den Herausgebern der Werke
Benjamins als Vorstudium1 der berühmten Schrift Über das Programm der kommenden
Philosophie aus dem Jahr 1917 betrachtet wird. Zunächst muss man den Titel beachten:
„Über die Wahrnehmung“. Es ist nämlich interessant, dass Benjamin das Fragment bezüglich
der Wahrnehmung betitelt, während seinem Inhalt nach – der sich völlig um die Begriffe der
Erfahrung und der Erkenntnis dreht – die Wahrnehmung nur am Ende des Textes erwähnt
wird. Es ist aber wichtig sich daran zu erinnern, dass dieses Fragment von Benjamin nicht zur
Veröffentlichung gedacht wurde, genauso wenig wie die folgende und kompliziertere
Programmschrift. Das erklärt die häufige Inkonsequenz Benjamins bei der Analyse der
Begriffe und den Mangel an Definitionen derselben, die die Begegnung mit dem Text extrem
schwierig machen.
Man erinnert oft daran, dass das Fragment 19 zu der Reihe der Kantischen und
Neukantischen Studien gehört, die Benjamin von 1917 an begann. Er hatte nämlich die
Absicht, als Promotionsarbeit ein Projekt über Kant und Cohen zu schreiben, die als
Hauptthema den Begriff „unendliche Aufgabe“ haben sollte. Daher war Benjamin in den
Jahren 1917 und 1920 – wie vor allem der Briefwechsel mit Scholem beweist - mit einer
gründlichen Untersuchung dieser Autoren und besonders ihrer Erkenntnistheorie beschäftigt.
1
Vgl. GS VI 657.
8
Aber inwiefern ist Benjamin in seinen Reflexionen über die Begriffe „Erfahrung“ und
„Erkenntnis“ tatsächlich Kant und Cohen gefolgt?
Das Fragment Über die Wahrnehmung fängt mit einer Auseinandersetzung des Autors
mit den Kantischen Begriffen „Erfahrung“ und „Erkenntnis“ an, ohne aber dass diese Begriffe
deutlich bezeichnet werden. Benjamin schreibt, dass Kant der erste Philosoph war, der eine
Trennung zwischen Erfahrung und Erkenntnis der Erfahrung macht, wobei man unter
Erkenntnis die apriorische Naturerkenntnis versteht, die Kant „Metaphysik der Natur“ nennt:
mit „Metaphysik“ meint Kant also eine reine und apriorische Erkenntnis der Konstitution der
Naturdinge, die direkt und nur aus dem Verstand hervorgeht, während die „Materie der
Empfindung“ das aposteriorische Element darstellt, das als Materie für die Konstruktion der
Erfahrung dient. So macht Kant, laut Benjamin, eine Trennung zwischen Erfahrung und
Erkenntnis der Erfahrung, da die erste aposteriorische Elemente enthält, die zweite hingegen
rein ist und ausschließlich aus dem Verstand herausgeht. Darüber hinaus gibt es noch einen
wichtigen Punkt, den Benjamin in dem Fragment hervorhebt, nämlich: der Begriff, mit dem
sich Kant und die Aufklärer beschäftigten, ist ein leerer Begriff, gottlos2. Er hat nämlich die
ursprüngliche Fülle verloren, die er bei den vorkantischen Philosophen hatte. Auch in diesem
Fall erklärt und vertieft Benjamin den Begriff der „gottlosen Erfahrung“ nicht, sondern er
bezeichnet ihn sozusagen negativ, indem er ihn auf den Begriff der Erfahrung, der der
Aufklärung eigen ist, bezieht und entgegensetzt: die einzige Erfahrung, die für die Aufklärung
Wert hatte und sich von daher zu betrachten und zu ergründen gelohnt hat, ist diejenige
(Erfahrung), die mit der Erfahrung zusammenfällt, die Objekt der Wissenschaften ist. Der
Begriff der Erfahrung, den Kant in Erwägung zieht, ist also ein reduzierter Begriff, weil er
eben bloß demjenigen der wissenschaftlichen Erfahrung entspricht. Mit anderen Worten, nach
Benjamins Ansicht muss, von der Aufklärung her und insbesondere von Kant her die
Erfahrung, die zu ergründen und zu rechtfertigen ist, die mechanische sein, die Objekt der
Wissenschaft ist und eben nicht die ganze Erfahrung in ihrer Fülle und Vielfältigkeit.
Die Schlussfolgerungen, die Benjamin im Fragment 19 zieht, sind also die Folgenden:
der Kantische Begriff der Erfahrung ist ein reduzierter Begriff, weil er dem Gegenstand der
Wissenschaft entspricht. Darüber hinaus unterscheidet er sich nicht genug von der Erkenntnis
der Erfahrung selbst: die Erfahrung als Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis ist eben
nicht mehr etwas außerhalb der letzteren und doch nicht mehr etwas Neues für sie:
2
Vgl. GS VI 36.
9
„Für den Begriff der Erkenntnis ist nämlich die Erfahrung nichts außer ihr
liegendes Neues, sonder nur sie selbst in einer anderen Form, die Erfahrung
als Gegenstand der Erkenntnis ist die Einheitliche und Kontinuierliche
Mannifaltigkeit der Erkenntnis. Die Erfahrung selbst kommt, so paradox
dies klingt, in der Erkenntnis der Erfahrung gar nicht vor, eben weil diese
Erkenntnis der Erfahrung, mithin ein Erkenntniszusammenhang ist“3.
Benjamin beschreibt die Beziehung zwischen Erfahrung und Erkenntnis mit einer Metapher:
„Die Erfahrung selbst ist das Symbol dieses Erkenntniszusammenhanges
und steht mithin in einer völlig anderen Ordnung als dieser selbst. Vielleicht
ist der Ausdruck Symbol sehr unglücklich gewählt, er soll lediglich die
Verschiedenheit der Ordnungen ausdrücken die vielleicht auch in einem
Bilde zu erklären ist: Wenn ein Maler vor einer Landschaft sitzt und sie wie
wir zu sagen pflegen abmalt, so kommt diese Landschaft selbst auf seinem
Bilde nicht vor; man könnte sie höchstens als Symbol seines künstlerischen
Zusammenhanges bezeichnen und freilich würde man ihr damit eine höhere
Dignität als dem Bilde zusprechen, und auch gerade das würde sich
rechfertigen lassen“4 .
Wenn Kant und die Aufklärung den Anstoß zu einer Verwirrung zwischen „Erfahrung“ und
„Erkenntnis der Erfahrung“ gegeben haben, bemüht sich Benjamin dennoch – ich wiederhole,
indem er eine Theorie entwirft, ohne aber deren Schlussfolgerungen zu rechtfertigen –
zwischen „Erkenntnis“ und „Erfahrung“ zu unterscheiden, indem er als Beweis dazu die
Tatsache nutzt, dass die Erfahrung, die sich als Symbol in der Erkenntnis offenbart, also eben
nicht die wissenschaftliche Erfahrung ist, sondern die unmittelbare und natürliche Erfahrung5
- anders als die wissenschaftliche und ursprünglicher, da letztere bloß eine Ableitung, eine
Reduktion davon ist. Von dieser unmittelbaren und natürlichen Erfahrung, schreibt Benjamin,
entfernt man sich im Laufe der Geschichte der Philosophie.
Was meint nun Benjamin mit der „unmittelbaren und natürlichen“ Erfahrung? Wieso
wird sie als „Symbol“ bezeichnet? Am Ende des Fragments schreibt Benjamin:
„Philosophie ist Absolute Erfahrung deduziert im systematisch
symbolischen Zusammenhang als Sprache. Die absolute Erfahrung ist, für
die Anschauung der Philosophie, Sprache; Sprache jedoch als symbolischsystematischer Begriff verstanden. Sie spezifiziert sich in Spracharten, deren
eine die Wahrnehmung ist; die Lehren über die Wahrnehmung sowie über
3
GSVI 36.
GSVI 36f.
5
„Es ist nämlich der unmittelbare und natürliche Begriff der Erfahrung zu unterschieden von dem
Erfahrungsbegriff des Erkenntniszusammenhanges“ (GSVI 36).
4
10
alle unmittelbaren Erscheinungen der absoluten Erfahrung gehören in die
Philosophischen Wissenschaftlichen im weiteren Sinne. Die ganze
Philosophie mit Einschluss der philosophischen Wissenschaften ist Lehre“6.
Benjamin endet also das Fragment, indem er die ursprüngliche Erfahrung als absolute
Erfahrung bezeichnet. Er fügt hinzu, dass sie Sprache ist, als systematisch–symbolischer
Zusammenhang gemeint; gleichzeitig ist aber der ursprünglichere Begriff der Erfahrung, an
den Benjamin denkt, und der sich von dem Begriff der Aufklärung unterscheidet und
insbesondere von dem Kantischen der Erfahrung, eine unmittelbare Erfahrung. Sehen wir uns
hier mit einer Zweideutigkeit konfrontiert? Wie ist es möglich, dass die absolute Erfahrung
ein systematischer Zusammenhang ist und gleichzeitig eine unmittelbare Erfahrung? Es ist
außerdem zu bemerken, dass in der Definition der absoluten Erfahrung der Begriff
„Wahrnehmung“ eingeführt wird, und dass die Wahrnehmung eine Sprachart ist.
Was meint nun Benjamin mit Wahrnehmung? In welchen Sinn ist die Wahrnehmung
eine Sprachart? In welchen Sinn kann also die Erfahrung Wahrnehmung sein und als solche
Sprachart?
2.
Die Beziehung Erkenntnis - Erfahrung und der Untergang des Subjektes
Sehen wir für den Moment von der oben gestellten Frage über die Beziehung zwischen dem
Begriff der Erfahrung und dem der Wahrnehmung ab, um das Verfahren des Gedankenganges
Benjamins in dem Passage vom Fragment 19 zu der Programmschrift zu verfolgen7. Auch,
und vor allem, in diesem Text, setzt sich Benjamin mit Kant und teilweise mit Cohen
bezüglich der Begriffe „Erfahrung“ und „Erkenntnis“ auseinander, und auch in diesem Text
finden wir die selben begrifflichen Zweideutigkeiten des oben betrachteten Fragments wieder.
Wie ich schon oben gesagt habe, ist es zunächst wichtig die Aufmerksamkeit
Benjamins – seit den frühen Schriften– für diese beiden Begriffe, die – man könnte sagen –
einen Doppelbegriff formen, zu unterstreichen: insbesondere in der Programmschrift bezieht
Benjamin sie aufeinander und er betont, dass, wenn sich die Bedeutung des einen Elementes
des Doppelbegriffes ändert, sich auch die des zweiten ändert. Dann werde ich ein zweites
6
GS VI 38.
Dieser Text reicht November 1917 zurück und wird eine Entwicklung des Fragments 19 betrachtet (vgl.
Fußnote 1).
7
11
Problem betrachten, das mit der Erkenntnistheorie verbunden ist, und zwar Benjamins
Absicht einen neuen Begriff der Erkenntnis zu erfinden, der aber nicht in der traditionellen
Beziehung Subjekt – Objekt gegründet wird. Also werde ich versuchen, diese beiden Themen
– die in der Tat untrennbar sind – die von der Auseinandersetzung Benjamins mit Kant und
mit dem Neukantianismus herrühren, zu beleuchten.
2.1 Erkenntnis und Erfahrung: die Termini eines Doppelbegriffes
Benjamin schreibt am Anfang der Programmschrift, dass Kant der erste und der einzige
Philosoph nach Platon war, für den die wichtigste Aufgabe der Philosophie in der
Rechtfertigung der Erkenntnis bestand, und der erste Philosoph, der die Existenz einer engen
Beziehung zwischen den Begriffen „Erkenntnis“ und „Erfahrung“ behauptet. Kant wollte die
Realität finden, deren Erkenntnis begründet sein und gewiss werden sollte: einerseits also galt
sein Interesse der Gewissheit der zeitlosen Erkenntnis, andererseits der zeitlichen und
kontingenten Erfahrung8. Es war ihnen aber nicht klar – schreibt Benjamin weiter – weder
Kant noch den Philosophen der Aufklärung, dass der Begriff der „Erfahrung“, den es zu
gründen galt, in Wirklichkeit die singuläre, zeitliche und primitive Erfahrung war9. Nun,
während Benjamin im Fragment 19 schreibt, dass der Begriff der „Erfahrung“ bei Kant leer
war, weil er auf jenen der wissenschaftlichen Erfahrung reduziert war, behauptet Benjamin
jedoch in der Programmschrift, dass, obwohl der Begriff der „Erfahrung“ von Kant in Bezug
auf die wissenschaftliche Erfahrung formuliert wird, in ihm eine Bindung mit dem Begriff der
primitiven Erfahrung, d.h. kontingent und singulär, bleibt, der nicht mit dem reinen
Bewusstsein, sondern mit dem empirischen verbunden ist.
Kants Verdienst, schreibt Benjamin, war ja eben, dass er „die Frage nach der Dignität
einer Erfahrung die vergänglich war“10 stellte. Trotzdem wird, während im Fragment 19 die
als „natürliche und unmittelbare“ bezeichnete Erfahrung als ursprüngliche und demzufolge
gottvoll – und von ihr entfernt man sich allmählich in der Geschichte der Philosophie –
betrachtet wird, in der Programmschrift genau diese zeitliche, singuläre und begrenzte
8
Vgl. GS II/1 158.
Vgl. Ibidem.
10
Ibidem.
9
12
Erfahrung ein Wert, der „sich der Null näherte“11. Ändert sich also die Ansicht Benjamins
über die Bedeutung der natürlichen Erfahrung, die sich in der Programmschrift genauso leer
wie die der wissenschaftlichen Erfahrung gibt? Wie werden darüber hinaus die Begriffe
„Erfahrung“ und „Erkenntnis“ verbunden?
Benjamin schreibt:
„Es ist von der höchste Wichtigkeit für die kommende Philosophie, zu
Erkennen und zu sondern welche Elemente des Kantischen Denkens
angenommen und gepflegt, welche umgebildet und welche verworfen werden
müssen [...]. Und das eben soll zum Thema der zu erwanderten Philosophie
gemacht werden, dass eine gewisse Typik im Kantischen System aufzuzeigen
und klar aufzuheben ist die höhern Erfahrung gerecht zu werden vermag [...].
Allein nicht nur von der Seite der Erfahrung und Metaphysik muss der
künftigen Philosophie die Revision Kants angelegen sein. Und methodisch,
d.h. als eigentliche Philosophie überhaupt nicht von dieser Seite sondern von
Seiten des Erkenntnisbegriffes her. Die entscheidenden Irrtümer der
Kantischen Erkenntnislehre sind wie nicht zu bezweifeln ist auch auf die
Hohlheit der ihm gegenwärtigen Erfahrung zurückzuführen, und so wird auch
die Doppelaufgabe der Schaffung eines neuen Erkenntnisbegriffes und einer
neuen Vorstellung von der Welt auf dem Boden der Philosophie zu einer
einziger werden“12.
Die Kantische Philosophie, oder besser, die Kantische Erkenntnistheorie, ist also, laut
Benjamin, der Ausgangspunkt, von dem man anfangen muss, um nicht nur einen neuen
Begriff „Erfahrung“ zu formulieren, sondern gleichzeitig einen neuen Begriff „Erfahrung“,
welche tief und metaphysisch13 sei: die beiden Begriffe sind nämlich aufeinander bezogen, so
dass, wenn sich der Sinn des ersten Terminus ändert, ändert sich auch jener des zweiten. Laut
Benjamin ist es Kants Verdienst, (als erster) die Verbindung von Erkenntnis mit der Erfahrung
erkannt zu haben, und als erster behauptet zu haben, dass sich die Philosophie darauf gründet,
dass „in der Struktur der Erkenntnis die der Erfahrung liegt und aus ihr zu entfalten ist“14.
Kant hat aber die Erfahrung nur als Faktum betrachtet, von dem man anfangen muss, eine
reine Erkenntnistheorie zu theoretisieren, die Rechenschaft über dasselbe Faktum geben
könnte. Benjamin vertritt jedoch eine richtige gegenseitige Abhängigkeit zwischen den
Begriffen „Erfahrung“ und „Erkenntnis“. Die Philosophie gründet sich nämlich nicht nur auf
die Voraussetzung, dass die Struktur der Erkenntnis auch die der Erfahrung enthält und dass
11
GS II/1 159.
GS II/1 160.
13
Vgl. GS II/1 160, 163.
14
GS II/1 163.
12
13
die erste aus der zweite abgeleitet werden könnte, sondern dass eben die Bedingungen der
Erkenntnis die selben der Erfahrung seien. Mit anderen Worten, bei dem Benjamin der
Programmschrift existiert nicht – wie aber bei Kant – eine richtige Begründung der Erfahrung
in der Erkenntnis, weil der Leser der Programmschrift den Eindruck hat, dass diese beiden
Begriffe – ich wiederhole: vom Autor nicht deutlich genug in ihrer Beziehung zueinander
geklärt – in einer Korrelation zueinander und in einem zu wenig klaren gegenseitigen
Verhältnis stehen. Diese Korrelation, die Benjamin aber nicht vertieft, wird eben als die
theoretische Voraussetzung der künftigen Philosophie bezeichnet und betrachtet, und in
diesem Sinn ist es daher möglich, dass bezüglich der Begriffe „Erkenntnis“ und „Erfahrung“
von einen Doppelbegriff die Rede ist.
Die künftige Philosophie hat also als Aufgabe die Begründung eines höheren Begriffes
„Erfahrung“, eines metaphysischen Begriffes „Erfahrung“, der seine Rechenschaft in einem
ebenso höheren Begriff „Erkenntnis“ findet, der – wie Benjamin schreibt – der logische Ort15
der Möglichkeit der Metaphysik sei; eine gegenseitige Begründung zwischen Erkenntnis und
Erfahrung berücksichtigend. Um das alles zu verwirklichen, ist es aber Benjamin nach
notwendig, die beiden Begriffe von ihrem traditionellen Bindung zu lösen.
2.2
Der Untergang des Subjektes
Ich lasse mich nun auf das zweite Problem ein, das die Programmschrift stellt: die
Überwindung des Subjektes; ein Thema, mit dem ich mich in diesem Paragraph nur kurz
auseinander setze, weil es in dem frühen Fragment enthalten und thematisiert ist, aber noch
nicht richtig von Benjamin entwickelt wird. Die Anwesenheit dieser Problematik in der
Programmschrift, selbst wenn nur angedeutet, ist eine Bestätigung ihrer Zentralität schon in
dem Denken des jungen Benjamin. Sie wird trotzdem vor allem in den späteren Werken des
Autors auftauchen. Selbst Adorno sieht in den verschiedenen Phasen der Philosophie
Benjamins die Mühe, die Metaphysik durch die Abschaffung des Subjektes zu überwinden:
„In all seinen Phasen hat Benjamin den Untergang des Subjektes und die Rettung des
Menschen zusammengedacht“16.
15
16
GS II/1 161.
TH. W. ADORNO, Charakteristik Walter Benjamins in Über Walter Benjamin, Suhrkamp, Frankfurt 1970, S.11.
14
In der Programmschrift – viel mehr als im Fragment 19 – werden nicht so sehr die
Verdienste Kants als die Lücken seines Denkens zutage gebracht, von denen Benjamin
anfangen will die Kantische Philosophie zu reinigen – und damit ihre wichtigsten Aspekte
aufhebend und die metaphysischen Fehler, die sie enthält, überwindend. Er nennt zwei solcher
Fehler: die Konstruktion einer auf Subjekt und Objekt begründeten Erkenntnistheorie und die
Beziehung von Erkenntnis und von Erfahrung mit dem empirischen Bewusstsein:
„Die wichtigsten dieser Elemente sind: erstens die bei Kant trotz aller
Ansätze dazu nicht endgültig überwundene Auffassung der Erkenntnis als
Beziehung zwischen irgendwelchen Subjekten und Objekten oder
irgendwelchem Subjekt und Objekt; zweitens: die ebenfalls nur ganz
ansatzweise überwundene Beziehung der Erkenntnis und der Erfahrung auf
menschlich empirisches Bewusstsein“17.
Die zweite18 Aufgabe der künftigen Philosophie ist es, einen neuen Begriff „Erkenntnis“ zu
finden, der aber nicht auf der metaphysischen Struktur Subjekt-Objekt begründet ist:
„Es ist die Aufgabe der kommenden Erkenntnistheorie für die Sphäre totaler
Neutralität in Bezug auf die Begriffe Objekt und Subjekt zu finden; mit
andern Worten die Autonomie ureigne Sphäre der Erkenntnis auszumitteln
in der dieser Begriff auf keine Weise mehr die Beziehung zwischen zwei
metaphysischen Entitäten bezeichnet“19.
Wir finden den selben Hinweis auf die Überwindung dieses metaphysischen Status der
Philosophie in einem anderen Fragment – der den Herausgebern der Werke Benjamins
zufolge zwischen 1920 und 1921 geschrieben wurde, also nach der Programmschrift – mit
dem Titel Erkenntnistheorie. Auch in diesem Kontext schlägt Benjamin als Aufgabe der
Philosophie die Überwindung in zwei Punkten vor: der erste, „Die falsche Disjunktion:
Erkenntnis sei entweder im Bewusstsein eines erkennenden Subjekts oder im Gegenstand
17
GSII/1 161.
Die erste, wenn eine Nummerierung möglich ist, ist, wie im vorherigem Paragraph gesagt wurde, die der Suche
nach einer metaphysischen Erfahrung.
19
GSII/1 163.
18
15
(bzw. mit ihm identisch)“20; der zweite, „Der Schein eines erkennenden Menschen (z.B.
Leibniz, Kant)“21.
In welchem Sinne nun versteht Benjamin den Untergang des Subjektes und welche
Vorschläge gibt es für die Lösung dieses traditionellen philosophischen Problems? Des
weiteren schreibt er in der Programmschrift:
„So lässt sich also die Aufgabe der kommenden Philosophie fassen als die
Auffindung oder Schaffung desjenigen Erkenntnisbegriffes, der indem er
zugleich auch den Erfahrungsbegriff ausschließlich auf das transzendentale
Bewusstsein bezieht, nicht allein mechanische sondern auch religiöse
Erfahrung logisch ermöglicht“22.
Es fallen uns sofort zwei Sachen auf. Zunächst verbindet Benjamin im Kontext der
Programmschrift das Problem der Überwindung der Erkenntnistheorie des Subjektes mit dem
Begriff eines transzendentalen Bewusstseins. Zweitens muss dieses transzendentale
Bewusstsein die logische Möglichkeit einer Erfahrung nicht nur mechanisch, aber auch
religiös sichern. Die Lösung des Problems wird also anfangs – und scheinbar durch einen
Versuch – angesetzt, um einen neuen Begriff „Erkenntnis“ zu theoretisieren, der einen neuen
Begriff „Erfahrung“ ermöglicht. Ich erinnere aber daran, dass Benjamin nicht konsequent mit
einem solchen Ansatz ist, weil vielmehr – wie wir oben gesehen haben – eine Reziprozität
zwischen Erfahrung und Erkenntnis auftaucht, statt einer Begründung der einen durch die
andere. Was sich aber klar innerhalb dieser komplizierten Schrift ergibt, ist, dass die beiden
Begriffe – jener der Erkenntnis und jener der Erfahrung – von dem traditionellen Verhältnis
mit dem empirischen Bewusstsein befreit werden und in dem transzendentalen Bewusstsein,
d.h. absolut rein, begründet werden müssen.
Sicherlich ist die Programmschrift als Programm gedacht, also als ein Vorschlag, in
dem der einzuschlagende Weg für die Lösung der gestellten Problemen nur gezeigt wird, was
dazu dient, die begriffliche Undeutlichkeit des Autors zu erklären. Das ist auch der Fall des
transzendentalen Bewusstseins. Es könnte so scheinen, dass Benjamin als Lösung der
Erkenntnistheorie des Subjektes an die Philosophie Hermann Cohens denkt, und dennoch –
schreibt Benjamin – hat der Neukantische Versuch einen der metaphysischen Elemente
lediglich radikalisiert, das erkennende Bewusstsein aber immer seinen Charakter des
20
GS VI 46.
Ibidem.
22
GS II/1 164.
21
16
Subjektes behält, weil es analog zu dem empirischen23 ist. Gewiss haben Cohen und der
Neukantianismus das Problem der Erkenntnistheorie Kants geahnt, das laut Benjamin nicht
ausreichend radikal und konsequent gewesen ist. Trotzdem haben sie an der Begründung einer
eben auf das Subjekt gründeten Erkenntnistheorie festgehalten, das unvermeidbar in der Form
des empirischen Bewusstseins gedacht wird. Benjamin nach müssten wir nun sogar den
Terminus „Bewusstsein“ abschaffen24. In welche Richtung muss man also vorgehen, um einen
Begriff der Erkenntnis zu formulieren, der aber völlig von Elementen der rudimentären
Metaphysik frei ist?
Bemerken wir noch, dass Benjamin, in dem schon erwähnten Fragment
Erkenntnistheorie, auf das ich bereits oben kurz hingewiesen habe, in einer schematischen Art
eine Theorie der Erkenntnis vorschlägt, die sich in zwei Punkten entwickeln muss: „1) die
Konstitution der Dinge im Jetzt der Erkennbarkeit und 2) die Einschränkung der Erkenntnis
im Symbol sind die beiden Aufgaben der Erkenntnistheorie“25. Also führt Benjamin im diesen
Kontext bezüglich einer positiven Definition des Begriffes „Erkenntnis“ zwei neue Elemente
ein: Das Symbol, das wir schon in Bezug auf den Begriff „Erfahrung“ im Fragment Über die
Wahrnehmung getroffen haben, und das Jetzt26 der Erkennbarkeit. Vor der Analyse dieser
beiden Begriffe ist zunächst nötig, den in der Programmschrift von Benjamin gesuchten
Begriff „Erfahrung“ zu untersuchen.
3.
Eine höhere Erfahrung: die metaphysische Erfahrung
Nach was für einer Art der Erfahrung sucht Benjamin? Welche Art der Erkenntnis ist in der
Lage, die höhere Erfahrung zu gründen? Und noch weiter: wie beziehen sich die Begriffe der
Erfahrung und der Erkenntnis aufeinander, die, wie wir vorher gesagt haben, zueinander in
Korrelation zu stehen scheinen und sich gegenseitig begründen? Im Laufe der
Programmschrift wird mehrere Male auf das Bedürfnis hingewiesen, eine neue Art der
23
Vgl. GS VI 161.
Vgl. GS VI 162f.
25
GS VI/ 46.
26
Ich gehe davon aus, dass Benjamin in seinen Schriften keinen Unterschied zwischen den Termini „Jetzt”,
„Augenblick“ und „Aufblitzen“ macht, da er sie nicht näher erläutert. Darum werde ich in diesem Kapitel nicht
diese mögliche Unterscheidung berücksichtigen.
24
17
Erfahrung aufzufinden und zu rechtfertigen. Um dies zu tun, muss man notwendigerweise von
einem Begriff „Erkenntnis“ ausgehen, der aber von den Aspekten der „rudimentären“
Metaphysik, die – wie Benjamin schreibt – jede andere vermeidet, befreit ist. Cohen hatte, laut
Benjamin, einen Kantischen Mangel zu radikalisieren versucht, indem er die apriorischen
Formen der Wahrnehmung abschaffte. So reduziert er die Erkenntnis auf das Subjekt und
demzufolge den Begriff „Erfahrung“, der auf die wissenschaftliche Erfahrung reduziert und
begrenzt ist, modifiziert. Der Begriff der „Erfahrung“, an den Kant denkt, war jedoch immer
noch mit der primitiven und unmittelbaren Erfahrung verbunden. Oben haben wir die Frage
über die zweideutige Einstellung Benjamins für diese letztere Art der Erfahrung gestellt. In
der Programmschrift nämlich sucht man – bezüglich der Revision der Kantischen
Philosophie– eine andere Art der Erfahrung: eben als metaphysisch bezeichnet und
unterschieden sowohl von der wissenschaftlichen als auch von der primitiven Erfahrung.
Versuchen wir also die Bedeutung der „metaphysischen Erfahrung“ zu vertiefen.
Nur ein neuer Begriff „Erkenntnis“, schreibt Benjamin, kann der logische Ort eines
neuen Begriffes „Erfahrung“, die metaphysisch ist, sein. Dieser neue Begriff der Erkenntnis
muss aber von dem empirischen Bewusstsein befreit werden und muss eine kontinuierliche
und einheitliche Erfahrung ermöglichen: also erstens eine nicht in den verschiedenen
Objekten der Naturwissenschaften verrissene Erfahrung und zweitens eine Erfahrung, die die
verschiedenen Bereiche des Denkens und der Forschung, die von der Kantischen und
Neukantischen Philosophie vernachlässigt werden, umfassen kann: als erstes den Bereich der
Religion.
Benjamin schreibt:
Diese Erfahrung umfasst denn auch die Religion, nämlich als die wahre,
wobei weder Gott noch Mensch als Objekt oder Subjekt der Erfahrung ist,
wohl aber diese Erfahrung auf der reinen Erkenntnis beruht als deren Inbegriff
allein die Philosophie Gott denken kann und muss“27.
Im Laufe der Exposition weist Benjamin bloß kurz auf die neue Funktion der Philosophie hin,
die von einem neuen Begriff „Erkenntnis“ ausgehend Gott denken können muss. Es ist
interessant festzustellen, dass Benjamin kurz auf die Rolle der Religion hindeutet, und er
macht das im Bezug auf das Problem der Überwindung einer in dem empirischen Bewusstsein
begründeten Erkenntnistheorie. Von dem her, was er in der Programmschrift schreibt, würde
27
GS II/1 163.
18
es scheinen, dass wenn nur die Erkenntnistheorie – und der ihr entsprechende Begriff
„Erkenntnis“ – in der wahren Religion28 begründet wird, also wenn die reine Erkenntnis Gott
als Gegenstand hat, es möglich ist, das Problem der Gnoseologie des Subjektes zu
überwinden. Wenn nun Benjamin über „wahre Religion“ spricht, meint er die Möglichkeit der
Philosophie, Gott zu denken: weder als Subjekt noch als Objekt des Denkens, sondern als
Inbegriff der Erkenntnis29, bzw. als eine ideale Totalität, nämlich als eine Idee; wir könnten
sogar sagen als die Idee der Totalität. Gegen Ende des Textes schließlich weist Benjamin kurz
eben auf diese Idee hin. Schon in der Kantischen Dialektik hatte die Idee eine zentrale Rolle,
da sich auf sie die Einheit der Erfahrung gründete - jetzt aber gilt für die Begründung eines
höheren Begriffes „Erfahrung“ die Kontinuität und die Einheit der Erfahrung als
unerbehrliche Bedingung: Diese letzte, so unterstreicht Benjamin, ist weder die vulgäre
Erfahrung noch die wissenschaftliche, sondern die metaphysische Erfahrung.
Die Idee wird im Rahmen der Programmschrift also dargestellt, selbst wenn nur als
Andeutung, als mögliches Zentrum einer neuen Erkenntnistheorie, die darauf zielt, die
traditionale Metaphysik zu überwinden und daher einen neuen Begriff „Erfahrung“ mit einer
neuen metaphysischen Bedeutung zu begründen, die den Prinzipien der Einheit und der
Kontinuität entspricht. Es scheint gerade die Beziehung – die es immer noch zu bestimmen
gilt – zwischen dem Begriff der „Idee“ und dem der Gottheit, der – wie wir oben gesehen
haben – mit einer Idee vergleichbar ist oder, um genau zu sein, mit der Idee der Totalität der
Erkenntnis, interessant zu sein.
Aber der „Gott“ der Programmschrift gewinnt noch eine andere Bedeutung, die
Benjamin dieses Mal an dem Begriff der metaphysischen Erfahrung bindet. Mit dem
Ausdruck „metaphysische Erfahrung“ muss man zunächst die Metaphysik im traditionellen
Sinne ausschließen, da die Art der Metaphysik einem leeren und rudimentären Begriff, der
überwunden werden muss, entspricht. Wenn also Benjamin in der Programmschrift über
Metaphysik - sie auf die Erfahrung beziehend - redet, hat er folglich die Ansicht, diesen
Begriff zu erneuen, genauso wie er die Begriffe „Erkenntnis“ und „Erfahrung“ zu erneuen
meint. Die metaphysische Erfahrung ist, wenigstens in der Programmschrift, die
kontinuierliche und einheitliche Erfahrung: „Erfahrung ist die einheitliche und kontinuierliche
Mannigfaltigkeit der Erkenntnis“30. Eine solche Erfahrung wird aber auch als eine „konkrete
Totalität der Erfahrung“ definiert, die von der Erkenntnis niemals erreicht werden kann; und
28
GS II/1 163.
Vgl. GS II/1 168.
30
Ibidem.
29
19
doch, schreibt Benjamin, existiert eine Form der einheitlicher Erfahrung, die erreichbar ist und
auf die sich die Erkenntnis richten kann: diese ist die religiöse Erfahrung.
Also könnte man vorläufig abschließen, dass der gesuchte Begriff „Erfahrung“, die
höhere und metaphysische Erfahrung, eine Totalität, eine nie erreichbare Einheit ist, die
Religion jedoch eine Form jener Erfahrung darstellt, zu der die Erkenntnis irgendwie einen
Zugang hat. Genau wie in dem Fall des Inbegriffes der Erkenntnis, ist die Totalität der
Erfahrung auf die Religion bezogen und auf deren höheren Begriff: Gott.
4.
Die konkrete Totalität der Erfahrung: Was nie geschrieben wurde
Nun kehren wir zu den Fragen und zu den Problemen, die in den vorangegangenen Seiten
gestellt worden sind, zurück. Zunächst haben wir gesehen, dass Benjamin den Begriff der
Erfahrung in der Programmschrift und im Fragment 19 anders zu behandeln scheint. Wir
haben gesagt, dass während im Fragment 19 die zu suchende Erfahrung, auf welche sich die
Philosophie beziehen muss, die „natürliche und unmittelbare“ ist, die in der Erkenntnis als
Symbol vorkommt; in der Programmschrift ist sie jedoch die metaphysische Erfahrung, die
sich sowohl von der primitiven und natürliche Erfahrung als auch von der bloß
wissenschaftlichen unterscheidet. Aber nur scheinbar widerspricht sich Benjamin. Der Begriff
der „Erfahrung“ des Fragments 19 entspricht nämlich nicht der - sozusagen - vulgären
Erfahrung; sie ist also nicht die primitive Erfahrung, die ein jeder in dem alltäglichen Leben
macht. Vielmehr scheint Benjamin an einen Begriff, der einer Idee entspricht, oder besser, an
ein Ideal, zu denken.
Oben haben wir gesehen, dass Benjamin durch eine Metapher erklärt, dass sich die
Erfahrung auf deren Erkenntnis als Symbol bezieht: sie ist nämlich bloß als Symbol innerhalb
der Erkenntnis der Erfahrung zu denken. Darüber hinaus wird uns gesagt, dass ursprünglich
der Begriff dessen was Erfahrung genannt wird, d.h. „das Symbol der Erkenntniseinheit“,
höher und „gottvoll“ war. Aus dieser Fülle wird die von der Aufklärung eingeführte Erfahrung
dann entbehrt. Schließlich ist jene ursprüngliche Erfahrung, die Symbol ist und „gottvoll“ ist,
auch irgendwie mit der Wahrnehmung verbunden. Das Wort „Wahrnehmung“, das, ich
erinnere daran, der Titel des Fragmentes ist, erscheint als Begriff aber nur am Ende desselben,
20
eben in Bezug auf die Definition eines höheren Begriffes „Erfahrung“. Genauso wie die
natürliche und unmittelbare Erfahrung dem Begriff der vulgären Erfahrung nicht entspricht,
sondern einem höheren, so dass, wenn Benjamin von Wahr-Nehmen spricht, er sich nicht auf
die Wahrnehmung im allgemeinen Sinne bezieht, sondern auf eine höhere Art das Wahr(e) zu
begreifen.
Die drei Fragmente Wahrnehmung ist Lesen, Über die Wahrnehmung in sich und
Notizen zur Wahrnehmungsfrage, geschrieben um das Jahr 1917, sind manchen ziemlich
komplexen Reflexionen über die Wahrnehmung gewidmet. Zunächst wird dort gesagt, dass
die Wahrnehmung Lesen ist. Insbesondere in den Notizen zur Wahrnehmungsfrage behauptet
Benjamin, indem er die Wahrnehmung von dem Zeichen unterscheidet, dass erstere nicht die
unendliche Nummer der möglichen Bedeutungen, sondern die endliche Nummer der
möglichen Deutungen31 ist. Die Wahrnehmung wird also als die Fähigkeit, durch die Deutung
Bedeutung zu geben, präsentiert, und sie ist zunächst Lesen. In dem kurzen Fragment 16,
bedeutungsvoll Wahrnehmung ist Lesen betitelt, deutet Benjamin darüber hinaus auf die
Unfähigkeit der Menge hin, die Erkenntnis von der Wahrnehmung zu unterscheiden, und er
fügt hinzu, dass diese letzte sich auf Symbole32 bezieht. Die Wahrnehmung ist also auch in
diesen Fragmenten ein Wahr-Nehmen, und zwar als Fähigkeit gemeint, die Wahrheit, die sich
als Symbol offenbart, zu begreifen – zu lesen.
Interessant sind auch die späteren zwei Fragmente Lehre vom Ähnlichen und Über das
mimethische Vermögen, geschrieben um das Jahr 1933. In ihnen wird die Wahrnehmung als
eine Fähigkeit aufgefasst, Ähnlichkeiten und Korrespondenzen unter der Sachen zu finden. In
Über das mimethischen Vermögen – eine Überbearbeitung des Fragmentes Lehre vom
Ähnlichen – behauptet Benjamin, dass, die Alten die Gabe hatten, „magische
Korrespondenzen und Analogien“33 unter der Sache zu erkennen; dann hat sich diese
Fähigkeit im Laufe der Geschichte so sehr gewandelt und allmählich vermindert, dass der
moderne Mensch sie bloß im niedrigsten Grade besitzt. Die Alten – schreibt Benjamin –
konnten den Gestirnstand im Himmel lesen und in sie die Korrespondenzen mit dem
menschlichen Schicksal, konnten in dem Tanz die Bedeutungen und symbolischen
Ähnlichkeiten begreifen: sie konnten schließlich „was nie geschrieben wurde“34 lesen und
deuten. Das ist die erste, die älteste und, man könnte auch sagen, die ursprüngliche Form vom
Lesen: das ist das Lesen, das jeder Sprache vorangeht, es ist die Auslegung der Gesten und der
31
Vgl. GS VI 33.
Vgl. GS VI 32.
33
GS II/1 211.
32
21
Zeichen in dem Aufblitzen. Benjamin versucht hervorzuheben, dass diese Wahrnehmung der
Alten notwendigerweise mit dem Aufblitzen verbunden sei: nur in dem Aufblitzen offenbaren
sich die Verbindungen und die magische Korrespondenzen unter den Sachen, und nur in dem
Augenblick ist die Wahrnehmung der unsinnlichen Ähnlichkeiten möglich. Das interpretative
Lesen der Alten war also ein Wahrnehmen, das, wie Benjamin schreibt, „an ein Aufblitzen
gebunden” ist, das „vorbei huscht ”.35
Dem Menschen der Moderne, der diese Fähigkeit fast völlig verloren hat, ist aber eine
andere Quelle, oder, wie Benjamin schreibt, ein „Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeiten”,36
geblieben. Mit anderen Worten, obwohl der Moderne die Wahrnehmung der Alten zumeist
verschlossen ist, bleibt ihr trotzdem die Sprache und die Möglichkeit, in der Sprache eben
„was nie geschrieben wurde” zu lesen. Benjamin betont darüber hinaus, dass nicht so sehr die
gesprochene Sprache wie die geschriebene erlaubt, Korrespondenzen und Ähnlichkeiten unter
den Sachen zu finden: „’jedes Wort ist - und die ganze Sprache’, so hat man wohl behauptet,
‘ist onomatopoetisch’”.37
Ohne im Moment uns mit der Sprache und mit der Bedeutung, die die Sprache in der
Philosophie Benjamins hat, zu beschäftigen, kehren wir aber zu dem Fragment Über die
Wahrnehmung zurück, in dem gesagt wird, dass die absolute Erfahrung Sprache ist und, dass
eine Form deren die Wahrnehmung ist: Wir können nun zunächst feststellen, dass „Sprache”
in diesem Kontext in dem breiteren Sinne des interpretativen Lesens genutzt wird, und dass
der Terminus „Wahrnehmung”, den Benjamin benutzt, dem gerade analysierten Begriff der
Wahrnehmung entspricht. Also, der Begriff der ursprünglichen Erfahrung fällt nicht mit der
alltäglichen Erfahrung, natürlichen und primitiven, zusammen, sondern mit einer Form des
Lesens - die ursprüngliche Sprache - welche Wahrnehmung der Symbole in dem Augenblick
ist. Benjamin bemerkt nämlich, dass, während die vorkantische Erfahrung „bedeutungsvoll”
und „Gottvoll” war, die nächste – die der Moderne – degeneriert ist; sie hat die Bedeutung
und die ursprüngliche Fülle verloren. Ebenso hat sich im Fragment Über die mimetischen
Vermögen die Moderne allmählich von der ursprünglichen Wahrnehmung entfernt. In Über
die Wahrnehmung ist die Erfahrung der Moderne, die langsam ihre ursprünglichen Bedeutung
verliert, unfruchtbar und leer werdend.
Von daher kann man zwei Hypothesen wagen: erstens, die eines Zusammenfalles
zwischen den Begriffen der „Wahrnehmung” und der „absoluten Erfahrung” (diejenige wovon
34
GS II/1 213.
Ibidem.
36
Ibidem.
35
22
man im Fragment 19 spricht); zweitens, da – wie wir gerade gesehen haben – der Moderne die
ursprüngliche Wahrnehmung verschlossen ist, bleibt ihr als einzige Möglichkeit dieses Archiv
der Korrespondenzen, das die Sprache ist. Man kann wohl behaupten, dass es eine sehr starke
Beziehung zwischen Erfahrung, Wahrnehmung und Sprache gibt und, dass diese Beziehung
durch die Tatsache begründet und gerechtfertigt ist, dass sich eben – und ausschließlich,
mindestens für den Benjamin dieser Jahre – für die Moderne gerade in der Sprache die
Möglichkeit offenbart, die Wahrheit wahrzunehmen und zu begreifen.
Nun kehren wir zu der Beziehung zwischen Erfahrung und Wahrnehmung zurück. Ein
weiteres interessantes Element, das uns denken lässt, dass diese Beziehung in Wirklichkeit ein
Zusammenfall ist, ist der Begriff des Augenblicks. Man hat gesagt, dass in den oben
betrachteten Fragmenten über das mimetische Vermögen der Augenblick das zeitliche
Element zu sein scheint, in dem man das Symbol wahrnehmen kann. Im Fragment Über die
Wahrnehmung Benjamin ist die unmittelbare und natürliche Erfahrung der aufklärerischen
entgegensetzt. Halten wir uns nun an den Sinnen der Unmittelbarkeit einer solchen Erfahrung
auf. Was ist also eine unmittelbare Erfahrung? Ganz im Gegensatz zu der Erfahrung der
einzelnen Wissenschaften, die notwendigerweise durch mehrere Faktoren, wie z.B. die
Beobachtung und die Messinstrumente, gemittelt ist38, ist die unmittelbare Erfahrung eine
vermittlungslose Erfahrung der Symbole, die in dem Augenblick geschieht: also ein
interpretatives Lesen, das erlaubt, die vom Anfang an verborgene Bedeutungen zutage zu
fördern. Wir könnten uns nun noch fragen, ob diese Unmittelbarkeit auch von der Vermittlung
der Vernunft und des Verstandes entbunden ist, und ob der Augenblick, von dem Benjamin
redet, eben nicht der zeitlichen Extension entnommen ist, sondern ob er vielmehr ein Element
außerhalb der Zeit ist.
An dieser Stelle bleibt nur zu sehen, ob diese Verwandtschaft, oder besser gesagt,
dieser
Zusammenfall
zwischen
„Erfahrung”
und
„Wahrnehmung”,
auch
in
der
Programmschrift, wo - ich wiederhole - die zu gründende Erfahrung als „metaphysisch” und
nicht mehr „absolut” bezeichnet ist, zu finden ist, und schließlich in welchem Sinne Benjamin
in der Programmschrift von metaphysischer Erfahrung als konkrete Totalität der Erfahrung,
die niemals von der Erkenntnis erreichbar ist, spricht.
Auch in der Programmschrift finden wir den Hinweis auf die Sprache: Benjamin endet
nämlich den Text der Programmschrift, indem er behauptet, dass nur eine Reflexion über das
sprachliche Wesen der Erkenntnis diesen Begriff erweitern kann und ihm alle Bereiche zu
37
GSII/ 212.
23
umfassen erlaubt, die ein durch die Mathematik oder durch die Logik begründeter Begriff der
Erkenntnis notwendigerweise vernachlässigen muss. Diesem erweiterten Begriff der
„Erkenntnis“ entspricht also ein erweiterter Begriff der „Erfahrung“, der nicht mehr auf die
Erfahrung der einzelnen Wissenschaftlichen begrenzt ist. Die sprachliche Reflexion über die
Erkenntnis ist durch die Tatsache gerechtfertigt, dass alle unsere Erkenntnisse sich durch die
Sprache und nicht durch mathematische Formeln aussprechen lassen. In der Programmschrift
finden wir auch den Hinweis auf den Augenblick,39 auf die Unmittelbarkeit wieder. Aber
gerade an dieser Stelle wird der Gedankengang Benjamins komplizierter. Er führt nämlich
seinen Gedankengang über die Sprache nicht weiter, sondern hält sich an dem Verhältnis
Philosophie-Religion auf, das in dem Nachtrag der Programmschrift – der sich aber schwer
verstehen lässt, weil er, verglichen mit dem Rest des Textes, auf eine ganz andere Stufe
gestellt ist – thematisiert, oder besser, entworfen worden ist.
Benjamin behauptet – eben in diesem Nachtrag – dass der Begriff der „Erkenntnis“,
den er jetzt Stammbegriff oder Urbegriff nennt, eine Doppelfunktion hat. Die erste, die der
eigentlichen erkenntnistheoretischen Funktion entspricht, besteht in einer Spezifikation eines
solchen Begriffes in den einzelnen Erkenntnissen und Erfahrungen. Diese Funktion, schreibt
Benjamin, kommt nie dazu, weder eine konkrete Totalität der Erfahrung noch einen Begriff
des Daseins zu begreifen, sondern bezieht sich auf die Gesetze der Dinge: mit anderen
Worten, diese erste Funktion der Erkenntnis scheint dem traditionellen Begriff „Erkenntnis“,
der sich in den mannigfaltigen und einzelnen Wissenschaften spezifiziert, zu entsprechen. Sie
wird aber auch negativ beschrieben und definiert, nämlich als die gnoseologische Funktion,
die nicht in der Lage ist, weder eine konkrete Totalität der Erfahrung noch irgendeinen Begriff
des Daseins zu begreifen. Sie ist also nicht imstande, weder das unendlich Große (die
Totalität) noch das unendlich Kleine (das Dasein der Einzeldinge) zu begreifen, sondern bleibt
mit den Gesetzen der Dinge verbunden. Man würde nun erwarten, dass Benjamin genau an
dieser Stelle auch die zweite Funktion des Urbegriffes „Erkenntnis“ beschreiben würde, und
dass diese demzufolge durch die Fähigkeit gekennzeichnet ist, irgendwie die konkrete
Totalität der Erfahrung und das Dasein zu erreichen. Aber der Diskurs Benjamins verläuft
anders weiter. Er behauptet, dass es eine konkrete Totalität der Erfahrung gibt, auf die sich die
Erkenntnis unmittelbar (und zwar im doppelten Sinne, also ohne Vermittlung und in dem
Augenblick) bezieht, und dass solch eine Totalität die Religion ist. Also der neue Begriff
„Erkenntnis“ hat - wenn er sich nicht spezifiziert, sondern wenn er sich wie eine
38
Vgl. GS VI 40ff.
24
kontinuierliche Einheit entfaltet, wenn er Lehre40 ist - die Fähigkeit, eine konkrete Totalität
der Erfahrung zu erreichen, auf die er sich unmittelbar und ohne Vermittlung bezieht: Diese
Funktion des Erkenntnisbegriffes ist diejenige, die von Benjamin eigentlich als
„metaphysisch” definiert wird, und die Totalität, auf die sie sich bezieht, ist die Religion.
Versuchen wir nun in der Programmschrift uns das problematische Verhältnis
zwischen Erfahrung und Wahrnehmung vor Augen zu führen, das, wie wir schon gesehen
haben, von den Begriffen des Augenblicks und des Symbols her analysiert werden muss. Um
dies zu tun, müssen wir zunächst beleuchten, was Benjamin mit „Religion” meint, weil gerade
die Religion die höhere Erfahrung, die metaphysische, ist, auf die sich der Stammbegriff
„Erkenntnis“ bezieht.
5.
Erfahrung und Religion
Es wurde schon gesagt, dass Benjamin in der Programmschrift einige Probleme hervorhebt,
die nur entworfen, nicht aber gelöst werden, weil er diesen Text nur als ein Programm und als
eine Arbeitshypothese betrachtete. Die wohl undeutlichsten Hauptpunkte sind: der Vorschlag
einer Überwindung der auf der Beziehung Subjekt-Objekt begründeten traditionellen
Erkenntnistheorie; die Suche nach einer nicht näher spezifizierten metaphysischen Erfahrung;
und schließlich, der vielleicht komplizierteste Aspekt, das Verhältnis zwischen Philosophie
und Religion, der nur in dem spät hinzugefügten Nachtrag der Programmschrift angedeutet
wird. Auf dieses letzte Argument möchte ich nun in diesem Abschnitt eingehen, in soweit es
mir scheint, dass die Problematiken, die er hervorhebt, hinweisend für ein besseres
Verständnis der oben erwähnten Punkte sein können.
Wir haben in dem vorherigen Abschnitt gesehen, dass Benjamin dem Urbegriff
„Erkenntnis“ zwei Bedeutungen zuschreibt, von denen nur die metaphysische in der Lage ist,
zu einer “konkreten Totalität der Erfahrung” zu gelangen. Zunächst muss man sich fragen,
was in diesem Ausdruck das Wort „konkret” heißt. Wieso also bezeichnet Benjamin die
metaphysische Erfahrung, als konkret; und zwar diese Art von Erfahrung - die im Unterschied
zu der Kantischen - einheitlich, total und kontinuierlich ist? Es zeigt sich deutlich, dass bei
Benjamin die Erfahrung eine andere Bedeutung und eine andere Funktion hat als bei Kant;
39
Vgl. GS II/1 170
25
nicht nur insofern als dass diejenige Erfahrung, nach der Benjamin sucht, eine totale
Erfahrung ist – d.h. nicht nur eine wissenschaftliche wie bei Kant –, sondern auch da wir uns
folglich fragen könnten, ob er die Möglichkeit eines a priori der Geschichte, der Kunst usw.,41
auf die kurz in der Programmschrift hindeutet worden ist – theoretisiert, er den Begriff des a
priori ablehnt, oder er gar dem a priori eine andere Bedeutung zuschreibt. Doch das Wort
„konkret” scheint ein deutlicher Hinweis auf Kant zu sein. Das ist weder seltsam noch
unplausibel, da Benjamin in der Programmschrift selbst und in dem Briefwechseln mit
Scholem, der genau in diese Jahre zurückreicht, erklärt, dass Kant unwiderlegbar der
Ausgangspunkt für das Ausdenken einer neuen Philosophie und eines neuen Begriffes
„Erfahrung“ ist. Es ist interessant festzustellen, dass das Wort „konkret“, mit dem Begriff
„Erfahrung“ verbunden, nur in dem Nachtrag vorkommt, während es vorher im Verlaufe der
Programmschrift nie verwendet wird: man spricht von der metaphysischen, totalen,
einheitlichen Erfahrung, nie aber von der „konkreten Totalität der Erfahrung“. Dieses Wort
könnte nun ein Hinweis auf die Transzendentale Dialektik sein, wo Kant den Ausdruck „in
concreto“ bezüglich der Ideen der Vernunft42 verwendet, und genauer, im Bezug auf die Idee
der Welt, die bei Kant die unbedingte Totalität der objektiven Bedingungen ist. In den
Paragraphen über die Antinomie der Vernunft schreibt Kant, dass die Idee keine Darstellung
in concreto hat, d.h. ihr tatsächlich kein Gegenstand entspricht. Also können wir auch keine
Erfahrung davon haben. Die Idee bleibt so ein asymptotischer Punkt, ein Ursprung und ein
ideales Ziel, von dem her und zu dem hin man die intellektuelle Forschung ausrichten muss.
Benjamin verwendet nun den Terminus „konkret“ im Bezug auf die Totalität der
Erfahrung. Während einerseits das als ein Hinweis auf Kant und auf die Idee der Vernunft
erscheinen würde – da auch bei Benjamin die konkrete Totalität der Erfahrung eine Idee ist,
vielmehr ein Ideal, von der Erkenntnis niemals konkret erreichbar – entstehen andererseits
jedoch Probleme, als Benjamin in dem Nachtrag behauptet, dass der Stammbegriff, oder
Urbegriff, „Erkenntnis“ sich unmittelbar zu einer konkreten Totalität der Erfahrung, die die
Religion ist, wendet. In diesem Fall scheint Benjamin also - im Gegensatz zu Kant - zu
behaupten, dass es möglich sei, unmittelbar auf die Totalität der Erfahrung einzugehen, d.h.,
dass eine Erfahrung der Idee irgendwie möglich ist.
40
GS II/1 170.
Vgl. GSVI 167. Benjamin deutet kurz auf das Bedürfnis hin, die Lehre der Kategorie Kants auch zur Kunst,
zum Recht und zur Geschichte zu wenden.
42
Vgl. IMMANUEL KANT, Kritik der reinen Vernunft, hg. Benno Erdmann, Berlin 1900, S. 360ff
41
26
Ein anderes Wort, das zum Nachdenken anregt, ist „Lehre“, das mehrere Male in der
Programmschrift verwendet wird, genauer gesagt in dem Nachtrag bezüglich des
Verhältnisses zwischen Religion, Erfahrung und Philosophie:
„Es gibt aber eine Einheit der Erfahrung die keineswegs als Summe von
Erfahrungen verstanden werden kann, auf die sich der Erkenntnisbegriff als
Lehre in seiner kontinuierliche Entfaltung unmittelbar bezieht. Der
Gegenstand und Inhalt dieser Lehre, diese konkrete Totalität ist die
Religion, die aber die Philosophie zunächst nur als Lehre gegeben ist. Die
Quelle des Daseins liegt nur in der Totalität der Erfahrung und erst in der
Lehre stößt die Philosophie auf ein Absolutes, als Dasein, und damit auf
jene Kontinuität im Wesen der Erfahrung in deren Vernachlässigung der
Mangel des Neukantianismus zu vermuten ist“43.
Der Begriff der „Lehre“ wird hier auf die Erkenntnis und gleichzeitig auf die Einheit der
Erfahrung bezogen, als Religion bezeichnet. Derselbe Begriff der Lehre befindet sich auch in
dem Brief vom 22. Oktober 1917 aus dem schon erwähnten Briefwechsel zwischen Benjamin
und Scholem:
„Ohne bisher dafür irgendwelche Beweise in der Hand zu haben bin ich des
festen Glaubens dass es sich im Sinne der Philosophie und damit der Lehre,
zu der diese gehört, wenn sie sie nicht etwa sogar ausmacht, nie und nimmer
um eine Erschütterung, eine Sturz des Kantischen Systems handeln kann
sondern vielmehr um eine seine granitne Festlegung und universale
Ausbildung. Die tiefste Typik des Denkens der Lehre ist mir bisher immer
in seinen Worten und Gedanken aufgegangen, und wie unermesslich viel
vom Kantischen Buchstaben auch mag fallen müssen diese Typik seines
Systems die innerhalb der Philosophie nur mit der Platos meines Wissens
verglichen werden kann muss erhalten bleiben. Einzig im Sinne Kants und
Plato und wie ich glaube im Wege der Revision und Fortbildung Kants kann
die Philosophie zur Lehre oder mindestens ihr einverleibt werden [...]. Aber
es ist meine Überzeugung: wenn nicht in Kant das Denken der Lehre selbst
ringen fühlt und wer daher nicht mit äußerster Ehrfurcht ihn mit seinen
Buchstaben als ein tradendum, zu Überlieferndes erfasst (wie weit man ihn
auch später umbilden müsse) weiß von Philosophie gar nichts“44.
Die Bedeutung des Begriffes „Lehre“ ist, in beiden Fällen, die des Systems, oder besser, die
der Totalität. Wir können dazu sagen, dass er eine wichtige religiöse Valenz gewinnt: die
Lehre ist nicht nur ein System, sondern eine mit „Ehrfurcht“ zu liefernde Totalität. Diese
43
44
GSII/1 170 (der Kursiv ist von mir).
GB I 389.
27
religiöse Bedeutung weist auf den hebräischen Sinn von Lehre hin, nach welchem die Torah
nicht nur eine Sammlung von Lehren enthält, sondern das göttliche Wort selbst ist. In dem
Brief an Scholem wendet Benjamin nun die Bedeutung von Lehre – in ihrem religiösen Sinn –
auf die Philosophie an, um das Bedürfnis eines Denkens, das eine lebendige Totalität ist – wie
eben die Torah für das Judentum – und gleichzeitig ideal, d.h. unmöglich auf einmal und für
immer zu lehren und zu liefern, zu zeigen und auszudrücken. Diese Lesart des Terminus
„Lehre“ und seines Hinweises auf die Philosophie, hilft das schon erwähnte Fragment 19 (s. o.
S.4;GS VI 38) zu begreifen, in dem Benjamin schreibt, dass die ganze Philosophie Lehre ist.
Auch in diesem Kontext wird der Begriff „Lehre“ auf die Philosophie angewendet, oder
besser gesagt, auf die ganze Philosophie, d.h. auf die Philosophie in ihrer Totalität, um auf
eine Ganzheit zu verweisen, d.h. eine Einheit der Philosophie, die als solche nichts anderes als
ideal sein kann.
Kehren wir jetzt zu dem Nachtrag der Programmschrift zurück, um dort den Begriff
der „Lehre“ zu untersuchen. Auch hier wird der Stammbegriff der „Erkenntnis“, - also die
Philosophie, die kantisch als Erkenntnistheorie konzipiert wird –, zwar als Lehre bezeichnet,
aber nur in dem Moment, in dem die Philosophie eben in ihrer metaphysischen Funktion
aufgefasst wird. Mit anderen Worten - man kann an dieser Stelle feststellen, dass die
Erkenntnis nur in dem Moment, in dem sie sich nicht in den einzelnen und mannigfaltigen
Erkenntnissen spezifiziert, eine kontinuierliche Einheit bleibt; sie gerade dann Philosophie ist.
Und als solche wendet sie sich unmittelbar der „konkreten Totalität der Erfahrung“ zu und ist
folglich in der Lage, die Totalität und das Dasein zu begreifen. In diesem einzigen Fall ist die
Erkenntnis Lehre.
Haben wir nun hier mit einem Begriff der Philosophie zu tun, die als ideale und nie
völlig erreichte Erkenntnis gemeint ist? Oder handelt es sich vielmehr um eine Art von
Erkenntnis, die gleichzeitig Erfahrung der Wahrheit ist – wie übrigens im Falle der religiösen
Lehre – aber doch nie Erfahrung der ganzen Wahrheit, d.h. der Wahrheit als ein Ein-für-alleMal-Gegebenes?
Doch mit dieser Frage enden nicht die Probleme des Verständnisses des Nachtrages.
Es bleibt nämlich nicht nur zu verdeutlichen, was die Religion ist, sondern auch was ihr
Verhältnis zu der Philosophie ist. Was ist also die Religion für den Benjamin der
Programmschrift? Man kann eine Hypothese wagen, indem man behauptet, dass Benjamin in
der Programmschrift den Begriff der Religion in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet.
Die erste Bedeutung weist, meiner Meinung nach, auf die historische, anerkannte Religion
28
hin: Benjamin, einen neuen Begriff der „Erfahrung“ vorschlagend, schreibt, dass dieser
Begriff jeden Bereich der Erfahrung umfassen muss, die von Kant und vom Neukantianismus
vernachlässigt wurden: zu erst den der Religion45- in diesem Fall schließt Benjamin folglich
die Religion innerhalb des ausgedehnteren Begriffes der Erfahrung mit ein. Die zweite
Bedeutung der Religion, die interessanter, vielleicht aber gerade die problematischere ist,
findet sich in dem Nachtrag, wo Benjamin die Religion mit der „konkreten Totalität der
Erfahrung“ identifiziert. Die Religion wird also, im Gegensatz zum ersten Fall, nicht als Teil
des Erfahrungsfeldes aufgefasst, sondern fällt mit der Erfahrung selber in ihrer Totalität
zusammen. Meiner Meinung nach dürfen wir nun doch von zwei Bedeutungen der Religion,
einer beschränkten und einer ausgedehnten, sprechen. Wenn wir ja vermuten, dass dieser
Unterschied einen Sinn hat, was heißt dann der Begriff der „Religion“ in seiner zweiten
Bedeutung? Bzw. was heißt die Religion als „konkrete Totalität der Erfahrung“?
Wenn, wie wir gesehen haben, die konkrete Totalität der Erfahrung als Lehre, d.h. als
Erfahrung der Wahrheit – jene aber nie völlig besitzend – zu erfassen ist, dann hat der
Terminus „Religion“ hier nicht eine historische Bedeutung, sondern eine ideale, symbolische.
Mit anderen Worten, sie ist nicht als Summe von Dogmen oder von im Voraus gebildeten
Regeln zu denken und zu begreifen, sondern als ein Zusammenhang, eine Einheit der
Symbole, und als Wahrheit im allgemeinen Sinne, d.h. nicht bloß mit einer besonderen
Religion identifizierbar. Es ist einleuchtend, was Benjamin bezüglich der konkreten Totalität
der Erfahrung, die eben die Religion ist, schreibt:
„Es gibt aber eine Einheit der Erfahrung die keineswegs als Summe der
Erfahrung verstanden werden kann, auf die sich der Erkenntnisbegriff als
Lehre in seiner kontinuierlichen Entfaltung unmittelbar bezieht. Der
Gegenstand und Inhalt dieser Lehre, diese konkrete Totalität der Erfahrung ist
die Religion, die aber der Philosophie zunächst nur als Lehre gegeben ist“46
Es ist noch interessant festzustellen, dass bei Benjamin „Lehre“ sowohl die konkrete Totalität
der Erfahrung, als auch die Philosophie – in dem Moment, in dem diese letztere eine
kontinuierliche Entfaltung ist – ist. Von daher können wir zwei Schlussfolgerungen ziehen:
die erste bestätigt die Tatsache, dass die Religion, wenigstens in der Programmschrift, die
Bedeutung von Lehre in dem oben betrachteten Sinne als Wahrheit, d.h. als Totalität im
45
46
GSVI 163.
GSVI 170.
29
Werden und nie ganz eingängig, hat; und die zweite, dass die Erkenntnis, nämlich die
Philosophie, Lehre ist, aber nur dann, wenn sie selber auch in ihrer idealen Totalität betrachtet
wird. Folglich kann man wohl zunächst, dem Begriff der „Lehre“ nach, behaupten, dass die
Philosophie nicht tout court die Erkenntnis ist, sondern jener einheitliche und darum
metaphysische Begriff der „Erkenntnis“; und darüber hinaus, dass die Philosophie und die
metaphysische Erfahrung in dem Moment zusammenfallen, wenn sie beide als Lehre
verstanden und begriffen werden.47 Mit anderen Worten, wenn sich die Erkenntnis nicht
spezifiziert, in die diskontinuierliche Pluralität der einzelnen Erkenntnisse zersplitternd, dann
ist sie in der Lage, die kontinuierliche Totalität der Erfahrung zu begreifen, die ihrerseits nicht
in der Summe von einzelnen Erfahrungen besteht, sondern sie die Einheit der Erfahrung, oder,
wir könnten sagen, die Idee ist:
„Eine Erkenntnis ist metaphysische heißt im strengen Sinne: sie bezieht sich
durch den Stammbegriff der Erkenntnis auf die konkrete Totalität der
Erfahrung, d.h. aber auf Dasein“48.
Benjamin geht schließlich von den Begriffen „Erkenntnis“ und „Erfahrung“ aus, die er bei
Kant findet, kommt jedoch dazu, die Grundsätze der Kantischen Theorie zu revolutionieren:
weil – während bei Kant die Erfahrung ein Faktum ist, das in der Erkenntnis zu begründen ist,
deren a priori ihm Rechenschaft geben muss – es bei Benjamin hingegen kein a priori mehr
gibt, das die Aufgabe hat, eine faktische Erfahrung zu begründen. Freilich hält Benjamin es
für möglich, den Verweis der Kategorienlehre auch auf die Bereiche der Geschichte, des
Rechts und der Kunst49 zu erstrecken. Er setzt sich aber nicht mit dem Hauptproblem der
Kantischen Theorie auseinander, bzw. dem Unterschied zwischen der Kategorie der Kausalität
und der Freiheit (freie Kausalität) - d.h. die Unterscheidung zwischen dem theoretischen
Bereich und dem praktischen, in dem die theoretische Kausalität sozusagen von der
menschlichen Freiheit ergänzt wird. Schließlich ist das a priori, von dem Benjamin spricht,
nicht das Kantische; es scheint vielmehr so zu sein, dass die Idee die Aufgabe hat, eine
Erfahrung und eine Erkenntnis zu begründen, die als metaphysisch bezeichnet werden könnte:
47
Benjamin endet bedeutungsvoll den Nachtrag, indem er vorschlägt, die Beziehung zwischen Religion und
Philosophie – für denen er eine „virtuelle Einheit“ annimmt – zu vertiefen (GS VI 171).
48
GS II/1 171.
49
Vgl. GS II/1 167.
30
„Für den vertieften Begriff der Erfahrung ist aber, wie schon gesagt,
Kontinuität nächst der der Einheit unerlässlich und in den Ideen muss der
Grund der Einheit und der Kontinuität jener nicht vulgären und nicht
wissenschaftlichen sondern metaphysischen Erfahrung aufgewiesen
werden“50.
Darüber hinaus schreibt Benjamin in dem Nachtrag in Bezug auf Kant, dass die Philosophie
aus einem dogmatischen Teil und aus einem kritischen besteht. In dem Moment aber, wenn er
auf eine Theorie des a priori der Erkenntnis und auf ein aposteriorisches Übrigbleibsel, das
die Erfahrung charakterisiert, verzichtet, ergibt folglich eine solche Teilung der Philosophie
keinen Sinn.
Welche Art der Erfahrung und der Erkenntnis theoretisiert also Benjamin? In dem
Vergleich mit Kant, auf den er den Text der Programmschrift gründet, taucht zunächst auf,
dass die Begriffe der metaphysischen Erfahrung und der Erkenntnis gar nicht im Kantischen
Sinne zu verstehen sind. Die Erkenntnistheorie Benjamins, wenigstens in den jugendlichen
Schriften scheint sich jedoch an eine Hermeneutik des Symbols anzunähern, d.h. an ein
interpretatives Lesen, das eben als Zweck hat, einen nicht näher erklärten Begriff der
„Wahrheit“ zu begreifen.
Doch müssen wir nun uns fragen, ob es möglich ist, eine Beziehung zwischen dem
Begriff der metaphysischen Erfahrung der Programmschrift und der Wahrnehmung, im Sinne
der Wahrnehmung des Wahren, dem wir bereits in den Fragmenten über die Wahrnehmung –
die in diese Jahre der Programmschrift zurück reichen – begegnet sind, oder ob zwischen
beiden Begriffen nur Ähnlichkeiten und Analogien bestehen, ohne eine effektive Verbindung.
Die Begriffe „Lehre“ und „Symbols“ sind für eine mögliche Lösung dieses Problems
bedeutungsvoll.
Die Wahrnehmung, wie wir bereits gesehen haben, ist ein interpretatives Lesen, das
sich zu den Symbolen wendet und das, laut Benjamin, ursprünglich eine Fähigkeit jedes
Menschen war; er schlägt eine Brücke – die scheinbar wie ein Bruch aussieht – zwischen der
Welt der Alten und der der Moderne: nach dieser Ansicht betrifft die Wahrnehmung, im
tiefsten Sinne, die Fähigkeit, die den Alten zu eigen ist, während sie der Moderne – die
unfähig geworden ist, die Symbole und die Korrespondenzen zu begreifen – versperrt bleibt.
Also fällt der Anbruch der Moderne mit dem Verlust der alten und ursprünglichen Fähigkeit,
das Symbol wahrzunehmen, d.h. mit der ursprünglichen Fähigkeit, das Wahre in seinen
phänomenalen Manifestationen zu begreifen, zusammen. In der Programmschrift nun spricht
50
GSII/1 167.
31
man nicht von der Wahrnehmung, sondern von einem Begriff der „Erfahrung“, der gesucht
und definiert sein muss: die aufklärerische Erfahrung ist degeneriert, sie ist leer geworden –
genauso wie im Fragment 19 die Wahrnehmung, die der Moderne zu eigen ist – während die
metaphysische Erfahrung, also die totale, kontinuierliche und einheitliche Erfahrung, ein Ideal
ist, an das sich die Philosophie wenden muss, genauso wie der Begriff der „Wahrnehmung“
ein Archetyp ist, an den sich die Moderne richten muss.
Der Schlüssel nun, um eine Verbindung zwischen der Wahrnehmung und der
metaphysischen Erfahrung zu finden, scheint eben der Begriff des „Symbols“, zu sein.
6.
Wahrheit als Symbol. Die Zweideutigkeit der Erkenntnis
Es handelt sich jetzt darum, den Begriff des „Symbols“ zu vertiefen. Nicht nur weil er ein
erleuchtender Moment für das Verständnis des Begriffes der „Wahrnehmung“ zu sein scheint
– soweit wir gesehen haben, behauptet Benjamin im Fragment 16 - Wahrnehmung ist Lesen -,
dass die Wahrnehmung eine Wahrnehmung der Symbole ist – sondern auch – wie es in den
vorherigen Paragraphen auftaucht – dieser Begriff oft in den frühen Texten Benjamins
vorkommt und seine Funktion sicherlich der zentrale Punkt ist, zu dem die Theorie der
Erkenntnis und der Erfahrung führt.
Um über das Symbol reden zu können, ist es darum noch einmal notwendig, auf den
Begriff „Erkenntnis“ zu verweisen, der – wie wir sehen werden – bei Benjamin nicht zufällig
in einer engen Beziehung mit den Begriffen des „Augenblicks“ und des „Symbols“ steht. Mit
anderen Worten, wenn wir erneut (in diesem Kontext) von Erfahrung sprechen, können wir
nicht davon absehen, auch von der Erkenntnis zu sprechen; nicht nur das, sondern ist es
ebenso festzustellen, dass sowohl der Begriff der Erfahrung, wie wir oben bereits gesehen
haben, als auch der der Erkenntnis in einer scheinbar zweideutigen Art aufgefasst und
beschrieben werden: einerseits stellen sie eine unendliche Aufgabe, eine nie völlig erreichbare
Idealität, dar, andererseits sind sie jedoch auch effektive Erfahrung und effektive Erkenntnis.
Mit anderen Worten, indem wir in diesem Abschnitt die Fragmente 20, 25 und 26
untersuchen, werden wir sehen, dass die Beziehung der Erkenntnis und der Erfahrung mit dem
32
Symbol, d.h. mit der Wahrheit und mit der Idee, uns neuerlich auf den Weg einer möglichen
Identifizierung beider Begriffe, Erkenntnis und Erfahrung, führt – wobei die beiden im Sinne
jener ursprünglichen Wahrnehmung, die mit Symbole zu tun hat, zu verstehen sind, und
gleichzeitig als phänomenale Manifestation, die in dem Augenblick geschieht.
Zunächst finden wir das Symbol im Bezug auf den Begriff der „Erkenntnis“, im
Fragment 20 um verlorenen Abschluss der Notiz über die Symbolik in der Erkenntnis,
geschrieben zwischen 1917 und 1918. In dem ersten Teil dieses kurzen Textes erwähnt
Benjamin Goethe, dessen Naturforschung die „echte in Symbolen vollzogene theoretische
Erkenntnis gefasst“51 hat, und er schreibt weiter, dass sich die Symbole Goethe nicht in
poetischen Analogien, in denen die Natur erkennbar ist, sondern in „seherischen Einsichten“52
offenbart haben. Das Symbol wird danach als Urphänomen bezeichnet, das eben ein
„systematisch-symbolischer Begriff“ und ein „Ideal-Symbol“53 ist.
Bereits aus diesem Text ist es möglich, eine Zweideutigkeit festzustellen, oder besser,
eine doppelte Valenz des Begriffes des Symbols. Zuerst schreibt Benjamin, dass das Symbol
sich durch eine seherische Einsicht offenbart: d.h. zunächst, dass man von ihm keine
Erkenntnis, sondern eine Art der Wahrnehmung, eine „Evidenzerfahrung“, hat, und dass
darüber hinaus nicht ein jeder in der Lage ist, das Symbol - die Idee in der Natur wahrzunehmen. Zweitens schreibt er, dass das Symbol die Idee im Sinne der Aufgabe ist: d.h.
kantisch, dass das Symbol, als Idee, nie der Wahrnehmung gegeben ist, sondern als
regulatives Ideal für die intellektuelle Forschung fungiert.
Bevor wir mit dem zweiten Teil – der auf den ersten Blick völlig anders als der erste
aussieht; der sich aber doch extrem einleuchtend ergibt – dieses Fragmentes beschäftigen,
wollen wir noch bemerken, dass in dem bereits erwähnten Fragment 25, Erkenntnistheorie,
der Begriff des „Symbols“ vorkommt - immer noch in Beziehung zu der Erkenntnis. Dieser
Text ist in drei Teile unterteilt. Der erste ist eine kurze Reflexion über die Wahrheit, von dem
Wahr-sein der Sache unterschieden, und über das Verhältnis der beiden Begriffe – Wahrheit
und Wahr-sein – zu der Erkenntnis; der zweite identifiziert in zwei Punkten die Art der
Erkenntnis, die von der Philosophie überwunden werden muss; der dritte schließlich schlägt
in zwei Punkten die Aufgabe für eine neue Theorie der Erkenntnis vor:1.) die Konstitution der
Dinge im Jetzt der Erkennbarkeit; 2.) die Einschränkung der Erkenntnis im Symbol54.
Ausgehend von der Voraussetzung, dass das Symbol implizit mit der Wahrheit identifiziert
51
GS VI 38.
Ibidem.
53
Ibidem.
52
33
sei – wie es andererseits, aber explizit, auch in der Vorrede zum Ursprung des deutschen
Trauerspiels55 geschehen ist – schreibt Benjamin, dass die Wahrheit sich in dem Jetzt der
Erkennbarkeit offenbart. Während in dem ersten Teil des selben Fragments die Wahrheit das
Wahr-sein des Sachverhalts ist, als solche aber unerkennbar; sie ist eine unendliche Aufgabe56.
Wir stehen also wieder vor der Doppeldeutigkeit, die wir bereits im Fragment 20
festgestellt haben: das Symbol – bzw. die Wahrheit und die Idee – offenbart sich in dem Jetzt,
aber gleichzeitig ist es eine unendliche Aufgabe. Was sich bisher aber deutlich ergibt, ist, dass
die Erkenntnis des Symbols nicht die Erkenntnis im traditionellen Sinne ist: die Wahrheit ist
also nicht erkennbar, wenn man unter Erkenntnis Konzeptualisierung und Spezifizierung
versteht. Die Wahrheit offenbart sich jedoch in einer Art der augenblicklichen Wahrnehmung,
wie eine Art der Evidenzerfahrung.
Kehren wir nun zum Fragment 20 zurück, dessen zweiter Teil auf dem Verhältnis
Wahrheit – Erkenntnis beruht. Zum ersten Mal spricht Benjamin von Ontologie und schreibt:
„Ontologie dient keineswegs der Erkenntnis des Wahres, sofern man irgend
etwas innerhalb dieser Ontologie oder innerhalb einer äußeren Welt unter
Wahrheit versteht. Es ist um dies zu verdeutlichen, entscheidend, die
radikale Verschiedenheit von Wahrheiten oder besser von Erkenntnissen zu
begreifen“57.
Die Ontologie wird also mit dem System identifiziert, d.h. sie ist nicht die einzelnen
Erkenntnisse, sondern die Totalität der Erkenntnisse, d.h. die Wahrheit. Die einzelnen
Erkenntnisse sind jedoch Manifestationen der Wahrheit, was bedeutet, dass sie die Wahrheit
in ihrer Totalität nicht enthalten, sondern sie von der Wahrheit „geladen“ sind; sie gewinnen
von ihr also den Grad der Wahrheit, der aber – abermals – nicht mit der Wahrheit an sich
zusammenfällt. In dem Nachtrag dieses Fragments schreibt Benjamin außerdem:
„Jene Wahrheiten enthalten ‚Wahrheiten’, nämlich die jenige auf welche der
Philosoph es absieht, aber sie deuten nicht, wie die philosophische (in
nieder) durch die philosophische Systematik (in höherer Intention) auf sie
hin. Für jene unphilosophische, nämlich künstlerische oder in engerm [sic !]
Sinne musische Einsicht in Wahrheiten ist Goethes Gedankenwelt
repräsentativ“58.
54
GS VI 46.
Siehe unten Kap. III.
56
GS VI 46.
57
GS VI 39.
58
GS VI 40.
55
34
Das Verhältnis Phänomen-Wahrheit scheint also wie jenes Sache-Symbol – im goethischen
Sinne, wie wir sehen werden – gemeint und aufgefasst zu sein, d.h. die Wahrheit ist in dem
Phänomen, aber sie versiegt nicht darin, da sie für die phänomenale Welt eine Idee ist, die die
Wahrheit der Erkenntnisse gründet und garantiert, die sie mit einer symbolischen Intention
lädt. Die einzelnen Wahrheiten der phänomenalen Welt sind schließlich nur ein Symbol der
Wahrheit, d.h. sie sind die Wahrheit selbst, sie besitzen sie – sozusagen – aber nie gänzlich.
Die Wahrheit wird schließlich nicht durch den traditionellen Begriff der „Erkenntnis“ erkannt,
da sie nicht Objekt der Erkenntnis ist, insoweit sie doch kein Objekt ist. Sie ist sogar der „Tod
der Intention“59: die Wahrheit unterscheidet sich nämlich von dem Begriff, der jedoch das
Objekt, jenes der Erkenntnis, ist. Benjamin versucht also auf eine neue Art zu theoretisieren,
die Wahrheit zu begreifen, die nicht im traditionellen Sinne als Objekt, Datum gemeint ist,
und darum stellt er fest, dass die Wahrheit nur durch eine Erfahrung – die wir als
Evidenzerfahrung bezeichnen können – aufgefasst wird: eine Erfahrung im Sinne einer
ursprünglichen Wahrnehmung, d.h. eine unmittelbare Erfahrung, augenblicklich und evident.
Schließlich finden wir bei der Analyse des Begriffes des „Symbols“ eben die selbe
begriffliche Zweideutigkeit wieder, der wir bereits bezüglich des Begriffes der „Erfahrung“
begegnet sind. In beiden Fällen spricht Benjamin über einen idealen Begriff, d.h. über eine
Totalität, die – genau wie bei Kant – niemals erreicht werden kann, die als ein regulatives
Ideal fungiert: also über eine für die Erkenntnis unendliche Aufgabe; gleichzeitig aber – genau
wie in der Programmschrift – besteht die Möglichkeit, auf eine konkrete Totalität der
Erfahrung einzugehen, d.h. eine Totalität, von der aus die Erfahrung möglich ist. Ebenso
scheint Benjamin zu behaupten, dass von der Wahrheit - als Symbol gemeint - eine
unmittelbare Erfahrung möglich sei, d.h. eine Evidenzerfahrung. Mit anderen Worten scheint
die Wahrheit nicht nur eine unendliche Aufgabe zu sein – d.h. ein unerreichbares Ziel, zu dem
hin man sich immer und bloß nähern kann – sondern die Wahrheit ist auch in den
Phänomenen als „symbolische Intention“ enthalten.
Kommen wir nun zum Schluss. In dieser Analyse taucht nicht nur die Zweideutigkeit –
mit dem Symbol, mit der Wahrheit und mit dem Begriff der „Erfahrung“ verbunden – auf,
sondern vor allem erschließt sich aus der Analyse des Symbols und der Wahrheit, dass man –
wie es am Anfang vermutet wurde – von der Wahrheit eine Erfahrung haben kann. Eine
solche Erfahrung ist unmittelbar, sie geschieht in dem Augenblick und ist eine Wahrnehmung.
59
GS I/1 216.
35
Schließlich können wir feststellen, dass – wenigstens bezüglich der Analyse der frühen
Schriften – die ursprüngliche Erfahrung - also diejenige, die Gegenstand der kommenden
Philosophie ist und sein muss - Wahrnehmung ist; diese wird aber als Wahr-Nehmung
gemeint und theoretisiert: eine unbegriffliche Wahrnehmung des Wahren.
Wie müssen wir nun an dieser Stelle das Verhältnis Wahrheit-Phänomen verstehen,
das als Symbol und gleichzeitig als Aufgabe gemeint ist?
7.
Erkenntnis ist Erfahrung
Selbst wenn viele bisher gestellte Fragen momentan noch offen bleiben müssen, können wir
allerdings anfangen, eine Reihe von Schlussfolgerungen zu ziehen, was die bis hierhin
analysierten Punkte betrifft. Aus der Analyse der frühen Fragmente und insbesondere der
Programmschrift – die irgendwie ein echtes philosophisches Programm ist, das in nuce
Themen enthält, die Benjamin in den darauffolgenden Jahren entwickeln wird – vor allem
hervorgeht, dass Benjamin zu einem neuen Begriff von „Erkenntnis“ und „Erfahrung“
gelangt, um diese zu theoretisieren, oder besser gesagt, zu entwerfen, die aber nicht den
traditionellen und vor allem den aufklärerischen entsprechen. Die Erfahrung und die
Erkenntnis, die Gegenstand der kommenden Philosophie sein müssen, bestehen in einem
einzigen Begriff und fallen in der Idee der Totalität zusammen. Mit anderen Worten, wird die
Erfahrung als „konkrete Totalität der Erfahrung“ bezeichnet, die Summe der Erfahrungen
nicht, sondern die Idee der Erfahrung in ihrer Totalität; ebenso fällt der Begriff der
„Erkenntnis“ mit der Erkenntnis im Kantischen Sinne nicht zusammen, sondern sie ist der
„logische Ort“, der die metaphysische Erfahrung – d.h. die Totalität der Erfahrung –
ermöglicht, und die ihrerseits der Inbegriff der Erkenntnis ist: also nicht die Summe der
Erkenntnisse, sondern die einheitliche Totalität derer, d.h. die Lehre.
Gleichzeitig ist aber von der Totalität her eine Erfahrung möglich, oder besser gesagt,
eine augenblickliche Erfahrung: die Wahrnehmung. Mit anderen Worten, das, was Benjamin
in der Programmschrift „Wahrheit“ nennt – und was in der Programmschrift die Totalität ist –
ist sowohl eine unendliche Aufgabe, d.h. ein Ideal, als auch eine Evidenzerfahrung, die in dem
Augenblick gescheht. Von der Wahrheit – also von der Idee – kann es schließlich keine
Erkenntnis geben, sondern nur eine Erfahrung im Sinne von augenblicklicher, und eben nicht
36
begrifflicher, Wahrnehmung.
Diese Konzeption der Idee, die in den frühen Fragmenten auftaucht, eröffnet einen
Weg, um auf eines der Probleme einzugehen, mit dem sich Benjamin in den ersten der
philosophischen Forschung gewidmeten Jahren auseinandersetzt: dem Problem der
Überwindung des traditionellen Gegensatzes Subjekt-Objekt. Indem er die Begründung der
Erkenntnis von dem transzendentalen und erkennenden Subjekt zu der Idee hin verlagert –
bisher nicht besser spezifiziert – erahnt Benjamin die Möglichkeit einer anderen Konzeption –
die nicht mehr im traditionellen Sinne metaphysisch ist, der Erkenntnistheorie und – wie wir
bemerken werden – vielleicht der Konzeption des Seins.
37
ZWEITES KAPITEL
DAS ZWEIDEUTIGE ANTLITZ DER WAHRHEIT. DER URSPRUNG EINER THEORIE DER IDEEN
1.
Probleme, Fragen. Allgemeine Linien
Die Absicht dieses Kapitels ist nicht so sehr, die in dem vorherigen Kapitel aufgeworfenen
Probleme zu lösen, sondern vielmehr zu sehen, von welchen Lektüren und in welcher Masse
Benjamin in der Konstruktion seiner Erkenntnistheorie beeinflusst war. Ich möchte zeigen,
dass die Fragen, die sich Benjamin am Anfang seiner philosophischen Aktivität stellt, und
seine Versuche, eine Erkenntnistheorie – und im weitesten Sinne eine Ideenlehre – zu
thematisieren, sich in einem besonderen Kontext einfügen, der aber nicht so sehr einer
spezifischen philosophischen Strömung unterliegt. Vielmehr handelt es sich dabei um eine
genaue Richtung von Problematiken, die gewiss mit bestimmten Autoren verbunden sind, vor
allem aber mit einer Problemgeschichte. Der Ursprung von Benjamins Erkenntnistheorie und
seiner Ideenlehre reicht - meiner Meinung nach - auf seine Auseinandersetzung mit einigen
Begriffen, Problemen und Gedanken zweier Autoren zurück: J. W. Goethe und Hermann
Cohen.
Der Versuch, der sich hinter dem ganzen begrifflichen Apparat, den Benjamin von den
Lektüren Goethes und Cohens übernimmt und in den ersten Jahren seiner philosophischen
Aktivität zu entwickeln versucht, versteckt und schließlich offenbart, ist nichts anderes als ein
Versuch eine neue Theorie der Erkenntnis - und der Erfahrung – zu entwickeln, die den
traditionellen Gegensatz Subjekt-Objekt überholt. Es ist der Versuch einer Begründung, der
aber vor allem ein Versuch der Legitimation der Erkenntnis ist. Doch habe ich nicht vor, an
dieser Stelle das Argument zu vertiefen, weil es Gegenstand der ganzen Arbeit ist. Aber
meiner Auslegungshypothese nach ist es, bereits seit der Schrift über das Trauerspiel und
dann vor allem mit den späten Schriften,1 genau dieser Versuch der Legitimation, der
aufgehoben wird. Bereits seit Ursprung des deutschen Trauerspiels, wo Begriffe und
1
Vgl. unten Kap. III.
38
Terminologie, die in den Jahren zuvor übernommen wurden, eine andere Anwendung finden,
als im Vergleich zu den Texten vor 1927 – dem Jahr der Veröffentlichung des Buches über
das Trauerspiel, besteht eine Entwicklung im Denken Benjamins. Einige Begriffe
verschwinden sogar, wie beispielweise im Fall des Symbols, und werden von Begriffen
gegensätzlicher Bedeutung ersetzt. Ändert sich die philosophische Einstellung Benjamins?
Ändert sich das intellektuelle Ziel seiner Philosophie?
Wir könnten im Folgenden vereinfachen und dann dies im Laufe der Arbeit beweisen:
in der Frühperiode versucht Benjamin eine Theorie der Erkenntnis und der Erfahrung zu
begründen, indem er mit einer Auseinandersetzung mit Kant und Cohen beginnt, der er aber
Elemente hinzufügt, die ihn auf den Weg der Metaphysik bringen. Seine Konzeption der Idee
ist nämlich nicht funktionalistisch, oder besser gesagt, sie ist nicht nur funktionalistisch im
Sinne Kants und Cohens, sondern auch – und vor allem – metaphysisch: Die Idee ist das
metaphysische Fundament des Seins. In welchem Sinn sind nun die Ideen ein anderes Sein als
das der phänomenalen Realität?
Im Trauerspielbuch bemerken wir eine Art von Stillstand des begründenden Denkens:
Benjamin sucht weder nach einer Legitimation der Erkenntnis, noch deren Begründung. Er
spricht nicht mehr von Erkenntnistheorie, sondern von Erkenntniskritik, in der der Terminus
„Kritik“ nicht den Kantischen Sinn einer Begründung der Erkenntnis gewinnt. Dennoch wird
der Begriff der Erkenntnis ein „Sich-Darstellen“ der Wahrheit und der Idee in dem
Augenblick der Erkennbarkeit; ist es also der Zufall und nicht das erkennende Subjekt, der die
Hauptrolle in der Erkenntnistheorie Benjamins spielt? Dies sind nur allgemeine Fragen, die –
ich wiederhole – keine ausreichende Antwort in dem vorliegenden Kapitel erhalten werden,
das der Analyse des Ursprungs der Ideenlehre Benjamins und dem Einfluss, die J. W. Goethe
und Hermann Cohen2 auf sie hatten, gewidmet ist.
2
Für die Studien über die Beziehung Cohen-Benjamin, verweise ich auf die folgenden Schriften hin: LISELOTTE
WIESENTHAL, Zur Wissenschaftstheorie Walter Benjamins, Athenäum Verlag, 1973 Frankfurt/M.; ASTRID
DEUBER-MANKOWSKY, Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen: Jüdische Werte, Kritische
Philosophie, vergängliche Erfahrung, Vorwerk 8, 2000 Berlin; BERND WITTE, Walter Benjamin. Der
Intellektuelle als Kritiker, Stuttgart 1976; PIERFRANCESCO FIORATO, L’ideale del problema. Sopravvivenza e
metamorfosi di un tema neukantiano nella filosofia del giovane Benjamin, in Conoscenza, valori e cultura.
Orizzonti e problemi del neocriticismo, a cura di Stefano Besoli e Luca Guidetti, Quaderni di Discipline
Filosofiche, Anno VII, Nuova Serie, n. 2, Vallecchi Editore, Firenze 1997, SS. 361-386.
39
2. Der Kunstinhalt: Die wahre Natur
In dem letzten Teil von Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, der „Die
frühromantische Kunsttheorie und Goethe“ betitelt ist, beschäftigt sich Benjamin mit einem
Problem, das ich in den nächsten Abschnitten vertiefen möchte: die Beziehung zwischen
Urbild und Bild, d.h. zwischen der Idee und dem Phänomen, die in dem oben zitierten Titel
auf die Ästhetik und auf die kritische Theorie der Kunst bezogen wird. Ich beabsichtige daher
zu analysieren, wie Benjamin an Goethe anknüpft, um eine Ideenlehre zu entwickeln, die aber
nicht nur mit der Ästhetik verbunden ist, sondern die vielmehr das Fundament einer
Erkenntnistheorie ist, die der Mittelpunkt der Gedanken und der frühen Schriften Benjamins
ist und bleibt. Doch sowohl die Erkenntnistheorie als auch die Ästhetik, zu der die
Erkenntnistheorie Benjamins hinführt – denn die Idee, wird uns in Der Begriff der Kunstkritik
in der deutschen Romantik gesagt, offenbart sich in dem Kunstwerk, und dieses scheint die
einzige Möglichkeit zu sein, das Unsichtbare sichtbar zu machen –, haben eine Theorie des
Seins als Grundlage, die von einer Lektüre Goethes geprägt ist.
Darüber hinaus muss man ab sofort betonen und im Hinterkopf behalten, dass mit
diesem und den folgenden Paragraphen beabsichtigt wird, sich mit der Benjaminianischen
Interpretation Goethes zu beschäftigen, und deshalb mit dem Denken Benjamins. Die Lektüre
Goethes, von anderen Autoren – z.B. Elisabeth Rotten, Georg Simmel3 – oft filtriert, spielt
eine wichtige Rolle im Denken Benjamins, der ihre Begriffe und Terminologie innerhalb
einer eigenen Kunstphilosophie und Erkenntnistheorie nutzt.
Nach der Theorie, die Benjamin in dem letzten Teil der Schrift4 darstellt, unterscheidet
sich die Kunstphilosophie Goethes von derjenigen der Frühromantiker, insofern als dass sie
als Ausgangspunkt und Mittel das „Ideal“, d.h. den Kunstinhalt, hat. Während sich also die
Frühromantiker damit beschäftigten, die Idee der Kunst – d.h. die Form der Kunst und ihre
Methode – theoretisch zu bestimmen, verlieh Goethe der philosophischen Bestimmung des
idealen Kunstinhalts eine wichtigere Bedeutung, und gerade in diesem Punkt nimmt seine
Ästhetik Anstoß. Interessant ist der Unterschied, den Benjamin zwischen Idee und Ideal
macht: wenn die Idee der a priori der Form ist, ist das Ideal – nach Benjamins Lesart Goethes
– der a priori des Kunstinhalts.
Goethe nennt also den Kunstinhalt „Ideal“. Laut Benjamin handelt es sich um einen
Inhalt, dessen erkenntnistheoretisches Wesen der Idee im platonischen5 Sinne ähnlich ist, und
3
Vgl. GSI/ 110 und GS I/3 955f.
Vgl. GS I/1 112.
5
Vgl. GSI/1 214; Das ist die einzige Stelle, wo Benjamin unterscheidet die Idee vom Ideal.
4
40
er wird von Benjamin als der Inbegriff aller reinen Inhalte bezeichnet, die Goethe Urbilder
nennt. Die Kunstwerke sind nicht diese reinen Inhalte, aber denen können sie sich in
verschiedenen Graden nähern. Mit anderen Worten, die Urbilder befinden sich auf einer
anderen ontologischen Stufe verglichen mit den einzelnen Kunstwerken. Das Urbild ist nur
anschaubar, und allein der Künstler kann eine Anschauung davon haben. Dagegen sind die
einzelnen Werke sichtbar und, allgemeiner, wahrnehmbar.
Benjamin beschreibt die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und dem Urbild mit
dem Begriff des „Gleichnisses“: dieser Begriff bezeichnet die Beziehung zwischen dem, was
naturgemäß unsichtbar ist, und dem, was dagegen sichtbar ist; ebenso zwischen dem, was nur
anschaubar ist und dem, was dagegen wahrnehmbar wird. Das Urbild, d.h. das Ideal, ist
schließlich ein anschaubarer Inhalt, der durch das Kunstwerk wahrgenommen werden kann,
ohne aber dass es jemals dazu kommt, dass es sich vollständig in ihm offenbart.
Zuerst gilt es zu bemerken, dass wir es mit einem Problem zu tun haben, welches das
Denken Benjamins seit seinen ersten Schriften charakterisiert: nämlich die Beziehung
zwischen der Zeitlosigkeit der Idee und der gleichzeitigen Notwendigkeit deren Verkörperung
in dem Phänomen, in dem Endlichen, zu begreifen. Zweitens ist es interessant, dass dieses
Problem von Benjamin auf die Ästhetik begrenzt wird, d.h. auf die Beziehung der Idee zum
dem Kunstwerk. Die Kunst, führt Benjamin weiter aus, ist nicht schöpferisch, insofern ihr
Inhalt, das Urbild, bereits gegeben ist, oder besser, bereits auf-gegeben, d.h. als Aufgabe
gegeben ist. Das Urbild geht jedem Kunstwerk voran und findet sich in der Natur: es ist sogar
Natur. Wenn man aber über Natur spricht, erklärt Benjamin, muss man darunter weder die
phänomenale Natur der Welt, noch die Natur als Objekt der Wissenschaft, sondern die „wahre
Natur“ verstehen, die mit der Sphäre der Urphänomene, d.h. der Urbilder und der Ideale,
zusammenfällt. Es ist also die „wahre Natur“, die den Kunstinhalt ausmacht und gleichzeitig
wird sie nur in der Kunst sichtbar. Von daher schließt Benjamin darauf, dass der Kunstinhalt
„sichtbare Natur“ ist:
“Das Dargestellte kann nur im Werk gesehen, außerhalb desselben allein
angeschaut werden. Ein naturwahrer Inhalt des Kunstwerks würde
voraussetzen, dass die Natur der Maßstab sei, an dem er gemessen würde;
dieser Inhalt selbst soll aber sichtbare Natur sein. Goethe denkt im Sinn der
erhabenen Paradoxie jener alten Anekdote, nach der die Sperlinge auf die
Trauben des großen griechischen Meisters flogen. Die Griechen waren
keine Naturalisten, und die übermäßige Naturwahrheit, von der die
Erzählung berichtet, scheint nur eine großartige Umschreibung für die
wahre Natur als Inhalt der Werke selbst. Hier käme nun allerdings alles auf
die nähere Definition des Begriffes der ‚wahren Natur’ an, indem diese
41
‚wahre’ sichtbare Natur, welche den Inhalt des Kunstwerks ausmachen soll,
nicht nur nicht mit der erscheinenden sichtbaren Natur der Welt ohne
weiteres identifiziert, sondern vielmehr sogar zunächst streng begrifflich
von ihr unterschieden werden muss“.6
Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik bezeugt Benjamins Positionierung
zugunsten der Ästhetik gegen die Naturwissenschaft, denn die einzige Möglichkeit, welche
die Idee hat um sich zu offenbaren, ist nicht in den natürlichen Phänomenen – in denen es die
Idee, wenn auch nicht deutlich sichtbar, gibt – sondern in dem Kunstwerk:
“[...] in dem [sich] freilich danach dann das Problem einer tiefern
essentiellen Identität der ‚wahren’ sichtbaren Natur im Kunstwerk und in
der Erscheinungen der sichtbaren Natur präsenten (vielleicht unsichtbaren,
nur anschaubaren, urphänomenalen) Natur [...] stellen würde. Und dies
würde möglicher und paradoxer Weise so sich lösen, dass nur in der Kunst,
nicht aber in der Natur der Welt, die wahre, anschaubare, urphänomenale
Natur abbildhaft sichtbar würde, während sie in der Natur der Welt zwar
präsent aber verbogen (durch die Erscheinung überblendet) wäre“.7
Insofern behauptet Benjamin, dass alle Anstrengungen Goethes, in der Beobachtung der
Phänomene und der Prozesse der Natur die Urphänomene zu finden, trotz allem auf die Kunst
gezielt waren. Genauer gesagt waren solche Mühen darauf gerichtet, die Idee der Natur zu
begreifen und sie Objekt der Kunst werden lassen8: Die Idee der Natur ist das, was den
idealen Kunstinhalt bestimmen muss, weshalb die Urphänomene in der Natur erforscht sind.
3. Die Rezeption des Urphänomens. Der Ort der Wahrheit
Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik wurde im Jahr 1919 geschrieben und
im Jahr 1921 herausgegeben. Aus den selben Jahren stammen die Fragmente, die wir in
diesem Abschnitt betrachten. Während Benjamin im Werk über den Begriff der „Kritik“ Idee
und Phänomen in einem ästhetischen Kontext aufeinander bezieht, werden in den Fragmenten
die selben Goethischen Begriffe auch innerhalb einer Erkenntnistheorie benutzt: wir finden
6
GS I/1 113.
Ibidem.
8
Vgl. GS I/1 112.
7
42
also eine Alternation der Stellen, in denen ein Entwurf einer Ästhetiktheorie und ein Entwurf
einer Erkenntnistheorie erscheinen, ohne irgendeine Systematik. Laut diesen Fragmenten
offenbart sich die Wahrheit – d.h. die Idee - teils in der Kunst und teils in der Erkenntnis, teils
in einer Augenblicklichkeit und teils in einer Fortschrittlichkeit. Wie bereits gesagt wurde,
aber an dieser Stelle wiederholt werden sollte, waren die Fragmente von Benjamin nicht zur
Veröffentlichung gedacht. Es handelt sich um ein Sammelsurium der Gedanken – manchmal
einfach um Aphorismen – völlig unsystematisch, die aber wichtige Hinweise enthalten um zu
verstehen, wie und von welchen Problematiken das Denken Benjamins - und insbesondere die
Ideenlehre - ausgeht und was sich dann in der Philosophie der folgenden Jahre entwickeln
wird. Ich erforsche nun diese Fragmente, möchte aber noch einmal betonen, dass Benjamin in
ihnen weder eine begriffliche Unterscheidung, noch eine terminologische zwischen
„Wahrheit“ und „Idee“ feststellt.
Im Fragment 20 Zum verlorenen Abschluss der Notiz über die Symbolik in der
Erkenntnis schreibt Benjamin, dass die Naturforschung Goethes die Repräsentantin der echten
und vollzogenen theoretischen – in Symbolen gefassten und begriffenen – Erkenntnis ist.9 Das
Urphänomen wird in dem selben Fragment als „Symbol“, als „Ideal“ und schließlich als
„Idee“ definiert:
“Das Urphänomen ist ein systematisch-symbolischer Begriff. Es ist als Ideal
Symbol. Es war [das Urphänomen] [...] als Idee außerdem bezeichnet. Aber
in welchem Sinne? Im rein-theoretischen Sinne, in welchem aus der Idee die
Begriffe derivieren. Im Sinne der Idee als Aufgabe. – Das Ideal dagegen
stellt die Beziehung zur Kunst, oder eigentlich zu reden, zur Wahrnehmung
dar“.10
Nach dem, was Benjamin in dem Fragment schreibt, ist das Urphänomen zunächst ein
systematisch-symbolischer Begriff; insofern es Symbol ist, ist das Urphänomen Ideal. Das
Urphänomen wird auch als Idee bezeichnet. Wenn es Ideal ist, wird es auf die Kunst und auf
die Wahrnehmung bezogen, wenn es aber Idee ist, hat es eine theoretische und
erkenntnistheoretische Bedeutung – vom Urphänomen als Idee sind die Begriffe abgeleitet –
und es ist eine Aufgabe für die Erkenntnis. Darüber hinaus ist das Urphänomen als Idee mit
einer progressiven und unendlichen Zeitauffassung verbunden – die erinnert uns an die
Kantische und Neukantische Konzeption der progressiven Erkenntnis, der man sich ständig
9
Vgl. GS VI 38.
Ibidem.
10
43
nähert, die aber niemals in ihrer Ganzheit erreicht wird.11 Das Urphänomen als Ideal ist
dagegen mit dem Augenblick und mit der Unmittelbarkeit der Wahrnehmung verbunden: man
kann eine unmittelbare und augenblickliche Erfahrung der Wahrheit, enthalten in dem
einzelnen Kunstwerk, haben.
Auch in Nachträge zu: Über die Symbolik in der Erkenntnis, ein Teil des Fragments
20 - von Benjamin erst später verfasst - wird Goethe zitiert. Und genauso wie bei dem
Fragment 20 wird dort gesagt, dass sein Denken repräsentativ ist, dieses Mal aber wieder nur
in bezug auf die Kunsttheorie. Benjamin unterstreicht den Unterschied zwischen Wahrheit
und Wahrheiten – der in dem vorherigen Kapitel analysiert wurde – und fügt hinzu, dass jede
einzelne Wahrheit die Wahrheit enthält: der Gedanke Goethes ist repräsentativ für eine nichtphilosophische und unsystematische, also eine künstlerische Einsicht der Wahrheit, denn sie
manifestiert sich teilweise, also niemals ganz, in der Kunst und in einer nicht-progressiven
Art, sondern unmittelbar innerhalb jedes einzelnen Kunstwerks. Dies ist eine Wahrheit, die
von jener wissenschaftlichen und systematischen verschieden ist, und die, genau wie bei der
Schrift über den Begriff der „Kritik“ und wie bei dem Fragment 20, auf die zweite Bedeutung
von „Urphänomen“, nämlich die des Symbols und des Ideals, hinweist.
Kann man sagen, dass Benjamin zwei verschiedene Bedeutungen von Wahrheit, die
eine wissenschaftlich, systematisch und die andere künstlerisch, nicht-begrifflich und
unmittelbar, annimmt? Fragen wir uns nun an dieser Stelle, welche Beziehung zwischen den
beiden Termini „systematisch“ und „symbolisch“ besteht, der erste von Benjamin auf die
Erkenntnis und der zweite auf die Kunst bezogen. Handelt es sich um ein Verhältnis von
Gegensätzen? Mit anderen Worten, kann das, was systematisch ist, zugleich symbolisch sein
und umgekehrt?
In dem oben erwähnten Fragment 20 wird das Urphänomen als ein „symbolischsystematischer Begriff“ bezeichnet, indem zwei anscheinend gegensätzliche Begriffe
zusammengefasst werden. Um zu verstehen, ob bei Benjamin die künstlerische Wahrheit von
jener wissenschaftlichen zu unterscheiden ist, oder ob es im Gegenteil um die eine selbe
Wahrheit, allerdings unterschiedlich wahrgenommen, geht, müssen wir zunächst auf die
Analyse der letzten zwei Fragmente eingehen.
In dem Fragment Erkenntnistheorie, behauptet Benjamin – über das Jetzt der
Erkennbarkeit sprechend –, dass nur in ihm die Wahrheit ein „systematisch begrifflicher“12
Zusammenhang ist, und er definiert das Urphänomen als einen symbolischen Begriff. Als ob
die Wahrheit in erster Linie ein Symbol wäre, und nur in dem Augenblick, eben in dem Jetzt
11
12
Siehe oben, Kap. I.
GS VI 46.
44
der Erkennbarkeit, irgendwie begrifflich verständlich würde. Schließlich, wenn es in den
vorherigen Fragmenten in dem Kunstwerk ist, wo sich die Wahrheit als solche offenbart –
wenn gleich in einer nicht-begrifflichen und nicht-philosophischen Art –, wird in dem
Fragment Erkenntnistheorie die Wahrheit auf die Erkenntnis bezogen und sie hat in der
Erkenntnis die Möglichkeit, sich zu offenbaren: sie offenbart sich in dem Augenblick, und
bloß in dem Augenblick wird die Wahrheit vom wahrnehmbaren Symbol zu einem Begriff,
also erkennbar. In diesem Fragment fehlt aber der Hinweis auf die unendliche Aufgabe. Es
wird sogar gesagt, dass sich die Wahrheit auch in der Erkenntnis unmittelbar und
augenblicklich offenbart.
Unklar ist das Fragment 26 Wahrheit und Wahrheiten. Erkenntnis und Erkenntnisse, in
dem die Wahrheit als „Inbegriff der Erkenntnisse als Symbol“13 bezeichnet wird. Sie ist aber
nicht der Inbegriff der unendlichen Wahrheiten, denn die Wahrheit drückt sich im System aus,
während einzelne Wahrheiten sich weder systematisch noch begrifflich ausdrücken, sondern
in der Kunst: „die Kunstwerke sind der Ort der Wahrheiten“.14
Wir finden also in den Fragmenten Stellen, an denen Benjamin schreibt, dass die
Wahrheit, d.h. die Idee, sich in dem Kunstwerk als eine nicht-philosophische und nichtbegriffliche Erfahrung offenbart, und ebenso Stellen, an denen die Wahrheit eine theoretische
Bedeutung hat, sie also Aufgabe für die Erkenntnis ist und als „Inbegriff“ der Erkenntnis d.h. der einheitliche Zusammenhang, aber nicht als Summe verstanden, aller Erkenntnisse –
definiert wird. Darüber hinaus finden wir Stellen, an denen sich die Wahrheit, also die Idee, in
dem Augenblick offenbart und Stellen, an denen sie aber als unendliche Aufgabe für die
Erkenntnis betrachtet wird.
Das einzige Element, das die Fragmente gemeinsam haben, ist, dass die Wahrheit
ständig mit dem Symbol verknüpft wird, und dass sie oft zu dem goethischen Begriff des
Urphänomens zurückgeführt wird. Es ist ebenso wichtig die Hypothese zu betonen, dass der
Benjaminsche Dualismus Idee-Phänomen, sowohl auf der ästhetischen Stufe als auch auf der
erkenntnistheoretischen betrachtet, eine zugrundeliegende Metaphysik hat, d.h. eine Theorie
des Seins, die auf dem radikalen Unterschied zwischen Idee und Phänomen beruht, und dass
diese Theorie ursprünglich Benjamins Lektüre der Frühromantik und insbesondere Goethes
entstammt.
13
14
GS VI 47.
Ibidem.
45
4. Das zweideutige Antlitz der Wahrheit
Aus der vorherigen Analyse der frühen Fragmente geht also ein Grenzbegriff der WahrheitIdee hervor, der, da ein solcher Begriff sowohl der Erkenntnis als auch der Erfahrung
zugrunde liegt, in ihnen die doppelte Valenz, die wir in dem Kapitel zuvor angetroffen haben,
zustandebringt: Einerseits die Unendlichkeit der Aufgabe, andererseits die Unmittelbarkeit
einer Erfahrung und einer Erkenntnis, die augenblicklich ist. Welchen Ursprung hat bei
Benjamin diese doppelte Konzeption der Wahrheit?
4.1
Idee als unendliche Aufgabe: Neukantianismus Cohens
Aus dem Jahr 1923 stammt das Fragment Die unendliche Aufgabe. Es ist in zwei Teile geteilt:
Als Begründung der Autonomie und Als Begründung der Methode. In dem ersten Teil
bezeichnet Benjamin die Wissenschaft als unendliche Aufgabe15, oder besser, die
Wissenschaft wird ihrer Form nach als unendliche Aufgabe definiert. Unendliche Aufgabe
heißt nicht eine Aufgabe, deren Lösung unendlich ist, sondern unendlich ist das, was niemals
bloß gegeben werden kann, sondern was also als Aufgabe gegeben ist: es ist auf-gegeben. Die
unendliche Aufgabe findet sich in der Wissenschaft. Sie ist sogar die Wissenschaft: die
Wissenschaft ist die Einheit der unendlich gegebenen Fragen, die jedoch endlich sind; die
Einheit dieser Fragen als solche ist aber ein Begriff höherer Mächtigkeit im Vergleich zu der
bloßen Summe der unendlichen endlichen Fragen. Das bedeutet, dass die Wissenschaft als
Einheit weder gegeben noch erfragbar sein kann: Sie ist Aufgabe. Wie Benjamin spezifiziert,
ist sie nichts, soweit sie nicht eine unendliche Aufgabe ist.16
In dem zweiten Abschnitt des Fragmentes kehrt Benjamin zu dem Begriff der Aufgabe
zurück. Es wird uns gesagt, dass die Wissenschaft in sich selbst weder unendlich noch endlich
ist, sondern dass, nur insofern sie Aufgabe ist, sie unendlich ist. Das heißt nicht, dass die
Wissenschaft als unendlich aufgegeben ist, sondern dass sie als aufgegeben unendlich ist. In
diesem Sinne ist die Aufgabe der Wissenschaft, die ihr aufgegeben ist, die Lösbarkeit.
Benjamin versucht also eine Idee der Einheit der Wissenschaft zu theoretisieren, die eine Idee
im Sinne Kants, d.h. Ausgangpunkt und intellektuelles Ziel der Forschung, ist. Es ist noch
wichtig zu bemerken, dass hier die Wissenschaft eine Idee ist, während in der Handschrift,
15
16
Vgl. GS VI 51.
Vgl. GS VI 52.
46
Theorie der Kunstkritik17 betitelt, und in dem dritten Abschnitt der Schrift Goethes
Wahlverwandtschaften der Begriff der „unendlichen Aufgabe“ der Philosophie und nicht
mehr der Wissenschaft zugeschrieben wird.
Wie bei dem oben betrachteten Fragment, und ebenso in der Handschrift Theorie der
Kunstkritik, wird die Philosophie als unerfragbare Einheit, d.h. die nicht erfragbar sein kann,
bezeichnet. Eine Einheit, die nicht die Summe der unendlichen endlichen Fragen ist, die sich
aber auf einer anderen Stufe in Vergleich zu ihnen befindet. Es bleibt zu erklären, ob es sich
um einen logischen oder ontologischen Unterschied handelt. Benjamin schreibt mit den
selben Worten des vorherigen Fragmentes, dass die Philosophie, als System verstanden, eine
Antwort höherer Mächtigkeit ist:
“Die Einheit der Philosophie, ihr System, ist als Antwort von höherer
Mächtigkeit als die an Zahl unendlichen stellbaren, endlichen Fragen. Sie ist
von höherer Art und Mächtigkeit, als der Inbegriff all dieser Fragen fordern
kann, weil die Einheit der Antwort nicht erfragt werden kann. Sie ist also
auch von höherer Mächtigkeit als irgend eine einzelne philosophische
Frage, ein Problem fordern kann“.18
Benjamin verwendet aber in dem Kontext der Handschriften zwei neue Begriffe hinsichtlich
des Fragmentes: das „Weiterfragen“ und das „Ideal des Problems“.
In Theorie der Kunstkritik wird die Philosophie als ein System und als eine unendliche
Aufgabe betrachtet: sie ist eine Einheit, für die keine Frage existiert, die sie erfragen kann: es
ist ein unablässiges Aufkommen weiterer Fragen, die aber eine Einheit sind, für welche die
einzige Antwort das System der Philosophie selber wäre, d.h. die Ganzheit endlicher Fragen,
die gestellt werden können. Benjamin verwendet in diesem Zusammenhang die Termini
„Weiterfragen“ und „Zurückfragen“, beide auf das unendliche Verfahren der Frage-Antwort
bezogen.
Das alles weist sofort auf einen Autor hin, der in seiner Logik des reinen Denkens
einen Begriff des Denkens als unendlichen Aufgabe und als dialektisches Verfahren
theoretisiert, wonach jede Antwort eine neue Frage aufwirft, bis ins Unendliche: Hermann
Cohen. Bei Cohen ist die Idee das, was das Denken begründet, sie ist sogar das Verfahren des
Denkens selbst, als eine unaufhörliche Aktivität verstanden, wie eben ein Weiterfragen. Die
17
Vgl. GS I/3 833. Es handelt sich um eine Variante für den dritten Teil der Schrift über die Goethes
Wahlverwandtschaften.
18
GS I/3 833.
47
Idee ist bei Cohen eine Methode, eine Hypothese, die das Gesetz ausdrückt, wodurch das
Verständnis sein Objekt, d.h. das Sein, durch unablässige Begründungen „produziert“. Die
Idee ist allerdings für den Begründer der Neukantischen Schule in Marburg – ebenso wie bei
Kant – nicht ein Sein, sondern ein Sollen, d.h. die Idee ist keineswegs eine metaphysische
Struktur, sondern eine logische Funktion, die eben funktioniert. Die platonische Dialektik ist
das Modell, worauf sich Cohen bezieht:
„Hierbei betrachtet er die Voraussetzungen nicht als unbedingt Erstes und
Oberstes, sondern in Wahrheit als bloße Voraussetzungen, gleichsam als
Stufe und Ausgangpunkte, damit er bis zum Voraussetzungslosen
vordringend an den wirklichen Anfang des Alls gelange, und wenn er ihn
erfasst hat, an alles sich halte, was mit ihm im Zusammenhang steht, und
wieder zum Ende herabsteige, ohne irgendwie das sinnlich Wahrnehmbare
dabei mit zu verwenden, sondern nur die Ideen selbst nach ihrem eigenen
innen Zusammenhang, und mit Ideen auch abschließe“.19
Das Denken bei dem Neukantischen Philosophen schreitet durch Trennung und Vereinigung
fort,20 ohne jemals eine endgültige Vollendung zu erreichen:
„Die Vereinigung ist nicht als ein Ereignis, dessen Vollzug zum Abschluss
gekommen wäre; sondern als eine Aufgabe, und das als Ideal einer
Aufgabe; wie nur die Logik eine solche Aufgabe stellen, ein solches Ideal
aufstellen kann. Denn die Aufgabe, die dem Denken im Urteil gestellt wird,
darf niemals zur Ruhe, zur Vollendung gekommen betrachtet werden“ .21
Die Bewegung des Denkens ist ein Weiter-fragen: der Begriff, d.h. die Einheit des Objekts, ist
niemals ein Abschluss, sondern immer wieder eine neue Frage: „Das ist die tiefe Bedeutung
des sokratischen Begriffes, der, nach der Auslegung Cohens, nicht in der Frage: ‚was ist es’
besteht, sondern in der Frage selber: der Begriff ist wesentlich Frage und von daher
Aufgabe“.22
So lassen sich deutlich die Analogien zwischen der Konzeption Cohens - bei dem die
Philosophie ein immer offenes und in ständiger Bewegung befindliches systematisches
Denken ist - und der Position Benjamins - die in den Frühschriften kaum vertieft ist -
19
PLATON, Der Staat, 511 b-c, vgl. auch A. POMA, La filosofia critica di Hermann Cohen, Mursia, Milano S.95.
Vgl. ANDREA. POMA, op. cit. S.98.
21
HERMANN COHEN, Logik der Reinen Erkenntnis, Berlin 1919, S. 64.
22
ANDREA POMA, op. cit. S.100.
20
48
feststellen. Wobei der Neukantische Begriff der unendlichen Aufgabe Benjamin nicht
auszureichen scheint. Man könnte nämlich sagen, dass die unendliche Aufgabe für Benjamin
nicht nur die wissenschaftliche Methode des Neukantianismus ist. Darüber hinaus enthält die
Philosophie als System und unendliche Aufgabe bei Benjamin ein Grundelement, das mit dem
Neukantianismus Cohens nicht übereinkommen kann: sie ist nämlich mit einem
metaphysischen Gedanken verbunden.
In diesem Zusammenhang ist das kurze Fragment Zweideutigkeit des Begriffs der
„Unendlichen Aufgabe“ in der Kantischen Schule interessant, in dem Benjamin den Begriff
der unendlichen Aufgabe in der Kantischen Schule analysiert. In dem Fragment unterscheidet
Benjamin zwei Bedeutungen des Begriffs der „unendlichen Aufgabe“. Die erste Bedeutung ist
diejenige, die das Ziel in einen entfernten, utopischen Punkt einsetzt, der, so schreibt
Benjamin, wie ein Gipfel ist, dem man sich fortlaufend nähert, der aber trotzdem immer
unendlich fern bleibt, weil sich - nach der Metapher des Gipfels - in dem Annährungsweg
immer wieder neue Täler mit unendlichen Gipfeln eröffnen. Schließlich ist dieser Begriff der
„unendlichen Aufgabe“ ein empirischer Begriff, der also nicht a priori betrachtet werden
kann. Die zweite Bedeutung der unendlichen Aufgabe, jene, die Benjamin dem
Neukantianismus zuschreibt, besteht jedoch darin, das Ziel in eine unendliche Entfernung zu
setzen, die aber auch und vor allem unsichtbar ist. Eine solche Bedeutung, schließt Benjamin,
ist eine „nicht apriorische aber vollkommen leere Art der Unendlichkeit ihrer Aufgabe“.23
Benjamin zufolge ist der Begriff der unendlichen Aufgabe also in der Neukantischen Schule
ein leerer Begriff, da das Ziel „nicht scheinbar sondern wirklich ganz unabsehbar in die
Ferne“ flüchtet.24
Darüber hinaus ist es interessant – wie Pierfrancesco Fiorato zu Recht bemerkt25 –
dass Benjamin in Theorie der Kunstkritik eben den Terminus „Weiterfragen“ verwendet, um
eine Tendenz „auf ein Weiterfragen, jene Tendenz, welche den Anlass zu den flachen
Auslegungen des Wortes von der Philosophie als unendlichen Aufgabe gegeben hat“26 zu
bezeichnen; diesem Terminus aber wird derjenige des „Zurückfragens“ entgegengesetzt, mit
dem Benjamin eben das Zurückfragen „nach der verlornen Einheit der Frage, oder nach einer
bessern Frage, in welcher die Einheit der Antwort zugleich erfragt wäre“27 versteht.
23
GS VI 53.
GS VI 53.
25
PIERFRANCESCO FIORATO, op. cit. S.363ff.
26
GS I/3 833.
27
GS I/3 833.
24
49
Freilich weder vertieft Benjamin, noch argumentiert er diesen Unterschied.28 Von
daher kann man also bloß wagen zu behaupten, dass das Weiterfragen, worauf Benjamin sich
bezieht, schon wieder ein Hinweis – in negativo – auf den Neukantianismus ist. Oder besser,
unter dem Terminus „Weiterfragen“ versteht Benjamin wahrscheinlich die logische
Bedeutung des philosophischen Antwort-Frage-Verfahrens, während im Gegensatz dazu das
„Zurückfragen“ einen metaphysischen Ansatz bezeichnet, auf den allerdings die Terminologie
Benjamins verweist, für die das Zurückfragen auf die verlorene Frage bezogen ist und es
schließlich ein an den Ursprung29 gewandtes Zurückfragen ist.
Welche Bedeutung hat also bei Benjamin die „unendliche Aufgabe“, mit der die
Philosophie den Intellektuellen betraut? Und in welchem Sinn weist sie auf eine Metaphysik
hin?
4.2
Der Funktionalismus der Idee
Vor der Analyse des zweiten Teils des Textes Theorie der Kunstkritik, der wichtig für meine
Arbeitshypothese ist, halte ich es für notwendig kurz einen Text zu betrachten, den Benjamin
in den Jahren, in denen er sich mit der Erkenntnistheorie beschäftigte, las. Es handelt sich um
Goethes Urphänomen und die platonische Idee von Elisabeth Rotten, einer Schülerin von
Paul Natorp in Marburg. An diesem Text, den Benjamin in Der Begriff der Kunstkritik in der
früheren Romantik erwähnt,30 interessiert mich insbesondere jener Teil, wo Elisabeth Rotten
die
Bedeutung
des
„Weiterfragens“
und
der
„unendlichen
Aufgabe“
in
dem
Wissenschaftsbegriff Goethes beschreibt.
Elisabeth Rotten, ausgehend von den Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes,
bemerkt, dass der Begriff „Typus“, der darin zentral ist, die Neukantische Bedeutung von
„Funktion“, d.h. von Idee, im Sinne der Aufgabe und intellektuelles Ziel der Forschung, hat:
Der Typus ist nicht ein „Gegeben“, sondern ein „Auf-gegeben“; er ist eine „Setzung des
Denkens zur sukzessiven Bestimmung des Sinnlichen“.31 Darüber hinaus behauptet die
Autorin, dass der Idee-Typus bei Goethe in sich den Sinn und die Bedeutung der platonischen
28
Vgl. PIERFRANCESCO FIORATO, op. cit. S.362.
Siehe unten Kap. III.
30
Vgl. GS I/1 110.
31
ELISABETH ROTTEN, Goethes Urphänomen und die platonische Idee, Gießen 1913, S.44ff.
29
50
Dialektik enthält, d.h. dass der Typus die Beweglichkeit, also die Kinesis, der Begriffe
ausdrückt, und das entspricht – mit Neukantischen Worten ausgedrückt – dem unendliche
Verfahren des Denkens:
“Die Bestimmung muss ins Unendliche gehen, da das zu Bestimmende
unendlich, grenzlose ist. Der fortschreitende Charakter des Mannigfaltigen
macht es unmöglich, bei irgendeiner Bestimmung stehenzubleiben. Wohl ist
die Idee zunächst eine (vorläufige, vorbereitende) Antwort ist auf die
unendlich andrängendenden Fragen der sinnlichen Welt; darum bleibt sie aber
nicht weniger, vom Standpunkt des Erkennenden aus, eine ewige Frage,
nämlich ein unermüdliches Weiterfragen“.32
Elisabeth Rotten findet also in den Naturwissenschaftlichenschriften Goethes platonische
Elemente wieder, die auf die Neukantischen Philosophie zurückgeführt worden sind: die Idee
als Funktion und Hypothese für die Forschung; das Verfahren des Denkens als unendliche
Bestimmung des Sinnlichen und als Weiterfragen, das niemals eine endgültige Ruhe erreicht.
Die Idee ist vor allem eine Methode, durch die „das Schwankende, oft Irreführende der
Erscheinung, die zum Stillstand nur in der Betrachtung gebracht werden kann, aber auch
gebracht werden muss“.33 Das ist aber nicht alles.
Die Dialektik, als Bezeichnung und Bestimmung des Phänomens seitens der Idee,
besteht – laut Elisabeth Rotten – als ein wichtiger platonischer Aspekt der Schriften Goethes
in zwei Sinnen: wenn wir, auf einer Seite die ewige Dialektik – die wir logisch nennen
könnten – zwischen Problem und Lösung, Frage und Antwort haben, so gibt es auf der
anderen Seite noch eine Dialektik – die ich metaphysisch nennen möchte – zwischen
Erscheinung und Idee. Der Idee-Typus der Naturwissenschaftlichenschriften Goethes ist eine
reine Idee, schreibt Rotten Goethe zitierend, der es nicht möglich ist und niemals möglich sein
wird, eine adäquate Manifestation in der Natur finden zu können. Trotzdem verkörpert sie
sich notwendigerweise in eben ihren unangemessenen, phänomenalen Manifestationen. Wenn
man von Phänomenen spricht, spricht man von Manifestation der Idee:
„Die Idee ist ewig und einzig; dass wir auch den Plural gebrauchen, ist nicht
wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können,
sind nur Manifestationen der Idee“.34
32
ELISABETH ROTTEN, op. cit. S.45.
ELISABETH ROTTEN, op. cit. S.47.
34
ELISABETH ROTTEN, op. cit. S.30; J. W. GOETHE, Maximen und Reflexionen, in Goethes Werke, Wegner
Verlag, Hamburg 1953-63, Bd. XII S.366.
33
51
Das bedeutet, dass die Idee Funktion und Methode für die Erkenntnis ist, jedoch hat sie auch
eine begründende Bedeutung gegenüber dem Phänomen. Mit anderen Worte, nicht nur ist das
Phänomen in der Idee begründet, insofern letztere – wie beim Neukantianismus – das Gesetz
des Phänomens ist, sondern die Idee ist auch das, durch was das Phänomen in seinem Sein
besteht, die sogar dessen Sein bestimmt, indem sie ihm auf diese Weise Bedeutung verleiht.
In der Auslegung die Rotten in ihrem Buch gibt und die Benjamin vor Augen hatte, wird das
Denken Goethes also vorgestellt, indem es zwei Elemente berücksichtigt. Das erste,
Neukantische, das die Idee als Arbeitsmethode, Funktion des Verstandes, Gesetz der
Phänomene und Blickpunkt der Erkenntnis betrachtet; die Idee „dient“ in diesem Fall –
genauso wie eine logische Funktion „dient“ – dem Denken und der Erkenntnis. Das zweite,
das die Idee nicht als eine Form in Bewegung betrachtet, welche die Dialektik des Denkens
erzeugt, sondern Rücksicht auf die tatsächliche Präsenz der Idee in dem Schein nimmt: die
Dialektik zwischen Idee und ihren Manifestationen.
Das wird in dem der Kunsttheorie Goethes gewidmeten Teil des Buchs erklärt. In ihm
unterstreicht die Autorin zwei Punkte:
1) Es wird erläutert, dass bei Goethe die Idee eine Art von Vision ist, die sich in erster
Linie dem Künstler offenbart, die sich ihm vielmehr vor seinen Augen zeigt: „Das Schöne
blieb ihm [Goethe] ein Urphänomen, das sich in seiner letzten Einheit und Tiefe nicht
aussprechen lässt, das nur der künstlerisch Begabte besitzt und intuitiv erfasst“.35 Der
Künstler hat schließlich vor Augen die Idee als Urbild: eine geistig Erfasste, innerlich
Erschaute, durch die jeder Gegenstand der Erfahrung für den Künstler eine Manifestation der
Idee wird, oder besser, ein Symbol der Idee „natürlich zugleich und übernatürlich“,36 von der
„höchsten Wahrheit“ ohne keine „Spur von Wirklichkeit“.37
2) Es wird betont, dass es der Kunst und damit dem mit einer besonderen Sinnlichkeit
begabten Künstler irgendwie zugänglich wäre, was der wissenschaftlichen und vulgären
Erfahrung zunächst versteckt bleibt: „Wahrscheinlich ist die Bedingung der Kunst, aber
innerhalb des Reiches der Wahrscheinlichkeit muss das Höchste geliefert werden, was sonst
nicht zur Erscheinung kommt“.38 Es wird nämlich ein Stufenunterschied zwischen der Kunst
und der Wissenschaft erzeugt, denn die Kunst erlaubt das zu begreifen, was in der
35
ELISABETH ROTTEN, op. cit. S. 92.
ELISABETH ROTTEN, op. cit. S. 93; J. W. GOETHE, W.A. 47, 265.
37
ELISABETH ROTTEN, op. cit. S 93; J. W. GOETHE, W.A. 47, 12.
38
ELISABETH ROTTEN, op. cit. S. 95; J. W. GOETHE, W.A. 49/2, 18.
36
52
Erscheinung durch die bloße Erfahrung - sowohl vulgär als auch wissenschaftlich - nicht
wahrnehmbar werden kann.
Eng mit dem Aspekt der Offenbarung der Idee verbunden ist der Begriff des
„Symbols“. Das Symbol ist die sichtbare Verkörperung, oder besser die Verkörperung eines
sichtbaren Wesens dessen, was seiner Natur nach unsichtbar ist: die Idee. Das Symbol ist die
Sache selbst ohne die Sache selbst zu sein. Betrachten wir jetzt ein Zitat, von Rotten
übernommen, aus den Maximen und Reflexionen Goethes:
“Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und
so, dass die Idee immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und
selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bliebe“.39
Das Symbol ist also ein allgemeiner Fall, der in sich das Besondere enthält. Das Symbol ist
die sinnliche Manifestation der Idee. Und der Künstler ist derjenige, der von dieser Idee eine
sinnliche Erfahrung hat, als lebendige und unmittelbare Offenbarung dessen, was seinem
Wesen nach unerforschbar ist.
Elisabeth Rottens Auslegung von Goethe ist ausgesprochen platonisch, allerdings
platonisch im Neukantischen Sinne.40 Alles, was in der Natur existiert, ist „nur ein Gleichnis“
einer höheren Realität, die nicht in einem ontologischen Wesen besteht, sondern laut Rotten,
in einem heuristischen Prinzip: die Idee ist nicht ein Gegebenes, sondern eine Aufgabe; die
Idee hat ja einen begründenden Wert für das Phänomen, aber in dem Sinne, dass sie das
Gesetz der phänomenalen Manifestation ist. Die Forschung Elisabeth Rottens zielt nämlich
darauf ab, das Denken Goethes innerhalb der Interpretation der Neukantischen Schule zu
präsentieren und damit die metaphysische und symbolische Interpretation Goethes zu
verblenden. Die Idee ist schließlich für die Autorin – ebenso für die Neukantische Schule –
eine Methode und eine Funktion, die dazu dient, die phänomenale Welt zu erklären: Goethe
setzt die Begriffe der „Bewegung“ und des „Stillstandes“, die des „Werdens“ und des „Seins“
in Korrelation, er verleiht aber – laut der Autorin – durch die Begriffe der „Anschauung“ und
der „Offenbarung“ der Idee der Sinnlichkeit eine übermäßige Bedeutung. Und dies führt
notwendigerweise die Korruption der Reinheit des Denkens mit sich. Diese Korruption wird
laut Rotten in Goethe durch einer Mangel an Begriffssystematik verursacht.
39
ELISABETH ROTTEN, op. cit. S. 98; J. W. GOETHE, Maximen und Reflexionen, in Goethes Werke, Wegner
Verlag, Hamburg 1953-63, Bd. XII S.470.
40
Vgl. PAUL NATORP, Ideenlehre, Leipzig 1903. Bei der Neukantischen Schule ist die Platonische Idee keine
Hypostatisierung, sondern das Regulative im Sinne Kants. Kant war nämlich der erste Philosoph, der den Sinn
der Ideenlehre Platos wieder entdeckte und aussprach (vgl. Rotten, op. cit. 8ff.).
53
4.3
Idee: unmittelbare Erfahrung der Einheit
Wie bereits gesagt hat Benjamin das Buch Urphänomen und die platonische Idee gelesen, und
in der Tat ist es möglich, in den frühen Schriften, die wir bisher übergeprüft haben, manche
Affinitäten zwischen der jugendlichen Benjaminianischen Auslegung Goethes mit der von
Elisabeth Rotten festzustellen: Wir haben z.B. den Begriff des Weiterfragens, von Benjamin
zuerst auf die Wissenschaft und später auf die Philosophie bezogen, den Begriff der Idee als
unendliche Aufgabe, die Kunst als Möglichkeit für die Idee, sich zu verkörpern und sich
sinnlich zu machen, betrachtet.
Benjamin übernimmt die Interpretation von Elisabeth Rotten, indem er vor allem das
zweite Element hervorhebt, das die Autorin im Denken Goethes unterstreicht, und zwar die
Präsenz der Idee in den Phänomenen, die Manifestation der Idee und ihre notwendige
phänomenale Verkörperung. Dieser Punkt, so wurde vorher gesagt, ist aber eine Bestätigung
der Neukantischen Lektüre Rottens, insofern als die Idee in den Phänomenen als deren Gesetz
anwesend ist, jedoch nicht als ein metaphysisch anderes Sein, welches das Sein der
Phänomene begründet: das Urphänomen wird – in dem oben zitierten Buch – auf dem Begriff
der Idee als Gesetz der Neukantischen Schule zurückgeführt. Die Manifestation des
Urphänomens in dem Schein entspricht der Fähigkeit, sie in ihren mannigfaltigen
phänomenalen Manifestationen zu erkennen. Benjamin - zumindest in seinen jugendlichen
Schriften - legt dagegen die Anwesenheit der Idee in dem Phänomen mehr in einem
metaphysischen als in einem funktionalistischen Sinne aus und betont den sinnliche Aspekt
der Idee durch den Begriff der „Wahrnehmung“. Verfolgen wir nun wie.
Daher kehren wir zunächst zu dem Text Theorie der Kunstkritik zurück. Wie ich
bereits oben unterstrichen habe, zentriert sich der erste Teil der Schrift um den Begriff des
„Weiterfragens“ und um die „unendliche Aufgabe“, welche die Philosophie in ihrer Ganzheit
und Einheit ist. Wir haben auch gesagt, dass diese Richtung des Gedankenganges Benjamins
auf den ersten Blick auf Neukantischen Absichten zu beruhen scheint. Allerdings geht
Benjamin ein Schnitt weiter, indem er seinem Gedankengang der Neukantischen Schule
fremde Elemente hinzufügt, die eben auf eine vielmehr metaphysischere Lektüre Goethes
zurückgeführt werden können. Ein Beispiel dafür ist der Begriff des „Ideals des Problems“,
den wir in der Mitte des Textes, in bezug auf das Verhältnis zwischen der Einheit der
Philosophie und dem Kunstwerk, finden. „Das Ideal des Problems“ wird auf die Philosophie
als System bezogen, und zwar auf die virtuelle Frage, welche die Einheit der Philosophie –
eben virtuell – erfragt. Es wurde zuvor gesagt, dass die Einheit der Philosophie als System auf
54
keinen Fall erfragbar ist, sondern sie weist auf eine unaufhörliche Alternierung von Fragen
und Antworten hin. Dieser virtuellen Frage aber entspricht eine virtuelle Antwort, die das
System selber ist. Die Frage, die virtuell das System erfragt, erhält als virtuelle Antwort das
System selber: d.h. die Wahrheit, als die Einheit der einzelnen Wahrheiten verstanden, die
aber niemals deren Summe ist. Das System als Antwort der virtuellen Frage wird - wie bei
dem Neukantianismus - als asymptotische Grenze des Denkens begriffen, bzw. als das
heuristische Ziel, das die Forschung des Philosophen leitet: „Das Ideal [des] Problems ist eine
Idee“.41 Dennoch schreibt Benjamin genau an dieser Stelle, dass das Kunstwerk eine
besondere Affinität zu der Philosophie und zu dem Ideal des Problems hat:
„Es gibt jedoch Gebilde, welche – ohne die Philosophie selbst, d.h. ohne die
Antwort auf jene virtuelle Frage, und ohne virtuell zu sein, d.h. ohne die
Frage sein zu können, dennoch zur Philosophie vielmehr zum Ideal ihres
Problems, die tiefste Affinität haben, wirkliche, nicht virtuelle Gebilde,
welche weder Antworten noch Fragen sind. Es sind die Kunstwerke. Nicht
mit der Philosophie konkurriert das Kunstwerk, sondern es tritt lediglich zu
ihr in das tiefste Verhältnis durch seine Verwandtschaft mit dem Ideal des
Problems“.42
Selbst wenn die Idee unendlich entfernt vom Phänomen bleibt, ist das einzelne Kunstwerk für
Benjamin der Ort, an dem sich die Idee verkörpert und manifestiert. Nur in der
Mannigfaltigkeit der Werke, schreibt Benjamin, lässt sich das Ideal des philosophischen
Problems darstellen.43 Das bedeutet, dass sich die Idee in der Pluralität der Werke darstellen
lässt. Man kann feststellen, dass Benjamin in diesem Text das Moment der Unendlichkeit und
der Jenseitigkeit der Idee unterstreicht. Zugleich aber wird der Moment der Präsenz der Idee
in dem Phänomen und der Moment der Möglichkeit, eine Erfahrung – im Sinne einer
Wahrnehmung – der Idee zu haben, stärker betont.
Die Idee ist nicht bloß das Gesetz des natürlichen Phänomens, so wie im
Neukantianismus, sondern die Präsenz einer Wahrheit, die von einer breiteren Tragweite ist,
verglichen mit der wissenschaftlichen Wahrheit der Naturwissenschaften, an die sich der
kritische Idealismus wendet. Das wurde bereits festgestellt in bezug auf den Begriff der
„Erfahrung“ in der Programmschrift, für den Benjamin eine neue, nicht mehr
wissenschaftliche, sondern allumfassende Bedeutung, die er „Erfahrung höherer Art“ nennt,
sucht. Meiner Meinung nach ist dies alles auf Benjamins Auslegung von Goethe
41
GS I/3 833.
Ibidem.
43
Vgl. GS I/3 834.
42
55
zurückzuführen, nach der das Denken Goethes repräsentativ für eine intuitive, jedoch nichtbegriffliche Wahrheit steht.
Es ist interessant, zu bemerken, dass derselbe Begriff der „Erfahrung höherer Art“
auch von Goethe benutzt wird.44 Goethe verwendet diesen Begriff, um die Methode der
wissenschaftlichen Forschung zu beschreiben, in der die Entdeckung des Urphänomens den
Zweck und das Ziel des Verfahrens darstellt. Mit anderen Worten, die wissenschaftliche
Methode, die Goethe in den Naturwissenschaftlichen Schriften beschreibt, besteht in der
Beobachtung, in dem Versuch und schließlich in der Findung des Gesetzes, d.h. des
Urphänomens. Letzteres ist eben die höhere Erfahrung, die der Natur eine Ordnung zu geben
erlaubt.45 Allerdings ist in den Ästhetischen Schriften Goethes die Wahrnehmung des
Urphänomens, oder besser des Urbildes, nicht mehr eine theoretische Erfindung und nicht
Teil einer wissenschaftlichen Methode, sondern eine unmittelbare Anschauung, die der
Künstler hat. Bei Benjamin ist die „Erfahrung höherer Art“ näher an der Bedeutung der
Ästhetischen Schriften Goethes: sie ist die Fähigkeit, in dem Augenblick die Ganzheit, d.h.
die Idee, zu begreifen; bei Benjamin genauso wie bei Goethe ist die höhere Erfahrung also die
Wahrnehmung eines letzten Elementes. Sie ist eine zufällige Evidenzerfahrung, nicht eine
wissenschaftliche Methode. Ebenso behauptet Benjamin, indem er den Begriff des „Ideals des
Problems“ vorstellt, dass das Kunstwerk der Philosophie nahe steht, weil es die Verkörperung
des Ideals, das für die Philosophie eine Aufgabe ist und bleibt, zustandebringt. Es ist also die
Kunst, die eine höhere unmittelbare und augenblickliche Erfahrung der Idee erlaubt.
Bis hierhin haben wir undifferenziert von Wahrheit und Idee geredet. Benjamin
selber, sowohl in den Fragmenten als auch in der Schrift über den Begriff der „Kritik“,
unterscheidet die zwei Termini nicht. Jedoch scheint er sie mit der gleichen Valenz zu
benutzen. Man kann behaupten, dass es in den jugendlichen Schriften keinen effektiven
Unterschied zwischen den zwei Termini und den entsprechenden Inhalten gibt. Nur das
Fragment Eidos und Begriff lässt über diese anscheinende Äquivalenz nachdenken. Benjamin
stellt in ihm nämlich fest, indem er einen der Fixpunkte der Phänomenologie kommentiert,
dass das Wesen eines Dinges, von dem Begriff eines Dinges unterschieden, zeitlos ist.46 Das
Eidos eines Dinges ist also immer unabhängig von der Raum-Zeit-Lage des Dinges, dessen
Wesen es ist. Dies gilt nicht so für den Begriff, der auch der Begriff eines Dinges in hic et
nunc ist. Mit anderen Worten, während das Wesen eines Dinges immer vom Hier und Jetzt
absieht, sieht dagegen der Begriff eines Dinges nicht notwendigerweise von der effektiven
44
J. W. GOETHE, W.A.II 38ff.; ELISABETH ROTTEN, op. cit. S. 57ff.
Vgl. ELISABETH ROTTEN, op. cit. S.59ff.; J. W. GOETHE, Goethes Werke, Wegner Verlag, Bd. 15, S.12ff.
46
Vgl. GS VI 29f.
45
56
und wirklichen Raum-Zeit ab. Bisher ist Benjamins Konzeption von Eidos - also von Idee ähnlich der Husserls, bei der das Wesen eines Dinges als reine Idee von Raum-Zeit und vom
Phänomen entfesselt wahrgenommen wird. Aber das Wesen eines Dinges, führt Benjamin
fort, ist immer noch das Wesen von irgendetwas, meint also eine phänomenale Realität.
Dagegen ist die Wahrheit, wird Benjamin einige Jahre später in dem Trauerspielbuch
schreiben, völlig intentionslos. Von daher sieht es so aus, als ob die Wahrheit nicht von den
Dingen gesagt werden kann, sondern vielmehr – wie auch aus der Schrift über den
Kritikbegriff herausgelesen werden kann – in den Dingen eine symbolische Intention ist. Wir
werden allerdings in der Analyse der erkenntniskritischen Vorrede zum Ursprung des
deutschen Trauerspiels sehen, dass die Begriffe „Idee“ und „Wahrheit“ weiterhin
ununterschieden bleiben.
Aus dem, was bisher aufgetaucht ist, schließe ich, dass Benjamin in der Periode der
jugendlichen Schriften einige Elemente der Neukantischen Philosophie, wie den Begriff des
offenen Systems und den der unendlichen Aufgabe, in seinem Denken aufnimmt; zugleich
übernimmt er Elemente – vom metaphysischen Schlage – zu denen er durch die Lektüre
Goethes gelangt und die aber den oben erwähnten Neukantischen Elementen widersprechen.
Der Begriff der Wahrheit-Idee ist das Ergebnis dieses Amalgams. Die Wahrheit stellt sich mit
einem doppelten Antlitz vor. Sie ist unendliche Aufgabe, welche die intellektuelle Forschung
vorantreibt, zugleich ist sie jedoch „Gegenstand“ einer unmittelbaren Wahrnehmung, der aber
nicht möglich ist, eine Methode zu bestimmen.
57
DRITTES KAPITEL
DIE IDEENLEHRE IM URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS
1.
Probleme, Fragen, Allgemeine Linien
Ursprung des deutschen Trauerspiels, geschrieben zwischen 1925-1926 und im Jahre 1928
veröffentlicht, stellt einerseits den Versuch dar, in der Erkenntniskritischen Vorrede die
Erkenntnistheorie zu „systematisieren“, an der Benjamin zuvor bloß fragmentarisch arbeitete,
und andererseits einen wichtigen Übergang von den frühen Schriften zu den späteren.
Außerdem erlaubt das Trauerspielbuch, eine Distanzierung Benjamins von einigen
philosophischen Gedanken ans Licht zu bringen, die in die Jahre der Fragmente und der
Programmschrift zurückreichen und damit eine quasi endgültige Entwicklung seiner
Philosophie festzustellen. In dem folgenden Kapitel beabsichtige ich hervorzuheben, wie sich
die Erkenntnistheorie Benjamins entwickelt, und zu beweisen, dass von Ursprung des
deutschen Trauerspiels her eine metaphysische Perspektive des Autors zu Tage gefördert
wird, die bereits in den frühen Fragmenten erschient. In der Schrift über das Trauerspiel
verstärkt sich nämlich die metaphysische Valenz der Idee. Diese erwirbt über die
erkenntnistheoretische Funktion hinaus, wie wir sie im ersten Kapitel gefunden haben, auch
und vor allem die Bedeutung von einem „metaphysischen Prinzip“. Diese beiden
Bedeutungen der Idee entsprechen der Doppelbedeutung der Wahrheit, – d.h. einerseits die
unendliche Aufgabe, andererseits das unmittelbare und augenblickliche Besitztum - die wir
im ersten Kapitel gesehen haben. Darüber hinaus werden wir versuchen das zu verdeutlichen,
was Benjamin mit der „Aufgabe der Philosophie“ meint, die er wie folgt in der
Erkenntniskritischen Vorrede bezeichnet:
„Will die Philosophie nicht als vermittelnde Anleitung zum Erkennen,
sondern als Darstellung der Wahrheit das Gesetz ihrer Form bewahren, so
58
ist der Übung dieser ihrer Form, nicht aber ihrer Antizipation im System,
Gewicht beizulegen [...] Darstellung ist der Inbegriff ihrer Methode”1
„Gegenstand dieser Forschung [der Philosophie]sind die Ideen“2
„Und so ist die Philosophie im Verlauf ihrer Geschichte [...] ein Kampf um
die Darstellung von eigenen wenigen, immer wieder denselben Worten von Ideen“3
Es soll gezeigt werden, wie die philosophische Aufgabe der „Darstellung der Idee“ mit einer
neuen Einstellung der Philosophie Benjamins verbunden ist.
2.
Die Erkenntnis in der Vorrede zum Trauerspielbuch
Wir haben oben bereits gesehen, dass Benjamin sich in der Programmschrift vornimmt, einen
neuen Begriff der „Erkenntnis“, unterschieden von dem traditionellen, zu suchen und zu
formulieren. In der Erkenntniskritischen Vorrede haben wir nicht mehr mit einer „Theorie“
der Erkenntnis zu tun, sondern mit einer „Kritik“ der Erkenntnis. Die einzige Erkenntnis, die
in der Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels vorkommt, ist nämlich die
traditionelle, die sich mit Objekten und Begriffen beschäftigt. Dieser Erkenntnis setzt
Benjamin die Philosophie entgegen, die kein Objekt „hat“, sondern sich an die Idee und die
Wahrheit wendet, die aber keineswegs Objekt sind und die also nie eigentlich gekannt werden
können. Von daher, wenn die Erkenntnis immer Objekte meint, während die Wahrheit und die
Idee laut Benjamin nicht intentionales Objekt der Erkenntnis sein können, dann stellt sich
wieder das Problem, wie die Idee und die Wahrheit erfahren werden können. Dieses Problem
wurde in dem ersten Kapitel in bezug auf die frühen Schriften angetroffen und, zumindest
teilweise, durch den Begriff der Wahrnehmung gelöst. Aus diesen Fragmenten und aus der
Programmschrift konnte man nämlich ableiten, dass ein Wahr-Nehmen zu der Idee führt, die
sich als Evidenzerfahrung in der Wahrnehmung manifestiert.
So schreibt Benjamin über die Erkenntnis in der Vorrede zum Ursprung des deutschen
Trauerspiels:
1
GS I/1 207ff.
GS I/1 209.
3
GS I/1 217.
2
59
„Erkenntnis ist ein Haben. Ihr Gegenstand selbst bestimmt sich dadurch,
dass er im Bewusstsein [...] innengehabt sein muss. Ihm bleibt der
Besitzcharakter. Diesem Besitztum ist Darstellung sekundär“.4
Wir merken vor allem, dass die Erkenntnis der Vorrede nicht mit der Erkenntnis der
Programmschrift zusammenfällt. Wir stellten oben nämlich fest, dass in der Programmschrift
zwei verschiedene Begriffe der „Erkenntnis“ vorkommen: der eine ist die traditionelle,
wissenschaftliche Erkenntnis, der andere ist die Erkenntnis als Inbegriff aller Erkenntnisse,
d.h. als die Einheit, der ein höherer Begriff der Erfahrung entspricht. Wenn nun Benjamin in
der Erkenntniskritischen Vorrede den Terminus „Erkenntnis“ benutzt, dann tut er es, indem er
ihm eine solche Bedeutung zuschreibt, die mit der Bedeutung der „wissenschaftlichen
Erkenntnis“ der Programmschrift zusammenfällt. Dagegen wird in der Vorrede zum Ursprung
des deutschen Trauerspiels der Begriff der „höheren Erkenntnis“ - dem in der
Programmschrift der Begriff der „höheren Erfahrung“ entspricht - durch den Begriff der
„Philosophie“ ersetzt. Wenigstens im Sinne der Terminologie betont Benjamin im Ursprung
des deutschen Trauerspiels eine reine Opposition zwischen der Philosophie und der
Erkenntnis. In der neuen Perspektive Benjamins ist die Philosophie nicht mehr Erkenntnis,
denn sie kümmert sich weder um Objekte noch um Begriffe, sondern um die Darstellung der
Wahrheit. Darf man also annehmen, dass Benjamin nicht nur einen Unterschied zwischen der
Philosophie und der wissenschaftlichen Erkenntnis, wie er in der Programmschrift auftaucht,
sondern radikaler, zwischen der Philosophie und der allgemeinen Erkenntnis behauptet?
Kehren wir nun zu einem anderen Problem zurück: Womit beschäftigt sich die
Philosophie? Welches ist das „Objekt“ der Philosophie: die Idee oder die Wahrheit? Und vor
allem, wie „erfährt“ man die Idee, oder die Wahrheit, wenn sowohl die erste als auch letztere
als ein nicht-intentionales Sein betrachtet werden sollen, d.h. als ein Wesen, das niemals zum
Objekt des Bewusstseins, der Vernunft oder des Verstandes gemacht werden kann? In den
folgenden Abschnitten werden die Probleme analysiert, die bisher aufgetaucht sind: Was ist
eigentlich die Idee? Besteht ein Unterschied zwischen der Wahrheit und der Idee als
„Objekte“ der Philosophie? Wie bezieht sich die Philosophie auf die Erkenntnis? Was
bedeutet, dass die Philosophie Darstellung ist? Und wie kommen die Idee und die Wahrheit
zur Darstellung?
4
GS I/1 209.
60
3.
Das „Objekt“ der Philosophie
Das „Objekt“ – oder mit den Worten Benjamins der „Gegenstand“5 - der philosophischen
Forschung sind die Ideen. „Objekt“ aber in welchem Sinn? Wir haben festgestellt, dass die
Philosophie sich von der Erkenntnis unterscheidet. Diese letztere ist nämlich ein „Haben“, das
ein Objekt meint. Dagegen „hat“ die erste kein Objekt, sondern „hat“ vielmehr die
Darstellung der Ideen und der Wahrheit zur Aufgabe. Benjamin setzt die Erkenntnis der
Philosophie wesentlich entgegen. Und das in einer radikaleren Art, verglichen mit der
vorherigen Programmschrift: nicht nur wird die Philosophie der wissenschaftlichen
Erkenntnis entgegensetzt, sondern der Erkenntnis im Allgemeinen. Betrachten wir daher
zuerst, wie Benjamin die Idee und die Wahrheit innerhalb der Vorrede zum Ursprung des
deutschen Trauerspiels bezeichnet, ohne uns jetzt um den Unterschied zwischen Wahrheit
und Idee zu kümmern, indem wir die beiden Begriffe, vorläufig, als Synonyme setzten.
3.1
Idee ist Einheit
Benjamin schreibt, dass die Ideen nicht der phänomenalen Welt angehören: „Die Ideen sind in
der Welt der Phänomene nicht gegeben“.6 Laut dieser Aussage befinden sich die Ideen
hinsichtlich der Phänomene auf einer anderen Stufe. Noch ein Hinweis auf den
unterschiedlichen Status der Wahrheit und der Idee im Vergleich zu dem der Phänomene wird
uns in der Aussage gegeben, dass die Wahrheit unerfragbar ist.7 An dieser Stelle des Textes
kümmert sich Benjamin darum, das Objekt der Erkenntnis von dem der Philosophie zu
unterscheiden: das Objekt der Erkenntnis fällt nicht mit der Wahrheit zusammen. Diese ist
Einheit. Dagegen wendet sich die Erkenntnis, schreibt Benjamin, Einzelerkenntnissen zu,8
d.h. dem Einzelnen. Die Einheit der Wahrheit ist darüber hinaus verschieden von einer
hypothetischen Einheit der Erkenntnis, die, selbst wenn sie existieren würde, „vielmehr ein
nur vermittelt, nämlich auf Grund der Einzelerkenntnisse und gewissermaßen durch deren
Ausgleich, herstellbarer Zusammenhang“9 wäre. Dagegen schreibt Benjamin über die
Wahrheit als Einheit:
5
GS I/1 209.
GS I/1 215.
7
Vgl. GS I/1 210. Benjamin schreibt: „Als Einheit im Sein und nicht als Einheit im Begriff ist die Wahrheit
außer aller Frage“ (ibidem).
8
Vgl. GS I/1 210.
9
Ibidem.
6
61
„Während im Wesen der Wahrheit die Einheit durchaus unvermittelt und
direkte Bestimmung ist. Dieser Bestimmung als einer direkten ist es
eigentümlich, nicht erfragt werden zu können. Wäre nämlich die integrale
Einheit im Wesen der Wahrheit erfragbar, so müsste die Frage lauten,
inwiefern auf sie die Antwort selbst schon gegeben sei in jeder denkbaren
Antwort, mit der Wahrheit Fragen entspräche. Und wieder müsste vor der
Antwort auf diese Frage die gleiche sich wiederholen, dergestalt, dass die
Einheit der Wahrheit jeder Fragestellung entginge. Als Einheit im Sein und
nicht als Einheit im Begriff ist die Wahrheit außer aller Frage [...] die Ideen
sind ein Vorgegebenes. So definiert die Sonderung der Wahrheit von dem
Zusammenhange des Erkennens die Idee als Sein. Das ist die Tragweite der
Ideenlehre für den Wahrheitsbegriff. Als Sein gewinnen Wahrheit und Idee
jene höchste metaphysische Bedeutung, die das Platonische System ihnen
nachdrücklich zuspricht“.10
Schließlich erreicht die Erkenntnis niemals eine Einheit, und selbst wenn sie diese irgendwie
erreichen würde, wäre jene auch immer eine bloße Summe der Begriffe und nicht eine Einheit
höherer Stufe wie dagegen diejenige Einheit, aus der das Wesen der Wahrheit besteht. Die
Einheit der Wahrheit ist unvermittelt, d.h. unmittelbar, und nicht erfragbar. Sie ist „Einheit im
Sein“ und nicht „Einheit im Begriff“. Was bedeutet aber nun, dass die Wahrheit, als Einheit,
nicht erfragbar ist? Und vor allem, was für eine Art von Unmittelbarkeit charakterisiert das
Wesen dieser Einheit?
Dass die Wahrheit nicht erfragbar ist, bedeutet laut Benjamin, dass sie nicht „Objekt“
der Erkenntnis sein kann: die Erkenntnis verfährt nämlich durch Fragen und Antworten, und
sie befragt sich, indem sie die Welt in Daten und „Objekte“ verwandelt, die mit dem Verstand
zu erforschen sind. Dagegen existiert keine mögliche Frage, welche die Wahrheit befragen
kann, da diese eine Einheit keineswegs objektivierbar ist. Die Einheit der Wahrheit ist also ein
Ideal. Die Unfragbarkeit und die Idealität der Wahrheit bringen uns zu einer zuvor
analysierten Stelle in der Theorie der Kunstkritik zurück.11 Auch in diesem Text spricht
Benjamin von einer nicht-erfragbaren Einheit. Die Einheit ist aber in diesem Fall diejenige
der Philosophie, die bei Benjamin noch mit dem System zusammenfällt. Letzteres wird als
eine Einheit von höherer Mächtigkeit bezeichnet, die wiederum höher als die Summe
unendlich stellbarer, endlicher Fragen12 ist. Es existiert also keine wirkliche Antwort auf
dieser virtuellen Frage, die eine solche Einheit befragen würde. Die einzige mögliche Antwort
10
GS I/1 210.
Siehe oben Kap. II.
12
Vgl. GS I/3 833.
11
62
wäre das System der Philosophie,13 d.h. die Philosophie in ihrer Ganzheit. Von daher schließt
Benjamin: das System der Philosophie ist niemals erfragbar. In dem Text Theorie der
Kunstkritik ist also die Philosophie als System unerfragbar,14 dagegen ist in der Vorrede zum
Ursprung des deutschen Trauerspiels die Einheit der Wahrheit als nicht-erfragbar definiert
und eben nicht die Philosophie. Diese fällt nicht mit der Wahrheit zusammen, sondern sie hat
zur Aufgabe die Darstellung der Wahrheit.
Ein zweiter Unterschied, der relevant hinsichtlich der Vorrede ist, taucht eben mit der
Anwendung des Begriffes des „Systems” auf. In Theorie der Kunstkritik spricht man von der
Wahrheit und versteht darunter das System, d.h. die Ganzheit der Philosophie, die aber nicht
erfragbar ist, weil sie ein unaufhörliches Weiterfragen ist, für das es keine adäquate Antwort
gibt. Die einzige Möglichkeit für die Wahrheit, sich im Phänomen zu verkörpern, wird
schließlich von der Kunst angeboten, die in den einzelnen Werken eben eine Darstellung der
Wahrheit zutage fördert. In der Erkenntniskritischen Vorrede spricht Benjamin nicht von
„System”, wenn nicht um mit diesem Terminus das zu bezeichnen, was die Philosophie nicht
sein soll. Dieser Unterschied ist wohl wichtig, weil er effektiv einen Bruch mit dem frühen
Denken Benjamins zeigt. Das System ist in Ursprung des deutschen Trauerspiels nicht mehr
die Form der Philosophie. Diese wird jedoch das „Traktat”:
“Die Alternative der philosophischen Form, welche durch die Begriffe von
Lehre und von dem esoterischen Essay gestellt wird, ist’s, die der
Systembegriff des XIX. Jahrhunderts ignoriert. Soweit er die Philosophie
bestimmt, droht diese einem Synkretismus sich zu bequemen, der die
Wahrheit in einem zwischen Erkenntnissen gezogenen Spinnennetz
einzufangen sucht als käme sie von draußen herzugeflogen [...]. Will die
Philosophie nicht als vermittelnde Anleitung zum Erkennen, sondern als
Darstellung der Wahrheit das Gesetz ihrer Form bewahren, so ist der Übung
dieser ihrer Form, nicht aber ihrer Antizipation im System, Gewicht
beizulegen. Diese Übung hat sich allen Epochen, denen die
unumschreibliche Wesenheit des Wahren vor Augen stand, in einer
Propädeutik aufgenötigt, die man mit dem scholastischen Terminus des
Traktats darum ansprechen darf“.15
Die Methode des Traktats, führt Benjamin weiter aus, ist die Darstellung. Des Traktats
wichtigste Eigenschaft ist der Verzicht auf einen unaufhörlichen und regelmäßigen Verlauf
des Denkens:
13
Vgl. GS I/3 833.
Darüber hinaus möchte ich daran erinnern, dass in dem Fragment 30, Die unendliche Aufgabe, die
Wissenschaft und noch nicht die Philosophie unerfragbar ist (vgl. GS VI 51).
15
GS I/1 207f.
14
63
“Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf
die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste
Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unterschiedlichen
Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt,
empfängt sie den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens ebenso wie die
Rechtfertigung ihrer intermittierenden Rhythmik. Wie bei der Stückelung
in kapriziösen Teilchen die Majestät den Mosaiken bleibt, so bangt auch
philosophische Betrachtung nicht um Schwung. Aus Einzelnem und
Disparatem treten sie zusammen [...]. Der Wert von Denkbruchstücken ist
um so entscheidender, je minder sie unmittelbar an der Grundkonzeption
sich zu messen vermögen und von ihm hängt der Glanz der Darstellung im
gleichen Maße ab, wie der des Mosaiks von der Qualität des Glasflusses“.16
Nicht mehr das System ist also das philosophische Muster Benjamins, sondern eine Form,
nämlich die des Traktats, darstellt, welche die Bewegung des Denkens – das keinem linearen
Weg folgt, sondern immer wieder und pausenlos vom Anfang beginnt und erneut zu der
„Sache selbst“ zurückkehrt. Wir merken also einen deutlichen Unterschied zwischen
Ursprung des deutschen Trauerspiels und den frühen Schriften über die Erkenntnistheorie.
Benjamin verlässt die Konzeption, nach der die Philosophie Ganzheit und System sein soll,
und übernimmt diejenige, nach der die Philosophie fragmentarisch und a-systematisch wird.
D.h. das Denken verlangt nicht mehr ein System, das alles in sich einschließt, zu sein, sondern
bleibt bei den Sachen und betrachtet sie, aber niemals schließlich und endgültig, weil es zu
denen immer wieder erneut zurückkehrt.
Wenn die Idee nun eine unerfragbare Einheit ist, die niemals Objekt ist, dann kann sie
nicht einmal „Objekt” des Denkens, weder des Verstandes noch des erkennenden
Bewusstseins, sein: die Einheit ist das Ideal der Einheit und der Vollständigkeit, das aber
niemals völlig erreicht wird. Wohl wird die Idee als etwas Unvermitteltes in der unendlichen
Bewegung des Denkens dargestellt. Welche Art von Unmittelbarkeit ist der Einheit der
Wahrheit eigen? Was versteht Benjamin unter unmittelbarer Einheit? „Unmittelbar” bedeutet
nämlich sowohl „direkt”, „nicht vermittelt“ – d.h. eine nicht von Begriffen vermittelte
Wahrheit - als auch „plötzlich”, „augenblicklich”. Das hieße, dass die Wahrheit sich
augenblicklich manifestiert, analog mit der Evidenzerfahrung der frühen Schriften. Haben wir
erneut mit einem zweideutigen Begriff der „Wahrheit“ - unendliche und ideelle Aufgabe
einerseits, unmittelbare Erfahrung andererseits – zu tun?
64
3.2
Idee ist Monade
Die Tatsache, dass die Form der Philosophie nicht mehr die abgeschlossene Totalität des
Systems ist, hebt aber nicht die Idee der Ganzheit im Denken Benjamins auf. Die Ganzheit ist
jedoch nicht als eine geschlossene und in sich vollendete Struktur zu denken, sondern
vielmehr als eine immer offene Ganzheit. Soweit die Idee eine Einheit ist, ist sie eine
Ganzheit. Nicht aber die Philosophie ist die Ganzheit, sondern das „Objekt” ihrer Darstellung:
die Idee. So schreibt Benjamin, indem er die Idee als Monade bezeichnet:
„Deren Bau [der Idee], wie die Totalität sie im Kontrast zu der ihr
unveräußerlichen Isolierung prägt, ist monadologisch. Die Idee ist Monade.
Das Sein, das mit Vor- und Nachgeschichte in sie eingeht, gibt in der
eigenen verborgenen die verkürzte und verdunkelte Figur der übrigen
Ideenwelt, so wie bei den Monaden der „Metaphysischen Abhandlung“ von
1686 in einer jeweils alle andern undeutlich mitgegeben sind. Die Idee ist
Monade – in ihr ruht prästabiliert die Repräsentation der Phänomene als in
deren objektiver Interpretation. Je höher geordnet die Ideen desto
vollkommener die in ihnen gesetzte Repräsentation“.17
Die Idee ist Totalität, so wie die Monade von Leibniz: Wie die Monade ist jede Idee ein Bild
der Welt. Noch einmal: was bedeutet also, dass die Idee eine Ganzheit ist? Und weiter, was
bedeutet, dass sie eine offene Ganzheit ist? Auf diese zweite Frage kann man antworten,
indem man auf die erkenntnistheoretische Funktion der Idee hinweist, d.h. auf die Idee als
ideelle Einheit. Benjamin schreibt, dass die Idee ein „Extrem zur Synthese“18 ist. Sie ist kein
abstrakter Begriff (keine Universalie), der induktiv aus den Phänomenen abgeleitet wird.
„Extrem zur Synthese” bedeutet, dass die Idee – wie die Monade – in sich die Darstellung der
Welt enthält und deshalb die Interpretation der Welt ermöglicht. Die Ganzheit der Idee ist
nicht abgeschlossen, insofern sie ein unendliches Weiterfragen um das Phänomen und dessen
unendliche Interpretation ermöglicht: Die Idee scheint die unendliche Möglichkeit zu sein, die
Phänomene lesen zu können: d.h. das Denken bleibt bei den Dingen und betrachtet und
interpretiert sie immer erneut. Die Ganzheit der Idee stellt sich also als unendliche Aufgabe
des Denkens vor.
Kehren wir nun zu dem zurück, was bereits oben gesagt wurde. Wenn die Form der
Philosophie die unregelmäßige Bewegung des Denkens und die Aufgabe der Philosophie die
16
GS I/1 208.
GS I/1 228.
18
GS I/1 221.
17
65
Darstellung der Idee ist, muss also, laut Benjamin, die Philosophie die Bewegung der Ideen
darstellen können, die nichts anderes ist als eine Bewegung des Denkens von einer Ganzheit
zu der anderen, d.h. von einem Bild – der Welt – zum anderen. Die Philosophie fängt also an,
sich wie die Kunst zu benehmen, die ihr in Theorie der Kunstkritik nur ähnlich war.19
Dagegen wird die Kunst hier ihr Muster. Dasselbe goethische Epigraph der Vorrede weist auf
die darstellende Aufgabe der Kunst hin:
„Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht
werden kann, weil jenem das Innere, dieser das Äußere fehlt, so müssen wir
uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend
eine Art von Ganzheit erwarten. Und zwar haben wir diese nicht im
Allgemeinen, im Überschwänglichen zu suchen, sondern, wie die Kunst
sich immer ganz im jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die
Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandelten
erweisen“.20
Wie die Kunst, so hat die Philosophie die Aufgabe die Bilder darzustellen, weil in den Bildern
die Ganzheit anwesend ist. Das Denken, das die Idee darstellen soll, ist von daher dialektisch:
es besitzt weder, noch erwirbt es die Ganzheit, sondern ist es selber eine Beweglichkeit
(zwischen Ideen und Phänomenen), die durch die Ideen die Phänomene der Welt auslegt. Für
ein solches Denken ist aber die Ganzheit der Erkenntnis ein Ideal, das - wie wir sehen werden
- ein intellektueller Reiz bleibt. Der Begriff der Monade weist aber zwei Mal auf die Ganzheit
hin: indem die Ganzheit etwas darstellt – nämlich die Welt – aber zugleich auch selber
dargestellt – nämlich von der Philosophie – werden kann. D.h.: Wenn einerseits die Ganzheit
ein Ideal und eine Aufgabe für das Denken ist, andererseits sie selber als Ganzheit - wie in der
Kunst – unmittelbar dargestellt wird. Der Begriff der Monade bringt also das oben erwähnte
Problem der Doppelstruktur der Idee mit sich.
3.3
Idee ist Ursprung
Indem Benjamin die Idee als „Ursprung“ definiert, setzt er sie nicht so sehr mit einer Theorie
der Erkenntnis in Beziehung als vielmehr mit der phänomenalen Welt. Benjamin verbindet
19
20
Vgl. GS I/3 833f.
J.W. GOETHE, Materialen zur Geschichte der Farbenlehre, in GS I/1 207.
66
aber die Idee nicht nur mit dem phänomenalen Vergehen und Werden, sondern vielmehr lässt
diesen die Ideen zugrunde liegen:
„Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden
und Vergehen Entspringendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluss des
Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial
hinein“21.
Der Ursprung ist nicht die Genesis.22 Er ist weder der Anfang noch die Geburt. Die Idee als
Ursprung ist nicht in der Geschichte, denn sie ist der Grund der Geschichte und der
Phänomene, aus deren die Geschichte besteht. Das bedeutet auch, dass die Idee nicht in der
Zeit ist, sondern sie vielmehr mit ihrem Sein eine andere Art der Temporalität gründet. Lassen
wir vorübergehend das Problem der Zeit bei Benjamin, um durch den Begriff des „Ursprungs
zu begreifen, welches Sein das Sein der Idee ist. Indem Benjamin der Idee die Bedeutung des
„Ursprungs” zuschreibt, macht er einen weiteren Schritt in der Bezeichnung der Idee: der
Ursprung hat nämlich einen Status und einen Wert ontologisch verschieden verglichen mit
dem, dessen er Ursprung ist.
Einige Autoren23 führen den Begriff des „Ursprungs” bei Benjamin auf den
Neukantianismus Marburgs und insbesondere auf Hermann Cohen zurück. Der Ursprung ist
nämlich das Zentrum des ersten Teils des philosophischen Systems24 (die Logik) dieses
Autors. Der Ursprung ist nun bei Cohen ein logischer Begriff: Ursprung heißt nämlich bei
ihm „Ursprung des Denkens“. Bei Cohen ist der Begriff des „Ursprungs“ keineswegs ein
metaphysisches Prinzip – deshalb bezeichnet er den Ursprung nicht als „Grundlage”, sondern
als „Grundlegung“ der Erkenntnis und des Denkens. Mit anderen Worten, der Ursprung ist
nicht ein fremdes Seiendes, das das Denken von Äußern begründet, sondern das Denken
selbst. Auf diesem Prinzip – das Prinzip des Ursprungs – beruht die ganze Erkenntnistheorie
Cohens. Es ist also das Prinzip, wofür die ganze Erkenntnis (das Sein) seinen Ursprung in
dem Denken hat, das aus diesem Grund „rein” definiert wird: es ist von der Empirie völlig
21
GS I/1 226.
Vgl. Ibidem.
23
Liselotte Wiesenthal z.B. führt den Begriff des „Ursprungsphänomen” Benjamins auf den Neukantianismus
Cassirers zurück (LISELOTTE WIESENTHAL, Zur Wissenschaftstheorie Walter Benjamins, Athenäum Verlag,
Frankfurt a.M. 1973, S.11ff.) und versucht eben systematisch die Erkenntnistheorie Benjamins zu
rekonstruieren, indem sie – meiner Meinung nach – aber zu viel Wert der Benjaminschen Theorie der Extreme,
die Benjamin aber nicht vertieft und die er sogar im Laufe der Vorrede verlässt, beimisst. Für die anderen
Autoren, die sich mit der Beziehung Benjamin – Cohen beschäftigen, siehe oben Kap. II.
24
Der Ursprung ist „das treibende Prinzip“ (HERMANN COHEN, Logik der Reinen Erkenntnis, Berlin 1919, S.36),
auf dem Cohen seine Logik der reinen Erkenntnis konstruiert, die deswegen eine „Logik des Ursprungs“ ist; Der
22
67
unabhängig. Der Ursprung ist also bei Cohen die unbedingte „Grundlage“ der Erkenntnis, des
Seins und des Denkens, aber nur insoweit er „Grundlegung” ist, d.h. ein logisches Prinzip.
Das Denken erzeugt das Objekt der Erkenntnis, ohne jemals aus sich selbst herauszugehen: es
ist ein produktives Denken. Zugleich bildet es aber auch seine eigene Grundlage. Das Denken
ist der Ursprung des Denkens als Ursprung. Dem produktiven Denken - das Denken, welches
das Sein innerhalb sich selbst erzeugt25 – setzt Cohen das bildnerische Denken entgegen, d.h.
das Denken, das mit Inhalten wirkt, die der Erkenntnis von Außen her gegeben sind.
Der Begriff des „Ursprungs” bei Benjamin hat sehr wenig gemeinsam mit dem Prinzip
des Ursprungs Cohens.26 Benjamin nimmt dadurch Abstand von Cohen, indem er den
Ursprung als historischen Begriff und nicht als logischen bezeichnet.27 Diese Aussage ist
konsequent zu dem Projekt, das Benjamin einige Jahre zuvor in der Programmschrift – in der
er durch die Suche nach höheren Begriffen von „Erfahrung“ und „Erkenntnis“, die jenseits
der logisch-wissenschaftlichen „Limitation” des Neukantianismus’ Marburgs liegen, eben
jene zu überschreiten versuchte – durchzuführen beabsichtigte. Ebenso ist in Ursprung des
deutschen Trauerspiels der Begriff des „Ursprungs“ nicht ein logisches Prinzip. Der Ursprung
ist bei Benjamin vielmehr eine Kraft, oder besser, die Kraft der Idee, die in die Geschichte
und in die phänomenale Welt einbricht und sie – mit Worten Cohens – ermöglicht. Die Idee
ermöglicht die Welt: d.h. die Idee ist ein vom Sein des Scheins unterschiedenes Sein und es
hat die Aufgabe, das Phänomen zu prägen und ihm eine Gestalt und einen Wert zu geben. Der
Benjaminsche Ursprung hat also nichts mit einem logischen Begriff zu tun, weil er die
Grenzen der reinen Logik überwindet, indem er die der Geschichte konstruiert. Der Ursprung
ist vielmehr bei Benjamin ein reines Prinzip, im Sinne eines energischen und lebendigen
Prinzips, das in der Geschichte wirkt.
Der Begriff des „Ursprungs“ Benjamins ist auf das Urphänomen Goethes
zurückzuführen, und, um genau zu sein, auf die Lektüre und die Auslegung des goetheschen
Ursprung ist „der Grundgedanken, worauf die Logiktheorie Cohens beruht und entwickelt“. A. POMA, La
filosofia critica di Hermann Cohen, Mursia, Milano 1988, S.101.
25
Metaphorisch spricht Cohen von „schöpferischer Souveränität des Denkens“ (HERMANN COHEN, op. cit. S.28)
26
Das wird auch von Astrid Deueber-Mankowsky und Liselotte Wiesenthal anerkannt. Die beiden Autorinnen
bemerken wohl den Unterschied zwischen dem Begriff des „Ursprungs“ Cohens und dem Benjamins; sie
versuchen aber die Gemeinsamkeit der beiden Philosophen herauszustreichen. Vgl. ASTRID DEUBERMANKOWSKY, Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen: Jüdische Werte, Kritische Philosophie,
vergängliche Erfahrung, Vorwerk 8, 2000 Berlin S. 13ff und LISELOTTE WIESENTHAL, Zur Wissenschaftstheorie
Walter Benjamins, Athenäum Verlag, 1973 Frankfurt/M. S.8f. Für Wiesenthal bleibt trotzdem der Begriff des
„Ursprungs“ Benjamins eine epistemologische Kategorie (vgl. LISELOTTE WIESENTHAL, op. cit. S.25)
27
So Benjamin: „Die Kategorie des Ursprungs ist also nicht, wie Cohen meint eine reine logische, sondern
historisch“ (GS I/1 226).
68
Urphänomens, die Georg Simmel im seinen Buch Goethe, aus dem Jahr 1913,28 entwickelt. In
Nachträge zum Trauerspielsbuch schreibt Benjamin:
„Bei dem Studium von Simmels Darstellung des goetheschen
Wahrheitsbegriffs [s. Georg Simmel: Goethe, Leipzig 1913] insbesondere
an seiner ausgezeichneten Erläuterung des Urphänomens (p 56/57 ff p
60/61) wurde mir unwidersprechlich deutlich, dass mein Begriff des
‚Ursprungs’ im Trauerspielbuch eine strenge und zwingende Übertragung
dieses goetheschen Grundbegriffs aus dem Bereich der Natur in das der
Geschichte ist. ‚Ursprung’ – das ist die theologisch und historisch
differente, theologisch und historisch lebendige und aus den heidnischen
Naturzusammenhängen in die jüdischen Zusammenhänge der Geschichte
eingebrachte Begriff des Urphänomens. ‚Ursprung’ – das ist Urphänomen
im theologischen Sinne. Nur darum kann er den Begriff der Echtheit
erfüllen“.29
Benjamin findet also einige Verbindungen zwischen dem Begriff der „Wahrheit“ und dem
Begriff des „Urphänomens“, die Simmel bei Goethe erforscht hat, und seinem eigenen Begriff
des „Ursprungs“ in dem Trauerspielbuch. Ähnlich dem Goetheschen Urphänomen ist der
Ursprung Benjamins ein „theologischer und historischer“ Begriff, d.h. ein von der Geschichte
und von der Natur ontologisch unterschiedenes Sein, zugleich aber ebenso „lebendig“, denn
er verkörpert und manifestiert sich in der Geschichte. Da sie sich nicht auf den logischen
Begriff beschränkt, erweist sich die Idee als Ursprung als eine Kraft, die aktiv in der
Geschichte wirkt. Sehen wir jetzt einige Punkte des ersten Teils des Buchs Simmels – betitelt
Wahrheit, die uns als Hilfe dienen können, um den Begriff des „Ursprungs“ Benjamins und
insbesondere seine ontologische Natur zu begreifen. Zunächst berichtet Simmel von einer
„Sinnlichkeit“ der Wahrheit, welche sich in der Natur verkörpert und nie außerhalb von ihr
ist. Darüber hinaus wird die Anwesenheit der Wahrheit in der phänomenalen Welt, durch eine
sinnliche Anschauung, Wahrnehmung erfahren: die Wahrheit ist bei Simmel die harmonische
Summe
von
Vernunft
und
Wahrnehmung.30
Ein
anderer
Punkt
Goethes,
der
höchstwahrscheinlich die Aufmerksamkeit Benjamins auf sich gezogen hat, ist die
Überlegung, dass die Wahrheit31 jenseits der Opposition Subjekt-Objekt32 liegt. Interessant ist
28
GEORG SIMMEL, Goethe, Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1913.
GS I/3 953f.
30
Die Wahrheit ist in dem simmelchen Goethe mit der Ganzheit des Menschen verbunden, deshalb ist sie nicht
nur Vernunft, sondern auch Sinnlichkeit. Vgl. GEORG SIMMEL, op. cit. S.28f.
31
Vgl. GEORG SIMMEL, op. cit. S.26. Simmel definiert die Wahrheit als „die Relation zwischen dem Leben des
Menschen und der Totalität der Welt, in die es sich einordnet; sie ist Wahrheit nicht um ihres logischen und nur
logisch nachprüfbaren Inhaltes willen (der vielmehr erst so seine metaphysische Fundierung erhalten wird),
sondern weil der Gedanke [...] ein Sein des Menschen ist, das seine Richtigkeit oder Nicht-Richtigkeit als reale
29
69
diese Überlegung, da es sich dabei um ein für Benjamin besonderes wichtiges Thema handelt,
das bereits in den Jahren der Programmschrift aktuell war. Ein offen gelassenes Problem, das
aber bereits in der Programmschrift auf eine mögliche Lösung eben durch die Idee hinweist.
Letztere befindet sich auf einer Stufe, die jenseits des Subjekt-Objekts ist. Die Idee – wie wir
es im folgenden vertiefen werden – ist etwas, das sich von selbst manifestiert, d.h. das sich
darstellt, das also unabhängig von der traditionellen begrifflichen Dyade Subjekt-Objekt33 ist.
Der Unterschied und die Gemeinsamkeit zwischen dem Philosophen und dem
Künstler ist noch ein Element, das Benjamin dazu bringt, sich für die Reflexionen Simmels zu
interessieren. Seit der Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik
beschäftigt sich Benjamin nämlich ständig mit der Beziehung Philosophie-Kunst, wie es sich
auch von dem Epigraph des Ursprung des deutschen Trauerspiels zeigt. Simmel betont, wie
bei Goethe sowohl der Philosoph als auch der Künstler die Anwesenheit der beiden Pole, die
niemals voneinander trennbar sind, - von Denkkraft und Anschauen, Erscheinung und Idee -,
gemein ist.34 Schließlich wird in Simmels Goethe unterstrichen, dass das Urphänomen ein
innerliches Gesetz der Sachen ist, entsprechend dem berühmten Zitat aus Maximen und
Reflexionen Goethes:
„Das Höchste wäre, zu begreifen, dass alles faktische schon Theorie ist. Die
Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man
suche nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre“.35
Ein Gesetz aber nicht im logischen Sinne, wie beim Neukantianismus, sondern in einem
ontologischen. Das Urphänomen ist die Seele des Phänomens: d.h. es ist ein lebendiges
Prinzip, das sich innerhalb des Phänomens selbst befindet, dessen Wesen bestimmt und
aufwirft. Bei Benjamin nun ist die Idee als Ursprung eben dieses lebendige Prinzip.
Die Bedeutung des Ursprungs, die Benjamin der Idee zuschreibt, hat aber auch eine
„erkenntnistheoretische“ Aufgabe: die Welt zu interpretieren. Wie wir bereits oben in bezug
auf die Bedeutung der Einheit der Idee festgestellt haben – und zwar dass „Einheit“ zugleich
die unmittelbare Wahrheit und das Prinzip der Erkenntnis im Sinne der unendlichen
Qualität, Ursache oder Folge seines gesamten Weltverhältnisses besitzt. ‚Kenne ich mein Verhältnis zu mir
selbst und zur Außenwelt, so heiß’ich’s Wahrheit’“ (Ibidem).
32
So schreibt Simmel: „Durch eine verhältnismäßig einfache metaphysische Vertiefung also zeigt sich der
scheinbare Subjektivismus des Goetheschen Wahrheitsbegriffes nur als der eine Aspekt einer Einheit, deren
anderer durchaus objektivischen Wesen ist“ (op. cit. S.35).
33
Vgl. GEORG SIMMEL, op. cit. S.28ff.
34
Vgl. GEORG SIMMEL, op. cit. S.52ff.
35
GEORG SIMMEL, op. cit. 57; W. J. GOETHE, Maximen und Reflexionen, in Goethes Werke, Wegner Verlag, Bd.
12, S. 432.
70
Auslegung der Welt ausdrückt – drückt die Bedeutung des Ursprungs ebenso die
metaphysische Grundlage - die unmittelbar wahrgenommen wird - der phänomenalen Welt
und zugleich das Prinzip der einzigen Erkenntnismöglichkeit der Phänomene aus: d.h. ihre
unendliche Lektüre, ihre Interpretation. Den Sinn des Ursprungs als eine „Methode“ der
Auslegung der phänomenalen Welt werde ich in dem nächsten Kapitel in bezug auf den
Benjaminschen Begriff der „Rettung“ genauer analysieren.
3.4
Bereits
in
Idee ist Name
den
frühen
36
Sprachphilosophie
Fragmenten
versucht
Benjamin
die
Wahrheit
und
die
miteinander zu verbinden, und in der Vorrede zum Ursprung des
deutschen Trauerspiels schreibt er, dass die Idee „ein Sprachliches“37 ist. Die Absicht
Benjamins, wie bereits gesehen, ist, zu beweisen, dass das Sein der Idee – und das der
Wahrheit – vom phänomenalen Sein verschieden ist. Von daher wird die Wahrheit als
intentionsloses Sein definiert:
„Als Ideenhaftes ist das Sein der Wahrheit verschieden von der Seinart der
Erscheinungen. Also erfordert die Struktur der Wahrheit ein Sein, das an
Intentionslosigkeit dem schlichten der Dinge gleicht, an Bestandhaftigkeit
aber ihm überlegen wäre. Nicht als ein Meinen, welches durch die Empirie
seine Bestimmung fände, sondern als die das Wesen dieser Empirie erst
prägende Gewalt besteht die Wahrheit“.38
Diese Intentionslosigkeit befindet sich nun laut Benjamin in dem Namen, dessen Sein jeder
Phänomenalität entrückt ist und daher rein ist. Der Name, dem Benjamin die Gegebenheit der
Idee anvertraut, ist das Wort in jenem Moment, in welchem dieses Symbol ist. Schließlich
bestimmt der Name die Gegebenheit der Ideen, die sich in einem „Urvernehmen“39
manifestieren. Diese Aussagen haben nur scheinbar mit einer bloßen Sprachtheorie zu tun; in
Wirklichkeit steckt dahinter eine Theorie des Seins, die auf die Ideenlehre hinweist, die wir
gerade von einem komplexen Kontext – wie der des Trauerspielsbuches – zu extrapolieren
versuchen. Was ich zu beweisen beabsichtige, ist, dass die Sprachtheorie Benjamins nicht
36
Vgl. GS I/1 216.
Ibidem.
38
Ibidem.
39
Ibidem.
37
71
gelesen und verstanden werden kann, sofern sie nicht aus dem Blickwinkel einer Ideenlehre
betrachtet wird, und dass, demzufolge, die Idee nicht ein Sprachliches ist, sondern dass die
Sprache – die reine Sprache – ein Ideelles ist. D. h. die Sprache ist auf die Idee zurückführbar.
Um den Sinn der Sprachtheorie Benjamins zu verstehen, müssen wir kurz auf den Text Über
die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen aus dem Jahr 1917 eingehen. Wie
die Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels so wirft auch der Sprachessay – zehn
Jahre vor dem Trauerspielbuch geschrieben – Auslegungsschwierigkeiten auf. Allerdings hat
die Kritik die Originalität der Sprachphilosophie Benjamins, in der sich Elemente der Kabbala
und der jüdischen Theologie40 mit Elementen der Frühromantischen Sprachphilosophie41
vermischen, unterstrichen.
In diesem Text unterscheidet Benjamin die ursprüngliche Sprache von der
geschichtlichen42. Die sozusagen historischen Sprachen resultieren aus der Degeneration der
ursprünglichen Sprache – oder, wie Benjamin sagt, der Sprache des Namens – nach dem
Sündenfall. Die Ursprache – d.h. diejenige vor dem Sündenfall – ist eine reine Sprache. Reine
Sprache meint die Sprache, durch welche Gott die phänomenale Welt erschaffen hat: Das
göttliche Wort ist schöpferisch. Die Sprache des Menschen vor dem Sündenfall ist selber
göttlich, aber nicht schöpferisch, sondern erkennend. Die reine und ursprüngliche Sprache ist
also, laut der theologischen Auslegung Benjamins, bloß eine einzige: sie ist bei Gott
schöpferisches Wort, bei dem Menschen ist sie erkennendes und nennendes Wort. Anders
formuliert, die menschliche Sprache ist dieselbe göttliche Sprache, aber ihres schöpferischen
Charakters entzogen und erkenntnisfähig geworden. Das Wort Gottes erschafft die Dinge und
gibt ihnen das Wesen; der Mensch hingegen, dessen Wort die Reflexion des Göttlichen ist,
kann sie erkennen, weil er Zugang zu einem solchen Wesen durch den Namen hat, den er den
Dingen zuschreibt. Die Sprache des Menschen ist die einzige Sprache der Namen. Der von
Gott ausgesprochene Name, erschafft das Wesen der Dinge; der Name, von dem Menschen
ausgesprochen, erkennt sie in ihrem eigentlichen Wesen. Aus diesem Grund ist der Mensch
auch die Vollendung der göttlichen Schöpfung: Gott lässt die Dinge existieren, der Mensch,
indem er sie benennt, teilt ihr spirituelles Wesen in seiner Sprache mit. Genau an dieser Stelle
liegt der Schwerpunkt der Sprachtheorie Benjamins. Das spirituelle Wesen ist jedem Ding zu
eigen. Ebenso zu eigen ist jedem Ding das Bedürfnis, seinen eigenen spirituellen Inhalt
40
GERSHOM SCHOLEM, Walter Benjamin und sein Engel, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, S.102ff; BERND
WITTE, Walter Benjamin – der Intellektuelle als Kritiker, Stuttgart 1976, S.9ff; LISELOTTE WIESENTHAL, op. cit.
S. 116ff.
41
Vgl. WINFRIED MANNINGHAUS, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Suhrkamp, Frankfurt am Mein
1995, S. 188ff.
42
GS II/1 140ff.
72
mitzuteilen. Das sprachliche Wesen eines Dings ist dagegen seine Art, seinen eigenen
spirituellen Inhalt zu kommunizieren. Nun, die Art des Menschen zu kommunizieren – d.h.
sein sprachliches Wesen – ist höher als das der Dinge, da sein sprachliches Wesen die
Sprache Gottes selbst ist, also die vollkommene Sprache. Die Sprache des Menschen, indem
sie die Dinge nennt, teilt in dem Name – also in der vollkommenen Sprache – den spirituellen
Inhalt der Sache mit. Deswegen wirkt der Mensch als Vollendung der Schöpfung, aber
gleichzeitig auch als Retter, denn er übersetzt in dem Moment, in dem er die Dinge benennt,
diese in seine eigene Sprache: Er überträgt sie also aus der unvollkommenen Sprache der
Dinge in die Sprache der Namen. Dadurch hebt er sie von der niedrigen Stufe der Natur auf
eine höhere. Nach dem Sündenfall degeneriert die Sprache des Namens zu einer bloßen
mitteilenden Sprache43 und verliert den Charakter des Benennens und des Erkennens. Das
mitteilende Wort ist nicht mehr imstande, das Wesen des Dings zu begreifen. Es wird zu einer
Myriade von Zeichen, die sich in der Mannigfaltigkeit der unterschiedlichen geschichtlichen
Sprache zerstreuen. Die Funktion der Sprache ist nicht mehr das Erkennen: die Sprache
erkennt nicht mehr das Ding in seinem Wesen, und wird ein bloßes Kommunikationsmittel.
Der Name und die Ursprache bleiben, nach dem Sündenfall des ersten Menschen, bloß ein
Ideal, das teilweise als Echo und als Bild von dem, was nicht mehr mitteilbar in den
geschichtlichen Sprachen sein kann, anwesend ist:
„Es ist nämlich Sprache in jedem Falle nicht allein Mitteilung des
Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-Mitteilbaren“.44
Der Name ist also laut der Interpretation Benjamins eine Idee. Wenn Benjamin in der Vorrede
zu Ursprung des deutschen Trauerspiels schreibt, dass sich die Idee in dem Namen – also in
dem Moment, in dem der Name Symbol ist - offenbart45, so bedeutet das, dass der Name, auf
den er hinweist und an den er sich wendet, nicht das Wort der geschichtlichen Sprache ist,
sondern der Name der Ursprache. Diese ist aber eine Idee, die niemals völlig, wie wir oben
gesehen haben, in dem Schein anwesend ist. Die Aufgabe des Philosophen ist es, das Wort auf
den Namen zurückzuführen, d.h. das Phänomen zur Idee rückzuführen:
43
So schreibt Benjamin: „Indem der Mensch aus der reinen Sprache des Namens heraustritt, macht er die
Sprache zum Mittel [...], damit auch an einem Teile jedenfalls zum bloßen Zeichen“ (GS II/1 153).
44
GS II/1 156.
45
Vgl. GS I/1 216f.
73
„Sache der Philosophen ist es, den symbolischen Charakter des Wortes, in
welchem die Idee zur Selbstverständigung kommt, die das Gegenteil aller
nach außen gerichteten Mitteilung ist, durch Darstellung in seinen Primat
wieder einzusetzen“.46
Wenn also Benjamin behauptet, dass die Idee sich in dem Namen offenbart, meint er nicht
damit seine Philosophie auf einer mystisch-theologischen Sprachtheorie zu begründen,
sondern auf einer Ideenlehre, eben weil der reine Name eine Gestalt der Idee ist. Aus diesem
Grund kann ist berechtigt festzustellen, dass die Sprachphilosophie Benjamins die Ideenlehre
zum Fundament hat, die der wahre Kern des Gedankens Benjamins darstellt. Die Idee als
Name führt uns zu dem vorher analysierten Attribut des Ursprungs. Wie die Idee als Ursprung
auf die gründende Aufgabe – d.h. also die ontologische Aufgabe – der Idee hinsichtlich des
Phänomens verweist, so ist auch die Idee als Name das höher-reine Sein, d.h. das einzige
Sein, das, insoweit es eben rein und der Empirie entzogen ist, das Wesen der Empirie selbst
prägt und bestimmt.47
Aus dem, was bisher festgestellt wurde, könnten wir nun bestätigen, dass die Idee für
Benjamin eine Doppelstruktur besitzt. Dies taucht nämlich in den frühen Schriften auf, wird
aber erst deutlich in Ursprung des deutschen Trauerspiels: Ist die Idee einerseits das Prinzip
der Synthese, d.h. der Blickpunkt der Erkenntnis und die unendliche Aufgabe des Denkens –
welche genauer in dem nächsten Kapitel analysiert werden wird –, ist sie andererseits eine
metaphysische und fundierende Struktur, von der das Sein des Phänomens abhängt.48
„Als Sein gewinnen Wahrheit und Idee jene höchste metaphysische
Bedeutung, die das Platonische System ihnen nachdrücklich zuspricht“.49
46
Ibidem.
Vgl. GS I/1 216.
48
Ähnliches behauptet auch Bernd Witte in seinem Buch Walter Benjamin – der Intellektuelle als Kritiker im
Bezug mit dem Begriff der Kritik: „Sie [die Idee] ist zugleich erkenntnistheoretische Konstruktion, die in der
Geschichte selbst den Maßstab zu deren Beurteilung findet, und ‚metaphysische Struktur’, die das messianische
Ende der Geschichte in der schlechten Gegenwart geistig vorwegnimmt“ (BERN WITTE, Walter Benjamin – der
Intellektuelle als Kritiker, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1976, S.22). Ich bin aber der
Meinung, dass man von einer sozusagen gründenden metaphysischen Struktur der Idee sprechen kann. D.h., die
Idee ist etwas ontologisches nicht nur in bezug auf die Geschichte, weil sie das messianische Ende antizipiert,
wie bei Witte, sondern vor allem – im ontologischen Sinne – in bezug auf die ganze phänomenale Welt. Die
Beziehung der Idee mit dem messianischen Ende der Geschichte wird in dem nächsten Kapitel genauer
analysiert.
49
GS I/I 210.
47
74
4.
Die Temporalität der Idee
Bereits in dem Fragment Erkenntnistheorie bezieht nämlich Benjamin die Erkenntnis auf das
Jetzt der Erkennbarkeit. Die Erkenntnis, nach der er sucht, ist, wie gesagt, anders als die
traditionelle – bzw. wissenschaftliche – Erkenntnis und muss mit dem Jetzt verbunden sein,
denn nur in ihm ergibt sich die Wahrheit50. Das, was anfängt aus dieser Schrift
herauszukommen, ist, dass die Idee nicht der traditionellen Zeit51 entspricht. Vielmehr
verbindet Benjamin die Idee mit dem Jetzt und dem Augenblick. Insofern bestimmt er eine
unkonventionelle Temporalität. Ein weiter Hinweis auf die Zeit der Idee befindet sich in der
Programmschrift. Hier spricht Benjamin nicht direkt von dem Jetzt, sondern umreißt deutlich
die Züge einer ideellen Erfahrung, nämlich der höheren Erfahrung, die unmittelbar sein soll.
D.h. sowohl „ohne Vermittlung“ als auch „augenblicklich“. Das Problem der Temporalität der
Idee wird aber in den Fragmenten und in den frühen Schriften nicht vertieft.
In der Vorrede zum Trauerspielbuch finden wir einige Elemente, die uns erlauben, die
Temporalität der Idee zu rekonstruieren. Zuerst ist die Idee außerhalb der Zeit und außerhalb
der Geschichte, weil sie jenseits von beiden liegt. D.h. obwohl die Idee in der Zeit und in dem
Verlauf der Geschichte anwesend ist, ist sie aber nicht vom kontingenten Phänomen
begrenzbar. Die Idee gilt nämlich als Grundlage der Geschichte und der Zeit. Der
Schlüsselbegriff, um das zu verstehen, ist der Begriff des „Ursprungs“: er enthält in sich die
Vorgeschichte und die Nachgeschichte der Phänomene,52 als ob er eine Totalität wäre, in der
sich die Vergangenheit und die Zukunft in der augenblicklichen Zeit der Ewigkeit treffen. Der
Ursprung „steht im Fluss des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das
Entstehungsmaterial hinein“53: die Idee vermischt sich mit dem Werden der Geschichte,
trotzdem bleibt sie über ihm, weil sie eben dessen Ursprung ist. Benjamin setzt also die Idee
als Grundlage des Werdens ein und denkt sie als metaphysisch fundierendes und ewiges
Prinzip. Dennoch leben in der Idee Gegensätze zusammen, die dialektisch harmonisieren. Die
Idee, so schreibt Benjamin:
„Will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin
Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein“.54
50
Vgl. GS VI 46.
Als traditionelle Zeit wird nämlich die Zeit in der regelmäßigen Rheinfolge des Vorher und Nachher gemeint.
Gegen diese Konzeption der Zeit äußert sich Benjamin besonderes in den Thesen über die Geschichte und in den
Notizen für das Passagen-Werk.
52
Vgl. GS I/1 226.
53
Ibidem.
54
GS I/1 226.
51
75
Als Fundament der historischen Zeit haben wir also ein Prinzip, das aus einer innerlichen
Dialektik besteht: einerseits ist die Idee die Wiederherstellung eines Vorgegebenen, d.h. etwas
Vollkommenes, anderseits ist sie ein Unvollendetes und Unabgeschlossenes; einerseits ist sie
„Einmaligkeit“, andererseits ist sie „Wiederholung“.55
Es wird jetzt nötig, auf die Konzeption der Zeit hinzuweisen, die Benjamin in der
kurzen Skizze Agesilaus Santander, um das Jahr 193356 entstanden, beschreibt, in der wir die
selbe Dialektik von Gegensätzen finden. Es handelt sich um eine kleine Schrift, deren Inhalt
ohne weiteres hermetisch bezeichnet wurde, sogar delirierend. In dem Text berichtet
Benjamin von einer talmudischen Erzählung,57 in der die Schar von „neuen“ Engeln
beschrieben wird. Die „neuen Engel“ sind die Engel, die nur einen Augenblick lang leben: sie
werden erschaffen für einen Augenblick, um sich dann ins Nichts zu zerstreuen.58 So
beschreibt Benjamin den neuen Engel:
„Der Engel aber ähnelt allem, wovon ich mich habe trennen müssen: den
Menschen und zumal den Dingen. In den Dingen, die ich nicht mehr habe,
haust er [...]. Denn auch er selbst, der Klauen hat und spitze, ja
messerscharfe Schwingen [,] macht keine Miene, auf den, den [er] gesichtet
hat, zu stürzen. Er fasst ihn fest ins Auge – lange Zeit, dann weicht er
stoßweis, aber unerbittlich zurück. Warum? Um ihn sich nachzuziehen, auf
jene[m] Wege in die Zukunft, auf dem er kam und den er so gut kennt, dass
er ihn durchmisst ohne sich zu wenden und den, den er gewählt hat, aus dem
Blick zu lassen. Er will das Glück: den Wiederstreit, in dem die Verzückung
des Einmaligen, Neuen, noch Ungelebten mit jener Seligkeit des
Nocheinmal, des Wiederhabens, des Gelebten liegt. Darum hat er auf
keinem Wege Neues zu hoffen als auf dem der Heimkehr, wenn er einen
neuen Menschen mit sich nimmt“.59
Der in diesem Text beschriebene Engel ist die Allegorie der Temporalität der Idee. Er,
schreibt Benjamin, schaut bereuend die Vergangenheit, die Personen und die bereits
vergangenen Dinge an, die er in die Zukunft mitnehmen möchte. Die Melancholie der
Ohnmacht, die der Engel darstellt, ist mit ihrem Gegensatz, dem Glück, verbunden; dieses
wird als die gleichzeitige Anwesenheit von zwei Gegensätzen verstanden und bezeichnet: die
Einmaligkeit des Jetzt und seine Wiederholung. Aber als Ausdruck des menschlichen
55
So schreibt Benjamin: „Aus ihr erweist in allem Wesenhaften Einmaligkeit und Wiederholung durcheinander
sich bedingt“ (GS I/1 226).
56
Vgl. GS VI 522ff.
57
Vgl. Berešit Rabba, LXXVIII.
58
Ihre Aufgabe, nach dem Talmud, ist es in dem einzigen Augenblick ihres Lebens, für Gott zu lobsingen (vgl.
GS. VI 523).
59
GS VI 523.
76
Schicksals weiß das Agesilaus Santander, dass dieses Glück, d.h. die Vereinigung der
Einmaligkeit mit der Wiederholung, nicht dem Menschen möglich ist, wenn nicht als Objekt
einer existentiellen Sehnsucht. Die beiden Elemente, aus denen das Glück in Agesilaus
Santander besteht, sind nun die gleichen Elemente, welche die Dialektik der Idee in der
Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels bestimmen, obgleich – wenigstens in der
erkenntniskritischen Vorrede dieses Textes – ihrer existenziellen Bezeichnung entzogen.
Diese besondere Konzeption der Zeit, als eine dialektische Spannung zwischen dem Jetzt und
der Dauer, zwischen der Einmaligkeit und der ewigen Wiederholung verstanden, hat bestimmt
eine jüdische Herkunft60 zugrunde liegend. Das weist aber auch auf die ebenso dialektische
Konzeption hin, die für Benjamin die Wahrheit hat: die Bedeutung der unendlichen Aufgabe
und die Bedeutung der Wahrheit als Einmaligkeit, die sich in dem Jetzt vergegenwärtigt.
In Agesilaus Santander ist die Zeit, die zugleich Jetzt und Permanenz des Jetzt ist,
auch mit der Erinnerung verbunden. Benjamin beschreibt den Blick des Engels, der sich auf
die Dinge fixiert und sich bewusst ist, dass er sie nicht in die Zukunft mitnehmen kann,
weshalb er sie sich – wie Bilder – in sein Gedächtnis einprägt. Mit dem Buch über das
Trauerspiel beginnt sich eine Temporalität der Idee abzuzeichnen, mit der Dialektik von Jetzt
und Totalität verbunden, die aber die räumliche Komponente nicht ausschließt, sondern
fördert. In der Erkenntniskritischen Vorrede ist die Idee - und das Jetzt ihrer
Vergegenwärtigung - in einer Darstellung vorhanden. Die Terminologie Benjamins weist also
auf die Sprache der bildnerischen Kunst hin, und infolgedessen auf den Raum, d.h. auf das
Bild, das die Idee eben selbst wird, in jenem Moment, in dem sie sich vergegenwärtigt. Dies
wird deutlicher – wie wir sehen werden – in den Schriften nach dem Trauerspielbuch. Es ist
aber gerade in diesem Text, dass Benjamin zum ersten Mal eine Konzeption der Temporalität
einführt61, die an den Raum und an das Jetzt gebunden ist und die sich in dem Begriff des
Bildes harmonisiert.
60
In seinem Buch Hauptströmungen der jüdischen Mystik teilt Gershom Scholem den Messianismus in zwei
Kategorien ein. Die erste beschreibt die messianische Zeit als ein unerwartetes und augenblickliches Ereignis in
der Geschichte. Die Erlösung ist, nach dieser Konzeption des Messianismus, ein plötzliches Ereignis, das in
keiner Weise von dem menschlichen Handeln abhängig ist. Die zweite Idee des Messianismus, dessen Vertreter
und Begründer Isaac Luria war, meint dagegen die Erlösung und den Zugang zu der messianischen Ära als ein
langer fast unendlicher Prozess, in dem der Mensch eine Hauptrolle spielt, weil er konkret und aktiv durch seine
weltlichen Taten an der Rettung mitwirkt (vgl. GERSHOM SCHOLEM, Hauptströmungen der jüdischen Mystik,
Suhrkamp, Frankfurt am Mein 1993, S. 267ff.).
61
Diese Konzeption der Temporalität der Idee finden wir eigentlich in einer vorherigen Niederschrift,
Trauerspiel und Tragödie, aus dem Jahr 1916, betitelt. Es geht aber um eine Urzelle des Trauerspielbuches. Hier
unterscheidet Benjamin bereits zwischen dem leeren Zeitablauf und der geschichtliche Zeit, die auf eine
Erfüllung ausgerichtet ist.
77
5.
Das Darstellungsproblem
Der Raum, verbunden mit der Zeit der Idee, bringt uns zu dem, was Benjamin in der
Erkenntniskritischen Vorrede „das Darstellungsproblem“ nennt.62 Die Aufgabe der
Philosophie ist die Darstellung der Idee-Wahrheit, die sich der traditionellen Erkenntnis
entzieht. In diesem Abschnitt werde ich die Beziehung zwischen der Philosophie und der
Erkenntnis – bzw. zwischen der Idee und dem Begriff – vertiefen und im Folgenden auf
einige vorher offen gebliebene Probleme eingehen, wie beispielsweise: Wie zeigt sich die
Idee? Was versteht man unter den Begriff der „Betrachtung“ der Idee? Und, nicht zuletzt, gibt
es einen Unterschied zwischen der Idee und der Wahrheit?
Am Anfang der Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels spricht Benjamin
von einer Betrachtung der Ideen:
„Während der Begriff aus der Spontaneität des Verstandes hervorgeht, sind
die Ideen der Betrachtung gegeben. Die Idee sind ein Vorgegebenes“63
und weiter im Mittelteil der Vorrede:
„Die Idee bilden eine unreduzierbare Vielheit. Als gezählte – eigentlich aber
benannte – Vielheit sind die Ideen der Betrachtung gegeben“.64
Was bedeutet also nun, dass die Ideen in der Betrachtung gegeben sind? Kann man von einer
Anschauung der Idee sprechen? Oder von einer Wahrnehmung, wie jene der wir in dem ersten
Kapitel begegnet sind? Benjamin schließt aus, dass die Idee das Objekt einer intellektuellen
Anschauung65 ist. Ebenso schließt er aus, dass sie das Objekt der Erkenntnis ist. Die
Abhandlung Benjamins ist nur scheinbar zweideutig. Einerseits spricht er von einer
Betrachtung der Ideen (im Platonischen Sinne), die er als ein Vorgegebenes bezeichnet.
Andererseits versucht er die Ideen auf die Begriffe zu beziehen, indem er auf diese Weise eine
Art von Übergang zwischen letzteren – also von dem Menschen künstlich hergestellten
Abstraktionen – und ersteren, die sich auf einer von der Empirie völlig verschiedenen Stufe
befinden, zulässt. Gehen wir auf diesen scheinbaren Widerspruch ein, beginnend mit der
62
GS I/1 207.
GS I/1 210.
64
GS I/1 223.
65
Vgl. GSI/1 215.
63
78
Erforschung des zweiten Punktes, nämlich der Analyse der Beziehung, welche die Ideen mit
den Begriffen haben. So Benjamin:
„Die Phänomene gehen aber nicht integral in ihrem rohen empirischen
Bestande, dem der scheint sich beimischt, sondern in ihren Elementen
allein, gerettet, in das Reich der Ideen ein. Ihrer falschen Einheit entäußern
sie sich, um aufgeteilt an der echten der Wahrheit teilzuhaben. In dieser
ihrer Aufteilung unterstehen die Phänomene den Begriffen. Die sind es,
welche an den Dingen die Lösung in die Elemente vollziehen. Die
Unterscheidung in Begriffen ist über jedweden Verdacht zerstörerischer
Spitzfindigkeit erhaben nur dort, wo sie auf jene Bergung der Phänomene in
den Ideen, das Platonische τά φαινόµενα σώζειν es abgesehen hat. Durch
ihre Vermittlerrolle leihen die Begriffe den Phänomenen Anteil am Sein der
Ideen“.66
Die Begriffe spielen für Benjamin eine Vermittlerrolle zwischen der Welt der bloßen Empirie
und jener reinen der Ideen: Die Ideen können sich nur durch die Begriffe offenbaren. Diese
„subsumieren“ das Phänomen und führen es von seiner falschen Einheit zu der einzigen
wirklichen Einheit der Idee. Die Idee erwirbt also die Bedeutung der „Synthese“, im
Kantischen Sinne des Wortes.
Ein Teil der Sekundärliteratur berücksichtigt nämlich diese Beschreibung der
Beziehung zwischen Begriffen, Ideen und Phänomenen und nutzt sie, um Benjamin einen
sozusagen linearen67 Gedanken zuzuschreiben, der in einigen Zügen auf Kant und auf den
Neukantianismus Cohens zurückgeführt wird. Folgt man genau dieser funktionalistischen
Interpretation, bleiben aber ungelöste Probleme bestehen. Wenn es also wahr ist, dass
Benjamin einerseits versucht, die Gedanken, die er in den frühen Fragmenten und in der
Programmschrift skizziert hat, zu systematisieren, indem er sich darum bemüht, eine Theorie
zu konstruieren, in der die Idee in Beziehung mit den anderen Elementen der Erkenntnis steht,
dann bleiben andererseits jedoch einige undeutliche Stellen, die nur durch eine metaphysische
und eben nicht funktionalistische Interpretation der Idee geklärt werden können. Wir erinnern
uns daran, dass, wenn Benjamin von Idee spricht, er ein Wesen meint, das sich immer auf
einer anderen Stufe sowohl hinsichtlich des Phänomens als auch des Begriffs – d.h. das
Objekt der Erkenntnis – befindet, so dass es mehrere Stellen in der Vorrede gibt, wo
Benjamin von einem verschiedenen Sein der Idee, von Inkommensurabilität zwischen der
Idee und den Phänomenen usw. spricht. Es wird also wieder die Frage aufgeworfen, wie
nämlich ein intentionsloses Wesen, das niemals rein in die phänomenale Welt hineintritt, sich
66
67
GS I/1 213f.
Vgl. LISELOTTE WIESENTHAL, op. cit. S.7ff.
79
in einer „Beziehung“ in der phänomenalen Welt befinden könnte. Die Vermittlung, die es
zwischen den Ideen und den Begriffen geben sollte, erweist sich also als problematisch. Es
scheint, dass zwischen Phänomenen, Begriffen und Ideen ein – eben Kantischer –
Mechanismus entsteht, dank dem die Phänomene in den Begriffen und, folglich, den Ideen
„subsumiert“ werden. Trotzdem zeigt die berühmte Metapher der Sterne und der Sternbilder
in eine andere Richtung. Die Ideen, so schreibt Benjamin, haben mit den Dingen eine
Beziehung, die derjenigen ähnlich ist, die zwischen dem Sternbild und den Sternen besteht.68
Die Sterne sind laut Benjamin die Phänomene und die Sternbilder die Idee. Durch die Ideen
verlieren die Begriffe ihre falsche Einheit und nehmen an der wahren Einheit der Idee teil.
Die Ideen sind schließlich nicht die Gesetze der Begriffe der Dinge und sie dienen nicht der
Erkenntnis der Phänomene,69 sondern sie sind deren „objektive Interpretation“.70
Das ist wohl der bedeutendste Teil in der ganzen Rede Benjamins. Mit anderen
Worten, die Idee ist Einheit, unter der die Begriffe der Dinge erfasst, verstanden und gedacht
werden müssen. Diese Einheit ist aber nicht Kantisch - d.h. als Mittel für die Erkenntnis der
Phänomene - zu denken. Oder besser, sie ist nicht nur in dieser Art zu denken, denn die Idee
hat zwei Strukturen: eine erkenntnistheoretische und eine andere metaphysische. Wenn also
auf der einen Seite die Idee eine Erkenntnisfunktion hat – in dem Sinne aber, dass sie dazu
dient, die Phänomene auszulegen – ist sie auf der anderen Seite auch die metaphysische
Grundlage des Phänomens. Wir haben also einerseits den erkenntnistheoretischen Versuch,
Phänomene, Begriffe und Ideen quasi systematisch aufeinander zu beziehen, andererseits
einen Hinweis auf eine metaphysische Beziehung zwischen Phänomenen und Ideen.
Die Theorie nach der die Begriffe die Funktion haben, die Phänomene zu verteilen und
sie zu den Ideen zurückzuführen, die aber von Benjamin innerhalb des Trauerspielbuchs nicht
weiter vertieft wird, ist offensichtlich ein Neukantisches Residuum. Durch die Analyse der
Programmschrift wird die Wichtigkeit deutlich, die für den jungen Benjamin die
Auseinandersetzung mit den Kantischen und Neukantischen Philosophie, in bezug auf die
Erkenntnistheorie, hat. Jedoch ist es nicht genug, um beruhend auf den wenigen Hinweisen
der Vorrede eine systematische Erkenntnistheorie konstruieren zu wollen, die Benjamin nicht
zu Ende führt, und die vielmehr dem Geist von Ursprung des deutschen Trauerspiels
widerspricht. Die metaphysische Intention, und zwar der Hinweis auf die metaphysische und
begründende Struktur der Idee, kommt aber mehrere Male in Form des Darstellungsproblems
68
Vgl. GS I/1 215.
Vgl. GS I/1 214.
70
Vgl. GS I/1 215.
69
80
vor. Die Ideen sind, laut dem Benjaminschen Zitat von Goethe, wie die faustischen Mütter,71
d.h. sie sind Ideale und sie verkörpern sich durch die Phänomene; dagegen erreichen letztere
durch die Darstellung der Ideen die wahre Einheit. Wie werden aber die Ideen erfahren? Was
ist und wie ereignet sich die Darstellung der Ideen?
Benjamin erklärt nicht, was er mit „Betrachtung der Ideen“ meint. Die Betrachtung
könnte ein Expedient sein, mit dem Benjamin versucht, die unendliche Entfernung, die er
selbst – bereits zu Beginn der Vorrede – zwischen der Welt der Ideen und der phänomenalen
bestimmt, zu überwinden: wenn es wahr ist, dass die Ideen durchaus vom Schein getrennt
sind, muss es aber auch eine Berührung zwischen den zwei Welten geben. Dagegen könnten
wir das geringste Bewusstsein der Ideen72 nicht haben. Da die Idee ein intentionsloses,
unbegreifbares und unobjektivierbares Wesen ist, ist eine geistige Betrachtung - wie die
platonische Betrachtung der Ideen und wie diejenige Betrachtung, die Goethe dem
Philosophen und dem Künstler zuschreibt - die einzige Möglichkeit, sie erfahren zu können.
Die Betrachtung impliziert nun die Beobachtung eines Objektes durch ein Subjekt, das
betrachtet. Das aber spiegelt die traditionelle Theorie der Erkenntnis wieder, die auf der
Dyade Subjekt-Objekt beruht, und folglich die Wahrheit zum Objekt macht. Eben die
Überwindung dieser Theorie war das Ziel des philosophischen Programms Benjamins bereits
seit dem Jahr 1917, begonnen, mit der Abfassung der Programmschrift. Es ist aus diesem
Grund, dass der Begriff der „Betrachtung“, innerhalb der Vorrede, von dem der „Darstellung“
– oder besser, von der „Selbstdarstellung“ der Idee – begleitet ist und dadurch ergänzt wird:
die Ideen werden beobachtet, jedoch geben sie sich selber irgendwie der Beobachtung hin,
und verlieren auf diese Weise den traditionellen Status des von einem Subjekt beobachteten
Objekts. Durch diesen Expedient gelingt es Benjamin den traditionellen Dualismus SubjektObjekt zu überwinden, indem es hier nicht darum geht, dass ein Subjekt eine Idee als Objekt
betrachtet, sondern vielmehr dass sich die Idee - das reine Sein von der Empirie losgelöst dem Philosophen und dem Künstler offenbart. Damit meint Benjamin – wir werden es noch
besser in dem nächsten Kapitel sehen können – dass es weder eine Methode noch System
gibt, um zu der Ideenwelt zu gelangen. Umgekehrt manifestieren sich die Ideen demjenigen,
der die Aufgabe hat, sie zu erkennen und sie durch das begriffliche Denken oder durch die
Kunst darzustellen. Erneut sind die Analogien mit Goethe offensichtlich und mit der Idee,
71
So Benjamin: „Wie die Mutter aus voller Kraft sichtlich erst da zu leben beginnt, wo der Kreis ihrer Kinder
aus dem Gefühl ihrer Nähe sich um sie schließt, so treten die Ideen ins Leben erst, wo die Extreme sich um sie
versammeln. Die Ideen – im Sprachgebrauche Goethes: Ideale – sind die faustischen Mütter. Sie bleiben dunkel,
wo die Phänomene sich zu ihnen nicht bekennen und um sie scharen“ (GS I/1 215).
72
Vgl. MICHAEL RUMPF, Spekulative Literaturtheorie: zu Walter Benjamins Trauerspielbuch, Verlag Anton
Hain Meisenheim, Königstein/Ts. 1980, S21ff.
81
nach welcher der Künstler und der Philosoph die Fähigkeit haben die Ideen, die sich „vor
Augen“ manifestieren, zu betrachten.
Schließlich, wenigstens in dem Trauerspielbuch, ersetzt der Begriff der „Betrachtung“
das, was in den frühen Schriften die Rolle der Wahrnehmung war. Der Begriff der
„Betrachtung“ weist deutlicher auf den Begriff des „Raumes“ hin, dem die Idee verbunden
ist; er bereitet – meiner Meinung nach – den Übergang zu dem Begriff des „Bildes“ vor,
welches in den Schriften nach dem Trauerspielbuch die tiefgehendste Bedeutung der Idee
wird.
Besteht schließlich ein Unterschied zwischen der Idee und der Wahrheit? Die
Darstellung der Idee und der Wahrheit ist für Benjamin die Aufgabe der philosophischen
Forschung. Er schreibt, dass die Wahrheit eine „Selbstdarstellung“73 ist, aber auch dass sie
sich durch die Darstellung der Idee offenbart: „Die Wahrheit vergegenwärtigt im Reigen der
dargestellten Idee“,74 und weist damit - zum ersten und einzigen Mal - relativ deutlich auf
eine Unterscheidung zwischen den Ideen und der Wahrheit hin. Nur an dieser Stelle
unterscheidet Benjamin explizit die Idee von der Wahrheit. An vielen anderen Stellen der
Vorrede nimmt aber Benjamin keine Unterscheidung zwischen Idee und Wahrheit vor. Man
kann deswegen von einem einzigen Fall eine eigentliche begriffliche Unterscheidung
zwischen der Idee und der Wahrheit nicht ableiten.
6.
Eine neue philosophische Einstellung
Wir haben durch die Analyse der Fragmente und der Programmschrift gesehen, dass sich das
Denken Benjamins um einen Kern herum, der die Begriffe der Erkenntnis und der Erfahrung
enthält, entwickelt hat. Durch die Analyse der Vorrede zu Ursprung des deutschen
Trauerspiels ist aber aufgetaucht, dass in diesem Text, Benjamin bloß auf den Begriff der
„Erkenntnis“ eingeht, dessen Bedeutung jedoch gegensätzlich zu dem Begriff der
„Erkenntnis“ in den frühen Schriften ist. Wenn nämlich Benjamin in diesen Schriften einen
höheren Begriff der Erkenntnis, und damit ein Ideal, an das sich die Philosophie wenden
73
74
Vgl. GS I/1 213.
GS I/1 209.
82
sollte, suchte, erwirbt die Erkenntnis75 in der Vorrede jedoch eine sekundäre Bedeutung. Was
die Erfahrung – das zweite Element des Doppelbegriffs der frühen Fragmente – betriff, so
wird sie in dem Trauerspielbuch nicht erwähnt. Das ist nicht nur interessant, weil der Begriff
der „Erfahrung“ der Kern des philosophischen Programms des jungen Benjamins war,
sondern vielmehr weil es ein Begriff ist, welcher erneut Wert und Zentralität in den Schriften
nach dem Trauerspielbuch erwirbt. Wieso fehlt nun die Erfahrung in Ursprung des deutschen
Trauerspiels? Eine mögliche Antwort auf diese Frage ist, dass Benjamin den Begriff der
„Erfahrung“ mit dem der Philosophie und dem der Betrachtung der Ideen, die sie
charakterisiert, ersetzt: In den früheren Fragmenten ist nämlich die Erfahrung eine
Wahrnehmung – d.h. eine Beobachtung und eine Lektüre76 der Ideen - und in Ursprung des
deutschen Trauerspiels ist die Philosophie eine Betrachtung der Ideen.
Ein entscheidender Unterschied zwischen den frühen Schriften
und dem
Trauerspielbuch betrifft genau den Begriff der „Philosophie“. Hatte nämlich die Philosophie,
die in den früheren Fragmenten der „höheren Erfahrung“ entsprach, als Ziel und als Ideal die
Totalität und die Einheit, – schließlich war ihr Zweck, jede mögliche Erfahrung in der Welt
des Scheins in sich zusammenfassen zu können - so fehlt in Ursprung des deutschen
Trauerspiels gerade dieser Anspruch. In diese selbe Richtung wird Benjamin auch in den
Werken nach 1927 weitergehen. Die Philosophie selber ist nicht mehr ein Ideal, sie erhebt
nicht mehr Ansprüche an die Unendlichkeit, sondern sie ertappt sich dabei mit der
Darstellung eines Unendlichen (der Idee) beschäftigt zu sein. Wenn die Philosophie bis zum
Trauerspielbuch etwas Unendliches war, das in sich die unendliche Nummer der endlichen
Erfahrung erhalten sollte, ist die Philosophie in Ursprung des deutschen Trauerspiels – genau
im Gegensatz dazu – etwas Endliches, das die Aufgabe hat, eine Unendlichkeit - die Idee darzustellen, die ihr aber nicht mehr entspricht. Vor deren Angesicht befindet sie sich sogar mit einer Metapher Kants - wie gegenüber einem Abgrund.
Ein Indiz für diese neuen philosophischen Einstellung Benjamins ist die Abwesenheit
der drei Begriffe des „Systems“, der „Kontinuität“ und des „Symbols“ in dem
75
Benjamin sucht nicht mehr einen Begriff der „Erkenntnis“, wie er es in den frühen Neukantischen Studien
gemacht hatte, sondern er stellt eine „Kritik“ der Erkenntnis vor. Sicherlich hat der Übergang von der „Theorie“
der Erkenntnis der jugendlichen Jahre zu der „Kritik“ der Erkenntnis des Jahrs 1927 eine Cohensche
Reminiszenz. Es scheint aber, dass solcher Neukantischen Terminologie eine gegensätzliche philosophische
Intention entspricht. Der Benjamin der Programmschrift hat die Philosophie als Theorie der Erkenntnis
verstanden, oder besser, als Theorie der ganzen Erkenntnis. Wir haben gesehen, dass diese Konzeption nicht
ohne weiteres auf den Neukantianismus Cohen zurückführbar war, weil sie in sich einige Zweideutigkeiten
enthielt: die Einheit der Erkenntnis war ja doch für Benjamin ein Ideal, das also als unendliche Aufgabe
verstanden wird, sondern auch und zugleich, als eine Art der Evidenzerfahrung, die sich unmittelbar – zufällig –
ereignet und dann verschwindet.
76
Vgl. oben Kap. I und II.
83
Trauerspielbuch, die in den frühen Schriften Benjamins eine Hauptrolle spielen. In der
Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels ist nämlich eine Veränderung Benjamins zu
bemerken, die in Richtung dreier gegensätzlicher Begriffe geht: „Allegorie“, „Traktat“ und
„Diskontinuität“, die eine bescheidene Konzeption der Philosophie andeuten und bestätigen.
In den Fragmenten und insbesondere in der Programmschrift77 haben wir mehrere Male den
Begriff des „Systems“ angetroffen. Die Philosophie selbst wurde da von Benjamin als System
betrachtet, oder besser, auf ihn sollte sie abzielen wie auf ein Ideal. Verbunden mit dem
Begriff des „Systems“ ist der Begriff der „Kontinuität“. Benjamin erwähnt oft diesen Begriff
in den frühen Schriften, um die Charakteristik der „Erfahrung höherer Art“, d.h. Einheit und
Kontinuität, zu bezeichnen, die er zu suchen beabsichtigte. Die Kontinuität ist auch die des
Systems, in dessen Einheit sich die verschiedenen Teile wie in einem Kontinuum
harmonisieren. Diese beide Begriffe, „System“ und „Kontinuität“, weisen deutlich auf eine
Kantische und Neukantische Beeinflussung in der Philosophie Benjamins hin. Seit Ursprung
des deutschen Trauerspiels bemerken wir aber nicht nur die Abwesenheit des Systems und
der Kontinuität, sondern vielmehr deren Ersetzung durch zwei genau gegensätzliche Begriffe:
„Traktat“ und „Diskontinuität“.
Was den ersten betrifft, so ist laut Benjamin das Traktat die einzige Form, welche die
Philosophie übernehmen kann. Das Traktat schließt die systematische Form aus und wirkt
jedoch mit Stücken und Fragmenten des Denkens wie bei der Konstruktion eines Mosaiks.78
Und später schreibt Benjamin das System der wissenschaftlichen Erkenntnis zu, die eben mit
einer systematischen und lückenlosen Logik fortzuführen versucht, die aber in Wirklichkeit
aus unbeweisbaren Voraussetzungen besteht. Die Wissenschaft ist durchaus entfernt von der
Wahrheit, zu der sie zu gelangen verlangt, indem sie darauf abzielt das enzyklopädische
Ganze der Wahrheiten umzufassen.79 Das System ist also nicht mehr auf die Philosophie
bezogen, wie es in den frühen Schriften der Fall war, sondern auf die Wissenschaft. Benjamin
führt weiter aus: das System hat Sinn, insoweit als es nicht ein Zusammenhang der einzelnen
spezialisierten Disziplinen ist, sondern es von der diskontinuierlichen Struktur der Ideen
inspiriert ist.80 Diese Ideenwelt aber kann – wie gesagt – besser von dem Traktat und von
dem fragmentarischen Denken dargestellt werden. Der Terminus „Diskontinuität“ deutet eine
Abwendung des jungen Benjamin von der Neukantischen Einstellungen an. Dies kann besser
bei der Analyse der Thesen über die Geschichte festgestellt werden. Gerade in der Vorrede zu
77
Vgl. GS VI 37, 39 und GS II/1 157ff.
Vgl. GS I/1 208.
79
Vgl. GS I/1 213.
80
Vgl. Ibidem.
78
84
Ursprung des deutschen Trauerspiels, taucht zum ersten Mal der Begriff der „Diskontinuität“
auf, der deutlich dem der Kontinuität – Synonym der Einheit – der in den vorherigen Jahren
auf die Philosophie und auf die Erfahrung bezogen wurde, entgegensetzt ist. Für den
Benjamin des Trauerspielbuchs ist eben die Diskontinuität das Synonym der Idee. Außerdem
wird der Begriff des „Symbols“ aus den frühen Schriften durch dem der Allegorie ersetzt. Die
Allegorie stellt in Ursprung des deutschen Trauerspiels die Beziehung Phänomen-Idee dar.
Sie drückt die grundliegende und grundsätzliche Entfernung zwischen dem Phänomen und der
Idee aus, wogegen der Begriff des „Symbols“ dazu neigt sie zu überholen. Das Symbol ist
nämlich die Sache, ohne die Sache selbst zu sein: die Sache - welche Symbol ist - enthält in
sich das, wessen Symbol sie ist; bei der Allegorie dagegen weist etwas auf etwas anderes hin,
das sich in einer unterschiedlichen und völlig unerreichbaren – Stufe befindet.
Darüber hinaus ist es zu bemerken, dass die Beziehung Idee-Phänomen von Benjamin
in der Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels als „Rettung“ bezeichnet wird. Die
Beziehung Idee-Phänomen wird also als Rettung aufgefasst: das Phänomen ist in dem
Moment, in dem es an der Idee teilnimmt, gerettet, da es so die Einheit erwirbt, die ihm
wesentlich fehlt. Der Terminus „Rettung“ und der Begriff der „Allegorie“ drücken die
Distanzierung Benjamins von seiner frühen Konzeption aus, die dazu neigte, die Kluft
zwischen der Ideenwelt und der Scheinwelt zu überwinden. Das Thema der „Rettung“ ist in
diesem Kapitel nur skizziert und wird aber in den nächsten in allen seinen Formen entwickelt
werden. Hier möchte ich nur noch feststellen, dass die „Rettung“ für Benjamin eine Art von
„intellektueller Methode“ ist, durch die der Philosoph, indem er das Phänomen zur Einheit der
Idee zuführt, die Welt des Scheins von seiner eigenen Ausdruckslosigkeit und Endlichkeit
rettet.
Mit der Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels gelangt Benjamin zu einer
anderen philosophischen Einstellung, in der sich die Philosophie ihrer Grenze bewusst ist,
eben weil sie selbst Teil des Scheins ist und die Erfahrung der Entfernung der Idee erlebt. Die
Philosophie wird ein Mosaik der Gedanken, welche die diskontinuierliche Ideenwelt
darzustellen versuchen. Es gibt aber keine Methode. Dagegen sieht es so aus, dass eine solche
Darstellung dem einzelnen Philosophen anvertraut ist und dessen Fähigkeit die Phänomene zu
betrachten und die Ideen wahrzunehmen, die sich schließlich nie in dem Schein offenbaren,
wenn nicht durch einen schwachen allegorischen aus dem Phänomen bestehenden Hinweis.
Das Phänomen weist auf die Idee hin, es enthält sie aber nicht mehr, anders als in den frühen
Schriften. Was ist schließlich die Idee in Ursprung des deutschen Trauerspiels?
85
Wir haben eine Definition der Idee innerhalb der Vorrede dieses Textes gesucht. Das
was wir aber gefunden haben, waren ziemlich undeutliche und ungenaue Definitionen. Die
Idee – oder die Wahrheit – wird in dem Trauerspielbuch als Ursprung, Monade, Name und
Einheit bezeichnet.81 Das Denken, nicht mehr systematisch, sondern dialektisch, hat die
unendliche Aufgabe, sich an dem Phänomen aufzuhalten und es unendlich zu der Einheit der
Idee zurückzuführen, wobei es diese aber nicht endgültig erreicht. Gleichzeitig existiert
zwischen der Idee und dem Phänomen eine Abhängigkeit. Das Phänomen braucht die Idee,
um die Einheit zu erreichen und um gedacht werden zu können, und die Idee – durchaus von
der Empirie getrennt – braucht das Phänomen, um sich zu verkörpern und zu offenbaren. Man
könnte sagen, dass die Idee in dem Moment, in dem das Denken die unendliche Entfernung
zwischen Ideen und Phänomenen begreift, dargestellt ist.
In dem Text aus dem Jahr 1927 überwindet also Benjamin die philosophische
Einstellung der Programmschrift, indem er die Äquivalenz Philosophie-Erkenntnis abschafft,
und indem er die Dringlichkeit dazu betont, einen unmittelbareren Übergang zur Realität und
eine Einstellung der Philosophie, die nicht mehr eine bloße abstrakte Analyse der Begriffe ist,
zu finden. Die Behauptung Benjamins in der Vorrede, dass die Idee nicht dazu dient, die
Objekte zu kennen, ist also in dem Sinne zu verstehen, dass die Philosophie nicht
wissenschaftliche Erkenntnis ist, sondern dialektisches Denken: d.h. ein Denken das sich
zwischen der Idee und dem Phänomen bewegt. Es geht von der Idee aus und bliebt bei der
Realität um sie auszulegen, und nicht um ihren logischen und strukturalen Zusammenhang zu
begreifen. Die Idee „dient“ zur Interpretation der Realität, die für Benjamin die einzige Form
der Erkenntnis82 der Welt ist.
Die Idee, wie gesehen, hat bei Benjamin zweierlei Strukturen: eine erste
erkenntnistheoretische, welche die „Erkenntnis“ des Phänomens erlaubt, im Sinne dass sie
dessen Konzeptualisierung und Auslegung ermöglicht. Das Phänomen ist nämlich in sich
reine und grobe Empirie, welche die Vermittlung des Begriffs braucht um gedacht,
ausgedrückt usw. werden zu können. Die Einheit, welche die Idee dem Phänomen verleiht,
81
Vgl. MICHAEL RUMPF, op. cit., S.31ff. Hinsichtlich der Vorrede schreibt Rumpf, dass Benjamin: „Nirgendwo
eine Ablehnung begrifflich genauer und argumentativ klarer Gedankenführung [formuliert]. Seine Forderung
nach ästhetischer Darstellung impliziert keine Aufgabe gedanklicher Stringenz [...]. An dieser nun mangelt es.
Bei aller Fülle der eingeführten Begriffe bleiben die genauen Verhältnisse der Begriffe untereinander doch
unklar. Wie auch immer ihre Relation bestimmt wird, die verschiedenen Äußerungen, die sich innerhalb der
Vorrede finden, ergeben selten ein harmonisches Bild“ (M. RUMPF, op. cit. S.31). Rumpf besteht darauf, dass
Benjamin weder das erklärt, was die Ideen eigentlich sind, noch welche Relation sie mit Begriffen und
Phänomenen haben: der Autor betont also die Undeutlichkeit Benjamins, wenn er über die Idee redet. Rumpf ist
eigentlich der Meinung, dass von Benjamin jeder Begriff zur Idee geadelt wird (S.33). Benjamin, laut Rumpf,
denkt die Idee als eine Allgemeinheit: „Benjamins Ideenlehre ist eine Wesenlehre [...] insofern kann Benjamin
alles zu Idee erheben, was normalerweise als Begriff figuriert“ (M. RUMPF , op. cit. S.35).
82
Siehe unten, Kap. IV.
86
erlaubt ihm (d.h. der Empirie) mitgeteilt und folglich vor einer Welt, die ansonsten nicht
erreichbar83 wäre und die ausdruckslos bleiben würde, gerettet werden zu können84. Die Idee
ist in diesem Fall ein Ideal, nach dem der Gedankengang unendlich strebt, wobei er sich aber
seine unüberwindbare und notwendige Endlichkeit immer vor Augen hält. Diese
„erkenntnistheoretische“ Funktion der Idee – wie wir sehen werden – stellt für den
Philosophen eine Art von Methode dar, die in einer unendlichen Aufgabe besteht: Die
Wahrheit ist in diesem Fall dem jüdischen Begriff der „Torah“ assimilierbar, d.h. Lehre in
unendlicher Weiterverbreitung, die unendlich mögliche Lektüren erlaubt. Die zweite Struktur
der Idee ist die metaphysische, d.h. die fundierende Struktur. Wir haben gesehen, dass die
Idee der Ursprung des Phänomens ist, und dass sie das ist, was dem Phänomen zugrunde liegt
und was dessen Existenz einen Wert gibt. Schließlich haben wir gesehen, dass bei dieser
metaphysischen Struktur der Idee sich das Bedürfnis zeigt, unmittelbar zur Wahrheit zu
gelangen, fast wie durch eine Evidenzerfahrung oder eine unmittelbare Eingebung85.
Man kann sagen, dass die Idee der Ursprung und das Ziel86 der Welt des Scheins ist
und dass die Rettung als Beziehung zwischen Idee und Phänomen der rote Faden der
Philosophie Benjamins von Ursprung des deutschen Trauerspiels bis hin zu seinen letzten
Schriften ist: die Aufgabe der Philosophie ist nicht mehr System zu werden, sondern die einer
Darstellung der Idee, indem das Phänomen zu dieser zurückgeführt und dadurch gerettet wird.
Mit dem Trauerspielbuch zeigt sich eine neue Einstellung der Philosophie, eben als nicht
systematisches, sondern dialektisches und fragmentarisches Denken, und eine neue Beziehung
Phänomen-Idee, die von einer unüberwindlichen Entfernung charakterisiert wird. Aus dieser
Entfernung ist der Begriff der „Allegorie“ eben Allegorie.
83
Ähnlich mit dem, was Benjamin in dem Sprachessay schreibt, in dem die Sprache der Dinge von der Sprache
der Namen – d.h. die des Menschen – gerettet werden muss, ist das Phänomen in der Vorrede, das in der völligen
Ausdruckslosigkeit stecken bleibt, bis es zu der Einheit der Idee zurückgeführt wird.
84
Siehe unten, Kap. IV.
85
Rumpf ist der Meinung, dass die Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels einige theoretische
Probleme und viele Inkongruenzen enthält: Benjamin war nicht in der Lage auf sie einzugehen. M. Rumpf findet
die Tatsache problematisch, dass, wenn die Wahrheit sich selber darstellt, dann die Betrachtung des Philosophen
völlig unnützlich wird. Darüber hinaus, wenn die Wahrheit ein unintentionales Wesen ist, dann kann sie nicht
zugleich ein Name sein (Vgl. MICHAEL RUMPF, Spekulative Literaturtheorie: zu Walter Benjamins
Trauerspielbuch, Königstein/Ts. 1980, S21ff.).
86
Den Satz übernimmt Benjamin von Karl Kraus: „Du kamst vom Ursprung – Ursprung ist das Ziel“. Die sind
die Worte, die Gott dem „Sterbende Mensch“ als Trost sagt, und die Benjamin in seinem Essay über Kraus
erwähnt (vgl. GS II/1 360).
87
VIERTES KAPITEL
DIE ROLLE DER IDEE NACH DEM TRAUERSPIELBUCH
1.
Probleme, Fragen. Allgemeine Linien
In diesem Kapitel werde ich die Rolle der Idee in den Schriften nach dem Trauerspielbuch
betrachten. Innerhalb des Materials über das Passagen-Werk, über Baudelaire und über die
sogenannten Thesen über die Geschichte, werde ich die Begriffe der „Erkenntnis“ und der
„Erfahrung“ erläutern, genauso wie es in dem vorherigen Teil der Arbeit gemacht worden ist.
Damit möchte ich zeigen, dass die Gedanken Benjamins, selbst bloß in der Form von
Fragmenten und Notizen, in eben jene Richtung fortfahren, die uns von der Vorrede zu
Ursprung des deutschen Trauerspiels gezeigt wurde, und dass sie eigene Punkte daraus
entwickeln und einige Begriffe radikalisieren. Es wird zutage gebracht, dass in den zuletzt
genannten Schriften Benjamins 1) der Begriff der „Wahrnehmung“ wieder eine
grundsätzliche Rolle spielt, und dass er mit dem der „wahren Erkenntnis“ und der „wahren
Erfahrung“ zusammenfällt; 2) die Idee die Bedeutung von „Bild“ radikal annimmt, und dass
dies nicht so sehr eine terminologische Änderung beweist, sondern vielmehr eine
konzeptuelle. Wir werden untersuchen, ob die Idee, d.h. die Wahrheit, auch in den
Spätwerken durch die Anwesenheit zweier gegensätzlicher Bedeutungen gegeben ist:
einerseits unmittelbare Wahrnehmung und andererseits unendliche Aufgabe, um schließlich
zu verstehen, in welchem Sinn in diesem scheinbaren Wiederspruch eine Bedeutung steckt,
die – meiner Meinung nach – durch den benjaminschen Ausdruck „Wahrnehmung ist Lesen“
ausgedrückt wird. Demzufolge werde ich mich mit dem Begriff der „Dialektik“ beschäftigen,
indem die Besonderheit, die sie in dem späteren Denken unseres Autors erwirbt, erforscht
wird. Schließlich wird der Begriff der „Rettung“ - der bereits im Trauerspielbuch erscheint nicht von einem theologischen Gesichtspunkt aus, sondern von einem intellektuellen
88
thematisiert, und wir werden damit zeigen, in welchem Sinn bei Benjamin von einer
intellektuellen Rettung als philosophische „Methode“ die Rede ist, und wie diese „Methode“
ihrerseits eine Antizipation der eschatologischen Rettung sein kann.
2.
Erkenntnis und Erfahrung
Rolf Tiedemann hat in der Einleitung des Herausgebers zu Passagen-Werk geschrieben, dass
ein
sinnvolles
Studium
dieses
Textes
mit
der
Lektüre
des
Konvoluts
N
-
1
Erkenntnistheoretisches, Theorie der Forschritt betitelt - anfangen sollte. Das ist nämlich der
Teil der riesigen benjaminschen Notizensammlung, der die bedeutungsvolleren Elemente
enthält, welche die theoretische Entwicklung des Denkens Benjamins nach 1929 beschreiben.
Zunächst kommt in dem Material über das Passagen-Werk2 der Begriff der „Erkenntnis“
wieder vor, der – wie zuvor gezeigt – in dem Trauerspielbuch aufgegeben und durch den der
„Philosophie“ ersetzt worden ist. Dennoch ist die Erkenntnis, die in Passagen-Werk erscheint,
anders als die traditionelle Erkenntnis, mit den im Trauerspielbuch gestellten Thesen
übereinstimmend.
Bekannt ist das Fragment, in dem Benjamin seine Absicht äußert, das XIX.
Jahrhundert – ebenso wie er in dem Trauerspielbuch das XVI. Jahrhundert studiert hatte –
durch die Analyse der Formen und der Änderungen der Pariser Passagen3 methodologisch zu
studieren. Die „Fakten“, die Benjamin zu betrachten beabsichtigt, sind nicht unter dem
traditionellen Begriff der „Kausalität“ erforscht, sondern sie werden betrachtet, so dass die
Entwicklung ihrer Form sich aus ihren eigenen Innern offenbart. Nicht zufällig benutzt
Benjamin den goetheschen Begriff des „Urphänomens“:
„Diese Fakten, angesehe[n] unter dem Gesichtspunkt der Kausalität, also als
Urdachen, wären aber keine Urphänomene; das werden sie erst, indem sie in
ihrer selbsteigenen Entwicklung – Auswicklung wäre besser gesagt – die
Reihe der konkreten historischen Formen der Passagen aus sich hervorgehen
lassen, wie das Blatt den ganzen Reichtum der empirischen Pflanzenwelt
aus sich herausfaltet“.4
1
Vgl. GS V/1 41.
Der vom Herausgeber des Werkes ausgewählte Titel für das Konvolut N des Passagen-Werks ist
Erkenntnistheoretisches, Theorie der Fortschritt; dennoch haben wir wieder mit einer Erkenntniskritik anstatt
mit einer Erkenntnistheorie zu tun.
3
Vgl. Briefe, S.83f.
4
GS V/1 577.
2
89
Welche sind diese „Fakten“, an die sich das philosophische Denken richtet? Was für eine Art
der Erkenntnis ist die philosophische Erkenntnis, die die „Fakten“ als „Objekt“ hat?
In der Analyse der Vorrede zum Trauerspielbuch erkannten wir den undeutlichen
Ausdruck Benjamins, nach dem die Philosophie die Aufgabe hat, die Idee „darzustellen“. Da
fragten wir uns, was „die Ideen darzustellen“ heißt, und wie demzufolge etwas Endliches –
d.h. die Philosophie – etwas Unendliches, Unobjektivierbares, Undarstellbares – d.h. die Idee
– darstellen kann. All dies scheint
deutlich in dem Material zum Passagen-Werk zum
Ausdruck zu kommen: das, was also in der Vorrede zum Trauerspielbuch bloß entworfen war,
nimmt in dem Passagen-Werk eine endgültigere Wendung. Die Ideen darzustellen heißt bei
Benjamin, die „Fakten“ darzustellen, als ob sie Ideen wären. Das bedeutet zudem das
Phänomen zur Ideen zurückzuführen: nur so – d.h. wenn es zur Idee zurückgeführt wird wird es zu einem „Fakt“. Sehen wir jetzt in welchem Sinn. In dem Passagen-Werk hat die
Philosophie die Aufgabe, das Phänomen zu betrachten, an das sich das Denken hält, als ein
„Urphänomen“, dessen Formen und Änderungen sie beschreiben soll. Unter „Urphänomen“
versteht Benjamin - wie zuvor gesagt - die Idee; eine an sich einheitliche und organische
Form, die von den anderen Formen unabhängig ist. Die „Fakten“ also sollen als Formen für
sich betrachtet werden, deren inneren Teile sich organisch entwickeln – als seien sie
Organismen – Benjamin erklärt – selbst wenn nur fragmentarisch – wie dies geschieht. Die
philosophische Erkenntnis ist zunächst „blitzhaft“:
„In den Gebieten, mit denen wir zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur
blitzhaft. Der Text ist der langnachrollende Donner“.5
Und außerdem:
„Auf den Differentialen der Zeit, die für die anderen die ‚großen Linien’ der
Untersuchung stören, baue ich meine Rechnung auf“.6
Bleiben wir bei dem Begriff der „Erkenntnis“. Obwohl der Terminus „Erkenntnis“ wieder in
dem Passagen-Werk auftaucht, unterscheidet Benjamin diese „philosophische“ Erkenntnis
weiterhin von der wissenschaftlichen. In dem Passagen-Werk finden wir also wieder die selbe
Unterscheidung, die bereits in den frühen Schriften zufinden war, zwischen der
wissenschaftlichen Erkenntnis und der philosophischen Erkenntnis. Der selbe Terminus
5
6
GS V/1 570.
Ibidem.
90
„Erkenntnis“ wird wieder auf die Philosophie erweitert und demzufolge in seiner Bedeutung
erhöht, ebenso wie es in der Programmschrift gemacht wurde. Die philosophische Erkenntnis
verhält sich anders als die wissenschaftliche und behält die Eigenschaften, welche die
Philosophie in der Vorrede zum Trauerspielbuch innehatte: während die wissenschaftliche
Erkenntnis mit dem Begriff „Kausalität-Wirkung“ verbunden ist, und demzufolge dem
Begriff der traditionellen Zeit - d.h. die Reihenfolge der Momente in ein „zuvor“ und einem
„danach“ –, ist die philosophische Erkenntnis „blitzhaft“, also unmittelbar und unberechenbar.
Zweitens benutzt sie nicht den traditionellen Nexus Kausalität – Wirkung: das philosophische
Denken soll über die „Fakten“ gleiten, bis es an einem besonderen anhält und diesen aus
seinem Kontext (immer noch mit dem kausalistischen Nexus verbunden), in welchen ihn die
Tradition eingefügt hat, extrapoliert. An diesem Punkt wird das Phänomen, aus dem
kausalistischen Nexus entfesselt, isoliert und als „Urphänomen“ betrachtet, d.h. als eine
organische Totalität und Einheit, in der die inneren Entwicklungen und die Änderung
betrachtet und beschrieben werden, ohne die Fakten, die einem solchen Phänomen nach dem
Prinzip Kausalität-Wirkung vor- und nachstehen, zu berechnen. Die Philosophie, schreibt
Benjamin, betrachtet und zeigt:
„Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur
zu zeigen“.7
Benjamin vergleicht die philosophische Erkenntnis mit dem Prozess des Erwachens. Beide
verbindet die gleiche Augenblicklichkeit:
„Dann wäre der Moment des Erwachens identisch mit dem ‚Jetzt der
Erkennbarkeit’, in dem die Dinge ihre wahre – surrealistische – Miene
aufsetzten“.8
Vor allem aber verbindet sie der gleiche Übergang, der den Prozess Traum-Wachzustand
charakterisiert: die unmittelbare Erinnerung. So schreibt Benjamin:
„Sie [historische Fakten] festzustellen ist Sache der Erinnerung. Und
Erwachen ist der exemplarische Fall des Erinnerns“.9
7
GS V/1 574.
GS V/1 579.
9
GS V/2 1057.
8
91
Und weiter:
„Das Korrektiv dieser Gedankengänge liegt in der Überlegung, dass die
Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht mindern eine Form
des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft ‚festgestellt’ hat, kann das
Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene
(das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossenen (das Leid)
zu einem Unabgeschlossenen machen“.10
Die philosophische Erkenntnis ist der Prozess eines Eingedenkens der Fakten, das dem dialektischen - Prozess des Erwachens ähnelt. Benjamin schreibt in einem Fragment des Teils,
den die Herausgeber des Werkes Frühe Entwürfe. Pariser Passagen II betiteln:
“Dialektische Struktur des Erwachens: Erinnerung und Erwachen sind aufs
engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische
Wendung des Eingedenkens. Es ist ein eminent durchkomponierter
Umschlag der Welt des Träumers in die Welt der Wachen“.11
Was sind also die „Fakten“, mit denen sich die Philosophie beschäftigt? Wenn Benjamin von
der geschichtlichen Erkenntnis spricht, dann meint er nicht damit sich bloß auf die
Historiographie zu beziehen. „Geschichte“ ist bei Benjamin die Beschreibung der Formen und
der Entwicklungen eines Phänomens, das als eine Einheit für sich vollständig betrachtet wird.
Ein solches Phänomen kann ein Ereignis (oder eine Epoche) der Geschichte der Humanität
sein (die universelle Geschichte), aber auch ein Ereignis der individuellen Geschichte. So
schreibt Benjamin in der Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels:
„Die philosophische Geschichte als die Wissenschaft vom Ursprung ist die
Form [...], die die Konfiguration der Idee als durch die Möglichkeit eines
sinnvollen Nebeneinanders solcher Gegensätze gekennzeichneten Totalität
heraustreten lässt. Die Darstellung einer Idee kann unter keinen Umständen
als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr
möglichen Extreme nicht abgeschritten ist. Denn das in der Idee des
Ursprungs Ergriffene hat Geschichte nur noch als einen Gehalt, nicht mehr
als ein Geschehen, von dem es betroffen würde. Innen erst kennt es
Geschichte, und zwar nicht mehr im uferlosen, sondern in dem aufs
wesenhafte Sein bezogenen Sinne, der sie als dessen Vor- und
Nachgeschichte solcher Wesen ist, zum Zeichen ihrer Rettung oder
10
11
GS V/1 589.
GS V/2 1058.
92
Einsammlung in das Gehege der Ideenwelt, nicht reine, sondern natürliche
Geschichte“.12
Benjamin schreibt, dass ein „Fakt“ geschichtlich ist – bzw. wird –, wenn er auf die Ideen
bezogen ist, wenn er an den Ideen teilnimmt. Nur so wird er von der falschen Überlieferung
der Tradition gerettet. Dass der Fakt zur Idee zurückgeführt wird, heißt, dass er eine
Organizität und Einheitlichkeit gewinnt und behält, die der Historismus doch a priori
eliminiert, indem er es als ein Element einer Kette von Ursache und Wirkungen betrachtet.
Die Konstruktion der Geschichte, die uns vom Historismus13 vorgeschlagen wird, ist eine
Aufzählung von Ereignissen: die Fakten werden nämlich von dem Chronisten nach dem
Kriterium der Wichtigkeit ausgewählt. Diejenigen, die am bedeutensten sind, sind dann nach
einer rigorosen Ordnung und einem kausalistischen Kriterium, in eine Serie eingeordnet.
Nach dieser ist jedes vorhergehende Faktum die notwendige Ursache dessen, das ihm folgt.
Das Ergebnis einer solchen Operation hat zweierlei Konsequenzen. Zuerst fördert der
Chronist nur die Ereignisse zutage, die, seiner Meinung nach, ein relevantes Bedeutung haben
übernehmen: die Geschichte ist traditionell die Geschichte der Gewinner. Zweitens wird die
Geschichte durch die Idee eines unendlichen Fortschrittes ausgelegt, als ein weitergehender
Entwicklungsprozess. Beim Historismus ist ein Ereignis geschichtlich, wenn es in die
Ereignisreihenfolge der kausalistischen Serie eingefügt wird, wenn also jede Ursache und jede
Wirkung objektiv gefunden werden kann, und wenn auf diese Art und Weise möglich ist, die
Entwicklung der Humanität manifestieren zu lassen. Laut Benjamin, führt die Forschung nach
der Objektivität notwendigerweise zu einer Paralyse der Geschichte und zu einer abstrakten
und verfälschten Konstruktion. Das Bild der Geschichte, welches der Historismus der
Tradition
als
Erbschaft
hinterlässt,
ist
das
Resultat
einer
Verkümmerung:
die
wissenschaftliche erlangte Konstruktion muss also eine deutliche und ordentliche Ganzheit
ergeben. Demzufolge wird die Vergangenheit in rigiden Schemata gelähmt. Die „wahre“
Geschichte aber, laut Benjamin, darf nicht wissenschaftlich studiert werden, d.h. nach den
Kriterien der historistischen Tradition, weil es sich um ein Material handelt, das nicht
klassifiziert und schematisiert werden kann, sondern erinnert. Die universelle ebenso wie die
individuelle Geschichte muss also durch eine Art von Erinnerung verarbeitet werden:
12
GS I/1 227.
Ich bleibe nicht bei der sehr bekannten Benjaminchen Kritik des Historismus; ein Hinweis dafür ist das
ausreichende Buch von KLAUS GABER, Rezeption und Rettung, Niemeyer, Tübingen 1987, S.20ff.; das Buch von
JULIAN ROBERTS, Walter Benjamin, London 1982, S. 199ff, S. 199ff.; und schließlich das Buch von GIULIO
SCHIAVONI, Walter Benjamin. Il figlio della felicità, Einaudi, Torino 2001, S. 373ff.
13
93
„Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn
eigentlich gewesen ist’. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen wie sie
im Augenblick einer Gefahr aufblitzt“.14
Diese Erinnerung ist das Eingedenken in der Jetztzeit.
Der Terminus „Eingedenken“, wie Andreas Panngritz zu Recht bemerkt, wird
absichtlich von Benjamin ausgewählt, um auf eine konzeptuelle Unterscheidung hinsichtlich
dem häufigeren Terminus „Erinnerung“ hinzuweisen.15 Das Eingedenken ist keine bloße
Erinnerung. Die terminologische Wahl Benjamins ruft das hebräische Wort für Erinnerung,
zakhar16, hervor, das nicht nur „erinnern“ bedeutet, sondern auf die Dimension des Gelebten
hinweist, und zwar auf die Möglichkeit, das vergangene Ereignis durch die Erinnerung
wiederzuerleben. „Erinnerung“ verweist dennoch auf die vulgäre Konzeption des Erinnerns,
nämlich auf den Begriff der ordentlichen Zeit, die als ein Kontinuum verstanden wird, in dem
die Momente nach einer regulären Ordnung aufeinander folgen. Die Zeit der Geschichte ist
aber die des Eingedenkens, welches, wie es aus dem oben zitierten Fragment hervorgeht,
nicht nur dazu in der Lage ist, die Feststellungen der Geschichte zu ändern, sondern vor allem
in der Lage ist, die Vergangenheit zu re-aktualisieren.
Kehren wir zum Begriff der „Erkenntnis“ zurück, und gehen wir auf dessen Beziehung
mit dem der „Erfahrung“ ein. Aus dem Material, das Benjamin nach 1929 schrieb, tritt die
Identifizierung – ebenso wie bei den frühen Schriften – zwischen dem Begriff der
„Erkenntnis“ – wo als „Erkenntnis“ die philosophische Erkenntnis und nicht die
wissenschaftliche gemeint ist – und dem der „Erfahrung“ erneut hervor. Ebenso wie die
philosophische Erkenntnis den Charakter des Erwachens und den des Überganges vom
Unbewussten zum Bewussten gewinnt, macht der gleiche Charakter des Überganges vom
Unbewussten zum Bewussten die benjaminschen Reflexionen über die Erfahrung aus. In der
Schrift Über einige Motive bei Baudelaire setzt Benjamin der wahren Erfahrung die
degenerierte Erfahrung (die er Erlebnis nennt) der Moderne entgegen. Ebenso wie Benjamin
in der Schrift über das mimetische Vermögen eine progressive Degenerierung der
Wahrnehmung bemerkt, stellt er in Über einige Motive bei Baudelaire eine Modifizierung des
Begriffes der „Erfahrung“ in der Moderne fest. Um diesen Prozess zu beschreiben, fängt
Benjamin von der von Proust17 bekannten „beschriebenen Erfahrung“ an, nach der der
Geschmack eines Kuchens das unwillkürliche Gedächtnis zu vergangenen Zeiten zurückführt.
14
GS I/2 695.
Vgl. ANDREAS PANNGRITZ, Walter Benjamin als „Theologe“, in Jüdische Denker im 20. Jahrhundert, hg. von
H. Lehming, EB Verlag, Hamburg 1997, S.63ff.
16
Vgl. STÉPHANE MOSÉS, La storia e il suo angelo. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, it. Üb. von M. Bertaggia,
Anabasi, Milano 1993, S. 171ff.
17
Vgl. GS I/2 610ff.
15
94
Die Erfahrung ist bei Benjamin – ebenso wie die Erkenntnis – ein unwillkürlicher Prozess des
Eindenkens. Die in ihm gesammelten Daten sind unbewusst und nur zufällig, ohne jegliche
Methode noch mit Rechnung, sondern sie treten durch zufällige Ideenassoziationen an das
Bewusstsein heran. Dann haben wir also die Erfahrung, welche Erfahrung – und zugleich
Erkenntnis – der Vergangenheit ist, da man von der Geschichte (die universelle und
individuelle Vergangenheit) keine wissenschaftliche Erkenntnis haben kann, sondern „nur“
eine philosophische Erfahrung. Das geschieht sowohl beim Individuum als auch bei der
Gemeinschaft durch die Kulte und Feste:
„Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse
Inhalte der Individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in
Konjunktion. Die Kulte mit ihrem Zeremonial, ihren Festen [...] führten die
Verschmelzung zwischen diesen beiden Materien des Gedächtnisses immer
von neuem durch“.18
Kurz gehen wir nun auf den Unterschied zwischen dem Erlebnis und der Erfahrung
ein, anhand der in Über einige Motive bei Baudelaire dargestellten Theorie. Während mit der
letzteren die unwillkürlich und unbewusste Erfahrung gemeint ist, ist die erste die
automatische und unmittelbare Antwort auf den äußeren Reiz. Sich auf Jenseits des
Lustprinzips Freuds19 aus dem Jahr 1921 beziehend, erklärt Benjamin dieses Verfahren: Die
durch die äußeren Energien entstehende Bedrohung, ist eine Schocksbedrohung. Das
Bewusstsein hat die Funktion, die Schocks aufzunehmen und zu registrieren, denen es
alltäglich durch die äußere Umgebung ausgesetzt ist.20 Das Bewusstsein setzt einen
Reizschutzmechanismus in Gang, das die äußeren Reize kontrolliert. Es registriert sie und
verwandelt sie in Erlebnis. Diese Operation erlaubt, sich bewusst Reize anzueignen, indem sie
in ein komplexes Gewohnheitssystem, in dem das moderne Bewusstsein verwurzelt ist,
eingesetzt sind. Die Reizaufnahme wird dann zu einem Teufelkreis: Das Bewusstsein schützt
sich vor dem Stoß, den der Schock provozieren könnte, und zugleich wird es nach und nach
steif, indem es sich immer mehr daran gewöhnt, die Reize zu kontrollieren, bis zum
folgerichtigen Verfall der Erfahrung. Diese Erfahrung ist eng mit der „Menge“ verbunden,
und beide sind, laut Benjamin, die konstitutiven Eigenschaften der Moderne. Benjamin
erklärt,21 dass die Menge bei der Dichtung Baudelaires eine „verborgene Figur,“22 niemals
18
GS I/2 611.
Vgl. GS I/2 612.
20
Vgl. GS I/2 613.
21
Vgl. GS I/2 618.
22
Ibidem.
19
95
explizit anwesend, sondern immer nur evoziert, ist: Der Leser nimmt ihre Präsenz durch die
Geräusche und die Laute der vom Autor benutzten Worte, die das Straßengewühl der Menge
heraufbeschwören, wahr. Benjamin schließt sich den Worten Baudelaires an, um die urbane
und zivilisierte Menge, d.h. die Masse der Passanten, welche die Städte im neunzehnten
Jahrhundert füllt, zu beschreiben, indem er die Uniformität und die Vereinheitlichung betont.
Die Leute aus der Menge „sahen aus wie Leute, die mit sich zufrieden sind und mit beiden
Füßen im Leben stehen“23 und die Menge ist eine scheinbare weitere Bewegung, die aber in
Wirklichkeit
die
Unbeweglichkeit
und
die
Immobilität
darstellt:
Sie
ist
das
„Immerwiedergleiche in großen Massen“.24 Nicht nur sehen die Passanten in der Menge alle
gleich aus, wie seriell hergestellte Maschinenmenschen, sondern die selben menschlichen
Beziehungen sind denaturiert und zur Ware geworden, weil es die einzige Art ist, welche die
Moderne kennt, sich auf das, was sie umgibt, zu beziehen. Die Relation Subjekt-Objekt ist das
Muster der interpersonellen Beziehung.25 Der Schock, in der Form z.B. des Ereignisses und
der Begegnung, ist das, was, laut Benjamin, eine eigentliche und authentische Erfahrung zu
erleben erlaubt. Das Bewusstsein lässt die Schutzbarriere wegfallen, um die Reize zu
empfangen und aufzunehmen, welche die äußere Welt ihm anbietet. Der Stoß, der den
Einsturz des Bewusstseinsschutzes provoziert, ist aber nicht schmerzlos. Er ist dennoch eine
revolutionäre Erfahrung, weil er die falsche Sicherheit abschafft, welche die Moderne um sich
herum aufgebaut hat. Wenn das Erlebnis, d.h. die Erfahrung der Moderne, das Resultat der
Reaktion des Bewusstseins auf die äußeren Reize ist, dann besteht der Prozess der
Wahrnehmung der Moderne, und somit der Schutz, der den Schock unschädlich macht, darin,
das Erlebte in eine Ordnung, d.h. in ein Kontinuum, einzufügen, indem sie als seine Objekte
klassifiziert werden. Die Erfahrung der Moderne ist also eine im Bewusstsein registrierte
Masse von Daten. Die Erfahrung aber ist die der Schocks: wenn der Schock sich nicht in eine
kontinuierliche Serie von Daten einsetzen lässt, reizt er das Bewusstsein dazu, das Erlebte in
seiner Ganzheit und Vollheit, d.h. getrennt von dem anderen Erlebten, wahrzunehmen. Das,
was die Wahrnehmung des Erlebten nach einer regulären Ordnung ermöglicht, ist die
Konzeption der Zeit als Kontinuum. Während einerseits das Erlebte einem Punkt in der Zeit,
als eine Serie von Augenblicken verstanden und wahrgenommen, zugeschrieben wird,
vernichtet andererseits der Schock die Schemata des Bewusstseins und hebt die zeitliche
Serie heraus. Demzufolge zeigt sich das Erlebte in dem Augenblick, wo es, von den anderen
23
GS I/2 625.
GS V/1 429.
25
Dieses Thema ist auch mehrere Male von Th. W. Adorno in seinem Buch Minima Moralia übernommen
worden. Vgl. TH. W ADORNO, Minima Moralia. Reflexionen aus dem Beschädigten Leben, Suhrkamp, Frankfurt
2001.
24
96
isoliert, erscheint. Doch wir bemerken eine Kontinuität zwischen den frühen Schriften –
insbesondere der Programmschrift – und den Späteren. Analog mit dem, was Benjamin in der
Programmschrift zu tun beabsichtigte – in der er einen neuen und höheren Begriff der
„Erfahrung“ suchte – taucht erneut in den Schriften nach dem Trauerspielbuch das Bedürfnis
auf, eine neue – die wahre – Erfahrung zu suchen, die in Gegensatz zu jenem denaturierten
Erlebnis der zivilisierten Menge steht.26
Die Eigenschaften, die Benjamin dem Begriff „wahren Erfahrung“ in Über einige
Motive bei Baudelaire zuschreibt, sind die selben, welche die „wahre Erkenntnis“ in dem
Passagen-Werk bestimmen: Augenblicklichkeit, Eingedenken, und das Aufheben der als
Kontinuum gemeinten Zeit. Es ist daher also evident, dass, wenn Benjamin von Erfahrung und
von philosophischer Erkenntnis spricht, er im Grunde genommen von einem einzigen Begriff
spricht. Die Erkenntnis der Geschichte (in beiden Sinnen) ist tatsächlich eine Erfahrung; und
die Schlüsselbegriffe zum Begreifen der philosophischen Erkenntnis und der Erfahrung, sind
der Begriff der Temporalität, d.h. das Eingedenken und das Jetzt, und der des Bildes, welche
sie in ihre eigene Struktur implizieren.
3.
Das dialektische Bild
In dem vorherigen Kapitel haben wir die verschiedenen Bedeutungen von „Idee“ analysiert,
und mit der Bedeutung von „Bild“ haben wir die Analyse beendet. In dem Passagen-Werk
taucht die Idee der Bildvalenz noch offensichtlicher auf, der Benjamin in den Notizen und
Materialen das bedeutungsvolle Attribut „dialektisch“ hinzufügt. Wie Ansgar Hillach
richtigerweise bemerkt, drückt der Begriff „dialektischem Bild“ ein Paradox aus. Ein Bild ist
nämlich eine Gestalt, und zwar das Resultat eines Prozesses, und weist deshalb auf eine
Festigkeit hin. Dennoch drückt die Dialektik die ununterbrochene Bewegung von
gegensätzlichen Elementen aus.27
26
GS I/2 608.
Vgl. A. HILLACH, Dialektisches Bild, in Benjamins Begriffe, hg von M. Opitz und E. Wizisla, Suhrkamp,
Frankfurt/M. 2000, S.186ff.
27
97
3.1
Die Dialektik
Wir sind dem Begriff der „Dialektik“ in dem vorherigen Kapitel begegnet und haben ihn
benutzt, indem wir die Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels untersuchten. Es
wurde gesagt, dass die Philosophie Benjamins sich zwischen dem Phänomen und der Idee
dialektisch bewegt; trotzdem wurde jener Begriff damals nicht direkt erforscht. Inwiefern
kann man von Dialektik in Bezug auf das Denken Benjamins sprechen? Dieses Thema ist
extrem umstritten, vor allem wegen der sehr bekannten Polemik Adornos hinsichtlich des
benjaminschen Exposés über das Passagen-Werk aus dem Jahr 1935, in dem der Begriff des
„dialektischen Bildes“ einen psychologistischen (das dialektische Bild als „Traum des
Bewusstseins“28) und metaphysischen Charakter zu gewinnen, und den eigentlich
materialistischen29 zu verlieren scheint. Bezüglich der Auslegung der benjaminschen
Dialektik wurde also in den letzten Jahren auf die Interpretation Adornos30 hingewiesen, der
nach dem Tod Benjamins, den Briefwechsel mit dem Freund und Philosophen, den Text
Charakteristik Walter Benjamins, in der Essaysammlung Über Walter Benjamin enthalten,31
und das Vorwort zu den benjaminschen Schriften aus dem Jahr 1955 publiziert hat. Alle diese
Texte waren sehr wichtig für die Rezeption der Philosophie Benjamins. Für die Einzelheiten
über die Polemik Adornos hinsichtlich des dialektischen Bildes verweise ich auf den Artikel
von Hillach. Doch möchte ich noch betonen, dass laut Hillach bei Benjamin „Traum und
Erwachen nicht Kategorien individueller oder kollektiver Psychologie, sondern Kategorien
der Erfahrung“ sind, und dass Adorno dies nicht richtig verstanden hat.32 So möchte ich jetzt
behaupten, dass auch der Begriff der „Dialektik“, und insbesondere des „dialektischen
Bildes“, eine Kategorie der Erfahrung, und nicht eine auf Hegel33 oder auf die Psychologie
Jungs34 zurückzuführende Kategorie ist. Auch laut Bernd Witte hat Adorno den Sinn der
Philosophie Benjamins nicht grundlegend verstanden, deren Materialismus „nur ein
begrifflich nicht vermittelter und daher naiv zu kurz greifender Versuch ist, konkrete
28
Vgl. GS V/2 1128 und Briefe 671ff.
Vgl. ibidem. Bezüglich der Interpretation Adornos über das „dialektische Bild“ weise ich auf den Essay von
Hillach hin.
30
Vgl. BERND WITTE, Walter Benjamin. Der Intellektuelle als Kritiker, Mezler, Stuttgart 1976, S.2ff; KLAUS
GERBER, op.cit., S.124ff.
31
TH. W. ADORNO, Über Walter Benjamin, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1970.
32
Vgl. HILLACH, op.cit. S. 210.
33
Von der Dialektik Hegels nimmt Benjamin Abstand in einem Fragment des Passagen-Werkes, vgl. V/2 1037f.
34
Auf Jung bezieht sich Adorno in Charakteristik Walter Benjamins, op.cit. S.21. Selbst wenn Adorno in diesem
Text den Unterschied zwischen dem dialektischen Bild Benjamins und den Archetypen des Bewusstseins Jungs
erkennt, kritisiert er in dem Brief aus Hornberg aus dem Jahr 1935 die „psychologistische“ Position Benjamins
entschieden (vgl. GS V/2 1128ff).
29
98
psychische wie gesellschaftliche Phänomene mit Sinn zu belehnen“.35 Benjamin wäre also auf
Hegel und seine Begriffe zurückführbar, was aber bloß ein schlechter und ungeschickter
Versuch bleiben würde. Nach Adorno führt dessen Student Rolf Tiedemann die hegelsche
Interpretation des Denkens Benjamins weiter, insbesondere in dem Text aus dem Jahr 1965:
Studien zur Philosophie Walter Benjamins. In dem Text – so kommentiert Bernd Witte –
interpretiert Tiedemann „Benjamins Denken auf die Positionen der traditionellen Philosophie,
ohne dessen spezifische erkenntnistheoretische Methode erkennend nachzuvollziehen“.36 Die
Lektüre Tiedemanns, nach der Benjamin z.B. „die hegelsche List“ übernehmen würde, um
„der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Erkenntnis zu entgehen [...]“. Denn „[...] dann wird
damit Benjamins erkenntnistheoretischer Ansatz von einer Leitfrage her interpretiert, die
seinem Werk fremd ist. Auf Grund dieser hermeneutischen Vorentscheidung kommt
Tiedemann notwendigerweise zu dem Schluss, Benjamins Philosophie sei in ihren
Ergebnissen mit der hegelschen
identisch“.37 Laut Witte würde die Subsumierung des
Denkens Benjamins der hegelschen Theorie die geschichtsphilosophische Dynamik „der es
gerade nicht um eine wie auch immer geartete Doppelung des Vorhandenen, sondern um
dessen Rettung geht“38 dieses Letzte erstarren lassen. Die Dialektik Benjamins ist nicht eine
Dialektik der Synthesis oder der Identität: man könnte sagen, dass durch die Anwendung der
Terminologie Cohens, zwischen der Idee und dem Phänomen bei Benjamin eine
„Korrelation“ besteht, die eine weitergehende Spannung zwischen den gegensätzlichen
Elementen der Dialektik (Idee-Phänomen) ausdrückt. Diese kommen niemals zur Ruhe und
somit zur Synthesis. Der Kern der benjaminschen Dialektik, d.h. ihr Ursprung, ist die
Metaphysik der erkenntniskritischen Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels, die
weder die Vollendung der Geschichte noch das Ende der Dialektik theoretisiert, sondern dem
Philosophen die unendliche Aufgabe eines intellektuellen und – wie wir sehen werden –
ethischen Verfahren eines weitergehenden Strebens stellt, um das Phänomen zu der Idee
zurückzuführen.39 Wenn die Dialektik eine weitergehende Bewegung der Gegensätze - die
35
BERND WITTE, op.cit. S.3.
Ibidem.
37
BERND WITTE, op.cit. S.4. Rolf Tiedemann schreibt nämlich: „Benjamins Philosophie nicht anders als die
Hegelsche stellt am Ende eine Nachkonstruktion der geschichtlich-gesellschaftlichen Gesamtverfassung dar“
(BERND WITTE , op.cit. S.4; ROLF TIEDEMANN, op.cit. S.21).
38
BERND WITTE , op.cit. S.4.
39
Es ist nicht beweisbar, dass die benjaminsche Dialektik direkt von dem Cohensche Begriff der „Korrelation“
beeinflusst wurde. Dennoch ist es evident, dass zwischen den beiden Begriffen eine gewisse Ähnlichkeit besteht.
Mit der Kategorie der „Korrelation“ thematisiert Cohen eine Dialektik, die gegensätzlich zu der Hegels, d.h.
gegensätzlich zu der Identität der Synthesis ist. Der Begriff der „Korrelation“ übernimmt bei Cohen eine
fundamentale Bedeutung in den Religionsschriften, wo er die Dialektik Mensch-Gott bezeichnet, die durch eine
unüberwindbare Distanz bestimmt ist. Dagegen drückt in dem System der Philosophie, insbesondere in der
Ethik, die Korrelation die Dialektik Wirklichkeits-Idee aus, die ein Verhältnis bezeichnet, das sich aber nicht in
die Identität der beiden niederschlägt, sondern ein Verhältnis, in dem die Idee sich in der Realität wirkend ergibt,
36
99
sich nähren, bis sie sich berühren, aber immer getrennt bleibend – ist und wenn die
Philosophie der Versuch ist, die Idee „darzustellen“, die nur durch die Phänomene, in denen
sie sich zum Teil vergegenwärtigen, darstellbar sind, dann ist die Dialektik der Sinn der
gesamten Philosophie Benjamins, und das mit zwei Bedeutungen. Die erste Bedeutung
entsteht in dem Moment, in dem sie das Problem der Darstellung theoretisiert, und
allgemeiner das Problem des Verhältnisses Idee-Phänomen: Aus der Idee heraus entsteht die
Fundierungsbewegung des Phänomens, während aus dem Phänomen heraus die Bewegung
entsteht, die dieses wiederum zur Idee zurückführt. Die zweite Bedeutung begründet sich
durch die Tatsache, dass die Philosophie selber ein Phänomen ist, das sich der Ideenwelt
zuwendet. Demzufolge ist die dialektische Bewegung ein wesentlicher Bestandteil von ihr.
Das Denken Benjamins entfaltet sich dauernd zwischen dem Phänomen und der Idee, die den
Horizont seiner Forschung bestimmen. Es gibt weder nur das Phänomen noch nur die Idee,
sondern eine andauernde Bewegung, die von einem zum anderen geht: Die Philosophie
Benjamins ist die Darstellung des Phänomens selbst, das in einer dauernden Spannung zur
Idee und in einer dauernden Anstrengung zur Überwindung des Phänomenalen selber steht.
Die beiden Extreme, das Phänomen und die Idee können durch keine Synthesis vereinigt
werden, weil zwischen ihnen eine unendliche Ferne besteht.
Welche sind nun die Charakteristika der benjaminschen Dialektik? Inwiefern ist die
benjaminsche Dialektik eine Kategorie der Erfahrung?
Die Reflexionen über die Dialektik erscheinen vor allem in den Notizen und in den
Materialen nach 1929. Einer der ersten Hinweise auf die Dialektik befindet sich in den
Notizen für das Passagen-Werk hinsichtlich des Prozesses des Erwachens, d.h. hinsichtlich
des Übergangs Traum-Wachzustand, oder noch genauer des Übergangs Unbewusstsein –
Bewusstsein. Nun weist die Dialektik des Erwachens auf die Dialektik des philosophischen
Denkens hin, dessen Allegorie sie ist: das philosophische Denken hält bei den Fakten an, und
nimmt sie als solche unmittelbar und zufällig wahr. D.h. es begreift in ihnen die Wahrheit –
gleichsam wie wenn wir es mit dem Übergang vom Unbewussten zum Bewussten zu tun
haben, wie es im Augenblick des Wachwerdens passiert, oder im Augenblick der Erinnerung wie von Proust beschrieben - in dem die unbewussten Erinnerungen unmittelbar, plötzlich und
zufällig in das willkürliche Gedächtnis eintauchen. Dieser erste dialektische Moment ist bei
Benjamin die „Methode“ der Philosophie, welche die Geschichte als „Objekt“ hat, wo mit
„Geschichte“ nicht nur die universelle, sondern auch die des einzelnen Menschen gemeint
die sich ihrerseits an der Idee orientiert – oder besser orientieren soll. Vgl. ANDREA POMA, La filosofia critica di
Hermann Cohen, Mursia, Milano 1988, S.77ff.; HERMANN COHEN, Ethik des reinen Willens, insbesondere, über
den Unterschied zu Hegel, das Kapitel VII.
100
wird. Das dialektische Verfahren besteht in dem Übergang, in dem das, was versteckt ist, in
dem Augenblick zu Tage gebracht wird: es handelt sich nicht um einen psychologistischen
Prozess, sondern vielmehr um einen Prozess des Eingedenkens, welcher die Erfahrung der
Geschichte ausmacht.
In dem Begriff des „Eingedenkens“ steckt noch ein wichtiges dialektisches Element:
die Zeit. Hinsichtlich des Trauerspielbuchs haben wir kurz gesehen, dass die Idee der
Temporalität bei Benjamin nicht die traditionelle ist. Dieses Konzept wird in den späteren
Schriften betont und unterstrichen. Bisher haben wir nur die „Gegenwart“ dieser Temporalität
angetroffen: das Jetzt. Mit ihm ist das Element der Vergangenheit dialektisch verbunden.
Genauso wie es bei dem Terminus „Erinnerung“ geschieht, den Benjamin lieber durch den
selteneren Begriff „Eingedenken“ ersetzt, wird der Terminus „Vergangenheit“ von dem
selteneren Begriff des „Gewesenen“ ersetzt. So schreibt Benjamin:
„Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein
zeitliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt eine dialektische“.40
Das Gewesene unterscheidet sich also von der Vergangenheit, weshalb es sich in einer
dialektischen Beziehung zum Jetzt befindet, während die Vergangenheit als ein Element der
Zeit, als Kontinuum verstanden, wird. Die Charakteristik des Gewesenen ist, dass es bereit ist,
in dem Jetzt reaktualisiert zu werden; das Gewesene ist nämlich eine lebendige
Vergangenheit, die in sich zu aktualisierende Potentialität enthält, während die Vergangenheit
ein für alle Mal gegeben und vergangen ist. Versuchen wir nun das zu begreifen, was
Benjamin mit einer solchen Unterscheidung meint und welche Bedeutung sie impliziert. Um
die Begriffe des „Gewesenen“ und des „Eingedenkens“ zu verstehen, ist es zunächst wichtig
die grundsätzliche Rolle aufzuzeigen, die der jüdische Begriff der „Geschichte“ auf die
benjaminschen Begriffe der „Zeit“ und vor allem des „Eingedenkens“ hat. Durch das
Eingedenken – dies haben wir gesehen – erwirbt das Gewesene eine Aktualität, und zwar in
dem Augenblick, in dem es aus dem Kontinuum der traditionellen Geschichte entfesselt wird.
In Über einige Motive bei Baudelaire ist nicht das Jetzt, was das Kontinuum der traditionellen
Zeit aufhebt, – wie z. B. in den Thesen über die Geschichte oder in dem Passagen-Werk –
40
GS V/1 578.
101
sondern es sind die „Tage des Eingedenkens“,41 die auch als „bedeutende“ zu bezeichnen
sind.42 Über diese schreibt Benjamin:
„Sie sind von keinem Erlebnis gezeichnet. Sie stehen nicht im Verbande der
übrigen, heben sich vielmehr aus der Zeit heraus. Was ihren Inhalt
ausmacht, hat Baudelaire im Begriff der correspondances festgehalten [...].
Wesentlich ist, dass die correspondances einen Begriff der Erfahrung
festhalten, der kultische Elemente in sich schließt [...]. Was Baudelaire mit
den correspondances im Sinne hatte, kann als Erfahrung bezeichnet werden,
die sich krisensicher zu etablieren sucht. Möglich ist sie nur im Bereich des
Kultischen [...]. Die correspondances sind die Data des Eingedenkens. Sie
sind keine historischen, sondern Data der Vorgeschichte. Was die festlichen
Tage groß und bedeutsam macht, ist die Begegnung mit einem früheren
Leben“.43
Der Inhalt von „Tage des Eingedenkens“ ist also die Vergangenheit, aber nicht diejenige, die
mittlerweile vergangen und deshalb tot ist, sondern eine Vergangenheit die – durch den Kult
und das Eingedenken – reaktualisiert werden kann und soll, und die aus diesem Grund als
„früheres Leben“ bezeichnet wird. Das Eingedenken weist nicht nur auf die individuelle Form
des Erinnerns, sondern ist es auch mit den Festtagen und mit der Zelebration einer kollektiven
Vergangenheit verbunden.44 Der Begriff des „Tag des Eingedenkens“ weist auf den jüdischen
„Jom ha-Zikkaron“ hin, der eben „Tag des Eingedenkens“ bedeutet. Im Judentum werden
gewisse Feste als „Tag des Eingedenkens“ bezeichnet, unter ihnen Jom Kippur und Pessach.45
Mit dem Pessach-Fest46 wird der den Auszug des Volkes Israels aus Ägypten gefeiert. Die
Observanz des Pessach-Festes ist ein Gebot.47 Joseph Soloveitchik schreibt:
41
GS I/2 637.
Vgl. Ibidem.
43
GS I/2, 637f.
44
Aus diesem Grund stellt Benjamin die von Uhren gezählte Zeit der Kalendarischen Zeit entgegen (vgl. GS I/2
701). Die Zeit der Kalender setzt uns in Beziehung mit der Vergangenheit, indem sie uns an ihre Kulte und an
ihre Symbole erinnert, und ermöglicht uns durch die Wiederholung der Kulte mit der Vergangenheit in eine
direkte Beziehung einzutreten.
45
Ich gehe auf die Bedeutung des Eingedenkens ein, indem ich nur das Pessach-Fest betrachte, da es an dieser
Stelle nicht möglich ist, all die andere jüdischen Rituale, in denen das Erinnern eine grundsätzliche Rolle spielt,
zu berücksichtigen; so beispielweise den Kaddisch, das man in Erinnerung an die Toten spricht, oder an das
Jizkor, d.h. ein Gebet das mit dem Wort „jizkor“ („er wird erinnern“) beginnt, und das insbesondere am
Versöhnungstag (Jom Kippur) ausgesprochen wird.
46
Das Wort Pessach heißt „überschreiten“ und erinnert an den Todesengel, der an die Häuser der in Ägypten
weilenden Israeliten „überschritt“.
47
Dieses Gebot ist in der Bibel erinnert: „Ihr sollt euren Söhnen sagen an denselben Tagen: Das halten wir um
dessentwillen, was unser Herr getan hat, als wir aus Ägypten zogen“ (Ex, 13,8). Das Erinnern hat in dem Alten
Testament eine theologische Bedeutung. D.h.: Gott erinnert, also muss der Mensch erinnern. So bemerkt
Soloveitchik, dass die Pflicht das im Gedächtnis immer lebendig zu halten, was in dem Exodus aus Ägypten
geschah, von der Halacha deutlich geboten wird (vgl. JOSEPH B. SOLOVEITCHIK, Reflections of the Rav, 1993,
S.207ff).
42
102
„The Seder observance is basically a reliving of the Exodus experience, and
during the rest of the year we are required to recall the event daily“.48
Am Seder-Abend wird an den Auszug aus Ägypten nicht nur erinnert und dieser erzählt,
sondern vielmehr wiedererlebt. So führt Soloveitchik aus:
„Because the event being commemorated is over 3500 years old, one can
easily come to regard oneself as so remote from the entire episode as to be
completely detached from it. This poses a problem, is not truly fulfilled
unless we personally identify with the Exodus […]. Not only does the
Exodus account for our present Jewish identity […]. We not only know
history but relive it”.49
Die Bedeutung des Eingedenkens in der jüdischen Tradition ist also das Zurückkehren in die
Vergangenheit, die wiedererlebt, und demzufolge vor dem Vergessen gerettet und als Muster
für zukünftige Aktionen verwendet wird. Ebenso ist die Bedeutung des benjaminschen
Gewesenen die Möglichkeit, die Vergangenheit (des einzelnen Menschen und der
Kollektivität) durch das Eingedenken wiedererleben und aktualisieren zu lassen.
Das Thema der Aktualisierung der Vergangenheit ist auch das, worum es in dem
kurzen Text geht, das in dem vorherigen Kapitel50 behandelt wurde: Agesilaus Santander,
handelt davon, dass der Engel die Allegorie des menschlichen Schicksals darstellt, für
welches das „Gewesene“, das für das Verschwinden bestimmt ist, in dem Eingedenken seine
Rettung findet. Der Engel ist die Allegorie des Begriffes des „Glückes“, das dialektisch aus
zwei Gegensätzen besteht: Das Jetzt und die Wiederholbarkeit des Jetzt. Die gleiche Dialektik
ist eben diejenige, die im Begriff des Gewesenen eingeschlossen ist: Einerseits das Gewesene
– als bereits Erlebte – und andererseits die Möglichkeit, das Gewesene wiederzuerlangen, was
nur in dem Jetzt des Erinnerns möglich ist. Das Gewesene verbindet sich zum Jetzt in einer
dialektischen Bewegung, die das ordinäre Tempo aufhebt. Wohl ist es interessant zu
bemerken, dass der Begriff des „Glückes“ erneut der Vergangenheit zugewandt ist. So
schreibt Benjamin:
„Das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert
ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal
verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der
Luft, die wir geatmet haben, mit den Menschen, zu denen wir hätten reden,
48
JOSEPH B. SOLOVEITCHIK, op. cit. S.188.
JOSEPH B. SOLOVEITCHIK, op. cit. S.211.
50
Siehe oben, Kap. III.
49
103
mit Frauen, die sich uns hätten geben können. Es schwingt, mit anderen
Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit.
Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer
Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen
heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird“.51
Die Wiedererlangung der Vergangenheit, d.h. ihre Rettung durch das Erinnern, enthält in sich
einen „heimlichen Index“, der, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die eigentliche
Erlösung ankündigt und antizipiert. Die Bedeutung der neuen Konzeption der Geschichte, die
Benjamin als Alternative zu der Geschichte sieht, wie sie die Tradition uns vorlegt, – stellt
also die Möglichkeit dar, dass das „Faktum“ durch das Eingedenken - ebenso wie beim
Judentum - reaktualisiert und demzufolge gerettet wird, indem es aufhört, in Bücher
geschriebene tote Ware zu sein: nur so hat man eine Erfahrung der Geschichte. Die Dialektik
des Prozesses des Eingedenkens – von den zwei Polen des Jetzt und des Gewesenen
ausgedrückt - ist also eine Kategorie der Erfahrung, insofern als sie die Methode der
geschichtlichen (in beiden Sinnen: universelle und individuelle) Erkenntnis ist. Die
Möglichkeit, die Geschichte als lebendige Materie, zu betrachten, d.h. als unerschöpfliche
Quelle der Möglichkeiten, die darauf warten, wieder aktuell gemacht zu werden, hat nämlich
nicht nur Wert für das Kollektiv, sondern erwirbt auch eine besondere existentielle
Bedeutung, wenn man an die Geschichte des Individuums denkt. Ein Beispiel dafür ist die
Briefsammlung Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen, insbesondere der Kommentar
Benjamins zu dem Brief von Goethe an Moritz Seebeck.52 Bezüglich eines Satzes dieses
Briefes: „das vorüberrauschende Leben“, schreibt Benjamin:
„Bewegt und gedrängt heißt dies Leben an anderer Stelle [des Briefes]:
Beiworte, die es überdeutlich machen, dass der Schreiber selbst [Goethe]
sich, betrachtend, an dessen Ufer zurückzog, im Geiste, wenn auch nicht im
Bilde, jenes anderen Greisenwortes, mit dem Walt Withman verschieden ist:
‚Nun will ich mich vor die Tür setzen und das Leben betrachten’“.53
Die Vergangenheit eingedenkend, als ob man in der Todesstunde wäre, heißt, die Bilder des
Lebens gleiten zu lassen, sie aus dem zeitlichen Kontinuum zu entbinden, und die reguläre
51
GS I/2 693.
Moritz Seebeck war der Sohn von Thomas Seebeck, dem Entdecker der entoptischen Farben. Die entoptischen
Farben sind durch ein gewisses Maß an Lichtanregung in durchsichtigen Körpern zum Vorschein kommende
Farbbilder. In ihnen erblickte Goethe einen experimentellen Hauptbeweis seiner Farbenlehre der Newtonschen
gegenüber; er nahm also starke Anteil an ihrer Entdeckung und stand von 1802 bis 1810 zu ihrem in Jena
ansässigen Urheber in näherer Beziehung. Der Brief, von dem Benjamin berichtet, ist aus dem Jahr 1832 und ist
die Antwort Goethes an einem Brief von Moritz Seebeck, in dem dieser Goethe den Tode des Vaters ankündigte.
53
GS IV/1 211.
52
104
Zeitfolge zu überwinden: das Gewesene ist auch die Vergangenheit des einzelnen
Individuums, in dem sie durch das Eingedenken vor der Vergessenheit gerettet und
aktualisiert wird (d.h. erneut erlebt wird). Der Sinn des Gewesenen ermöglicht, das eigene
Leben nicht als einen bibliographischen Zusammenhang von Daten, die in einer genauen
Ordnung aufeinander folgen, und die ein für alle Mal vergangen sind, zu erleben, sondern als
eine lebendige Einheit, die noch imstande ist aktualisiert zu werden: Das ist die einzige
„Methode“, die man an der lebendigen Materie der menschlichen Geschichte anwenden kann.
In der Schrift Berliner Kindheit um Neuzehnhundert erinnert Benjamin - mit der selben
„Methode“, mit der er in dem Passagen-Werk die Geschichte von Paris erzählt – einige
Momente seines eigenen Lebens, indem er es rückwärts betrachtet. Bei der Geschichte ebenso
wie bei der individuellen Vergangenheit antizipiert das Eingedenken die endliche Erlösung:
durch das Bild von Agesilaus Santander und durch das Bild von der zweiten These über die
Geschichte – für die ich auf das nächste Kapitel verweise – wird verständlich, wie bei
Benjamin die Grenze der Humanität in der Vergänglichkeit der Vergangenheit besteht. An die
Vergangenheit zu erinnern und diese wiederzuaktualisieren, - d.h. sie vor der Vergessenheit
zu retten, der sie verdammt ist - ist eine Form der Antizipation der Erlösung: das ist die
Aufgabe des Philosophen, der sich mit der Erzählung der Geschichte beschäftigt, und jedes
Menschen, der durch die Erzählung und das Eingedenken seiner eigenen unvermeidlichen
Vergänglichkeit einen Sinn verleiht.
3.2
Das dialektische Bild und die Lesbarkeit der Vergangenheit
Das dialektische Verhältnis zwischen dem Gewesenen und dem Jetzt und die Konzeption der
Zeit Benjamins bringen uns zu dem Begriff des „Bildes“. Benjamin schreibt in dem folgenden
Fragment aus dem Passagen-Werke:
„Nicht so ist es, dass die Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder
das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist
dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer
Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten: Bild ist die Dialektik im
Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit
105
eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt
dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild [,] sprunghaft“.54
In dem Jetzt, dem Zeitdifferential,55 zeigt sich einen Augenblick lang das Bild der
Vergangenheit als Gewesenes. Es hebt sich deutlich von dem Text ab, so dass das Verhältnis
zwischen dem Jetzt und dem Gewesenen, d.h. der Prozess nach welchem das, was es gewesen
ist, tatsächlich ein solches wird, in dem dialektischen Moment des Jetzt entsteht, in dem der
Philosoph, indem er sich an das Faktum anhält, die Vergangenheit in ihrer wirklichen Form
wahrnimmt, die nichts mit ihrer traditionellen Überlieferung zu tun hat. Von daher ist das
Jetzt die geschichtliche Zeit und die conditio sine qua non für die Wiedererlangung der
Vergangenheit. So schreibt Benjamin weiter:
“Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der
Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten
Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es
ist die Zäsur in der Denkbewegung“.56
Das „methodische“ Verfahren des Philosophen besteht also darin, die Fakten bis zu dem
Punkt zu betrachten, in dem das Denken sich in einer „von Spannungen gesättigten
Konstellation“ aufhält: In diesem Moment „erscheint das Bild“. Wie bereits in der Vorrede zu
Ursprung des deutschen Trauerspiels, so kann auch in diesem Fall nicht von einer
eigentlichen philosophischen Methode die Rede sein: Das Denken, nach der Beschreibung
Benjamins, hält bei einem Fakt an und in dem Jetzt – das in den Schriften nach 1929 als „Jetzt
der Erkennbarkeit“ gekennzeichnet ist – wird die wahre Erkenntnis wahrgenommen. Diese
Wahrnehmung ist aber zufällig. In dem Jetzt wird nämlich dem Philosophen die Gelegenheit
dazu geboten das Bild wahrzunehmen, das – wie auch in den Thesen über die Geschichte
betont ist – aufblitzt und flieht. Das Bild muss also der Möglichkeit des Verschwindens, die es
in seiner eigenen Struktur ausmacht, entrissen werden. Die Wahrheit erscheint also nur einen
Augenblick lang und nur in Form des Bildes.
Gerade das Bild ist eine der Bedeutungen der Idee, die wir bereits in der Analyse von
Ursprung des deutschen Trauerspielbuchs gefunden haben. In dem Passagen-Werk spricht
Benjamin nicht mehr von „Idee“, sondern er verwendet den Begriff des „Bildes“, der bereits
in der Vorrede des Textes aus dem Jahr 1929 auftaucht, hier allerdings nur als „Bild“. In dem
Material zu den Pariser Passagen erwirbt er das Attribut „dialektisch“. Wie Hillach
54
GS V/1 576f.
Vgl. GS V/2 1037.
56
GS V/1 595.
55
106
anmerket,57 gibt Benjamin vom dialektischen Bild niemals eine systematische Erklärung; er
führt nur dessen Begriff ein. Wie kann nun ein Bild dialektisch sein? Wie kann eine Idee – die
bei Benjamin ein Synonym für Wahrheit ist – Bild sein?
Zusammen mit dem Begriff des „dialektischen Bildes“ prägt Benjamin den der
„Dialektik im Stillstand“, mit dem er ein Stillstehen der Dialektik des Denkens meint. Nach
der Interpretation Hillachs bezeichnet die „Dialektik im Stillstand“ das Stillstehen, welches
das Denken in der Moderne – Epoche des Forschritts und der Verdinglichung der
menschlichen und kulturellen Beziehungen, in der das Denken also nicht mehr imstande ist,
dialektisch zu sein - zu erleiden gezwungen ist. Die benjaminschen Stellen, die diesen Begriff
behandeln, sind aber umstritten, so dass Hillach selbst die Zweideutigkeit Benjamins in der
Verwendung von „Dialektik im Stillstand“58 bekannt gibt. Wenn wir aber der Logik
Benjamins folgen, drückt die „Dialektik im Stillstand“, meiner Meinung nach, nicht die
Verkümmerung des Denkens und der Kultur der Moderne aus, sondern zeigt, ganz im
Gegenteil, die andauernde Fähigkeit des philosophischen Denkens, sich an die Fakten zu
halten und jenes Jetzt wahrzunehmen, in dem – so können wir jetzt sagen – die Idee sich von
selbst offenbart. Die „Dialektik im Stillstand“ ist derselbe Begriff wie der des „dialektischen
Bildes“: Unter diesem versteht man die Kristallisierung des Denkens in dem Augenblick, in
dem es anhält und eine Epoche oder ein Fakt betrachtet, und deshalb ist es das Resultat des
dialektischen Prozess des Denkens. Dennoch wird der selbe Prozess mit dem Begriff
„Dialektik im Stillstand“ bezeichnet.
Kehren wir nun zu den gestellten Fragen und zu den scheinbaren Inkongruenzen des
Begriffes des „dialektischen Bildes“ und demzufolge zu dem der „Dialektik im Stillstand“
zurück. Das Bild hebt sich aus dem Strom der Geschichte heraus, und „nur durch einen Akt
des Sehens heraus, der unterbrechenden Charakter hat, einen Zustand allererst herstellt und
als besondere Gestalt fixiert“.59 Was aber bedeutet, dass das Bild dialektisch ist?
In den Notizen für das Passagen-Werk ebenso wie in der Vorrede zu Ursprung des
deutschen Trauerspiels ist die Konstellation der Fakten, bei den das Denken anhält und die
folgende mögliche Kristallisierung, die daraus entsteht, eine organische Struktur, in der –
genauso wie in der Monade der Vorrede – die Vor- und Nachgeschichte erhalten ist. So
schreibt Benjamin:
57
A. HILLACH, Dialektisches Bild, in Benjamins Begriffe, hg von M. Opitz und E. Wizisla, Suhrkamp,
Frankfurt/M. 2000, S.189.
58
A. HILLACH, op. cit. S.186ff.
59
A. HILLACH, op. cit. S. 218
107
„Die Vor- und Nachgeschichte eines historischen Tatbestandes erscheinen
kraft seiner dialektischen Darstellung an ihm selbst. Mehr: jeder dialektisch
dargestellte historische Sachverhalt polarisiert sich und wird zu einem
Kraftfeld, in dem die Auseinandersetzung zwischen seiner Vorgeschichte
und Nachgeschichte sich abspielt. Er wird es, indem die Aktualität in ihn
hineinwirkt. Und so polarisiert der historische Tatbestand sich nach Vorund Nachgeschichte immer von neuem, nie auf die gleiche Weise. Und er
tut es außerhalb seiner, in der Aktualität selbst; wie eine Strecke, die nach
dem apoll[i]nischen Schnitt geteilt wird, ihre Teilung außerhalb ihrer selbst
erfährt.60
Laut dem, was Benjamin in dem Fragment schreibt, kann jeder Fakt dialektisch dargestellt
werden, und anhand dieser Möglichkeit wird es ein „Kraftfeld“, in dem sich die Vor- und
Nachgeschichte miteinander auseinandersetzen. Ein vom Denken „polarisierter“ Fakt ist also
ein Phänomen, das zur Idee, im Sinne von Totalität und Organizität, zurückgeführt wird. Was
heißt Totalität in diesem Fall? Zuerst heißt „Totalität“ die Möglichkeit, eine Darstellung des
Faktes zu geben, die nicht an die traditionelle Lektüre gebunden ist, die begrenzt bleibt.
(Benjamin spricht in den Thesen über den Begriff der Geschichte von der Geschichte der
Sieger, mit der er die traditionelle Überlieferung der Geschichte identifiziert, die sich immer
in den Sieger hineinversetzt und damit die Geschichte der „namenlosen“ Niedergeschlagenen
vergisst).61 Die Idee ist also eine weit entfernte Totalität, ebenso wie der Kantische
Gesichtspunkt – d.h. die asymptotische Bedeutung der Idee (das „Als-ob“ und das „focus
imaginarius“ Kants). Die „Totalität“, zu der das Phänomen zurückgeführt werden soll, ist die
der Flexibilität und der Möglichkeit der Ausbreitung der Betrachtung, die ermöglicht, den
begrenzten Gesichtspunkt der historistischen Tradition zu überwinden.
Die „Totalität“, auf die das Phänomen zurückzuführen ist, bedeutet die unendliche
Möglichkeit seiner Interpretation. In der oben zitierten Notiz für die Pariser Passagen, spricht
Benjamin von einer immer wieder neuer Polarisierung der Fakten, die niemals in der gleichen
Art geschieht. Das philosophische Denken hält bei einem Fakt an, es betrachtet ihn und
nimmt unmittelbar die Wahrheit wahr: die ihm eigenste Art und Weise, den Fakt auszulegen.
In diesem Sinn erleidet die Dialektik des Denkens einen Stillstand. Das Bild ist dialektisch,
weil es in ständiger Bewegung zwischen der Gestaltung eines Bildes, d.h. seiner ersten
Interpretation, und den nachfolgenden Kristallisierungen, d.h. den nachkommenden Lektüren
ist: das Bild kann immer erneut gelesen werden und niemals auf die selbe Art. Es stellt sich
als plötzliches Bild vor, das in sich eine Möglichkeit der Interpretation enthält. Die Lesbarkeit
60
61
GS V/1 587f.
Vgl. GS I/2 696.
108
des Bildes (bzw. der Wahrheit) ist also der Schlüsselbegriff, um den Begriff des
„dialektischen Bildes“ Benjamins zu verstehen. So schreibt Benjamin:
„Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, dass sie einer
bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, dass sie erst in einer
bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. Und zwar ist dieses ‚zur
Lesbarkeit’ gelangen ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung in
ihrem Innern. Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit
ihr synchronisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten
Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen
geladen. (Dieses Zerspringen, nichts anderes, ist der Tod der Intentio, der
also mit der Geburt der echten historischen Zeit, der Zeit der Wahrheit,
zusammenfällt.) [...] Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der
Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen,
gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.62
Die Bilder der Vergangenheit, so schreibt Benjamin, unterscheiden sich von den Wesen
Husserls aufgrund ihres historischen Indexes, der sie an die Zeit bindet, zu der sie gehören,
und vor allem an die Zeit bindet, in der sie zur Lesbarkeit kommen können. Die dialektische
Bewegung des Bildes besteht also in der Möglichkeit, in verschiedener Art und Weise gelesen
zu werden, aber nur – so schreibt Benjamin – in einer bestimmten Zeit. Was soll dies
bedeuten? Scheinbar sehen wir uns vor einer Inkongruenz: einerseits scheint es, dass
Benjamin verschiedene Lektüren des Bildes vorschlägt, andererseits aber spricht er von einer
wahren Lektüre des Bildes, und zwar von genau derjenigen, in der das Bild selbst in einer
bestimmten Zeit zu Lesbarkeit kommt. Dies führt zu der Aussage der Vorrede zurück, in der
die Idee als „objektive Interpretation“ der Phänomene bezeichnet wurde.63 Das Bild der
Vergangenheit erscheint als solches nur in einer bestimmten Gegenwart, oder um besser zu
sagen, in einem bestimmten Augenblick, in welchem es dem Philosophen – indem er den
kritischen Moment, in dem das Bild verschwinden kann – gelingt es zu lesen, und von ihm
eine Interpretation zu geben.
Diese scheinbare Inkongruenz kann eine Erklärung finden, indem wir, wenn wir über
das „Bild“ sprechen, an die „Idee“ denken. Wie in der Vorrede zum Trauerspielbuch schreibt
Benjamin, dass die Idee sich von selbst manifestiert. Ebenso offenbart sich in dem PassagenWerk das Bild von selbst in der Jetztzeit, unabhängig von dem Willen und von der Absicht
des Philosophen. Es offenbart sich als die Wahrnehmung desjenigen, der beabsichtigt es zu
lesen. Das heißt: es ist das Bild, welches sich manifestiert, und es ist die Wahrheit im Jetzt, in
62
63
GS V/1 577f.
Siehe oben, Kap. III.
109
dem es erscheint – und welches auch das Jetzt der philosophischen Erkennbarkeit ist. Anders
gesagt, es sind jene Unabsichtlichkeit und Unmittelbarkeit, die den Übergang von Schlafen
zum Wachzustand bestimmen, ebenso wie die Intuition, die Goethe dazu brachte, nach
langdauernden Beobachtungen das Urphänomen in dem betrachteten Phänomen zu sehen. So
ist es der Philosoph derjenige, der die Fakten betrachtet. Dennoch ist die Idee, die sich dem
„Blick“ seines Denkens offenbart: jenes Bild stellt in jenem Moment die einzige wahre
Möglichkeit der Lektüre des betrachteten Phänomens dar. Wenn Benjamin in dem Fragment
schreibt, dass das Denken sich immer wieder von neuem und niemals auf die selbe Art
kristallisiert, dann beabsichtigt er zu sagen, dass die Offenbarung der Idee, d.h. des Bildes, zu
immer weiteren Interpretationen fähig ist. Dies widerspricht aber nicht dem Prinzip des Jetzt
der Erkennbarkeit und also der einzigen wahren Lektüre, die von einem Fakt gegeben sein
kann, weil es das Bild ist, das sich in einem bestimmten Augenblick vergegenwärtigt und sich
lesen lässt. Mit anderen Worten, wenn es wahr ist, dass der Philosoph, genau wie im
Trauerspielsbuch geschrieben ist, das unabsichtliche Subjekt der Idee ist, die sich ihm „vor
Augen“ anbietet, gilt aber auch, dass eine Interpretation und eine Lektüre eines Fakts, welche
in genau jenem Augenblick wahr sind, weiter ausgelegt und in späteren Zeiten vertieft werden
können, in denen die Idee – als Bild – sich weitermanifestieren, und andere Interpretationen
ermöglichen wird. Das ist genau das Prinzip, das Benjamin in der Schrift Die Aufgabe des
Übersetzers thematisiert. Nach der benjaminschen Theorie der Übersetzung, die eine
Verwandtschaft unter den Sprachen voraussetzt,64 besteht die Aufgabe des Übersetzers „darin,
diejenige Intention auf die Sprache, die in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das
Echo des Originals erweckt wird“.65 Und weiter schreibt er:
„Die Übersetzung [muss] liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein
dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide
wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren
Sprache erkennbar zu machen“.66
Laut Benjamin soll die Übersetzung, die wohl mehr als eine bloße Bedeutungsüberlieferung
in eine andere Sprache ist, in ihrer eigenen Sprache die Sprache des Originals anklingen
lassen, aber trotzdem und offensichtlich bleibt sie mit der Epoche und mit der Zeit, in der sie
entsteht, verbunden: Sie ist vorläufig und wird von anderen und neuen Übersetzungen
überwunden, die sie ergänzen werden, indem sie versuchen, in sich die „größere Sprache“
64
Vgl. GS IV/1 12.
GS IV/1 16.
66
GS IV/1 18.
65
110
(d.h. die Idee) wiederzuerschaffen. Kehren wir nun zu dem Bild zurück. Es ist, als ob der
Philosoph, indem er das Bild auslegt, das Bild, d.h. die Idee, in seine eigene Sprache
übersetzen würde. Das Bild eines Fakts, das der Philosoph gibt, bleibt aber mit der Zeit, in der
es entsteht, verbunden, oder besser gesagt, mit den Worten Benjamins, der Zeit, in der das
Bild sich dem Philosophen zur Lesbarkeit gibt. Man kann also von „Dialektik des Bildes“ in
zwei Hinsichten sprechen: einerseits ist die Dialektik äußerlich und andererseits im Bild selbst
verinnerlicht. Die erste ist die Dialektik der Gestaltung des Bildes: das Bild ist der Prozess der
Kristallisierung des Denkens über einen Fakt, also eine Bewegung, die eine bestimmte Form
erwirbt, indem sie sie anhält. Die zweite Dialektik, die man als innerlich bezeichnen kann, ist
die Möglichkeit des Lesens – d.h. die Lesbarkeit – des Bildes selbst. Diese zweite Bewegung
geschieht innerhalb des Bildes selbst, und setzt wieder in Bewegung, etwas das strukturell
fixiert ist, oder anders ausgedrückt, etwas das sich fixiert hat. Dass also die Wahrheit – d.h.
die Idee – Bild ist, bedeutet dass, sie gelesen wird und ausgelegt werden kann, wenn man sie
in dem Jetzt, in dem sie sich vergegenwärtigt, wahrnimmt. Wie ein Gesichtspunkt, d.h. eine
gewonnene Perspektive, die nachher modifiziert, erweitert, werden kann.67
4.
Die „Wahrnehmung“ der Idee
In den Werken nach dem Trauerspielbuch ist im Denken Walter Benjamins jener
doppelwertige Begriff der „Wahrheit“ zu finden, den wir bereits aus der Analyse der frühen
Schriften hervorgehoben haben. Als wir oben den Begriff der „Dialektik“ betrachtet haben,
haben wir gesehen, dass die Idee sich in dem Jetzt manifestiert, das bedeutungsvoll als „Jetzt
der Erkennbarkeit“ bezeichnet wird: Die Wahrheit ist das Bild der Vergangenheit, das
unvermeidbar mit dem augenblicklichen und einzigen Moment, in dem es zu Offenbarung
kommt, verbunden ist. Zugleich ist die Idee, d.h. die Wahrheit, der unendliche Prozess der
Auslegung des Bildes: eine Lektüre des Bildes ist niemals abgeschlossen, sondern enthält in
seiner Struktur – so wie die Übersetzung – die Möglichkeit, nach dem Prinzip der Einheit der
Idee, weiter verarbeitet und interpretiert werden zu können. Daraus lässt sich schließen, dass
der Begriff der „Wahrheit“ – d.h. die Idee – Benjamins von den frühen Schriften bis zu den
67
Hier theoretisiert und antizipiert Benjamin ein typisches Thema der modernen (und postmodernen) Zeit: Die
Kommunikation der Medien geschieht in der Art der Erzählung. Es ist bekannt dass, mit der Geburt er
Photographie und der Werbung das Bild ist, mehr als das Wort, der Mittel der Informationen über einen
Sachverhalt mitteilt: es sind also die Bilder, die Interpretationen der Welt geben. Das Bild ist schon an sich eine
Form von Erzählung: die Wahrheit, die als Bild ausgelegt wird, ist die Möglichkeit einer Erzählung,
unmittelbarer als das Wort oder, mit den Worten Benjamins - als der Name.
111
späteren ein doppelter bleibt: einerseits wird die Wahrheit unmittelbar wahrgenommen,
andererseits ist die Wahrheit eine ewige Forschung. Scholem hat nicht zu Unrecht Benjamins
Denken als Synthese von jüdischer Mystik und jüdischer aufklärerischer Philosophie, für die
ihm etwa Hermann Cohen einsteht, konstruiert.68 Es hätten sich also in ihm eine letzte Mystik
und Aufklärung zusammengefunden. Eine solche Aussage spiegelt die Interpretation der
doppelten Struktur der Wahrheit wider, obwohl, wie oben gesagt, der Begriff der
„unmittelbaren Wahrheit“ nicht so sehr auf die Mystik, sondern vielmehr auf die Lektüre
Goethes zurückzuführen ist, und nicht zuletzt zu dem Bedürfnis, das offensichtlich
metaphysisch und nicht erkenntnistheoretisch (im Kantischen Sinne) ist, nach einem
unmittelbaren Zugang zur Wahrheit. Der Prozess des Denkens Benjamins beginnt also mit
einer Auseinandersetzung mit der Kantischen und Neukantischen Philosophie in Bezug auf
die Begriffe „Erfahrung“ und „Erkenntnis“. Bereits in diesen ersten Studien bemerkt man aber
ein Distanzierung vom Neukantianismus eben hinsichtlich der Konzeption der Erfahrung und
der Erkenntnis, über die, nach der Meinung Benjamins, der Kritizismus Marburgs
eingeschränkt blieb. Das Bedürfnis und die Notwendigkeit eines unmittelbaren und wenig
logischen Begriffes der „Wahrheit“ tritt also hervor; all das bringt Benjamin dazu, sich dem
Begriff der „Wahrnehmung“ zu nähern und eine der Identifizierung der Erkenntnis und
Erfahrung in der Wahrnehmung zu bekommen.
Die Wahrheit wird also eine Art der Evidenzerfahrung, die sich im Jetzt dem
intellektuellen Blick des Philosophen zeigt. Trotzdem bleibt im Denken des Autors das alter
ego Neukantischer Aszendenz dieser unmittelbaren Wahrheit: Die unendliche Aufgabe. Bevor
die Bedeutung dieses zweiten Punkts – der mit dem berühmten Ausdruck Benjamins „Rettung
der Phänomene“ (τά φαινόµενα σώζειν) zu tun hat – bis in die Einzelheiten erforscht wird,
sehen wir uns zunächst den ersten Aspekt der Wahrheit, nämlich die unmittelbare
Wahrnehmung
und die Identifizierung, in der Wahrnehmung der Erkenntnis und der
Erfahrung, an.
In den Schriften nach dem Trauerspielbuch bleiben die Umrisse undefiniert, welche
die philosophische Erkenntnis von der Erfahrung unterscheiden, und die zwei Begriffe
werden identifiziert. Darüber hinaus, wie es bereits in den frühen Fragmenten geschah,
münden diese beiden Begriffe in dem der Wahrnehmung. Es ist gesagt worden, dass
Benjamin in dem Passagen-Werk den Prozess der Erkenntnis der Wahrheit zu jenem des
Übergangs von Schlaf zum Wachezustand vergleicht: Das Bild vergegenwärtigt sich dem
Philosophen plötzlich und unmittelbar. Aber wie vergegenwärtigt es sich? In der Vorrede zu
68
Vgl. BERND WITTE, Walter Benjamin. Der Intellektuelle als Kritiker, Stuttgart 1976, S.10 und GERSHOM
SCHOLEM Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1967, S.28ff.
112
Ursprung des deutschen Trauerspiels wird gesagt, dass sich die Idee von selbst manifestiert,
es ist aber nicht klar wie. Benjamin sagt nur, dass die Ideen der „Betrachtung“69 gegeben sind.
Es sind unterschiedliche Stellen, an denen Benjamin sich auf das Symposion Platons bezieht,
und auch für Benjamin scheint, dass die Idee sich dem Philosophen evident macht, der sie in
gewisser Hinsicht bereits besitzt, d.h. sie bereits „betrachtet“ hat. Das Phänomen dient also als
Erinnerung an die Idee.70 Die Rede Benjamins ist in der Vorrede nun klar, wie wir gesehen
haben, hinsichtlich der Tatsache, dass die Ideen sich weder der Intuition noch dem Verstand
ergeben, weil sie ein intentionsloses Wesen sind. Es scheint also eine platonische
Interpretation zu sein, nach der die Ideen vom Menschen bereits „betrachtet“ worden sind.
Demzufolge hat der Mensch sie bereits als eine Art von ontologischen a priori inne, als eine
Gegebenheit. Sie werden dann nachher in dem Jetzt der Erkennbarkeit - von dem oben
geredet wurde - „wahrgenommen“ – d.h. im Sinne von „erinnert“.
In den späteren Werken zeigt sich nämlich dem Intellektuellen durch die
Wahrnehmung die Wahrheit in der Form des Bildes. Dass bei Benjamin die Wahrheit
„wahrgenommen“, „gesehen“ oder „gehört“ wird, ist eine Konstante. Es genügt, an die Schrift
Über das mimetische Vermögen zu denken, in dem die Wahrnehmung die Rolle der
Erkenntnis und der Erfahrung übernimmt. In diesem Text besteht Benjamin auf den
sinnlichen Aspekt der Wahrheit, bzw. auf die fortschreitende Degeneration des
wahrnehmenden Vermögens, und demzufolge – wie wir in dem nächsten Kapitel genauer
feststellen werden – auf die Verblendung der Wahrheit, die nicht mehr deutlich „gehört“ oder
„gesehen“, sondern von der nur ein leichtes und undeutliches Echo wahrgenommen wird.
Diese letztere wird aber weiter wahrgenommen in der Epoche ihrer Verblendung, nämlich in
der Moderne, selbst wenn bloß in einer unbestimmten Form. Verschieden sind die Ausdrücke
Benjamins, die auf die sinnliche Wahrnehmung der Wahrheit hindeuten, oder in dem
umgekehrten Fall, auf die Abstumpfung der Sinne, welche die ursprüngliche Wahrnehmung
der Wahrheit verhindert. Einige Beispiele dafür: in Goethes Wahlverwandtschaften werden
die Stummheit Ottilies und die Blindheit der Personen des Romans betont. Sie sind Elemente,
die eben auf die Degenerierung der Wahrnehmung der Moderne und ihrer Unfähigkeit dazu,
die Wahrheit wahrzunehmen, hinweisen.71 In der Schrift über Leskov, in welcher Benjamin
die Beziehung zwischen dem Roman und der Erzählung analysiert, betont er, dass die
69
Vgl. GS I/1 210.
Ab der ersten Seite der Vorrede zum Trauerspielbuch übernimmt Benjamin einige Stellen aus dem Phaedron
und aus dem Symposion hinsichtlich des Verhältnisses Schönheit-Wahrheit. Ein evidenter platonischer Hinweis
sind die Worte Benjamins über die Idee, die sich in dem Phänomen – in dem Schönen – manifestiert und
verkörpert, das seinerseits von der Wahrheit gerettet wird, die seinen Inhalt ausmacht.
71
Vgl. unter, Kap V.
70
113
Kondition für die Assimilierung der erzählten Geschichten das „Zuhören“72 ist, das allmählich
in der Moderne fehlt, so dass in dem Essay Franz Kafka die Welt der kafkaesken Personen die Welt der Moderne - als „schweigend“ bezeichnet wird.73 In den Thesen über den Begriff
der Geschichte verwendet Benjamin den Terminus „wahrnehmen“, um die Wahrnehmung des
Bildes zu beschreiben, in dem das Denken sich kristallisiert hat,74 und die Wahrnehmung das
Organ der geschichtlichen Erkenntnis (immer im doppelten Sinne der Geschichte: universell
und individuell) ist. Noch ein Text, in dem die Wahrnehmung eine wichtige Rolle spielt und
mit der Erfahrung identifiziert wird, ist Über einige Motive bei Baudelaire aus dem Jahr 1939.
Die Wahrnehmung ist in diesem Fall mit dem Begriff der „Aura“ verbunden. Alles, was uns
umgibt, besitzt eine Aura, die den Gegenstand aus der Zeit, der er angehört, und aus dem
Nutzenzustand, an den er normalerweise gebunden ist, entbindet. So Benjamin:
„Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen
belehnen, den Blick aufzuschlagen“.75
Später fügt er hinzu, dass die Aura eine „einmalige Erscheinung einer Ferne“76 ist. Die
Erfahrung der Aura – d.h. die Wahrnehmung der Aura – lässt Bilder und Erinnerungen in dem
Gedächtnis auftauchen, aber nicht nach einer chronologischen Ordnung, sondern durch
Assoziationen der Ideen, die unabsichtlich ins Bewusstsein gleiten. Nach dieser Theorie, die
Benjamin
auch
in
dem
Text
Das
Kunstwerk
im
Zeitalter
seiner
technischen
Reproduzierbarkeit verwendet, ist die Wahrnehmung das Organ, durch das die Wahrheit
wahrgenommen wird, und die die Rolle der nicht-wissenschaftlichen Erfahrung-Erkenntnis
übernimmt. Eben jener unbestimmte Begriff der „Aura“, von Josef Fürnkäs als „Definition
des Undefinierbaren“77 bezeichnet, drückt am besten den undefinierbaren und nicht zu einer
Methode zurückzuführenden Prozess aus, in dem sich die Wahrheit – d.h. die Idee manifestiert: Als etwas Unbestimmtes.78 Angemessen schreibt Josef Fürnkäs hierfür: „Diese
Bestimmtheit teilt der Begriff der Aura zumindest formal mit dem der authentischen
Wahrheit. Benjamin hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass ‚Wahrheit’ nicht per
72
Vgl. GS II/2 438ff.
GS II/2 415f.
74
Vgl. GS I/2 703.
75
GS I/2 646f.
76
GS I/2 647.
77
Vgl. JOSEF FÜRNKÄS, Aura, in Benjamins Begriffe, op. cit. S. 97. Dazu berichtet Fürnkäs über den
Widerspruch, den Bertold Berecht bezüglich des benjaminschen Begriffes der Aura festgestellt hat (ibidem).
78
Siehe auch JOSEF FÜRNKÄS, Aura, in Benjamins Begriffe, op. cit. S.99.
73
114
definitionem eingefangen und dingfest gemacht werden kann“.79 Also übereinstimmend mit
der Theorie der Vorrede zum Trauerspielbuch bleibt die Wahrheit durch Begriffe
undefinierbar. Zu diesem Punkt werden langsam die Stellen der Vorrede deutlicher, an den
Benjamin das Verhältnis Phänomen-Begriff-Idee angedeutet hat. Der Begriff ist der
Vermittler zwischen dem Phänomen und der Idee, in dem Sinne, dass er das Instrument ist,
welches das Phänomen „ausdrücken“ und mitteilen kann, während die Idee das ontologische a
priori dieses kommunikativen Prozesses ist, indem sie das Fundament des Phänomens und
der Sprache, die ihrerseits ein Phänomen ist, ist.
Mit anderen Worten, die Idee (d.h. das Sein) ist für Benjamin die Möglichkeit, die
Welt auszulegen. Sie ist eine betrachtete „Struktur“ – d.h. im Menschen bereits anwesend – an
die durch eine Wahrnehmung erinnert werden soll; diese letzte Wahrnehmung ermöglicht
dem Menschen, eine Weltperspektive „wahrzunehmen“; der Begriff ist der (schriftliche oder
ausgesprochene) Ausdruck, mit dem die Welt zum Verständnis und zum Wort gelangt, und so
mitgeteilt werden kann. Der Begriff unterscheidet sich immer noch von der Idee, die ihm
zugrunde liegt, indem sie ihm ontologisch überlegen ist, und indem sie a priori des
Phänomens und des Begriffes (der hingegen eine menschliche Erfindung ist) ist. So ist es
möglich die Stellen, an denen Benjamin von einer „Wahrnehmung“ der Idee-Wahrheit spricht
(um zu sagen, dass sie nicht konzeptualisiert werden kann, indem sie das Fundament des
Begriffes selber und des Phänomens ist), mit denen der Vorrede, an denen sich – mit einem
offensichtlichen Hinweis auf Platon – die Idee-Wahrheit manifestiert, d.h. der „Betrachtung“
gegeben wird, zu versöhnen. Diese wird etwa durch die Anamnese des Philosophen
„erinnert“. Wenn wir uns diese Interpretation vor Augen halten, dann widersprechen sich die
doppelte Struktur der Wahrheit und ihre beiden Sinne (einerseits Wahrnehmung, andererseits
unendliche Aufgabe) nicht: die Wahrnehmung zeigt das „Erinnern“ an die Idee, als
ontologisches Fundament des Phänomens und „Struktur“, die uns ermöglicht, die
phänomenale Welt interpretieren zu können, während die Wahrheit als unendliche Aufgabe
der selbe Akt der Begegnung und der Interpretation der Welt ist. Darüber hinaus wird die
Wahrnehmung der Wahrheit nicht von einer Methode geleitet, wie es etwa bei der
Wahrnehmung der Aura geschieht. Schließlich kann man nur mit Schwierigkeiten von den
beiden als Begriffe sprechen: Benjamin scheint also auszusagen, dass die Wahrheit (indem sie
die Geschichte und daher den Menschen betrifft) nicht durch Schemen definiert und
eingeordnet sein kann. Vielmehr kann sie erfahren und später durch Bilder erzählt werden.
Die Wahrheit (ebenso wie die Aura) vergegenwärtigt sich nur demjenigen, der – ebenso wie
79
Ibidem.
115
bei der Wahrnehmung der Ähnlichkeiten – „aufmerksam“ – d.h. offen – bleibt, um deren
Manifestationen zu begreifen.
Hierfür ist der Begriff der „Aufmerksamkeit“, den Benjamin in der Schrift Franz
Kafka einführt, sehr interessant. Über die Aufmerksamkeit schreibt er, ein Zitat von
Malebranche übernehmend: „das natürliche Gebet der Seele“,80 und in Über einige Motive bei
Baudelaire schreibt er, indem er Novalis zitiert: „Die Wahrnehmbarkeit ist eine
Aufmerksamkeit“.81 Und die Aufmerksamkeit, im Sinne von Offenheit – ist das, was die
Lektüre des Bilds eröffnet. Eine Lektüre von dem, „was nie geschrieben wurde“82 bemerkt
Benjamin in Über das mimetische Vermögen, und im Grunde genommen, eine Wahrnehmung
und eine Interpretation von dem, was – bezüglich des Fakts – noch nicht zum Bewusstsein
gebracht worden ist.
Die Wahrnehmung ergibt sich also als das Organ der philosophischen Erkenntnis:
Erkennen ist Wahrnehmen und Wahrnehmen ist Erkennen. In der Wahrnehmung manifestiert
sich die Idee, die in den Schriften nach dem Trauerspielbuch die Bedeutung vom Bild
gewinnt. Die Charakteristik der Idee als Bild ist die Möglichkeit gelesen werden zu können.
Schließlich wird die Geschichte (sowohl die universelle als auch die individuelle) selber von
Benjamin als ein „Text“ bezeichnet, und als Text soll sie gelesen werden:
„Will man die Geschichte als eine Text betrachten, dann gilt von ihr, was
ein neuerer Autor von literarischen sagt: die Vergangenheit habe in ihnen
Bilder niedergelegt, die man denen vergleichen könne, die von einer
lichtempfindlichen Platte festgehalten werden. ‚Nur die Zukunft hat
Entwickler zur Verfügung’ die stark genug sind, um das Bild mit allen
Details zum Vorschein kommen zu lassen [...].‚ Die historische Methode ist
eine philologische der das Buch des Lebens zugrunde liegt. ‚Was nie
geschrieben wurde, lesen’ heißt es bei Hofmannsthal. Der Leser, an den hier
zu denken ist, ist der wahre Historiker“.83
Das alles führt uns zu dem frühen Fragment Wahrnehmung ist Lesen zurück, das wir in dem
ersten Kapitel dieser Arbeit analysiert haben. Die Wahrnehmung, also das Jetzt, in dem die
Idee als Bild wahrgenommen wird, und dessen Lektüre, also dessen Interpretation, sind
Momente einer Dialektik - der selben Dialektik, die im Trauerspielbuch als „Darstellung der
Idee“ bezeichnet wurde.
80
GS II/2 432.
GS I/2 646.
82
GS II/1 213.
83
GS I/3 1238.
81
116
In dem Passagen-Werk, in den Thesen und in dem Material über Baudelaire, wird von
dem magischen Aspekt der Wahrnehmung – der die Texte Lehre von Ähnlichen und Über das
mimetische Vermögen charakterisiert – allmählich abgelassen. Immer noch anwesend ist
dennoch der Aspekt der Zufälligkeit, mit der Benjamin dort die Möglichkeit beschreibt, die
Ähnlichkeiten zu begreifen; hier die Möglichkeit die Geschichte zu lesen. Die Unmittelbarkeit
ist auch immer noch anwesend: dort sprach Benjamin über den Augenblick, in dem die
Analogie und die Ähnlichkeiten wahrgenommen wurden, hier spricht er über das Jetzt, in dem
sich die Idee manifestiert. Schließlich ist die gleiche „Aufmerksamkeit“ anwesend, die nichts
anderes ist als die sinnliche Offenheit und im Grunde genommen das Vermögen der
Wahrnehmung. Die moderne Figur der Alten, die „was nie geschrieben wurde“ lesen konnten,
ist der Flaneur, der durch die Pariser Straße läuft und durch das „gefühlte Wissen“ die Stadt,
deren Umrisse beschreibend, „wahrnimmt“:
„Jener anamnestische Rausch, in dem der Flaneur durch die Stadt zieht,
saugt seine Nahrung nicht nur aus dem, was ihm da sinnlich vor Augen
kommt, sondern wird oft des bloßen Wissens, ja toter Daten, wie eines
Erfahrenen und Gelebten sich bemächtigen. Dies gefühlte Wissen geht von
einem zum andern vor allem durch mündliche Kunde“.84
Die gleiche Wahrnehmung und das gleiche gefühlte Wissen sind die Bedingung für die
Abfassung der oben zitierten Schrift Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, die nicht nur
eine bloße Sammlung von Erzählungen ist, sondern das Zeugniss des benjaminschen
Begriffes für die wahrgenommene und erzählte Wahrheit zu sein scheint. Durch die
Beschreibung der Bilder der Vergangenheit, fährt Benjamin mit der selben „Aufmerksamkeit“
und der selben Wahrnehmung fort, mit denen der Flaneur Paris beschreibt, und mit denen der
Historiker die Fakten und die Epochen wahrnimmt und erzählt, oder schließlich mit denen der
Autor von Passagen-Werk sich auf die Figuren aus dem Paris des XIX. Jahrhunderts bezieht.
Schließlich ist zu bemerken, dass die Wahrnehmung der Wahrheit-Idee auch in den
späteren Schriften Benjamins eine elitäre Erfahrung ist,85 ebenso wie in den frühen Schriften
die Erfahrung des Künstlers und des Philosophen. Nach meiner Auslegungshypothese wäre
das Elitärsein der Erfahrung der Zustand der Moderne, die Epoche in der – wie bereits
angedeutet, und wie später genauer geklärt wird – die Wahrheit (d.h. die Idee) sich
manifestiert, aber verblendet wird. Das würde bedeuten, dass das Individuum die Fähigkeit
verliert, seine eigene Weltanschauung zu erlangen, indem es sich schon immer die geläufige
84
85
GS V/1 525.
Siehe unten, Kap. V.
117
(politische, kulturell usw.) als „imponierte Wahrheit“ auferlegen lässt. Das würde zudem
bedeuten, dass, wenn in den frühen Schriften das Elitärsein der Wahrnehmung der Idee einen
metaphysischen Charakter hätte, es in den späteren Schriften einen sozial- und kritischen (im
Bezug auf die Gesellschaft) Charakter86 dazugewinnen würde.
5.
Die Aufgabe des Intellektuellen: die Rettung der Phänomene
In dem Material für das Passagen-Werk begegnen wir dem Ausdruck „Rettung“, den
Benjamin bereits in der Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels einführt, und noch
früher in dem Essay Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. Um
den Sinn dieses Ausdrucks in dem Passagen-Werk und in den Schriften nach dem
Trauerspielbuch zu analysieren und zu begreifen, sollen wir zuerst zu der Vorrede dieses
Texts zurückkehren, in dem Benjamin mit dem Begriff der „Rettung der Phänomene“ (τά
φαινόµενα σώζειν)87 sozusagen die „Methode“ seiner Philosophie thematisiert: Die Rettung,
als intellektuelle Rettung verstanden, ist bei Benjamin die Aufgabe des Intellektuellen, die in
dem Zitat Karl Kraus, das als Epigraphe am Anfang der vierzehnten These über die
Geschichte erscheint, synthetisiert wird: „Ursprung ist das Ziel“.88 Die Rettung, als
unendliche Aufgabe des Philosophen verstanden, weist schließlich auf die Bedeutung der
Neukantischen Aszendenz hin, weil, wie bereits gesagt, die Wahrheit auch in den späteren
Schriften Benjamins eine doppelte Struktur enthält: einerseits ist sie unmittelbare
Wahrnehmung und verweist auf die ontologische Bedeutung der Grundlegung des
Phänomens.
Andererseits
ist
sie
unendliche
Aufgabe
und
verweist
auf
die
erkenntnistheoretische Bedeutung der interpretierende Lektüre des Phänomens (nur durch die
Lektüre wird das Phänomen erkannt). Dennoch, wie wir bereits in dem vorherigen Abschnitt
gesehen haben, widersprechen sich diese zwei Dimensionen der Idee nicht. In diesem
Abschnitt werde ich diese zweite Bedeutung tiefer erforschen, in Bezug auf den Begriff der
„Rettung“. Es ist noch zu betonen, dass die folgende Interpretation sich von der TiedemannAdornos entfernt. Dieser letzteren nach wird die Erlösung nämlich als „innerweltlich“
86
Siehe unten Kap. V.
GS I/1 215. Der Ausdruck reicht zu Simplicius zurück, welcher der erste war, der den Ausdruck „ta
phainomena diasozein“ im Bezug auf Plato in seinem Kommentar zum Aristoteles De Coelo: (Ad Aristotelis de
coelo 292 b 24) anwandte.
88
“Du kamst vom Ursprung – Ursprung ist das Ziel”. Diese sind die Worte, die der Sterbende Mensch Karl
Kraus als Gottes Trost und Verheißung entgegennimmt (GS II/1 360), weil die Welt „Irrweg, Abweg und
Umweg zum Paradiese zurück“ ist (ibidem).
87
118
vorgestellt, und fällt mit einer utopischen Befreiung der Gesellschaft zusammen89. Es wird
hier gezeigt, dass die Erlösung – die ich „intellektuell“ nennen werde – wohl innerweltlich ist,
solange sie die Aufgabe des Menschen in der Welt ist. Sie hat aber primär weder eine Rolle
noch eine politische Bedeutung. Stattdessen hat die innerweltliche Erlösung, entsprechend
den frühen Schriften Benjamins, eine theoretische Bedeutung (und, wie wir in dem nächsten
Kapitel feststellen werden, eine ethische), weshalb sie die theoretische Aufgabe des
Intellektuellen (und ethische jedes Menschen) ist.
In der Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels hat die Ideenlehre, die
Benjamin einführt, als Zentrum und Kern den Begriff der „Rettung“: das Phänomen ist in der
Idee gerettet,90 welche den Ursprung, die Einheit und die Monade ist. Über die Wahrheit
sprechend, bevor er die Bedeutung der Philosophie als Darstellung der Idee, zitiert Benjamin
das Symposion Platons, und bezeichnet zwei Aussage dieses Textes „entscheidend“.91 Platon
entwickelt die Wahrheit als den Wesengehalt der Schönheit; er erklärt die Wahrheit für
schön.92 So schreibt Benjamin:
„Das Wesen der Wahrheit als des sich darstellenden Ideenreiches verbürgt
vielmehr, dass niemals die Rede von der Schönheit des Wahren
beeinträchtigt werden kann. In der Wahrheit ist jenes darstellende Moment
das Refugium der Schönheit überhaupt. So lange nämlich bleibt das Schöne
scheinhaft, antastbar, als es sich frank und frei als solche einbekennt. Sein
Scheinen, das verführt, solange es nichts will als scheinen, zieht die
Verfolgung des Verstandes nach und lässt seine Unschuld einzig da
erkennen, wo es an den Altar der Wahrheit flüchtet. Dieser Flucht folgt
Eros, nicht Verfolger, sondern als Liebender; dergestalt, dass die Schönheit
um ihres Scheines willen immer beide flieht: den Verständigen aus Furcht
und aus Angst den Liebenden. Und nur dieser kann es bezeugen, dass die
Wahrheit nicht Enthüllung ist, die das Geheimnis vernichtet, sondern
Offenbarung, die ihm gerecht wird. Ob Wahrheit dem Schönen gerecht zu
werden vermag? Diese Frage ist die innerste im ‚Symposion’. Platon
beantwortet sie, indem er der Wahrheit es zuweist, dem Schönen das Sein
zu verbürgen. In diesem Sinne also entwickelt er die Wahrheit als den
Gehalt des Schönen. Nicht aber tritt er zutage in der Enthüllung“.93
89
Vgl. TH. W. ADORNO, Vorrede zu Rolf Tiedemanns Studien zur Philosophie Walter Benjamin, Frankfurt/M.
1965, und in TH. W. ADORNO, Über Walter Benjamin, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1990, S.88ff.).
90
Kaulen nach übernimmt Benjamin den Begriff der „Rettung der Phänomene“ aus der platonischen
Interpretation der Marburger Schule, entwickelt ihn aber gegen den wissenschaftlichen Sinn, den der
Neukantianismus Marburgs ihm zuschreibt. Benjamin, führt Kaulen fort, bereichert den Begriff der Rettung der
Phänomene einer religiösen Konnotation, die zu den Antiken zurückreicht. Benjamin blieb also der antiken und
radikalen Trennung zwischen der Idee – die sich auf einer metaphysischen Stufe befindet – und der
Phänomenalen Welt treu (H. KAULEN, Rettung, in Benjamins Begriffe, hg. von M. Opitz und E. Wizisla,
Suhrkamp, Frankfurt/M. 2000, S.619ff.).
91
GS I/1 210.
92
Vgl. Ibidem.
93
GS I/1 211 und oben Kap. III.
119
In diesen Zeilen theoretisiert Benjamin, indem er Platon folgt, das Verhältnis zwischen dem
Phänomen (d.h. dem Schönen) und der Idee (d.h. dem Wahren). Er sagt nicht nur, dass das
Phänomen in der Idee gerettet wird, sondern auch dass diese sein eigener Inhalt ist, der in
imstande ist, das Sein des Phänomens zu verbürgen: dies bleibt ein „Schein“, solange es nicht
sein eigenes Sein in der Idee bekennt. Die Rede über das Verhältnis Schöne-Wahre, die sich
bereits – wie wir nachher sehen werden – in dem Essay Goethes Wahlverwandtschaften
findet, wird zunächst aber unterbrochen und dann schließlich im Laufe der Vorrede durch das
Verhältnis Phänomen-Idee – das oben analysiert wurde – ersetzt. Dieses stellt in der Rede
Benjamin den theoretischen Teil dar, der in dem Trauerspielbuch selber eine
Anwendungsseite hat: das Verhältnis zwischen dem historischen Phänomen und der Idee.
Von daher leitet Benjamin die Bedeutung der „Geschichte“, nach der – wie wir in den
vorherigen Abschnitten gesehen haben – der geschichtliche Inhalt eines Ereignisses nicht von
seinem Geschehen in der Zeit bestimmt ist, sondern von dem Verhältnis mit dem
wesentlichen Sein der Idee94 ab. Interessant ist, dass Benjamin betont, dass es um die Rettung
der „natürlichen Geschichte“ und nicht der reinen Geschichte95 handelt. Das heißt: das was
wir „Geschichte“ nennen sollten – gegen die falsche historistische Überlieferung –solches
eigentlich nur anhand der Ideen wird, welche die reine Geschichte bestehen, also der Führer –
im Kantischen Sinne des Ideals – für den Philosophen, um die Geschichte zu verstehen, und
um von ihr ein Bild wiederzugeben. So schreibt Benjamin in dem Passagen-Werk:
„Wovor werden die Phänomene gerettet? Nicht nur, und nicht sowohl vor
dem Verruf und der Missachtung in die sie geraten sind als vor der
Katastrophe wie eine bestimmte Art ihrer Überlieferung, ihre ‚Würdigung
als Erbe’ sie sehr oft darstellt. – Sie werden durch die Aufweisung des
Sprungs in ihnen gerettet. – Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe
ist“.96
Der Begriff der „Rettung“ wird in dem Passagen-Werk und in den Thesen über die
Geschichte verwendet, um die Möglichkeit zu beschreiben, das Phänomen vor der falschen
Überlieferung, welche die Fakte durch die Kategorie der Kausalität einordnet, zu retten.
Dennoch ist der Prozess - durch den der Philosoph die historistische Tradition aushebt, um ein
wahres Bild der Vergangenheit wiederzugeben - eine unendliche Aufgabe, weil, wie wir
gesehen haben, es die Bewegung ist, durch die er das Phänomen zu der Idee der Totalität
94
Vgl. GS I/1 227.
Vgl. Ibidem.
96
GS V/1 591.
95
120
zurückführt. Aus diesem Grund ist das dialektische Bild für Benjamin „diejenige Form des
historischen Gegenstandes“,97 d.h. ein Ideal: „es ist das Urphänomen der Geschichte“.98 Das
bedeutet aber nicht, dass die einzelne Interpretation der Geschichte – als dialektisches Bild –
immer unvollendet bleibt. Sondern es bedeutet, dass - da die Idee unendlich weit entfernt ist,
und sich niemals völlig vergegenwärtigt – es möglich ist, das im Bild kristallisierte Phänomen
immer weiter auszulegen, wie es aus der Bedeutung der Totalität, die oben analysiert wurde,
folgt. Auch in den Thesen über den Begriff der Geschichte – wie in Passagen-Werk – wird
die „Methode der Rettung“ an der Interpretation der Vergangenheit angewendet. So schreibt
Benjamin in der siebzehnten These:
„Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation
plötzlich einhält, da erteilt derselben eine Chock, durch den es sich als
Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen
geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als
Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer
messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer
revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit. Er
nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf
der Geschichte herauszusprengen; so sprengt er ein bestimmtes Leben aus
der Epoche, so ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag
seines Verfahrens besteht darin, dass im Werk das Lebenswerk, im
Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf
aufbewahrt ist und aufgehoben“.99
Noch ein mal: Der Intellektuelle muss sich an die Idee wenden – also an die Totalität und an
die Einheit der Idee – um ein authentisches Bild der Vergangenheit zu geben, also um sie zu
retten. Die erlösende Aufgabe des Intellektuellen wird auch in dem Essay Über die Sprache
überhaupt und über die Sprache des Menschen thematisiert, aber in Bezug auf die
Sprachtheorie. In diesem Text übernimmt der Begriff der „Rettung“ zwei unterschiedlichen
Bedeutungen. Die erste: Benjamin bezieht sich auf das zweite Kapitel Genesis, in dem er –
wie wir gesehen haben – die menschliche Sprache (diejenige, die benennt) von der der Dinge
(die stumme Sprache) unterscheidet. Nach der Interpretation Benjamins, besitzt der
ursprüngliche Mensch in dem Geschöpf eine entscheidende Rolle, weil er die stumme Natur
erlöst, indem er sie zum Ausdruck bringt, d.h. indem er sie offenbart.100 Nach dem Verfall,
97
GS V/1 592.
Ibidem
99
GS I/2 703.
100
Siehe oben, Kap. III. Es ist interessant zu bemerken, dass bei Benjamin die Kategorie der Offenbarung und
die der Erlösung von einer dialektischen Bewegung, nach der Formel „Ursprung ist das Ziel“, verbunden sind.
98
121
schreibt Benjamin, zerbricht die reine Sprache in die Pluralität der historischen Sprache und
reduziert sich auf ein konventionelles System von Zeichen und Begriffen, die ein bloßes
kommunikatives Mittel werden. In jeder historischen Sprache bleibt aber der „verhüllte
Samen einer höheren“.101 Die Aufgabe der Philosophie – und das ist die zweite Bedeutung –
ist also die, vom Phänomen zu der Idee aufzusteigen, d.h. also die symbolische,
ursprüngliche, Bedeutung des Wortes wiederzufinden. Das Ursprüngliche ist also zugleich
das absolut Anfängliche und das radikal Neue: Das bedeutet, dass die Philosophie die
Renovierung des Wortes operieren soll, ohne sich an der profanen Bedeutung festzuhalten,
die es in der alltäglichen Sprache übernimmt, sondern indem sie das Wort immer wieder
erneut zu seiner Ursprung bringt. Dass die Philosophie zur symbolischen und ursprünglichen
Bedeutung des Wortes zurückkehren soll, heißt aber auch etwas anderes. Wie wir oben
bemerkt haben, es handelt sich nicht nur um ein Problem der Sprachphilosophie, da der
Name, d.h. das reine Sein, – der die Offenbarung der Idee bestimmt, seinerseits eine Idee ist.
Den symbolischen Charakter des Wortes wiederzuerlangen heißt im Grunde genommen, es zu
der Idee zurückzuführen. Dies stellt der Philosophie die Aufgabe, in der Forschung in
Richtung der Idee fortzuverfahren. Das heißt: wenn die Sprache, nach dem Verfall, ein
konventionelles System ist, mit dem sich der Mensch in der Welt orientiert, dann soll sie zu
der Idee zurückgeführt werden, die sozusagen das „a priori“, im Sinne der Bedingung der
Möglichkeit der Interpretation der Welt selber ausdrückt. Also: nur indem man in der Sprache
ihren ideellen Ursprung erkennt, ist es möglich sie vor der reinen Konventionalität zu retten.
Genauso wie sich das „Schöne“ in der Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels vor
dem reinen Schein rettet, solange es seinen Ursprung in dem Wahren bekennt. Noch ein
Beispiel der intellektuellen Rettung ist in einem Brief zu finden, den Benjamin an Florens
Christian Rang schrieb. Auch in diesem Fall expliziert Benjamin die erlösende Funktion des
Philosophen, der die Phänomene rettet, indem er sie in die Ideen einordnet, und indem er sie
zu dem Ursprung zurückführt. So schreibt er:
„Die Ideen sind die Sterne im Gegensatz zu der Sonne der Offenbarung. Sie
scheinen nicht in dem Tag der Geschichte, sie wirken nur unsichtbar in ihm
[...]. Kritik ist die Darstellung einer Idee. Ihre intensive Unendlichkeit
kennzeichnet die Ideen als Monade“.102
Die Erlösung (das Ziel) der nicht-menschlichen Sprache geschieht durch den übersetzenden Name - d.h. der
Name, der offenbart - oder nach den Wort Benjamins, diese Sprache in die des Namens übersetzt .
101
GS IV/1 14.
102
GB, Bd. II 393
122
Der Brief hat zum Thema das Verhältnis zwischen Kunstwerk und dem Lauf der Geschichte:
Benjamin behauptet, dass das Kunstwerk zeitlos ist, genauso wie die Philosophie (wenn sie
als Problemgeschichte und nicht als Philosophen-Geschichte betrachtet wird). Die
Philosophie verliert den Kontakt mit der zeitlichen Extension und verwandelt sich in einen
„zeitlosen“ Akt: die Interpretation.103 Auch in der Kunst bringt die Philosophie – d.h. die
Interpretation und die Kritik – die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Werken, die
„zeitlos und dennoch nicht ohne historischen Belang sind“,104 zutage: die Kritik ist die
Darstellung einer Idee, schreibt Benjamin und „die Aufgabe der Interpretation von
Kunstwerken ist: das creatürliche Leben in der Idee zu versammeln. Festzustellen“.105
Auch in dem Essay Die Aufgabe des Übersetzers ist die Rettung als intellektuelle
Aufgabe zu finden. In diesem Essay erklärt Benjamin, indem er die Sprachtheorie von Über
die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, welche die Aufgabe des
Philosophen hinsichtlich der Übersetzung ist. Einerseits bezieht Benjamin die Übersetzung
auf das Original: die Aufgabe des Übersetzers ist es, in seiner Sprache den Sinn des Originals
wiederherzustellen. Die Rettung, die er leistet, ist aber nicht auf die Sprache des Originals
bezogen, sondern auf die ursprüngliche Sprache. Genauso wie in dem Essay über die
Sprache, besteht Benjamin auf die unendliche Ferne und zugleich auf die Verwandtschaft
zwischen der reinen Sprache und den historischen Sprachen, in denen, wie gesagt, das Echo
des Originals anklingt. Die unendliche Aufgabe des Philosophen ist auch in diesem Fall die
Wiederlangung der Idee. So schreibt Benjamin:
„Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen [...]
ist die Aufgabe des Übersetzers“.106
Die „Methode“ der Philosophie Benjamins ist also eine Art von „messianischer“ Aufgabe des
Philosophen,107 welcher das phänomenale Geschehen retten kann und soll, indem er es auf die
Idee bezieht, die also sein Ursprung und sein Ziel ist, und damit ihm eine Bedeutung
verleihet. Es handelt sich ja um eine theoretische Rettung und nicht um eine eschatologische,
aber, wie wir nachher sehen werden, weist eben die theoretische Rettung des Intellektuellen
103
GB, Bd. II 392.
GB, Bd. II 393
105
Ibidem.
106
GS IV/1 19.
107
Auch beim Begriff der „messianischen Aufgabe des Philosophen“ ist es möglich, einen Einfluss der mystischjüdischen Tradition zu finden. Benjamin hatte sich – durch den Freund Scholem – für die jüdische Mystik
interessiert, insbesondere für die Strömung von Isaac Luria, der – durch die Tikkun-Theorie – eben die zentrale
Rolle des Menschen in dem Prozess, der zur Erlösung führt, thematisiert. Vgl. GERSHOM SCHOLEM, Die jüdische
Mystik, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993, S.267ff.
104
123
auf die Erlösung hin, indem sie sie antizipiert. Nun, weil der Ursprung – wie bereits gesagt –
nicht eine Kategorie der Zeit, sondern Idee ist, ist also das Phänomen – das aus ihr entsteht,
als etwas das es schon immer gab und das seine Grundlegung in ihr findet –unendlich zu ihr
zurückgekehrt, als ewiges Ziel und Aufgabe: die Bewegung der Rückkehr zu dem Ursprung
ist einerseits „Restauration und Wiederherstellung“, andererseits ist sie aber auch etwas
unvollendetes und nicht abgeschlossenes, weil der Ursprung das Ziel ist, aber das Ziel die
Möglichkeit ist, die Phänomene immer weiter auszulegen und zu lesen. Die Wiederkehr zum
Ursprung, d.h. die Rettung des Phänomens, kann für das Phänomen nichts anderes sein als
etwas unvollendetes, d.h. immer wieder eine Aufgabe zu aktualisieren. Die Idee und das
Phänomen sind und bleiben notwendigerweise getrennt, da sie sich auf zwei ontologisch
verschiedenen Ebenen befinden; die Bewegung die von dem Phänomen zu der Idee geht, ist
unendlich und dialektisch und deshalb handelt es sich um eine Aufgabe: die Idee – d.h. der
Ursprung – ist das ideelle Ziel des philosophischen Prozesses. Die Idee ist Ursprung, weil
man von ihr her beginnen soll, indem sie die Arbeit des Philosophen führen soll, aber sie ist
Aufgabe, weil der Annährungsprozess zu der Idee unendlich ist. In diesem Sinn können wir
auch sagen, dass die Idee als Ursprung eine ontologische Bedeutung gewinnt, währen sie als
unendliche Aufgabe – d.h. als intellektueller Prozess – eine erkenntniskritische Bedeutung
gewinnt, oder besser gesagt: eine auslegende, indem sie folglich das Ziel der intellektuellen
Forschung wird.
In dem nächsten Kapitel werden wir genauer die ethische und existentielle Seite des
Begriffes der „Rettung der Phänomene“ analysieren, sowie das Verhältnis dieses Begriffes zu
dem der Erlösung, dessen intellektuelle Rettung eine Antizipation ist.
124
FÜNFTES KAPITEL
DIE ROLLE DER IDEE IN DER PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE WALTER BENJAMINS
1.
Probleme, Fragen. Allgemeine Linien.
Dieses Kapitel ist anders als die vorherigen strukturiert. Ich werde mich nämlich mit der Rolle
der Idee in dem ethischen Denken Benjamins beschäftigen: da aber Benjamin niemals etwas
direkt über Ethik schrieb, werden wir uns zuerst fragen, ob und wie es möglich ist, dass in
seiner Philosophie von „Ethik“ die Rede sein kann. Benjamin beschäftigte sich direkt mit der
Ethik in den Jahren zwischen 1910 und 1914. Zu jener Zeit war er in der studentischen
Jugendbewegung aktiv, und meistens schrieb er Artikel mit sehr schwärmerischen und
idealistischen Tönen über ethische Argumente, die sich dem Programm der Jugendbewegung
entsprechend mit der Jugenderziehung, dem Ideal der Jugend sowie die Freiheit der Jugend
beschäftigen. Diese Themen werden kurz in dem ersten Abschnitt dieses Kapitels behandelt,
so dass wir uns für einen historischen Überblick verbürgen können, in dem Benjamin nach
und nach sein Denken gestaltetet. Nachher werden wir den bekannten Essay Goethes
Wahlverwandtschaften aus dem Jahr 1924 analysieren, in dem Benjamin, meiner Meinung
nach, zwischen den Zeilen eine neue Idee der Ethik präsentiert: immer noch von
idealistischem pathos aufgeprägt, aber von einer pessimistischeren Perspektive, hinsichtlich
der Verwirklichung der moralischen Werte, gekennzeichnet. Darüber hinaus werden wir
zeigen, analog mit den Schlussfolgerungen des vorherigen Kapitels, dass auch im ethischen
Bereich, und deutlicher als etwa in dem erkenntnistheoretischen, sich die Idee als eine Form
darstellt, die in dem menschlichen Bewusstsein bereits irgendwie anwesend ist, die aber
wiedererlangt werden soll, da sie sich in einem Zustand der Verblendung befindet, der mit
dem historischen Zeitalter, das Benjamin „Moderne“ nennt, verbunden ist. Schließlich werden
wir über das Thema der Erlösung, das wir in dem vorherigen Kapitel in Form der
125
„intellektuellen Methode“ und der Aufgabe des Philosophen betrachtet haben, hinausgehen.
Demzufolge werden wir forschen, in welcher Beziehung die „intellektuelle“ Erlösung mit der
eigentlichen Erlösung steht, und inwiefern sie deren Antizipation ist.
2.
Die Ethik und die Idee in den Studentenschriften (1914): Die Religion als neue
Moral
In diesem Abschnitt möchte ich eine kurze Skizze über die ethische Richtung der frühen
Schriften Benjamins vorstellen. Wir machen also einen Rückschritt hinsichtlich der Texte, die
wir bisher analysiert haben, und kehren in die Vorkriegszeit zurück, in der Benjamin (eben
zwischen 1910 und 1914) sich während der Jugendbewegung um Themen wie Ethik und Idee
kümmert - mit einer anderen Annährungsweise im Vergleich zu der der späteren Schriften.
Die Charakteristik der Veröffentlichungen Benjamins aus dieser Zeit – die meistens in der
Zeitschrift „Der Anfang“1 und in dem Briefwechseln mit den anderen Studenten und
Anhängern Wynekens2 erschienen – waren, wie Roberts zu Recht darauf aufmerksam macht3,
geprägt von einem grundlegenden Spiritualismus, der jede Art von traditioneller Autorität
zugunsten des Leitbildes des Geistes verleugnet: Indem er auf Kant zurückgreift, widersetzte
er sich den empirischen und im Voraus gebildeten Normen, die Reinheit einer Ethik, die auf
dem reinen Willen beruht4. Das Ziel Benjamins war, z.B. in dem Text Moralunterricht, die
Basis für eine moralische Erziehung der Jugend aufzubauen, deren Fixpunkte die Ideen der
Freiheit und der Unhabhängigkeit von den etablierten Autoritäten sein sollten. Der Benjamin
1
Zeitschrift der Gruppe Wynekens, für die Benjamin mehrere Male zwischen 1911 und 1916 publizierte (vgl.
II/3 825ff.) .
2
Gustav Wyneken gründete 1914 den radikalsten Flügel der Jugendbewegung in Wickersdorf mit dem Ziel der
Jugend „ein Leben zu bereiten, das sie sich selber mitschafft, und das ihrem Wesen darum gemäß ist, das sie
tätig mitwirken lässt an etwas, dem eine Bedeutung für die Kultur zukommt“ (GS II/3 829). „Soll die Schule
aber ihrem Ziele wirklich nachkommen und ein Geschlecht mit einer neuen auf die Kultur gerichteten Gesinnung
heranbilden, so wird sich nicht begnügen dürfen, bloße Unterrichtsanstalt für bestimmte Lehrfächer zu sein. Sie
muss vielmehr das ganze Leben der Jugend zu organisieren suchen, und dabei die Jugend selbst in weitererstem
Maße bei der Gestaltung dieses Lebens zur Mitarbeit heranziehen, so erweitert sich von selbst die Idee der
Lernschule zu der der Erziehungsgestalt“ (GS II/3 828). Die Hauptbegriffe der Bewegung Wynekens waren: die
Autonomie – „sich selbst die Grenzen geben heißt, sie nicht von anderen gegen seinem Wille aufgezwungen
bekommen, es heißt aber auch, nicht blinder Selbstentscheidung, nicht Selbstherrlichkeit ist der Sinn“ – (ibidem
829), die Freiheit – sie „ist nicht die Erlaubnis, alles und jedes zu tun oder zu lassen, sondern die Sicherheit,
ungehindert seine Aufgabe erfüllen zu können. Die Freiheit führt also nicht zur Grenzenlosigkeit, sondern zu
einer durch Gesetze wohl bestimmten Ordnung“. Wyneken musste Wickersdorf am 1. April 1910 verlassen. Er
begann daraufhin mit einer regen Vortragstätigkeit vor interessierten Gremien verschiedenen Art, besonderes vor
studentischen Gruppen, in der er die Wickersdorf Ideen propagierte. In diesen Jahren dürfte sich auch der
persönliche Kontakt Benjamins mit Wyneken wieder intensiviert haben (GS II/3 829ff.).
3
Vgl. JULIAN ROBERTS, Walter Benjamin, London 1982, S.26ff. S.38.
4
Vgl. GS II/1 49ff.
126
aus dieser Zeit – wie wir bereits bei der Analyse der Erkenntnistheorie der Programmschrift
gesehen haben – appelliert an die Religiosität als Grundlage für eine neue moralische
Erziehung:
„Während sich heute allerorts die Stimme mehren, die Sittlichkeit und
Religion für prinzipiell unabhängig voneinander halten, scheint es uns, dass
erst in der Religion, und nur in der Religion der reine Wille seinen Inhalt
findet. Der Alltag einer sittlichen Gemeinschaft ist religiös geprägt“.5
Das Thema der Religiosität als Quelle der Ethik ist in Die religiöse Stellung der neuen Jugend
aus dem Jahr 1913 wiederzufinden. Dennoch entspricht der Begriff der „Religion“ für den
Benjamin dieser Jahre – wie bereits in dem ersten Kapitel gesagt – keiner offenbarten
Religion, sondern zeigt vielmehr eine rituelle und sakrale Haltung für das Leben. Diese
Haltung, welche die Jugend jener Zeit als ungemein wichtig für die Erziehung schätzte,
konnte aber keine Entsprechung in der zeitgenössischen Gesellschaft finden. Die Religion war
also die Quelle der moralischen Werte, und gerade deshalb war sie imstande, die Jugend vor
die ethische Wahl zu stellen, gerade in einem Wertekrisemoment, der das Verschwinden
(bzw. die Verblendung) des Objektes der Wahl implizierte. In Grunde genommen hat die
Religion „die noch nicht ist“6 bei Benjamin die Rolle des „Entweder-Oder“ von Kierkegaard
und stellt für die jungen Studenten vor dem Krieg die Möglichkeit dar, den verschwundenen
Idealen – welche von den autoritären Begriffen des „verboten“ und „erlaubt“ ersetzt wurden –
einen Sinn wiederzugeben. Noch ein kierkegaardsches Element aus diesen Jahren ist der
Begriff der „Einsamkeit“ des Menschen vor der Idee7. Hierfür lässt Roberts anmerken, dass
der Terminus „Gemeinschaft“ häufig von Benjamin verwendet wird, um weniger das
Zusammensein als eine Form der spirituellen und simultanen Isolierung8 zu meinen. So
schreibt Roberts:
„Benjamin’s ethical pathos – this he derived from Kierkegaard – demanded
that each individual feel the whole weight of personal responsibility for him
or her self. An individual’s highest ethical attainment was the experience of
being alone with the absolute. Thus, community and loneliness were joined
at the highest moment of ethical experience.“9
5
GS II/1 50.
GS II/1 73.
7
Vgl. Brief an Carla Seligson von 17.XI.1913 (GB I 181). In dem Brief spricht Benjamin auch über die
„Notwendigkeit der Idee“ (ibidem).
8
JULIAN ROBERTS, op. cit. S. 28
9
JULIAN ROBERTS, op. cit., S. 28.
6
127
Dennoch endet mit Ausbruch des ersten Weltkriegs das jugendliche pathos Benjamin, der den
Geist und die Idee gegenüber den Schwierigkeiten der zeitgenössischen Gesellschaft – welche
überhaupt nicht imstande ist, diese ethische und spirituelle Einsamkeit wiederzuerschaffen –
ermahnte. Dieser entscheidende Moment brachte Benjamin dazu, die Jugendbewegung und
die dazugehörigen Figuren aufzugeben. Dies trägt dazu bei, die ethischen Perspektive
Benjamins zu ändern. Es handelte sich in der Tat um eine theoretische Kehre, – auf welche
verschiedenen Faktoren und sicherlich nicht als zuletzt die persönlichen Erfahrungen
einwirkten – die, meiner Meinung nach, die neue Perspektive verständlich macht. Diese ist
gekennzeichnet von einer progressiven Entfernung des Phänomens von der Idee, die man aus
den Schriften Benjamins herauslesen kann.
3.
Die Hoffnung und die Ethik: Goethes Wahlverwandtschaften
Machen wir nun einen Schritt weiter in den Jahren. Obwohl Benjamin nicht mehr direkt über
Ethik schrieb, taucht aber zwischen den Zeilen des Essays Goethes Wahlverwandtschaften
eine neue Perspektive auf, die zweifellos als „moralisch“ bezeichnet werden kann. Wir
versuchen nun sie in der Analyse dieses Textes zutage zu bringen und das zu begreifen, was
sich in der ethischen Konzeption Benjamins verändert und wie sie entwickelt wird. Meine
Ausgangshypothese ist, dass die Begriffe der „Versöhnung“ und der „Erlösung“ die
Schlüsselbegriffe zum Begreifen des ethischen Denkens Benjamins vom Jahr 1925 (in dem
das Essay über Goethe herausgegeben wird) an sind. In den folgenden Abschnitten werden
wir uns mit diesen Begriffen beschäftigen, indem wir hervorheben, dass sie mit dem Begriff
der „Hoffnung“ verbunden sind. Benjamin spricht nämlich niemals bloß von „Versöhnung“
oder von „Erlösung“, sondern von „Hoffnung auf Versöhnung“ und von „Hoffnung auf
Erlösung“. Der Terminus „Hoffnung“ verweist auf die Idealität, als Spannung zur Idee
verstanden (und die wir bisher aus theoretischen Gesichtspunkten erforscht haben). Es ist also
bedeutsam, dass Benjamin niemals von „Versöhnung“ oder von „Erlösung“ spricht, weshalb
„Hoffnung auf Versöhnung“ und „Hoffnung auf Erlösung“ auf die idealistische Spannung zu
zweierlei Ideen verweisen. Wie Adorno bemerkt, ist das Thema der Hoffnung auch der
Mittelpunkt der Briefsammlung10 Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen11, die
10
Die Briefsammlung schließt Briefe verschiedener Autoren mit ein. Sie enthält sowohl berühmte Briefe, von
Philosophen, Mathematikern, Dichtern geschrieben, als auch unbekannte Briefe, von gewöhnlichen Menschen
128
Benjamin im Jahr 1936 in der Schweiz unter dem Pseudonym „Detlef Holz“ herausgegeben
hat. Insbesondere der Brief von Samuel Collenbusch an Immanuel Kant12 ist interessant.
Adorno schreibt dazu:
„Die Briefe sind allesamt asketisch, sei’s in der Haltung, sei’s im Verhältnis
zum Ideal [...]. Mit keinem Wort verrät der zu dem Brief Collenbuschs, der
ihm der liebste war, welches Pathos bei Benjamins das Wort Hoffnung
besaß, um das jener Brief zentriert ist wie Benjamins Interpretation der
Wahlverwandtschaften“.13
3.1
Der Mythos (d.h. das natürliche Leben) und der ethische Kampf gegen den
Mythos
Benjamin beginnt den Essay Goethes Wahlverwandtschaften mit einem methodologischen
Hinweis auf die Aufgabe des Kritikers, die zum Begreifen der moralischen Bedeutung des
Textes sehr wichtig ist. Der Kritiker, schreibt Benjamin, kann mit dem Paläographen
verglichen werden:
„Man darf ihn mit dem Paläographen vor einem Pergamente vergleichen,
dessen verblichener Text überdeckt wird von den Zügen einer kräftigern
Schrift, die auf ihn sich bezieht. Wie der Paläograph mit dem Lesen der
letztern beginnen müsste, so der Kritiker mit dem Kommentieren [...]. Nun
erst kann er die kritische Grundfrage stellen, ob der Schein des
Wahrheitsgehaltes dem Sachgehalt oder das Leben des Sachgehaltes dem
Wahrheitsgehalt zu verdanken sei [...]. Will man, um eines Gleichnisses
verfasst. Adorno schreibt nämlich: „Die Briefschreiber erscheinen in dem Band als Sozialcharaktere, nicht als
individuelle“ (TH. W. ADORNO, Über Walter Benjamin, op.cit. S.55.). Benjamin gibt solche Briefe heraus und
schickt jedem von ihnen ein Vorwort voran. Die Arbeit Benjamins besteht also nur in der Auswahl der Briefe.
11
Ein Teil der in Deutsche Menschen enthalten Briefe, zusammen mit den Vorworten, erschien bereits in den
Jahren 1931-1932 in der „Frankfurter Zeitung“. Benjamin musste ein Pseudonym verwenden, weil der Charakter
der Vorworte als eine Polemik gegen das nationalsozialistische Regime anklang, das, laut Benjamin, die Ursache
der Degenerierung des wahren deutschen Geistes war. Das Epigraph des Buchs lautet nämlich so: „Von Ehre
ohne Ruhm / Von Größe ohne Glanz / von Würde ohne Sold“ (GS IV/1 150).
12
So lautet der Brief: „Die Hoffnung erfreut das Herz. Ich verkaufe meine Hoffnung nicht für tausend Tonnen
Goldes. Mein Glaube hofft erstaunlich viel Gutes von Gott. Ich bin ein alter, siebzigjähriger Mann, ich bin
beinahe blind, als Arzt urteile ich, dass in kurzer Zeit völlig blind sein werde. Ich bin auch nicht reich, aber
meine Hoffnung ist so groß, dass ich mit keinem Kaiser tauschen mag. Diese Hoffnung erfreut mein Herz!“ (GS
IV/1 163ff.).
13
TH. W ADORNO, Zu Benjamins Briefbuch Deutsche Menschen (1962) in Über Walter Benjamin, op.cit. S.57ff.
129
willen, das wachsende Werk als den flammenden Scheiterhaufen ansehen,
so steht davor der Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleich dem
Alchimisten. Wo jenem Holz und Asche allein nur die Gegenstände seiner
Analyse bleiben. Bewahrt für diesen nur die Flamme selbst ein Rätsel: das
des Lebendigen. So fragt der Kritiker nach der Wahrheit, deren lebendige
Flamme fortbrennt über den schweren Scheitern des Gewesenen und der
leichten Asche des Erlebten“.14
Zuerst macht Benjamin eine Unterscheidung zwischen der Kritik und dem Kommentar.
Während letzterer die Oberfläche des Werks betrachtet, gräbt die Kritik in seine Tiefe.
Zweitens hat das Kunstwerk zwei Inhalte, bzw. zwei Bedeutungsebenen: der Sachgehalt und
der Wahrheitsgehalt. Laut Benjamin ist das Verhältnis der beiden ein grundsätzliches Gesetz
der Literatur:
„Der Wahrheitsgehalt eines Werkes, je bedeutender es ist, desto
unscheinbarer und inniger an seinen Sachgehalt gebunden ist [...]. Damit
aber tritt der Erscheinung nach Sachgehalt und Wahrheitsgehalt, in der
Frühzeit des Werkes geeint, auseinander mit deiner Dauer, weil der letzte
immer gleich verborgen sich hält, wenn der erste hervordringt“.15
Bei Benjamin ist also der Wahrheitsgehalt die wahre Bedeutung des Sachgehaltes des
Werkes16 und seine Elemente, die sofort dem Publikum deutlich werden, haben einen tieferen
Sinn, etwa ein Geheimnis, das von der Kritik gesucht und zutage gebracht werden soll.
Anfänglich bezieht sich die Unterscheidung Benjamins auf den Kommentar und auf die
Kritik, nach wenigen Zeilen erscheint die Unterscheidung allgemeiner. So schreibt er
nämlich:
„Dem Dichter wie dem Publikum seiner Zeit wird sich nicht zwar das
Dasein, wohl aber die Bedeutung der Realien im Werke zumeist verbergen.
Weil aber nur von ihrem Grunde das Ewige des Werkes sich abhebt,
umfasst jede zeitgenössische Kritik, so hoch sie auch stehen mag, in ihm
mehr die bewegende als die ruhende Wahrheit, mehr das zeitliche Wirken
als das ewige Sein“.17
Was meint nun Benjamin mit „Ewige des Werkes“ oder „Wahrheitsgehalt“? Warum gelingt
es der zeitgenössischen Kritik nicht es zu begreifen? Benjamin bestimmt einen Parallelismus
14
GS I/1 125f.
GS I/1 125.
16
Vgl. GS I/1 126.
17
Ibidem.
15
130
zwischen dem Leben des Autors und dessen Werk. Beide besitzen einen Wahrheitsgehalt und
einen Sachgehalt. Letzterer – der dem Publikum und der zeitgenössischen Kritik deutlich
anzusehen ist – wird, bezüglich des Werkes, von dem, was in ihm dargestellt ist, und durch
das Leben eines Autors, von seinen Aktionen, in denen sich das Leben manifestiert,
determiniert. So schreibt Benjamin:
„Vom Wesen des Verfassers zunächst wird nach dessen Totalität, seiner
‚Natur’, jede Erkenntnis durch die vernachlässigte Deutung der Werke
vereitelt. Denn ist auch diese nicht imstande, von dem Wesen eine letzte
und vollkommene Anschauung zu geben, welche aus Gründen sogar stets
undenkbar ist, so bleibt, wo von dem Werke abgesehen wird, das Wesen
vollends unergründlich. Aber auch die Einsicht in das Leben des
Schaffenden verschließt sich der herkömmlichen Methode der Biographik.
Klarheit über das theoretische Verhältnis von Wesen und Werk ist die
Grundbedingung jeder Anschauung von seinem Leben“.18
Um das Leben eines Autors zu verstehen, ist es notwendig seine Werke zu verstehen19,
dennoch gilt auch das Ungekehrte: zum Begreifen der Werke muss man mit dem Leben des
Autors beginnen. Das, was Benjamin meint, ist, dass nur eine Lektüre, die von einem
Überblick anfängt, sowohl das Leben eines Autors als auch sein Werk durchdringen kann.
Diese Operation ist aber der beim Werk zeitgenössischen Kritik unmöglich, weil sie
notwendigerweise eine begrenzte Perspektive hat. Mit anderen Worten, der Blick eines nicht
zeitgenössischen Kritikers muss sich zur Vergangenheit wenden, indem er in ihr den
Wahrheitsgehalt erblickt. Dies bedeutet, dass die kritische Perspektive notwendigerweise ein
Rückblick sein muss. Zweitens darf diese Perspektive nicht partiell sein: nur indem man sich
als Ideal die Analyse aller Werke eines Autors stellt, kann man sowohl ihre Bedeutung als
auch die Funktion begreifen, welche die Werke auf das Leben eines Autors haben. Laut
Benjamin muss man also zum Begreifen der Bedeutung von Goethes Wahlverwandtschaften
mit einer Analyse von Goethes Leben anfangen, dessen wahrer Sinn der Methode der
traditionellen Analyse entgangen ist. Der Sachgehalt der späteren goethischen Werke und
insbesondere von Wahlverwandtschaften stellt für Benjamin den Kampf dar, den Goethe in
seinem Alter ausgetragen hat, um aus der Welt des Mythos herauszukommen. Die Bedeutung
dieses Kampfes ist moralisch. Benjamin schreibt:
18
19
GS I/1 156.
Diese Aufgabe fällt der Kritik und nicht der traditionellen biographischen Methode zu.
131
„Es ist in ihm ein Ringen um die Lösung aus deren [der Mythischen Welt]
Umklammerung und dieses Ringen nicht weniger als das Wesen jener Welt
ist in dem Goetheschen Romane bezeugt. In der ungeheuern
Grunderfahrung von den mythischen Mächten, dass Versöhnung mit ihnen
nicht zu gewinnen sei, es sei denn durch die Stetigkeit des Opfers, hat sich
Goethe gegen dieselben aufgeworfen. War es ständig erneuerte, in innerer
Verzagtheit, doch mit eisernem Willen unternommene Versuch seines
Mannesalters, jenen mythischen Ordnungen überall da sich zu untergeben,
wo sie noch herrschen, ja an seinem Teil ihre Herrschaft zu festigen, wie nur
immer ein Dichter der Machthaber dies tut, so brach nach der letzteren und
schwersten Unterwerfung, zu der er sich vermochte, nach der Kapitulation
in seinem mehr als dreißigjährigen Kampfe gegen die Ehe, die ihm als
Sinnbild mythischer Verhaftung drohend schien, dieser Versuch zusammen
und ein Jahr nach seiner Eheschließung [...] begann er die
Wahlverwandtschaften, mit welchen er den ständig mächtiger in seinem
spätern Werk entfalteten Protest gegen jene Welt einlegte, mit der sein
Mannesalter den Pakt geschlossen hatte. Die Wahlverwandtschaften sind in
diesem Werk eine Wende“.20
Das Leben Goethes war, laut der Interpretation Benjamins, immer in der Gewalt der
mythischen Mächte. Hinweis dafür ist vor allem der goethische Begriff der „Natur“21: Sie „ist
für Goethe nur das Chaos der Symbole“22. Eben in diesem Chaos mündet letztendlich das
Leben des Mythos, „welches ohne Herrscher oder Grenzen sich selbst als die einzige Macht
im Bereiche des Seienden einsetzt“23. Benjamin erkennt in seinem Essay Goethes
Wahlverwandtschaften einige auf den Mythos zurückführbare Einstellungen Goethes. Zuerst
ist eine der typischen Wesenzüge des Mythos die Angst vor dem Tode, der „die gestaltlose
Panarchie des natürlichen Lebens […], die den Bannkreis des Mythos bildet”24, bedroht. Die
Unruhe hinsichtlich des Todes war nämlich eine Charakteristik Goethes: „es ist bekannt, dass
bei ihm [Goethe] niemand je von Todesfällen reden durfte, weniger bekannt, dass er niemals
ans Sterbebett seiner Frau getreten ist”25. Darüber hinaus ist die Angst vor dem Leben auch
20
GS I/1 164f.
Laut Benjamin kann man Goethe eine eigentliche Idolatrie der Natur zuschreiben. Ein Ausdruck der
mythischen Konzeption der Natur ist der Begriff des „Dämonischen“. So schreibt Benjamin, indem er ein
Fragment des autobiographischen Werkes Goethes Dichtung und Wahrheit: “Man hat im Verlaufe dieses
bibliographischen Vortrags umständlich gesehen, wie das Kind, der Knabe, der Jüngling sich auf verschiedenen
Wegen dem Übersinnlichen zu nähern gesucht [...]. Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der
beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter
keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefasst werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien
unvernünftig; nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand; nicht teuflisch, denn es war wohltätig; nicht
englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge; es ähnelte der
Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang [...]. Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten,
sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch“ (W.A. GOETHE, Dichtung und Wahrheit, in GS
I/1 149f.).
22
GS I/1 148.
23
GS I/1 149.
24
GS I/1 151.
25
Ibidem
21
132
typisch für den Mythos: „die Angst vor seiner Macht und Breite aus dem Sinnen, die Angst
vor seiner Flucht aus dem Unfassen“26.
Noch ein mythischer Aspekt, der sich in der
Persönlichkeit Goethes manifestiert, war laut Benjamin seine Besessenheit, versteckte
Bedeutungen, welche die Gegenstände manchmal offenbaren27, zu suchen. Der Mensch, der
sich auf das Chaos der Symbole versteift, verliert die Freiheit und die Autonomie der
Aktionen, weil sie von Zeichen, Orakeln und Zusammenfällen bestimmt werden. Dies führt
uns schließlich zur mythischen Angst vor der Verantwortung. Bei Goethe offenbart sich dies
in dem Versuch, der Entscheidung entgegenzutreten, indem er an den Zwang des Schicksals
und der Natur appelliert. Benjamin schreibt, dass die Angst vor der Verantwortung, „die
geistigste unter allen, denen Goethe durch sein Wesen verhaftet war”28, war.
Laut Benjamins Interpretation war Goethe also eine entschieden abergläubische
Person. Sein Verhältnis zum Schicksal und zu den natürlichen Korrespondenzen war von der
Angst beherrscht. Die komplexe Symboltheorie Goethes, seine Hinweise auf die dämonischen
und astrologischen Faktoren und sein Bestehen darauf, alles bedeutsam zu schätzten, waren
bloße Beispiele der Offenbarung der mythischen Angst. Benjamin liest den Roman Goethes
Wahlverwandtschaften als die persönliche Darstellung des Versuchs des Autors, dem Mythos
zu entkommen. Deshalb muss in den Wahlverwandtschaften “wie dunkel darin der Mythos
auch walte, eine reinere Verheißung sichtbar sein”29,
d.h. der Kampf
zur Rettung.
Schließlich ist der Text Wahlverwandtschaften kein mythisches Werk, wie es gewöhnlich
interpretiert wurde30. Man muss in ihm, als seinen Wahrheitsgehalt, die praktische – im Sinne
von moralische – Absicht seines Autors erkennen.
3.2
Die Versöhnung aus dem Mythos
Inwiefern inszeniert Goethes Wahlverwandtschaften den moralischen Kampf des Autors
gegen den Mythos? Was ist außerdem der „Mythos“? Der Titel Wahlverwandtschaften enthält
laut Benjamin eine Zweideutigkeit. Der Terminus „Verwandtschaften“ verweist auf die
26
GS I/1 152.
Benjamin zitiert einen Brief von Goethe an Schiller, in dem die Aufmerksamkeit der ersten für alles, das
bedeutsam und symbolisch war, auftaucht (vgl. GSI/1 154).
28
GS I/1 154.
29
GS I/1 167.
30
Ibidem.
27
133
Mächte, in deren Gewalt die Gestalten des Romans sind. Durch diese Macht, die ein
natürlicher Impuls, und deshalb mythischer ist, führen sie ihre Aktionen aus und handeln.
Dennoch verweist der Terminus „Wahl“ auf die Möglichkeit einer Wahl. Die Zweideutigkeit
des Titels besteht in der Tatsache, dass denjenigen, die vom Mythos beherrscht sind,
tatsächlich die Möglichkeit der wahren Wahl entzogen wird: diese impliziert nämlich die
Freiheit. Der Mythos kennt die Wahl nur als natürliche Wahl, weshalb es da, wo das
Schicksal herrscht, keinen Platzt für die Wahl und die Autonomie gibt31.
Laut der Interpretation Benjamins über die Wahlverwandtschaften Goethes besteht
einen Nexus zwischen Schicksal, Natur und Mythos. In diesem Nexus ist die von Goethe
beschriebene Welt des Romans eingetaucht32. In den Wahlverwandtschaften wird die
mythische Welt durch den juridischen Bund der Ehe inszeniert. Benjamin schreibt: „die Ehe
im Geschehen nicht die Mitte ist, sondern der Mittel“33. Durch die Darstellung der Auflösung
der Ehe ist es möglich, die mythische Mächte auftauchen zu lassen, auf denen ein solcher
Bund beruht. Der mythische natürliche Zustand impliziert nämlich notwendigerweise die
Strafe, falls seine Gesetzte übertreten werden (wie im Fall der Ehe in den
Wahlverwandtschaften.) Bereits in der Schrift Zur Kritik der Gewalt34 aus dem Jahr 1918
unterscheidet Benjamin den Begriff des „Rechts“ von dem der „Gerechtigkeit“. Das Recht,
d.h. das Gesetz, beruht auf die Gewalt. Diese ist blind, weil sie pedantisch, oft gegenüber der
Einzelperson und dazu mit Personenschaden, angewendet wird. Das Recht monopolisiert die
Gewalt, mit der es die Bürger unterordnet: sein einziges Ziel ist sich selbst zu wahren und
nicht die juristischen Zwecke der Person (Gewalt heißt nämlich auch Autorität, Macht).
Dieser Gewalt so wie dem Recht, das sie gründet, setzt Benjamin die Gerechtigkeit entgegen.
Die Gerechtigkeit ist die reine unmittelbare Gewalt, d.h. die entsühnende göttliche Macht. Die
mythische Gewalt ist „blutig“ und ihre Domäne ist die Natur, denn „das Blut ist das Symbol
des bloßen Lebens“35. Dagegen setzt sich die göttliche Gewalt über das bloße natürliche
Leben und aus ihm hebt sie den Menschen empor. Die Alternative zwischen Mythos und
Gerechtigkeit darf also als Alternative zwischen „bloßem Leben“ und der moralischen und
reinen Welt der Idee gelesen werden. Es ist interessant zu bemerken, dass der Begriff des
„bloßen Lebens“ auch in der Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels36 - wie bereits
gesehen – hinsichtlich der Geschichte erscheint: die „natürliche“ Geschichte soll durch die
31
Hierfür ist die von Benjamin am Anfang des Essays eingesetzte Epigraphe interessant. Es ist ein Vers
Klopstocks, der lautet: „Wer blind wählet, dem schlägt Opferdampf/ In die Augen“ GS I/1 125.
32
Benjamin schreibt nämlich, dass die Gestalten des Romans “völlig der Natur verhaftet sind” (GS I/1 133).
33
GS I/1 189.
34
GS II /1 179ff.
35
GS II/1 199.
36
Vgl. GS I/1 227. An dieser Stelle spricht Benjamin von „natürlichem Leben“.
134
Ideen gerettet werden. Dies bedeutet: jedes Phänomen, wenn es getrennt von der Idee
betrachtet wird, ist nur bloßes natürliches Leben, d.h. reiner Schein. Indem dieser auf die Idee
zurückgeführt wird, erwirbt er seinen Wert. Also: bloßes Leben oder natürliches Leben
bedeutet bei Benjamin reiner Schein und reine Phänomenalität. Wie wir aber in der
theoretischen Analyse des Verhältnisses Phänomen-Idee festgestellt haben, existiert nicht
allein die Idee an sich, von dem Phänomen getrennt; ebenso existiert kein Phänomen an sich,
von der Idee getrennt: das Phänomen ist bloßes Leben und Natur, indem es seinen Ursprung
in der Idee nicht erkennt. Der Mythos ist bei Benjamin eben dieser Zustand: das Phänomen
„verliert die Idee aus den Augen“, als seinen Wahrheitsgehalt, und diese bleibt „verblendet“
zwar anwesend, aber wie ein Schatten und ein fernes Echo.
Kehren wir nun zu Goethes Wahlverwandtschaften zurück. An dieser Stelle ist es
notwendig etwas zu präzisieren. Der Verfall der Ehe kann, meiner Meinung nach, nicht als
unmoralisch beurteilt werden. So will er nämlich nicht sein. Die Ehe – insoweit sie Mythos ist
– ist antithetisch zur Moral, die bei Benjamin die reine Welt der Idee ist. Der Mythos ist
amoralisch. Beurteilt man als unmoralisch die absichtliche Übertretung bestimmter
Verhältnisprinzipien, deren Existenz man sich aber bewusst ist, ist dagegen amoralisch der
Verblendungszustand dieser Prinzipien. Mit anderen Worten die Welt des Mythos ist
amoralisch, denn in ihr können die Ideen und die ethische Prinzipien nicht im Bewusstsein
des Menschen anwesend sein. Demzufolge, wenn man nicht absichtlich solche Prinzipien
übertreten kann, weil sie dem Menschen weder deutlich bewusst noch manifest sind, dann
kann der Mythos nicht als unmoralisch bezeichnet werden. Wird die Moralität durch die
Anpassung des Bewusstseins an die ethischen Prinzipien erworben, dann ist es notwendig, die
Anwesenheit dieser Prinzipien selbst wiederzuerlangen, um von dem Zustand der Amoralität
zu dem, der die Moralität ermöglicht, zu kommen. Nun wird es nötig, die folgenden Fragen zu
stellen: 1) ist eine Ethik in dem Mythos möglich? 2) welches ist das Verhältnis zwischen dem
Mythos und der Moderne, welcher wir in den vorherigen Abschnitten begegnet sind, als
Ausdruck der Zeit der Technik?
In Benjamins Interpretation des goethischen Romans ist die kurze Novelle, die Die
wunderlichen Nachbarskinder betitelt ist zentral. So schreibt Benjamin:
„Darf als unumstößlich gewiss betrachtet werden, dass im Bau der
Wahlverwandtschaften dieser Novelle eine beherrschende Bedeutung
zukommt. Wenn auch erst in dem vollen Licht der Haupterzählung all ihre
Einzelheiten sich erschließen [...]: den mythischen Motiven des Romans
entsprechen jene der Novelle als Motive der Erlösung. Also darf, wenn im
135
Roman das Mythische als Thesis angesprochen wird, in der Novelle die
Antithesis gesehen werden“.37
Benjamin kommentiert, dass in dem Titel der Novelle Goethes38 der Terminus „wunderlich“
darauf hinweist, wie die in ihr beschriebene Welt den Gestalten des Romans fremd und
unbekannt erscheint. Für sie sollte die Novelle als Beispiel dienen. Sie inszeniert das
Geschehen von zwei Liebenden, die eine Versöhnung und eine Aussöhnung erreichen. Die
Versöhnung bezieht sich auf die Versöhnung mit Gott, während die Aussöhnung die
Aussöhnung mit der Gesellschaft ist, in der sie leben. Versuchen wir nun die Bedeutung der
Novelle zu begreifen. Zuerst erscheint die Novelle ganz von dem Rest des Werkes getrennt zu
sein. Die Gestalten des Romans sind den mythischen Mächten des Schicksals unterworfen,
während die der Novelle dagegen frei sind. Die Freiheit und die Wahl sind also, laut
Benjamin, die Elemente, welche die Welt der Novelle von der Welt des Romans, und zwar
die ethische Welt der Idee von der Welt des Mythos, unterscheiden. Laut der Interpretation
Benjamins setzen die Gestalten der Novelle ihr Leben aufs Spiel, um die wahre Versöhnung
zu gewinnen - die sie letztendlich bekommen und mit ihr auch den Frieden - in der ihr
sentimentaler Bund – der aber nicht Ehe ist – auf die Dauer bestimmt ist. So schreibt
Benjamin:
„Weil nämlich wahre Versöhnung mit Gott keinem gelingt, der nicht in ihr
[...] alles vernichtet, um erst vor Gottes versöhntem Antlitz es wieder
erstanden zu finden, darum bezeichnet ein todesmutiger Sprung jenen
Augenblick, da sie – ein jeder ganz für sich allein vor Gott – um der
Versöhnung willen sich einsetzen. Und in solcher Versöhnungsbereitschaft
erst ausgesöhnt gewinnen sie sich. Denn die Versöhnung, die ganz
überweltlich und kaum fürs Kunstwerk gegenständlich ist, hat in der
Aussöhnung der Mitmenschen ihre weltliche Spiegelung“.39
Die in der Novelle dargestellte wahre Versöhnung ist antithetisch zu dem Schein der
Versöhnung, nämlich der Schönheit, die der Roman seinen Gestalten verspricht. So schreibt
Benjamin weiter:
37
GS I/1 171.
Ibidem.
39
GS I/1 184.
38
136
“Während Liebe die Versöhnten geleitet, bleibt als Schein der Versöhnung
nur die Schönheit bei den andern zurück”.40
Was bedeutet diese Unterscheidung? Zunächst verweist die Schönheit, d.h. der Schein der
Versöhnung vom Mythos, auf die Theorie des Schönen hin, die wir zuvor analysiert haben.
Das Schöne, d.h. der reine Schein und das Phänomen getrennt von der Idee, ist der Schein der
Versöhnung des Mythos. Der Terminus „Schein“, in der Unterscheidung zwischen „Schein
der Versöhnung“ und „wahre Versöhnung“, hat eine wichtige Bedeutung. Diesem Terminus
sind wir bereits in seiner theoretischen Bedeutung begegnet, als wir in der Vorrede zu
Ursprung des deutschen Trauerspiels das Verhältnis Idee-Phänomen analysiert haben: Schein
bedeutet nicht „scheinbar“ im Sinne von „falsch“, sondern im Sinne von „verblendet“. Das
Phänomen ist reiner Schein, wenn es nicht seine Beziehung mit der Idee erkennt. Demzufolge
ist die mythische Welt „Schein“, weshalb sie sich von der Idee entfernt und zur bloßen
Phänomenalität wird. Erforschen wir nun die Beziehung Idee-Phänomen, indem wir das
Phänomen, d.h. den Schein, in seiner ethischen Valenz betrachten. Hierfür muss zunächst die
Figur Ottilies analysiert werden, die laut Benjamin den Lesenschlüssel des Romans Goethes
enthält.
Das, was die Figur Ottilies kennzeichnet, ist zunächst die Schönheit, durch die Ottilie
den reinen Schein verkörpert und in dem Roman darstellt. Der reine Schein ist bei Benjamin
die reine Phänomenalität, in welcher keine Spur der Idee besteht. Dieses bedeutet, dass die
Menschheit, wenn sie den Sinn des Ethischen verliert, zum „bloßen Leben“41 wird und so
verliert sie auch ihren menschlichen Wert, indem sie der Natur und dem Schicksal unterliegt.
Dieses letztere wird von Benjamin als „Schuldzusammenhang von Lebendigen“42 bezeichnet.
In den vorherigen Kapiteln haben wir festgestellt, dass das Phänomen einen Wert erwirbt,
indem es auf die Idee bezogen wird. Dies bedeutet: die Anwesenheit der Idee in dem
Phänomen ermöglicht, diesem den reinen Schein, zu dem es als Phänomen verurteilt ist, zu
erhöhen und zu retten. Das selbe Prinzip gilt in der Moral: das Phänomen soll zur Idee erhöht
werden, um einen moralischen Sinn und Wert zu gewinnen. Es darf also nicht von
„menschlichem Leben“ die Rede sein, sondern von „natürlichen Leben“ schlechthin, wenn
der Menschheit die von der Idee gegeben ethische Bedeutung fehlt. D.h. die Person wird eine
solche, solange sie sich zur Idee der Menschheit und zu dem, was sie impliziert: d.h. die
Verantwortung und die Wahl, emporhebt.
40
GS I/1 185.
GS I/1 139. Außerdem schreibt Benjamin: „Mit dem Schwinden des übernatürlichen Lebens im Menschen
wird sein natürliches Schuld” (ibidem.)
42
GS I/1 138.
41
137
Der Mythos bringt die Strafe für die Übertretung seiner Gesetzten mit sich. Da Ottilie
die Ursache des Verfalls der Ehe (d.h. ein mythisches Gesetz) der beiden Hauptfiguren des
Romans, ist, ist der Tod die einzige Buße ihrer Schuld. Ottilies Tod, der von Goethe als
Selbstmord dargestellt wird, ist laut Benjamin nur anscheinend so, weil innerhalb eines
mythischen Kontextes weder von Wahl noch von Entscheidungen die Rede sein kann. So
schreibt Benjamin:
„Ihr [Ottilias] Entschluss zum Sterben bleibt nicht nur vor den Freunden bis
zuletzt geheim, er scheint in seiner völligen Verborgenheit auch für sie
selbst unfassbar sich zu bilden. Und dies rührt an die Wurzel seiner
Moralität [...]. Denn wenn irgendwo, so zeigt sich im Entschluss die
moralische Welt vom Sprachgeist erhellt. Kein sittlicher Entschluss kann
ohne sprachliche Gestalt, und streng genommen ohne darin Gegenstand der
Mitteilung geworden zu sein, ins Leben treten. Daher wird, in dem
vollkommenen Schweigen der Ottilie, die Moralität des Todeswillens,
welcher sie beseelt, fragwürdig. Ihm liegt in Wahrheit kein Entschluss
zugrunde sondern ein Trieb“.43
Laut Benjamin ist die mythische Welt ein bloßer Schein. Sie ist reiner Schein, da in ihr das
Verhältnis Phänomen-Idee verloren gegangen ist. Auf der ethischen Ebene ist der Mythos die
Abwesenheit von Verantwortung und Entscheidung, deren Allegorie die Stummheit von
Ottilie ist. So schreibt Benjamin weiter:
„Nicht so sehr darum ist das Dasein der Ottilie […] ein ungeheiligtes, weil
sie sich gegen eine Ehe, die zerfällt, vergangen hätte, als weil sie, im
Scheinen und im Werden schicksalhafter Gewalt bis zum Tod unterworfen,
entscheidungslos ihr Leben dahinlebt“.44
Bevor wir die Analyse von Goethes Wahlverwandtschaften weiterführen, sollten wir eine
Überlegung über die ethische Valenz des Namens und der Sprache hinzufügen. Wie zuvor
gesehen, betrachtet Benjamin die Sprache des Namens als eine menschliche Eigenschaft,
durch die der Mensch sich von der Natur (welche stumm ist) abhebt und sich Gott nähert. Wir
haben auch bezüglich der Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels festgestellt, dass
der Name – d.h. das reine Wesen, das von der Phänomenalität losgelöst ist – eine der
Bedeutungen der Idee ist. In Goethes Wahlverwandtschaften schreibt Benjamin hinsichtlich
der Gestalten des Romans:
43
44
GS I/1 176
Ibidem.
138
„Nicht natürlich sind diese Gestalten, denn Naturkinder sind […] Menschen.
Sie jedoch unterstehen auf der Höhe der Bildung den Kräften, welche jene
als bewältigt ausgibt, ob sie auch stets sich machtlos erweisen mag, sie
niederzuhalten. Für das Schickliche ließen sie ihnen Gefühl, für das Sittliche
haben sie es verloren. Nicht ein Urteil über ihr Handeln ist hier gemeint,
sondern eines über ihre Sprache. Denn fühlend, doch taub, sehend doch
stumm gehen sie ihren Weg. Taub gegen Gott und stumm gegen die Welt
[...]. Sie verstummen“.45
Erklären wir noch mal, dass sowohl die reine ethische Valenz der Sprache als auch die reine
theoretische und erkenntnistheoretische Valenz nicht der Sprache in ihrer bloßen
Kommunikativen Funktion, sondern der ursprünglichen Sprache, d.h. der Sprache, die aus
dem göttlichen Wort unmittelbar hervorkommt, angehören. Wie oben gesagt, entsteht mit
dem Verfall des Menschen der Anfang der Geschichte, die auch die Geschichte der Sprachen
ist. Entfernt sich die Sprache von der ursprünglichen Sprache – d.h. von der Idee – und
degeneriert zum bloßen Kommunikationsmittel, wird der extreme Fall dieser Degenerierung
von der Stummheit Ottilies und von der Unfähigkeit des Ausdrückens dargestellt. Anders
gesagt: befindet sich der Mensch (nach Adam) von Natur aus bereits in einem „Mythischen
Zustand“ der Trennung von der Idee, – deshalb wird die Sprache zum Kommunikationsmittel
–, dann ist eine weitere Degenerierung dieses „natürlichen“ Zustandes der Verlust des
Bewusstseins, dass die kommunikative Sprache (und damit jedes Phänomen) von der Idee
abstammt. Daraus kann man schließen, dass es „einen anderen“ Mythos gibt, welcher nicht
als Verfall des Menschen, der die Geschichte erschafft, verstanden werden muss. Sondern es
handelt sich um einen Verfall, der als historischer Zustand verstanden werden muss, in dem
der Mensch den Kontakt mit der Idee verliert. Dieser Zustand wird von Benjamin in den
Schriften nach dem Trauerspielbuch als „Moderne“ – d.h. säkularisierter Mythos –
bezeichnet. Wir haben gesehen, wie bei Benjamin mit der Sprache sowohl die Moral als auch
die Erkenntnisfähigkeit des Menschen verbunden sind. Von da her ist die Eigenschaft des
Menschen und sein Menschsein selbst mit der Sprache verbunden. In dem vorherigen Kapitel
haben wir festgestellt, dass der Erlösungsprozess der Sprache in einer unendlichen Bewegung
zu der Idee besteht. Wenn auch die Ethik mit der Sprache verbunden ist, sollten wir also
daraus schließen, dass auch das Streben des Menschen, sich moralisch zu entwickeln,
unendlich ist? In diesem Punkt erscheint wieder die Unterscheidung zwischen unmoralisch
und amoralisch. Wir können sagen, dass die Überwindung des amoralischen Zustandes des
45
GS I/1 134.
139
Mythos von dem Bewusstseinszustand erreicht wird, dass die menschliche Sprache – ebenso
wie jedes Phänomen – von der Idee herkommt, deren Manifestation sie ist. Dieser Übergang
wird in Goethes Wahlverwandtschaften durch die Figur Ottilies dargestellt. Sie verkörpert
nämlich die mythische Welt, die an ihre Grenzen gestoßen ist. Benjamin schreibt nämlich,
dass in dieser Gestalt „der Roman der mythischen Welt zu entwachsen“46 ist. Dennoch deutet
die Spitze des Mythos – d.h. seine Grenze – auf die „Hoffnung“ der Versöhnung und auf die
Möglichkeit einer Ethik hin. Sehen wir nun in welchem Sinn, in dem wir auf den Begriff
„Schönheit“ und ihr Verhältnis zur Wahrheit eingehen.
Ottilie, erklärt Benjamin, ist reine Schönheit und letztere ist bloßer Schein. Im
platonischen Phaedrus47 bringt die körperliche Schönheit das Gedächtnis desjenigen, der sie
beobachtet, zur Idee der ewigen Schönheit, während die Anwesenheit Ottilies diese
Erinnerung nicht erweckt. Die Schönheit Ottilies ist nämlich „das Erste und das
Wesentliche“48. Mit anderen Worten ist die Manifestation des Schönen der Wesengehalt
dieser Gestalt und das Zentrum des Romans selbst. So schreibt Benjamin:
„Denn es ist nicht zu viel gesagt, wenn man die Überzeugung von Ottiliens
Schönheit als Grundbedingung für den Anteil am Roman bezeichnet. Diese
Schönheit darf, solange seine Welt Bestand hat, nicht verschwinden“.49
Und er fährt fort:
“Denn der Schein ist in dieser Dichtung nicht sowohl dargestellt, als in ihrer
Darstellung selber. Darum allein kann er so viel bedeuten, darum allein
bedeutet sie so viel“.50
Außerdem beschreibt Benjamin in Goethes Wahlverwandtschaften den Begriff des Schönen:
„Alles wesentlich Schöne ist stets und wesenhaft aber in unendlich
verschiedenen Graden dem Schein verbunden. Ihre höchste Intensität
erreicht diese Verbindung im manifest Lebendigen und zwar gerade hier
deutlich polar in triumphierendem und verlöschendem Schein. Alles
Lebendige nämlich ist, je höher sein Leben geartet desto mehr, dem
Bereiche des wesentlich Schönen enthoben und in seiner Gestalt bekunden
46
GS I/1 173.
Die Stelle des Phaedrus wird von Benjamin in GS I/1 178 eingefügt.
48
GS I/1 178.
49
GS I/1 178f.
50
GS I/1 187.
47
140
demnach dieses wesentlich Schöne sich am meisten als Schein. Schönes
Leben, Wesentlich-Schöne und scheinhafte Schönheit, diese drei sind
identisch“.51
Der Schein schöpft nicht das Wesen des Schönen aus, das laut Benjamin in einer Beziehung
mit der Antithese des Scheins selbst - d.h. mit dem, was er als das „Ausdrucklose“ bezeichnet
- notwendig ist:
„Zum Schein nämlich steht das Ausdrucklose, wiewohl im Gegensatz, doch
in derart notwendigem Verhältnis, dass eben das Schöne, ob auch selber
nicht Schein, aufhört ein wesentlich Schönes zu sein, wenn der Schein von
ihm schwindet. Denn dieser gehört ihm zu als die Hülle und als das
Wesengesetz der Schönheit zeigt sich somit, dass sie als solche nur im
Verhüllten erscheint. Nicht also ist, wie banale Philosopheme lehren, die
Schönheit selbst Schein“.52
Benjamin macht hier einen weiteren Schritt: wenn er nämlich anfangs die Schönheit als
Schein bezeichnet hat, sagt er jetzt, dass dieser nicht ihr einziger Inhalt ist. Das Schöne hat
nämlich immer eine innere Beziehung mit dem Ausdruckslosen. Oder besser gesagt, das
Schöne ist durch der dialektischen Union beiden zwei Elemente, dem Schein und dem
Ausdruckslose gegeben. So schreibt Benjamin weiter:
„Nicht Schein, nicht Hülle für ein anderes ist die Schönheit. Sie selbst ist
nicht Erscheinung, sondern durchaus Wesen, ein solches freilich, welches
wesenhaft sich selbst gleich nur unter der Verhüllung bleibt. [...] Der schöne
Schein ist die Hülle vor dem notwendig Verhülltesten. Denn weder die
Hülle noch der verhüllte Gegenstand ist das Schöne, sondern dies ist der
Gegenstand in seiner Hülle. Enthüllt aber würde er unendlich unscheinbar
sich erweisen. Hier gründet die uralte Anschauung, dass in der Enthüllung
das Verhüllte sich verwandelt, dass es ‚sich selbst gleich’ nur unter der
Verhüllung bleibend wird. [...] Weil nur das Schöne und außer ihm nichts
verhüllend und verhüllt wesentlich zu sein vermag, liegt im Geheimnis der
göttliche Seingrund der Schönheit. So ist denn der Schein in ihr eben dies:
nicht die überflüssige Verhüllung der Dinge an sich, sondern die
notwendige von Dingen für uns. Göttlich notwendig ist solche Verhüllung
zu Zeiten, wie denn göttlich bedingt ist, dass, zur Urzeit enthüllt, in nichts
jenes Unscheinbare sich verflüchtigt, womit Offenbarung die Geheimnisse
ablöst“.53
51
GS I/1 194.
Ibidem.
53
GS I/1 195.
52
141
Das Schöne ist also die Einheit von der Hülle und von dem Verhüllten. Auch in Ursprung des
deutschen Trauerspiels deutet Benjamin – wie bereits gesehen – die Beziehung zwischen dem
Schönen und der Wahrheit an. In der methodologischen Vorrede dieses Textes ist nämlich
das Schöne – analog mit dem Phänomen – die Möglichkeit der Wahrheit sich zu verkörpern,
und die Wahrheit ist das Refugium des Schönen – d.h. des Phänomens. In Goethes
Wahlverwandtschaften ist das Verhältnis zwischen dem Schönen und der Wahrheit das
Gleiche. Das, was sich ändert, ist die Perspektive Benjamins. Hat nämlich das Verhältnis
Schönes-Wahrheit in dem Trauerspielbuch eine theoretische Valenz, erwirbt es in dem Essay
über Goethe eine ethische.
Die Schönheit Ottilies, schreibt Benjamin, muss sich auflösen: und diese Passage stellt
einen Übergang dar. Oben haben wir gesehen, dass, solange das Universum des Romans
andauert, die Schönheit Ottilies nicht verschwinden kann. Nun wird uns gesagt, dass sie sich
auflöst. Sollen wir also daraus schließen, dass diese Passage das Ende des Mythos impliziert?
Kehren wir jetzt zu dem Begriff des „Ausdruckslosen“ zurück. So schreibt Benjamin:
„Im Ausdrucklosen erscheint die erhabne Gewalt des Wahren, wie es nach
Gesetzen der moralischen Welt die Sprache der wirklichen bestimmt. Dieses
nämlich zerschlägt was in allem schönen Schein als die Erbschaft des Chaos
noch überdauert: die falsche, irrende Totalität – die absolute. Dieses erst
vollendet das Werk, welches es zum Stückwerk zerschlägt, zum Fragmente
der wahren Welt, zum Torso eines Symbols“.54
Das Ausdrucklose ist eine Unterbrechung, die dem Schein einen Stillstand auferlegt. Es ist die
Wahrheit, die in der Schönheit aufbricht und ihre Harmonie unterbricht. Benjamin schreibt
weiter:
„So zwingt das Ausdrucklose die zitternde Harmonie einzuhalten und
verewigt […] ihr Beben. In dieser Verewigung muss sich das Schöne
verantworten, aber nun scheint es in eben dieser Verantwortung
unterbrochen und so hat es denn die Ewigkeit seines Gehalts eben von
Gnaden jenes Einspruchs“.55
Mit dem Tode Ottilies zieht sich jede scheinhafte Schönheit zurück, die – so Benjamin – „ja
am Lebendigen einzig zu haften vermag“56. Das bedeutet aber nicht, dass die Wahrheit sich
völlig enthüllt, sondern dass sie sich als Wesengehalt des Phänomens manifestiert. Die Figur
54
GS I/1 181.
Ibidem.
56
GS I/1 197.
55
142
Ottilies, d.h. der reine Schein, stellt die Grenze des Mythos dar, und zwar den Gipfelpunkt,
der die Möglichkeit einer Wiedererlangung dessen, was in dem Mythos abwesend scheint,
erblicken lässt: d.h. die Wahrheit.
Der Mythos ist nämlich nicht ganz von der Wahrheit der Idee getrennt. Das
Phänomen, als Hülle, ist mit dem, was verhüllt ist (d.h. dem Wahren), immer unauflöslich
verbunden: es gibt nicht die Hülle ohne das Verhüllte, ebenso wie das Verhüllte ohne die
Hülle. Mit anderen Worten, es ist nicht möglich, dass sich das Phänomen rein manifestiert,
ebenso wie es nicht möglich ist, dass sich die Idee an sich offenbart. Das eine braucht das
andere. Aus dem mythischen Zustand herauszukommen heißt also nicht, zu der Idee in ihrer
Reinheit, von dem Phänomen losgelöst, zu gelangen, sondern heißt vielmehr wieder imstande
zu sein, die Idee anzusehen und wahrzunehmen, selbst bloß in ihrer begrenzten und
unvollendeten phänomenalen Manifestation. Die „Versöhnung“, von der Benjamin in der
Interpretation der Novelle, innerhalb des Romans Goethes spricht, ist also der Ausdruck
seines ethischen Denkens, im Sinne einer Versöhnung mit der Idee. Ist die Überwindung des
Mythos eine unendliche Aufgabe, kann also die Ethik – d.h. die Möglichkeit, die Idee als
Grundlage des Phänomens und demzufolge der menschlichen Wahl und Aktion zu erkennen
(d.h. zudem der Übergang aus der Amoralität zu dem, das die Moralität ermöglicht) – nichts
anderes sein als eine Spannung eben in Richtung Idee: die völlige Verwirklichung dieser
Spannung würde einen virtuellen Ausgang der Menschheit vom Mythos implizieren.
Wie wir ebenfalls gesehen haben, als wir die Wahrnehmung der Idee in dem
theoretischen Bereich betrachtet haben, ist sie auch in dem ethischen Bereich nicht auf einer
allgemeinen Ebene möglich, sondern auf einer individuellen. Anders ausgedrückt, die Idee
wird von denjenigen, die eine besondere Perspektive übernehmen, erblickt. Diese Perspektive
wird von Benjamin „komplementär“ genannt und ist die Perspektive dessen, dem innerhalb
des Mythos die vage und undeutliche Anwesenheit der Idee wahrzunehmen gelingt. Diese
Perspektive wird, laut Benjamin, in der Wirklichkeit von Goethe übernommen, bei dem der
moralische Kampf gegen den Mythos zur Versöhnung mit der ethischen Wahrheit im Roman
und in der Fiktion durch die Figur Ottilies dargestellt und inszeniert wird.
Zu diesem Punkt bleiben noch zwei Fragen offen: 1) Das Verhältnis zwischen der
Erlösung, als menschliche Aufgabe verstanden, und der eigentlichen eschatologischen
Erlösung. 2) Das Verhältnis zwischen dem Mythos und der Moderne.
143
3.3.
Erlösung und Versöhnung
Es ist interessant zu beobachten, dass im Laufe von Goethes Wahlverwandtschaften Benjamin
von „Hoffnung auf Versöhnung“ – unten welchem Begriff er die Versöhnung der Gestalten
der Novelle mit Gott meint – spricht und nur am Ende des Textes den Begriff der „Hoffnung
auf Erlösung“ einführt. Der Begriff der „Hoffnung“, direkt auf die Erlösung bezogen, taucht
also nur am Ende des Textes über Goethe auf:
„So entringt sie [die Hoffnung] sich ihm [dem Schein] zuletzt und nur wie
eine zitternde Frage klingt jenes ‚wie schön’ am Ende des Buches den Toten
nach, die, wenn je, nicht in einer schönen Welt wir erwachen hoffen,
sondern in einer seligen. Elpis bleibt das letzte der Urworte: der Gewissheit
des Segens, den in der Novelle die Liebenden heimtragen, erwidert die
Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen“.57
Der Terminus „Versöhnung“ ist keineswegs ein Synonym für Erlösung58. Wir erforschen im
Folgenden die Gemeinsamkeiten beider Begriffe und im Annschluss daran ihre
Unterscheidungen.
Zunächst spricht Benjamin sowohl in Bezug auf die Erlösung als auch auf die
Versöhnung von „Hoffnung“. Dies bedeutet: auch die Versöhnung stellt sich für die Gestalten
des Romans – und also für den Mythos – als eine „Hoffnung auf Versöhnung“ vor. Diese
Präzisierung hat uns dazu gebracht, daraus zu schließen, dass auch die Versöhnung eine Idee
ist, und dass der mythische Zustand die Bewegung zur Wiedererlangung der (ethischen) Idee
und der Versöhnung mit ihr unendlich - und utopisch - macht. Sowohl die Versöhnung als
auch die Erlösung sind Ideen. Dennoch gewinnt man den Eindruck, dass sie sich auf zwei
verschiedenen Ebenen befinden. Können wir nun sagen, dass die Erlösung mehr Idee (d.h. im
stärkeren Sinne Idee) als Versöhnung ist? Und da, sprechend über „Hoffnung auf die
Erlösung“ und „Hoffnung auf Versöhnung“, eben der Terminus „Hoffnung“ denken lässt,
dass Versöhnung und Erlösung auf zwei verschiedene Grade der Beziehung zwischen dem
Menschen und der Idee hinweisen, dann könnte man also fragen, ob man auch eine
Unterscheidung der Grade zwischen der Utopie (hinsichtlich der Verwirklichung der Ideen)
der Erlösung und die der Versöhnung behaupten darf. Laut Adorno setzt die Philosophie
57
GS I/1 200.
Roberts behauptet, dass bei Benjamin die Verwendung des Terminus „Versöhnung“ mit dem der „Erlösung“
gleich sei, und dass die Wahl des ersten eine Konsequenz der Lektüre Cohens sei (J. ROBERTS, op.cit. S.166ff.)
Auch Adorno scheint den Begriff der Erlösung Benjamins auf den der Versöhnung zurückzuführen (vgl. TH. W.
ADORNO, Charakteristik Walter Benjamin, in Über Walter Benjamin, op. cit. S.15f.).
58
144
Benjamins, vor allem in ihrer theologischen Phase, den Begriff des „Mythos als Gegensatz
zur Versöhnung59. Später wäre der Begriff des Mythos säkularisiert60, aber immer noch
anwesend. Adorno schreibt nämlich: „Die Versöhnung des Mythos ist das Thema von
Benjamins Philosophie“61. Analysieren wir nun die Unterscheidung zwischen den beiden
Begriffen, um festzustellen, dass der Pol, der in der Philosophie Benjamins dem Mythos
entgegensetzt wird, nicht die Idee der Versöhnung, sondern die der Erlösung ist.
Ist die „Ethik“ bei Benjamin die Beziehung des Menschen, bzw. dessen Bewusstsein,
mit bestimmten ethischen Prinzipien und Ideen, dann ist es folglich wahr, dass sowohl die
Versöhnung als auch die Erlösung – da die beiden auf die Idee und auf die Spannung zu ihr
hinweisen – der Gegensatz zum Mythos, d.h. dem Zustand der anscheinenden Abwesenheit
der Idee, sein könnten. Der Begriff der „Erlösung bezieht sich aber in Vergleich zu dem der
Versöhnung in radikaler Weise auf die Idee. Daraus schließt man, dass „Hoffnung auf
Erlösung“ und „Hoffnung auf Versöhnung“ zwei verschiedene Spannungen sind. Wir haben
festgestellt, dass, wenn wir voraussetzten, dass die Hoffnung auf Versöhnung die Möglichkeit
für die Wiedererlangung der Beziehung mit der Idee und die Fähigkeit dazu, ihre
Manifestationen in den Phänomenen zu erkennen, ist, dann können wir die Hoffnung auf
Versöhnung als Idee bezeichnen. Hoffnung auf Erlösung im strikten Sinne bedeutet aber die
Hoffnung der Menschheit, die auf ihre Befreiung von dem Schein und von dem Phänomen.
Also, wenn die Erlösung eine vollendete und radikale Befreiung von dem Schein impliziert,
ist die Versöhnung bloß das Symbol der wahren und eigentlichen Erlösung, weil sie auf die
Möglichkeit hinweist, die Idee in dem Schein zu erkennen. Sie ist eine Antizipation der
Erlösung. Zudem könnten wir sagen, dass die Hoffnung auf Erlösung ein Streben nach der
vollendeten Auflösung des Phänomens in der Idee ist: Eine solche Hoffnung kann nur
innengehabt werden von denjenigen, die sich des ontologischen Unterschieds zwischen der
Idee und der phänomenalen Realität bewusst sind, d.h. denjenigen, denen es gelingt, in der
Realität bloß eine Manifestation der Idee zu erkennen. Dies bedeutet, dass die Versöhnung die
Voraussetzung für Erlösung ist.
Betrachten wir noch mal die Unterscheidung zwischen Versöhnung und Erlösung.
Zunächst scheint die Versöhnung eine individuelle Beziehung zur Idee zu bezeichnen62. In
59
Vgl. TH. W. ADORNO, op. cit. S15f.
Bei dem „zweiten“ Benjamin wird laut Adorno das Schicksal vom Schuldzusammenhang des Lebendigen zum
Schuldzusammenhang der Gesellschaft (vgl. TH. W. ADORNO, op. cit. S.15).
61
Ibidem.
62
In der jüdischen Tradition meint die „Versöhnung“ die individuelle Buße der Schuld. Der Tag der Versöhnung
ist der Jom Kippur, der durch Fasten und Beten begangen wird, um die individuelle Buße der Schuld und die
Versöhnung mit Gott zu erlangen (Vgl. S. PH. DE VRIES, Jüdische Riten und Symbole, Fourier Verlag,
Wiesbaden 1981, S.94ff.)
60
145
Benjamins Philosophie kann die Versöhnung nur auf der individuellen Ebene möglich sein,
während sie auf der allgemeinen utopisch ist (es würde in diesem Fall mit dem Ausgang der
Menschheit aus dem Mythos zusammenfallen). Er behauptet nämlich, dass bestimmte Figuren
in der Geschichte imstande sind, sich aus dem allgemeinen Zustand der Verblendung – des
Mythos – ausnahmsweise hervorzuheben, um in ihm die Spur der Wahrheit – die nicht
abwesen, sondern bloß verhüllt ist – wahrzunehmen. Dennoch beweist gerade die
Außergewöhnlichkeit jener Figuren, die sich mit der Idee versöhnen, dass der Übergang von
dem Mythos in die Idee unendlich und utopisch zu verstehen ist. Dieser Übergang wird als die
Wiedererlangung des Sinnes und der Bedeutung des Phänomens und - auf der ethischen
Ebene - als die Wiedererlegung der Autonomie gemeint. Die Erlösung, d.h. das
eschatologische Ziel, welches das Verschwinden der phänomenalen Welt in der Idee mit sich
führt, impliziert aber in seinem eigenen Begriff die Rettung der ganzen Menschheit und den
definitiven Übergang des Phänomens in die Idee. Von da her ist die Erlösung ein weiter
gefaßter Begriff verglichen zu dem der Versöhnung.
Nach
Benjamins
Interpretation
inszeniert
die
Novelle
innerhalb
der
Wahlverwandtschaften die Versöhnung und eben nicht die Erlösung (und deshalb hat sie eine
exemplarische Bedeutung). Zunächst, weil nur die Gestalten des Romans die Versöhnung
erreichen und nicht die Menschheit in ihren Ganzen. Zweitens, weil sie uns zeigen, wie es als
Versöhnte möglich ist, in der Welt des Scheins zu leben ist. So gewinnt die Novelle die
Funktion des Beispiels für die Gestalten des Romans (d.h. für diejenigen, die im Mythos
leben). Dennoch wird das Ende des Scheins - d.h. die eschatologische Rettung und die
Befreiung von dem Schein und von der phänomenalen Vergänglichkeit - nur von der Idee der
Erlösung impliziert. Die Novelle als Beschreibung der Versöhnung, und zwar als ethische
Aufgabe zu interpretieren, bedeutet schließlich die Tatsache darzustellen, dass die Idee –
wenn sie bekannt wird – tatsächlich in der phänomenalen Welt wirkt, indem sie die
Entscheidungen und die Aktionen des Menschen leitet. Anders ausgedrückt, während die
ethischen Ideen, obwohl sie Ideen sind, sich zum Teil in der Geschichte offenbaren können
(d.h. wenn sie als Leitung der menschlichen Aktion übernommen werden), wird die Idee der
Erlösung sich niemals in dem Phänomen verkörpern, da sie Idee im extremen Sinn ist. D.h.
sie kann für den Menschen nur eine Idee sein, deren hypothetische Verwirklichung das Ende
des Scheins und der Geschichte impliziert.
Insofern ist die „Hoffnung auf Erlösung“ ein radikaler Begriff in Vergleich zu dem der
„Hoffnung auf Versöhnung“. Kann man also behaupten, dass, wenn die Versöhnung eine
innerweltliche Erlösung ist und zu einer Ethik hinführt (d.h. zur der ethischen Beziehung
146
Mensch-Idee), aber die Hoffnung auf Erlösung zu einer eschatologischen Ethik führt, d.h. zu
einer absoluten Ethik, welche auf der einzigen Idee beruht, die sich nur mit dem Ende der
Ethik völlig verwirklichen wird. Anders ausgedrückt, eine Ethik, die auf die Idee der Erlösung
beruht, beruht nicht nur auf einer Idee, sondern vielmehr auf der absolut reinen Idee: D.h. auf
der einzigen Idee, die per definitionem nicht Phänomen werden kann, weil sie sein Ende mit
sich führt.
4.
Intellektuelle Versöhnung als existentielle Antizipation der eschatologischen
Erlösung
In dem vorherigen Abschnitt haben wir die Beziehung zwischen der Erlösung und der
Versöhnung bezüglich der Wiedererlangung der ethischen Werte analysiert. Die intellektuelle
Erlösung (d.h. die Versöhnung) ist aber auch in einem anderen Sinn (der in dem vorherigen
Kapitel kurz angedeutet wurde) eine Antizipation der eigentlichen Erlösung: in einem
existentiellen Sinn. Wir erforschen nun genauer diesen Punkt durch das Bild des Engels, das,
obwohl es nicht häufig explizit erscheint, die Allegorie der Philosophie Benjamins ist. Die
erste Schrift, in der wir dem Bild des Engels begegnen, ist die Notiz aus dem Jahr 1933:
Agesilaus Santander, die wir zuvor hinsichtlich des Begriffes des „Jetzt“ betrachtet haben.
Der Engel der benjaminschen Schrift ist ein „Neuer Engel“. Er erschöpft sich, sein Leben
dauert einen Augenblick lang und dann löst er sich im Nichts wieder auf. Der neue Engel ist
aber nicht nur die Allegorie des Jetzt: er geht den Weg, der in die Zukunft führt. Er bewegt
sich stoßweise in die Zukunft, die zugleich der Ort ist, woher er kommt: d.h. sein Ursprung.
Er kehrt in die Zukunft zurück, indem er ihr aber seinen Rücken kehrt und sein Antlitz der
Vergangenheit zuwendet, auf die er seinen Blick richtet.63 Wie in Agesilaus Santander
beschreibt der Engel auch in der IX. These über die Geschichte64 eine Kreisbewegung des
63
Enrico Guglielminetti macht eine interessante Bemerkung über die jüdischen Termini für „Vergangenheit“
und „Zukunft“: auf Hebräisch ist die Vergangenheit mit dem Wort le-fanìm oder li-fnè bezeichnet. Es handelt
sich um die Union der Präposition l – welche die Bedeutung von „vorne“ hat – mit dem Wort panim, dessen
Hauptbedeutung „Antlitz“ ist. Der Ausdruck le-fanìm li-fnè bedeutet als „vor dem Antlitz“. Ist für die Juden die
Vergangenheit „vorne“, d.h. vor Augen, ist die Zukunft umgekehrt ’acharìt, ’acharòn: Die Bedeutung dieses
Ausdrucks ist nämlich „hinten“, „hinter dem Rücken“ (vgl. ENRICO GUGLIELMINETTI, Walter Benjamin: tempo,
ripetizione, equivocità, Mursia, Milano 1990, S.150ff.)
64
So lautet die IX. These über die Geschichte: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel
ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine
Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte
muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns
erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ist ihm vor
147
Zurückehren in die Zukunft. Dies verweist auf die Bedeutung der intellektuellen Erlösung,
d.h. auf die Aufgabe des Intellektuellen, der das Phänomen immer wieder erneut zu der Idee
zurückzuführen hat. Das Bild des Engels stellt bei Benjamin aber auch das Symbol der
Vergänglichkeit und des Endlichen dar: seine Anwesenheit ist blitzhaft, weil er immer bereit
ist, zum Ort, woher er kommt (dem Ursprung), zurückzukehren. Der Zustand des Engels und
folglich der des Philosophen, dessen Darstellung er ist, ist die Melancholie. Diese letztere ist
nicht so sehr ein Gemütszustand, sondern vielmehr ein Begriff, der von Benjamin im
Trauerspielbuch thematisiert wird: „Die Melancholie drückt in diesem Text die Lamentos des
von dem Schwere des Gegenwartes verstricktes Geschöpften aus“, so kommentiert Cesare
Cases in dem Vorwort der italienischen Ausgabe65. In Ursprung des deutschen Trauerspiels
verbindet die Weltwahrnehmung des Barock die Melancholie – d.h. eine kontemplative
hoffnungslose Haltung –mit der Allegorie – d.h. ästhetischer Ausdruck wird dem Symbol
entgegensetzt, das in sich das Absolute enthält. Ihre Verbindung ist das Bewusstsein der
Vergänglichkeit und des Verfalles, denen man nicht entgehen kann. Die Welt der Allegorie ist
die Welt der Trennung und das Bewusstsein der Grenze, welche das Reich des Scheins und
der zeitlichen Vergänglichkeit von dem der Transzendenz und der Totalität trennt.
Eben die Beziehung zwischen der Totalität und dem Jetzt ermöglicht uns das
Verhältnis zwischen der intellektuellen Erlösung und der eschatologischen Erlösung zu
analysieren. Die zweite These über die Geschichte besteht aus zwei Teilen. Während in dem
zweiten Teil Benjamin die Erlösung als Methode hinsichtlich der Wiedererlangung der
Vergangenheit zugunsten eines neuen Begriffes der Geschichte betrachtet, wird die Erlösung
in dem ersten Teil mit der Idee des Glückes assoziiert. Bevor wir auf die eschatologische
Valenz, die der Begriff der „Erlösung“ in dieser These erwirbt, eingehen, ist es wichtig, bei
einer anderen Stelle zu bleiben, in der Benjamin auf die Idee des Glückes hinweist, indem er
über die Erlösung spricht. In Theologisch-politisches Fragment macht Benjamin eine
Unterscheidung zwischen der Ordnung des Profanen, die das Reich der historischen Dynamis
ist, und der Messianischen Ordnung. Das, worauf die historische Bewegung (und die
Menschheit, die ihr Subjekt ist) zielt, ist das Glück: Diese historische Bewegung strebt zu der
andauernden und unaufhörlichen Suche nach dem Glück als endlichem Ziel. Das Ziel der
Menschheit in der Geschichte – d.h. das Glück – scheint sich anscheinend dem Reich Gottes
die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber
ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügen verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie
nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt,
während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Forschritt nennen, ist dieser
Sturm.
65
Vgl. CESARE CASES, in WALTER BENJAMIN, Il dramma barocco tedesco, Einaudi, Torino 1980, S.XIII.
148
entgegenzusetzen. Dieses kann nämlich nicht das Ziel der Geschichte sein, da es ihr Ende ist.
So, während die Ordnung des Profanen als ein zur Idee des Glückes gerichteter Pfeil
vorgestellt wird, entspricht der Messianischen Ordnung ein entgegengerichteter Pfeil.
Dennoch nähern sich die beiden Pfeile einander. Das Profane, so schreibt Benjamin, ist nicht
eine Kategorie des Reiches, sondern „eine Kategorie seines leisesten Nahens“, weshalb das
Glück, das der Mensch anstrebt, als „restitutio in integrum“66 verstanden wird: d.h. die
ursprüngliche Vollständigkeit und der Untergang der ewig vergänglichen Weltlichkeit. Das
Profane schließlich – weil es von Natur aus fragmentarisch und vergänglich ist – strebt die
Totalität an. Dennoch ist diese Totalität – und die Ewigkeit, die sie impliziert – nichts anderes
als das Reich Gottes, d.h. die Unsterblichkeit und also das Ende der Geschichte. So schreibt
Benjamin: „denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis“67. In
dem Fragment kommt zu Vorschein, dass die Spannung der Menschheit und ihre Hoffnungen
der Zukunft zugewendet sind. Die Erlösung wird aber als restitutio in integrum verstanden,
damit auf einen ursprünglichen Zustand verweisend. In der zweiten These über die Geschichte
weist die Erlösung direkt auf die Vergangenheit hin:
„Das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert
ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal
verwiesen war. Glück, das Neid in und erwecken könnte, gibt es nur in der
Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit
Frauen, die sich uns hätten geben können. Es schwingt, mit anderen Worten,
in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit“.68
Was haben denn die beiden Hinweise auf die Erlösung als eschatologische Hoffnung nun
gemeinsam? Im ersten Teil der zweiten These ist die Erlösung auf die Vergangenheit
bezogen, aber noch nicht bezüglich der historiographischen Methode. Das, was nun in den
Worten Benjamins auftaucht, ist das menschliche Bedürfnis, die Vergangenheit als einen
Inbegriff der Möglichkeiten, anstatt als einen Inbegriff von Fakten, zu beobachten. Nur diese
Idee der Vergangenheit ermöglicht, die Wiedererlangung der vergangenen Ereignisse
zumindest durch die Erinnerung zu denken. Die Hoffnung auf die Erlösung der Vergangenheit
hat in diesem Fall einen existenziellen Gehalt, der auf die Eschatologie, d.h. auf die
Versprechung der Rettung und des Glücks, auf welche die Menschheit hofft, verweist. Doch
es ist bedeutsam, dass diese Hoffnung allerdings auf die Vergangenheit gerichtet ist und es ist
66
Ibidem
Ibidem.
68
GS I/2 693.
67
149
eben dieser Punkt, der in dem sich die zweite These und das Fragment treffen. Versuchen wir
nun zu erklären, was Benjamin meint, indem wir zu dem Begriff der „Totalität“ und deren
Verhältnis zu dem Jetzt zurückkehren. Bei Benjamin stellt sich die Zeit als eine dialektische
Spannung zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit dar. Diese Dialektik mündet in die
Dimension – die ebenso dialektisch ist – zwischen der Totalität und dem Jetzt: der Bund
zwischen diesen beiden zeitlichen Dimensionen taucht in der Figur des Agesilaus Santander
auf, eben in Bezug auf das Glück. Der von Benjamin beschriebene Engel will das Glück, und
zwar die Einheit des radikalen Neuen (d.h. des Jetzt) mit der Wiederholung (dessen, was
bereits vergangen ist). Er will das Jetzt und die Totalität, die als die Möglichkeit der ewigen
Wiederholbarkeit und der Fixierbarkeit des Jetzt verstanden ist. So schreibt Benjamin:
„Er [der Engel] will das Glück: den Widerstreit, in dem die Verzückung des
Einmaligen, Neuen, noch Ungelebten mit jener Seligkeit des Nocheinmal,
des Wiederhabens, des Gelebten liegt. Darum hat er auf keinem Wege
Neues zu hoffen als auf dem der Heimkehr“.69
Der Engel geht den Weg in die Zukunft, aber starrt in die Vergangenheit mit seinem
melancholischen Blick, als ob er sie auf seiner Fahrt mitnehmen möchte. Die Erlösung, als
eschatologische Hoffnung ist der Zukunft zugewendet, solange diese die Wiedererlangung der
vergangenen Zeit verspricht. Die „Heimkehr“, auf welche sich die Hoffnung des Engels
konzentriert, ist der metaphorische Ausdruck des existentiellen Bedürfnisses der
Wiedererlangung der Vergangenheit. Kehren wir nun zu dem Begriff des restitutio in
integrum zurück, von der Benjamin in dem Fragment spricht. Die Erlösung ist das Bedürfnis
der Vollständigkeit und der Totalität, die von Natur aus die Menschheit anstrebt. Dennoch ist
die angestrebte Totalität auch eine zeitliche Totalität: die Ewigkeit, d.h. die Mitanwesenheit
von Vergangenheit und Zukunft in dem Jetzt. Mit anderen Worten, der in Agesilaus
Santander beschriebene Engel, der heimkehren und in die Zukunft die Sachen und die
Menschen, die nicht mehr sind, mitnehmen möchte, ist nichts anderes als das Symbol der
Vergänglichkeit des Menschen. Ist eine Art des Ausdrucks dieser Vergänglichkeit der
Zukunft zugewendet - und was darin besteht, die Endlichkeit des Menschen, der nicht ewig
lebt und nicht ewig andauert, zu zeigen – ist die andere Art (welche Benjamin auswählt) an
der Vergangenheit orientiert. Sie besteht in der Unmöglichkeit die Zeit anzuhalten, und
demzufolge in der Unmöglichkeit zu zeigen, dass die Sachen einer un-wiedererlangbar und
unrettbar vergangenen Vergangenheit angehören können.
69
GS VI 523.
150
Die Vergänglichkeit des Menschen ist also bei Benjamin die Unmöglichkeit, die
vergangene Zeit wiederzuleben. Während nur die Erlösung – in ihrem eschatologischen Sinn
– den Menschen aus seiner Endlichkeit und seinem ewig Vergangenen rettet, ist die
intellektuelle Erlösung (und zwar das, was Benjamin Versöhnung nennt) nur das Symbol des
eschatologischen Endes, und außerdem seine Antizipation. Die Erlösung zu antizipieren
bedeutet, sowohl die existentielle Möglichkeit der Rückkehr in die Vergangenheit nach den
dem Menschen erlaubten Grenzen (d.h. durch die Erinnerung) zu aktualisieren, als auch die –
ethische und theoretische – Möglichkeit, zu der Beziehung mit der Idee innerhalb der
phänomenalen
Welt
zurückzukehren.
Die
Vergangenheit
durch
die
Erinnerung
wiederzuerlangen, und also zu retten, bedeutet bei Benjamin nicht nur die theoretische
Möglichkeit, einen neuen Begriff der Geschichte - der anders als der traditionelle ist – zu
erschaffen, sondern auch die existentielle Gelegenheit, die erlebte Vergangenheit
wiedererlangen zu können. Anders ausgedrückt, die intellektuelle Erlösung ermöglicht dem
Menschen nicht nur die Hoffnung auf ein neues historisches Gedächtnis, sondern auch die
Hoffnung auf ein existentielles.
5.
Die doppelte ethische Wahrheit: die komplementäre Welt
Das, was im Laufe der Arbeit aus dem Denken Benjamins hervorgehoben wurde, begegnet
uns erneut, wenn wir sein ethisches Denken analysieren: Der Begriff der doppelten Wahrheit
– den wir bisher oft bei der Analyse der benjaminschen Texte behandelt und erforscht haben –
taucht nämlich in dem ethischen Denken wieder auf. Der Begriff der „Hoffnung“, im Bezug
auf die Ideen der „Versöhnung“ und der „Erlösung“, hat uns zu dem Begriff der „unendlichen
Aufgabe“ in seiner ethischen Bedeutung gebracht: D.h. die Erwerbung der Wahrheit und der
ethischen Idee ist ein unendlicher Prozess, der niemals beenden wird, ebenso wie die Suche
nach der Wahrheit und der theoretischen Idee. Dennoch gibt es auch in dem moralischen
Bereich die Anwesenheit einer unmittelbaren Wahrnehmung der Wahrheit. Diese Möglichkeit
ist denjenigen, die sich in der „komplementären Welt“ befinden, gegeben. D.h. sie wird dem
Teil der Menschheit gegeben, der, obwohl er sich immer noch in dem Mythos befindet,
trotzdem eine Perspektive gewinnt, die den Mythos von außer betrachtet.
151
Benjamin schreibt in einem Brief an Gershom Scholem70, dass Kafkas Werk eine
Ellipse ist:
„Deren weit auseinanderliegende Brennpunkte von der mythischen
Erfahrung einerseits [...], von der Erfahrung der modernen
Großstadtmenschen andererseits, bestimmt sind“.71
Dennoch hat eben der Zustand der Moderne Kafka erlaubt, einen Einblick zu erhalten: „Er
lebt in einer komplementären Welt“72. Das ist nämlich die Perspektive, die erlaubt, die
umgebene Welt von außen zu beobachten und ihre Aspekte – die normalerweise demjenigen,
der innerhalb dieser Welt bleibt, verborgen bleiben – wahrzunehmen. Der Fall von Kafka ist
laut Benjamin exemplarisch: Kafka hat nämlich diese privilegierte Perspektive gewonnen,
indem er versucht hat, der Tradition zuzuhören73. Das, was er aber gehört hat, war undeutlich
und unklar, wie ein weiterentferntes Echo, das von dem Lärm des neuen Zeitalters - der
Moderne - übertönt wird. Das ganze Werk Kafkas stellt laut Benjamin die Erkrankung der
Tradition dar. D.h. Kafka beschreibt die Realität, in der die Konsistenz der Wahrheit verloren
gegangen ist und die sich zerstreut (dies wird z.B. in der Novelle Das Schloss dargestellt, in
dem die Menschen die Wahrheit über die Natur des Schlosses erkennen wollen, aber jeder hat
seine eigene Meinung darüber, die eben der der anderen widerspricht.) Das Genie Kafkas, so
schreibt Benjamin, besteht darin aus dieser Erkrankung das Thema seiner Erzählungen
entwickelt zu haben. Die Konsequenz dieser Erkrankung besteht in der Tatsache, dass in
unserer Zeit von Weisheit nicht mehr die Rede sein kann, sondern man hat mit seiner
Zersetzung zu tun. Diese Zersetzung stellt zwei Produkte her: einerseits „das Gerücht von den
wahren Dingen“ - und zwar dass die Dinge wahr erscheinen, weil man sie so gehört hat – und
70
Vgl. GB, Bd. VI 105ff. (Brief des 12. Juni 1938)
GB, Bd. VI 110.
72
GB, Bd. VI 112.
73
In dem Essay Franz Kafka gewinnt der Begriff der Tradition eine andere Bedeutung. Während nämlich in den
Thesen über den Begriff der Geschichte die Tradition für Benjamin – wie oben gesagt – die schlechte
Überlieferung der Geschichte ist, ist die Tradition in Franz Kafka mit dem Judentum verbunden. Das, was hier
den Begriff der Tradition kennzeichnet, ist nämlich die Nähe zu der Idee und zu der Wahrheit, die nach und nach
verloren gegangen ist. „Tradition“ ist also ein Synonym von Idee und von Wahrheit, die in der Moderne verloren
gehen. Deshalb ist die „Tradition“ als „wahre Tradition“ zu bezeichnen, im Gegensatz zu der „falschen“. Der
Essay über Kafka und ein Teil von dem Briefwechsel mit Scholem drehen sich um das Thema der Tradition und
um ihren progressiven Verlust. Die „wahre Tradition“ wird laut Benjamin falsch überliefert und deshalb bleibt
eine leere und sinnlose Form. In einem Brief an Scholem spricht Benjamin hinsichtlich des Werkes Kafka von
dem „Nichts der Offenbarung“. Dieser Ausdruck bedeutet nämlich den Verlust des Sinnes: die Tradition ist zwar
immer noch anwesend, aber wird von ihrem Gehalt entleert. Sie gilt noch, bedeutet aber nichts mehr (vgl. Brief
vom 20.9.1934 in BW 175). Das „Gesetz“ verliert also seine ursprüngliche Bedeutung von „Lehre“ und wird
zum bloßen Gesetz. Über die Bedeutung von „Lehre“ verweise ich auf den oben zitierten Text von Roberts, S.
142ff.)
71
152
das andere Produkt dieser Diathese ist die Torheit, die viele Figuren Kafkas kennzeichnet74.
Laut Benjamin ist das Werk Kafkas der Spiegel der zeitgenössischen Gesellschaft – d.h. der
Moderne – und die Rettung von dieser Zeit ist also die Offenheit und die Aufmerksamkeit für
den Sinn (und dies heißt also die Wiederentdeckung des Sinnes) und die Hoffnung auf eine
Rückkehr zu einem ursprünglichen und eigentlichen Zustand, der mittlerweile versunken ist.
Zu diesem Punkt machen wir nun zwei Überlegungen.
Die erste: auch auf der ethischen Ebene existiert eine enge Elite, die noch im Stande
ist, innerhalb der Moderne, selbst wenn undeutlich, die Idee wahrzunehmen. Die
komplementäre Perspektive wird laut Benjamin von bestimmten Figuren gewonnen: z.B. von
Goethe (der, wie oben gesagt, gegen den Mythos kämpft), von Kafka, von Baudelaire (der die
Aura wahrnimmt und man bei ihm eine Distanzierung von der Menge erkennt), aber auch von
Leskov75 und von Paul Klee76. Die Rettung vor der Moderne scheint also eine Aufgabe des
Intellektuellen zu sein, der durch die Literatur, die Dichtung, die Kunst und die Philosophie
das zeigt, was die Moderne nicht mehr sehen kann. Hierfür ist die kurze Schrift Erfahrung
und Armut aus dem Jahr 1933 interessant, in der Benjamin innerhalb der zeitgenössischen
Gesellschaft eine ankommende „neue Armseligkeit“ bemerkt, in der aber nur die Künstler
einen Rettungsschimmer sehen können. So schreibt nämlich Benjamin:
„Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheueren Entfaltung der
Technik über die Menschen gekommen. Und von dieser Armseligkeit ist der
beklemmende Ideenreichtum, der mit der Wiederbelebung von Astrologie
und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarianismus
und Gnosis, Scholastik und Spiritualismus unter – oder vielmehr über – die
Leute kam. [...] Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht nur an privaten
sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt. Und damit eine Art von
neuen Barbarentum“.77
Eben dieses Barbarentum führt laut Benjamin dazu, wieder von Neuen anzufangen:
„Und dieses selbe Vonvornbeginnen hatten die Künstler im Auge. […] Hie
und da haben die besten Köpfe begonnen, sich ihren Vers auf diese Dinge
zu machen. Gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein
rückhaltloses Bekenntnis zu ihm ist ihr Kennzeichen“.78
74
Vgl. GB, Bd. VI 112.
Vgl. GS II/2 438ff.
76
Vgl. GB, Bd. VI 112. In dem Brief wird Paul Klee mit Kafka verglichen. Schreibt Benjamin: „Kafka lebt in
einer komplementären Welt. (Darin ist er genau mit Klee verwandt, dessen Werk in der Malerei ebenso
wesenhaft vereinzelt dasteht wie das von Kafka in der Literatur)“ (Ibidem).
77
GS II/1 214.
78
GS II/1 215f.
75
153
In diesem kurzen Text ist also eine der prägnanten Beschreibung der Moderne zu finden.
Benjamin schreibt:
„Natur und Technik, Primitivität und Komfort sind hier vollkommen eins
geworden und vor den Augen der Leute, die an den endlosen
Komplikationen des Alltags müde geworden sind und denen der Zweck des
Lebens nur als fernster Fluchpunkt in einer unendlichen Perspektive von
Mitteln auftaucht“.79
Die zweite Überlegung ist die folgende: das, was Benjamin „Moderne“ nennt, ist
nichts anderes als der Mythos. Beide Termini verweisen auf den Zustand, in dem das
Phänomen die Idee aus dem Blick verloren hat: von dem theoretischen Gesichtspunkt aus
heißt es, wie oben gesagt, aufgestellten und von der Tradition etablierte Wahrheiten zu
akzeptieren und die Suche nach der Wahrheit aus dem Blick zu verlieren; von dem ethischen
Gesichtspunkt aus bedeutet es die scheinbare Abwesenheit der Werte, der Verantwortung und
der Entscheidungsfähigkeit. Beide Begriffe drücken also die Entfernung von der Idee aus,
aber während die Moderne eine historische Konnotation hat (d.h. das Zeitalter der Technik),
hat der erste eine existentielle Bedeutung: er äußert nämlich menschliche Konnotationen, die
unabhängig von den historischen Epochen sind.
6.
Der Mythos und die Vergessenheit
Die ethische Aufgabe des Intellektuellen ist, die Prinzipien, die Werte und die ethische Ideen
in einer Epoche, in der all das unmöglich erscheint, wahrzunehmen. Aus diesem Grund – wie
oben gesagt – spricht Benjamin von „Hoffnung“ auf Versöhnung. Der Begriff der „Hoffnung“
bringt uns zu der zeitlichen Dimension, der wir bisher explizit in den Formen der Gegenwart
(nämlich das Jetzt) und der Vergangenheit (das Gewesene) begegnet sind, zurück. Der Begriff
der „Hoffnung“ und die ethische Idee bringen uns also zu der dritten zeitlichen Dimension: zu
der Zukunft, in ihrer ideellen Form des „Wartens“. Diese Zukunft des Wartens ist von
Benjamin als die Rückkehr zum Ursprung gemeint, nach der Formel: Ursprung ist das Ziel.
Rückkehr zum Ursprung bedeutet in diesem Zusammenhang die Rückkehr zu einem
79
GS II/1 218.
154
ursprünglichen aber utopischen80 Zustand, in dem die Moralität möglich ist, da die Werte und
die ethische Ideen (noch) nicht verschleimt sind. Die benjaminschen Begriffe „Hoffnung auf
Versöhnung“ und „Hoffnung auf Erlösung“ drücken also die Utopie der Rückkehr, in der
Form der Erinnerung aus. Das Warten - auf die Erlösung – ist mit den anderen beiden
Begriffen der Temporalität verbunden: mit der Vergangenheit, weil es der Vergangenheit im
Sinne vom „Ursprung“ zugewendet ist (d.h. das Gewesene – das was gewesen ist – erwirbt
außerdem die Bedeutung von dem, „was ursprünglich war“) und mit der Gegenwart, die auch
in diesem Fall das Jetzt der Wahrnehmung der Idee ist: die Wahrnehmung der Idee wird
allerdings dem Intellektuellen, dem Künstler und dem Philosophen ermöglicht.
Gegenteil der Erinnerung ist das Vergessen, und das Vergessen der ethischen Idee
wird bei Benjamin durch den Mythos dargestellt. Der Begriff des „Vergessens“ ist zentral in
der benjaminschen Interpretation von Kafkas Werken. In dem Essay Franz Kafka schreibt
Benjamin, dass hinsichtlich der Erlösung nur für „die Unfertigen und Ungeschickten“81, für
die Ausgeschlossenen in der Familie oder für die Beamten (die Bewohner der Welt des
Gesetzes82), Hoffnung da ist. Der Vater in den Erzählungen Kafkas ist immer der Strafende
und zugleich der Ankläger. Über diese Figur schreibt Benjamin:
„Der Vater ist der Strafende. Ihn zieht die Schuld wie die Gerichtsbeamten
an“.83
Laut Benjamin sind die Väterwelt und die Beamtenwelt die gleiche: sie besteht aus
Stumpfheit, Degradation und Schmutz84. Außerdem scheint die Sünde, deren der Vater den
Sohn bezichtigt, „eine Art von Erbsünde zu sein“85, sie hat eine mythische Natur. So schreibt
er:
„Der Vater in den sonderbaren Familien Kafkas von dem Sohn sein Leben,
liegt wie ein ungeheuerer Parasit auf ihm. Er zehrt nicht nur an seiner Kraft,
er zehrt an seinem Rechte dazusein. Der Vater, der der Strafende ist, ist
zugleich auch der Ankläger. Die Sünde, deren er den Sohn bezichtigt,
80
Im Bezug auf die Zukunft als Ursprung ist bei Benjamin ein Einfluss des jüdischen Denkens möglich. Wie es
bereits oben angedeutet wurde, hatte die Erlösung in dem Judentum auch die Form der Rückkehr zum ideellen
Zeitalter des Tempels von David. Vgl. G. SCHOLEM, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Suhrkamp,
Frankfurt/M. Kapitel III und IV.
81
GS II/2 415.
82
Vgl. GS II/2 411 und 410-413 über die Ähnlichkeit bei Kafka zwischen der Welt der Väter und der
Beamtenwelt.
83
GS II/2 411.
84
Vgl. GS II/2 411.
85
GS II/2 412.
155
scheint eine Art von Erbsünde zu sein. Denn wen trifft die Bestimmung,
welche Kafka von ihr gegeben hat, mehr als der Sohn: ‚Die Erbsünde, das
alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den
der Mensch macht und von dem er nicht ablässt, dass ihm ein Unrecht
geschehen ist, dass an ihm die Erbsünde begangen wurden’. Wer aber wird
dieser Erbsünde – der Sünde einen Erben gemacht zu haben – bezichtigt
wenn nicht der Vater durch den Sohn? Somit wäre der Sündige der Sohn“.86
In beiden Fällen, in der Familie und in der Gerichtswelt, ist die Sünde, deren man bezichtigt
wird, eine Art von Erbsünde, der man ebenso nicht entgegen kann wie dem Schicksal. Somit
ist K., die Hauptfigur des Prozesses, von dieser Sünde betroffen: gegen sie ist jeder Schutz
vergeblich, da sie aus dem Mythos herkommt, oder besser, da sie Mythos ist. Wohl gibt es
Gesetze und Normen, die aber nicht geschrieben sind, da sie auch der Welt des Mythos
angehören. Übertritt der Mensch diese Gesetze, ohne es zu wissen, begegnet ihm
notwendigerweise die Strafe, welche die Form des Schicksals hat. Derjenige, der sich in
diesem absurden Mechanismus befindet, kann nicht anders, als diese Sünde still zu
akzeptieren. Von dieser Sünde wird er aber bestimmt: Die Gesetze des Mythos erklären den
Menschen für schuldig und sie verdammen ihn zur Isolierung. Mit anderen Worten, er wird
von der Gesellschaft verleugnet und gezwungen in einer komplementären und parallelen Welt
zu leben. Die komplementäre Welt ist nicht ganz außerhalb des Mythos, dennoch ist sie nicht
mehr Mythos. Denn von letzterem wurde er entfernt. Die Gestalten Kafkas, die aus ihrer
rigiden und sinnlosen Gesellschaft (d.h. dem Mythos) herauszukommen versuchen, werden
als verkrüppelt und als entstellt dargestellt. Eines der von Benjamin zitierten Beispiele ist das
von Gregor Samsa, der Gestalt der Metamorphosen, der eines Morgens aufsteht und sich als
Insekt verwandelt findet. Er ist wohl der Prototyp desjenigen, der am Rand der Gesellschaft
lebt, die ihn ausgeschlossen hat. Deshalb widert seine Figur die Familie an, die sich für ihn so
sehr schämt, so dass sie ihn in einem abgeschlossenen Zimmer, versteckt und darauf aufpasst,
dass niemand ihn sieht. Diese und die anderen sonderbaren Figuren Kafkas sind die Kopie des
Flaneurs. Wie der Flaneur leben ebenso die Gestalten Kafkas zwischen zwei unterschiedenen
Realitäten, zwischen zwei Menschengruppen: der Moderne einerseits und andererseits
denjenigen, die im Stande sind, in gewissen Momenten die Moderne selbst von außen zu
beobachten, in ihr nach einem Ausgang suchend – und ihn auch erblickend. Laut Benjamin
sind diese Menschen (die in den Erzählungen Kafkas unmenschliche Züge annehmen)
Boten87, die noch nicht ganz aus der Welt des Mythos herausgekommen sind, aber eben
86
87
GS II/2 411f.
Vgl. GS II/2 415.
156
innerhalb des Mythos die Hoffnung der Erlösung, die ihm versprochen wurde, ankündigen88.
Laut Benjamin ist die Welt des Mythos das Reich des Vergessenen:
„Das Vergessen ist niemals ein nur individuelles. Jedes Vergessene mischt
sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse,
wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein“.89
Das Vergessene ist also der Mythos (und die Moderne), in dem die seltsamen Figuren wie
z.B. Gregor Samsa und K. ihr menschliches Bewusstsein verloren haben und, so könnte man
sagen, die Form der Menschheit selbst vergessen haben. Dennoch verweist ihre
Verkrüppelung, laut Benjamin, eben auf das Bewusstsein dieser Situation. D.h. die
Entstellung manifestiert sich gerade in denjenigen, die wissen – oder mindestens „fühlen“ –,
dass sie aus dem Entfremdungs- und Vergessenheitszustand, zu dem ihre Zeit verurteil ist,
herauskommen sollen. Jeder Versuch einer solchen Tat ist aber vergeblich. Das Vergessene,
ebenso wie die Schuld, verwandelt die Dinge, entstellt sie und macht sie unerkennbar. Der
Prototyp dieser Entstellung ist der Bucklige, dessen Entstellungen mit der Ankunft des
Messias – verschwinden werden:
„Niemand sagt ja, die Entstellungen, die der Messias zurechtzurücken einst
erscheinen werde, seien nur solche unseres Raums. Sind sie gewiss auch
solche unserer Zeit“.90
Diese „unsere Zeit“ , das Zeitalter „der aufs Höchste gesteigerten Entfremdung des Menschen
voneinander, der unabsehbar vermittelten Beziehungen, die ihre einzigen wurden“91, dieses
Zeitalter des Vergessens des Menschen von sich selbst und von seiner Vergangenheit, eben
diese Zeit verweist auf eine Rettungsmöglichkeit92.
88
Ibidem
GS II/2 430.
90
GS II/2 433.
91
GS II/2 436.
92
Die Idee, dass von dem Gipfel des Mythos die Idee der Erlösung entstehen kann, ist wiederum eine jüdische.
Scholem behauptet, dass die Idee der Erlösung nicht aus Zufall entsteht, sondern sich in einer Gesellschaft
verkörpert, deren gesellschaftlicher und politischer Zustand den negativen Gipfel der Parabel seines
Geschichtsverlaufes erreicht.
89
157
6.1
Die zwei Bedeutungen des Vergessens und die Weisheit der Erinnerung
Ich habe behauptet, dass die Möglichkeit der Wiedererlangung der Vergangenheit, durch die
Erinnerung, als Antizipation der Erlösung gelesen werden kann. Die Erlösung, als Idee des
Glücks, ist das ewige Ziel der Menschheit, die von ihrer Natur her an das Ende der
Vergänglichkeit strebt. Diese impliziert nämlich das Vergessen der Vergangenheit. Während
die Erlösung zum Ende der phänomenalen Welt, die in der Ewigkeit der Idee eingeschlossen
und gerettet wird, führt, ist die Gerechtigkeit – d.h. die Wiedererlangung der Idee in der
phänomenalen Welt, Symbol der Erlösung und führt zur Weisheit. Machen wir nun einige
Überlegungen über die Begriffe „Weisheit“ und „Erinnerung“ mittels der Figur des
„bucklichten Männleins“, das sowohl in einer der Erzählungen der Sammlung Benjamins
Berliner Kindheit um Neunzehnjahrhundert als auch als Titel eines Kapitels des Essays Franz
Kafka auftaucht.
Das „bucklichte Männlein“ ist „der Insasse des einstellten Lebens“93, und es wird
verschwinden, wenn der Messias kommt94. Es ist der Darsteller der Unfertigen, der
Ungeschickten, für die aber die Hoffnung da ist95. Die Figur des „bucklichten Männleins“
symbolisiert das Vergessene96, das – wie oben gesagt – die Umrisse der Vergangenheit
entstellt und die Grenzen der Moderne bestimmt, d.h. einer Menschheit, welche die Form der
Menschheit selbst vergessen und verloren hat. Somit ist sie zum bloßen natürlichen Leben
verfallen. Mit anderen Worten, das Vergessene verweist wiederum auf den Zustand der
degenerierten Beziehung zwischen dem Menschen und der Idee.
In der Philosophie Benjamin hat das Vergessen aber zwei Bedeutungen. Die erste
meint einen natürlichen Zustand, d.h. die Vergänglichkeit des Menschen, zu welcher der
Verlust der Vergangenheit verurteilt ist. Diesem Zustand entspricht die Erlösung, als das Ende
der ewig vergänglichen Zeit verstanden. Dennoch drückt die zweite Bedeutung des
Vergessens einen unnatürlichen Zustand aus, d.h. den Gipfel des Mythos, der – von der Idee
beraubt - in dem bloßen Schein lebt. Diesem Zustand entspricht die Versöhnung, d.h. der
Ausgang aus dem Mythos und die Wiedererlangung der Idee in der Welt des Scheins. Das
„bucklichte Männlein“ des benjaminschen Essays über Kafka zeigt eben diesen mythischen
Zustand, über den hinaus keine weitere Degenerierung möglich scheint. Deshalb ist dieser
93
GS II/2 432.
Ibidem
95
Vgl. GS II/2 415. Es ist interessant das zu bemerken, was Benjamin über die Hoffnung in Goethes
Wahlverwandtschaften schreibt und zwar dass: „die letzte Hoffnung niemals dem eine ist, der sie hegt, sondern
jenen allein, für die sie gehegt wird“ (GS I/1 200). Dies bedeutet, dass nicht der Mythos auf die Erlösung hofft,
sondern allein diejenigen, die aus dem Mythos herauszukommen beginnen und in ihm die Idee erblicken.
96
Vgl. GS II/2 428ff.
94
158
Zustand zugleich das Symbol der Hoffnung und der Möglichkeit aus der Moderne
herauszukommen. Analysieren wir nun die andere Figur des „bucklichten Männleins“, das in
der letzten Erzählung von Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, „Das bucklichte Männlein“
betitelt ist.
Das „bucklichte Männlein“ der Erzählung Benjamins ist die Figur eines Kinderreims.
Zudem ist er das Behältnis der Vergangenheit. Ich zitiere kurz das, was Benjamin darüber
schreibt:
„Wo es erschien, da hatte ich das Nachsehn. Ein Nachsehn, dem die Dinge
sich entzogen, bis aus dem Garten übers Jahr ein Gärtlein, ein Kämmerlein
aus meiner Kammer und ein Bänklein aus der Bank geworden war. Sie
schrumpften, und es war, als wüchse ihnen ein Buckel, der sie selber nun
der Welt des Männleins für sehr lange einverleibte. Das Männlein kam mir
überall zuvor. Zuvorkommend stellte sich’s in den Weg. Doch sonst tat er
mir nichts, der graue Vogt, als von jedwedem Ding, an das ich kam, den
Halbpart des Vergessens einzutreiben. [...] So stand das Männlein oft.
Allein, ich habe es nie gesehen. Er sah nur immer mich. Und desto schärfer,
je weniger ich von mir selber sah. Ich denke mir, dass jenes ‚ganze Leben’,
von dem man sich erzählt, dass es vorm Blick der Sterbenden vorbeizieht,
aus solchen Bildern sich zusammensetzt, wie sie das Männlein von uns allen
hat. Sie flitzen rasch vorbei wie jene Blätter der straff gebundenen Büchlein,
die einmal Vorläufer unserer Kinematographen waren. Mit leisem Druck
bewegte sich der Daumen an ihrer Schnittfläche entlang; dann wurden
sekundenweise Bilder sichtbar, die sich voneinander fast nicht
unterschieden. [...] Das Männlein hat die Bilder auch von mir. [...] Jetzt hat
es sine Arbeit hinter sich. Doch seine Stimme [...] wispert über die
Jahrhundertschwelle mir die Worte nach: ‚Liebes Kindlein, ach, ich bitt, /
Bet fürs bucklicht Männlein mit“.97
Benjamin schreibt, dass das „bucklichte Männlein“ unser aller Bilder besitzt. Zwei
Bemerkungen: Zunächst ist mit dem Männlein in diesem Fall das Vergessensgespenst in der
ersten Bedeutung gemeint, d.h. es stellt den natürlichen Verlust der Vergangenheit dar.
Zweitens kann man daraus schließen, dass die Weisheit darin besteht, das Leben und die
Geschichte durch einen Rückblick zu beobachten - ebenso wie es in der Todesstunde zu
geschehen scheint – und durch diesen Überblick die vom Vergessenen absorbierten Bilder
wiederzuerlangen. Dem gleichen Hinweis auf die Weisheit und auf den Lebensrückblick sind
wir bezüglich der Briefsammlung Deutsche Menschen in dem vorherigen Kapitel begegnet.
Kehren wir nun zu der Unterscheidung zurück, die wir bezüglich des Begriffs der
„Erlösung“ hervorgehoben haben. Ist es in einem Fall allein die eschatologische Erlösung (als
97
GS IV/1 303f.
159
restitutio in integrum), die die Menschheit vor der Grenze ihrer Endlichkeit und vor der
Vergänglichkeit rettet, ist in dem anderen Fall (als innerweltlichen und menschlichen
Erlösung) die Versöhnung das Symbol des eschatologischen Endes und außerdem ihre
Antizipation. Die Erlösung zu antizipieren heißt: 1) sowohl die Möglichkeit, zu der
Vergangenheit
innerhalb
der
menschlichen
Grenze
(d.h.
durch
die
Erinnerung)
zurückzukehren, d.h. sie zu aktualisieren, als auch 2) die Möglichkeit, zu der Beziehung zur
Idee innerhalb der phänomenalen Welt zurückzukehren: das bedeutet also die Spannung in
der Überwindung der Moderne und das Wiederentdecken des Sinnes. Die Antizipation der
Erlösung hat also sowohl eine existentielle Valenz als auch eine ethische. Ist die Grenze der
Menschheit die Gegenwart mit dem Bewusstsein zu leben, nämlich dass alles vergänglich ist
und dass alles Vergangenheit wird, die Menschen und Dinge mit sich wegführt, so ist die
Größe des Menschen die Weisheit. Letztere besteht darin, das Leben und die Geschichte als
Totalität zu beobachten, deren Fragmente wiederzuerlangen möglich ist. Die Weisheit führt
uns also zu dem Blick des Agesilaus Santanders zurück, welcher die Vergangenheit
melancholisch anstarrt, da er sie in die Zukunft nicht mitnehmen kann. Sondern er muss sich
mit der Hoffnung begnügen, sie durch die Erinnerung wiederzuerleben. Insbesondere ist zu
bemerken, dass die Erinnerung im Judentum – wie oben gesagt – mit dem Studium verbunden
ist. D.h. die Vorschrift der Erzählung verweist nicht nur auf ein bloßes erzählen der
Geschichte, sondern impliziert ihre Studium98. In dem benjaminschen Essay Franz Kafka
begegnen wir dem Begriff des „Studiums“: „Die Pforte der Gerechtigkeit ist das Studium“99.
Diese Aussage ist sehr bedeutsam. In diesem Text geht es Benjamin nämlich um die utopische
Möglichkeit, zur Tradition durch das Studium, das der einzige Heimweg scheint,
zurückzukehren. Mit der oben zitierten Aussage betont Benjamin den ethischen Aspekt der
Rückkehr durch die Erinnerung zum Ursprung: das Studium, auf die Wiedererlangung der
Vergangenheit gezielt, ist die Aufgabe nicht nur des Philosophen, sondern jedes Menschen.
Diese Überlegungen führen uns zu dem, was wir oben festgestellt haben, als wir die
Bedeutung von Hoffnung bezüglich der ethischen Aufgabe des Menschen betrachten haben.
Da haben wir die folgende Schlussfolgerung gezogen: die „Hoffnung auf Versöhnung“ zeigt,
laut Benjamin, den Kampf des Menschen gegen die Herrschaft des Mythos, um die Idee der
Gerechtigkeit zu erreichen. Ihrerseits meint diese die Rückkehr zu der Idee, d.h. zu der
Möglichkeit, dass die Idee in der phänomenalen Welt wirkt, indem sie die Aktionen und die
98
So schreibt Soloveitchik: „We are challenged to become students, not merely readers, to probe the Biblical
text in depth and to interpret it in accordance with the teachings of the Oral Law” (JOSEPH B. SOLOVEITCHIK, op.
cit. S212).
99
GS II/2 437.
160
Wahl des Menschen leitet. Dies bedeutet, dass die ethische Aufgabe der Menschheit die
Wiedererlangung der Idee der Menschheit selbst ist, d.h. die Rückkehr zu dem ursprünglichen
und zugleich ideellen Zustand. Da nun die ethische Aufgabe der Menschheit auf eine
unendliche Bewegung (die der Rückkehr zum Ursprung und zur Idee) beruht, impliziert sie
zugleich die beiden zeitlichen und ideellen Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft.
Deshalb ist es nicht falsch die Ethik Benjamins zugleich als „Ethik des Wartens“ und „Ethik
der Erinnerung“ zu bezeichnen: meiner Meinung nach ist dies die einzige Möglichkeit
innerhalb des Mythos und der Moderne über Ethik zu reden. Benjamin schreibt bezüglich
einer Erzählung Kafkas:
„‚Überall’, sagt Plutarch, ‚wird bei Mysterien und Opfern, sowohl unter
Griechen als unter Barbaren, gelehrt [...], dass es zwei besondere
Grundwesen und einander entgegengesetzte Kräfte geben müsse, von denen
das eine rechter Hand und geradeaus führt, das andere aber umlenkt und
wieder zurücktreibt“.100
Die Erlösung scheint also ein Kreis zu sein, dessen Dimension der Zukunft zugänglich ist, nur
indem man den Blick der Vergangenheit wendet und nur wenn man von der Erinnerung aus
gegen einen Sturm „der aus dem Vergessene herweht“,101 fortfährt.
7.
Ethik als Utopie
Ich habe oben behauptet, dass das Denken Benjamins im Laufe der Jahre „phänomenaler“
wird und die anfänglichen Ansprüche, eine Idee sein zu können, aufgibt. Es nähert sich
allmählich einer bescheideneren Konzeption von sich selbst. Und dies nicht nur hinsichtlich
einer Erkenntnistheorie, sondern auch des ethischen Denkens: Der jugendliche pathos in
Bezug auf eine reine, entgegensetzte der traditionalen Ethik wird also nach und nach
aufgegeben. Bleibt also das Thema der individuellen Verantwortung gegenüber der Idee;
dennoch taucht in diesen Schriften das moralische Prinzip der Hoffnung auf eine Ethik, d.h.
die Hoffnung auf eine Wiedererlangung der ethischen Werte, die in der Moderne eben
100
101
GS II/2 437.
Ibidem.
161
verblendet scheinen, auf. Die Philosophie Benjamins wird also immer mehr eine Spannung zu
der Idee, und dies führt sie zu dem Bewusstsein einer von ihr unendlichen Entfernung, welche
die Möglichkeit der Erinnerung utopisch macht. Gerade dieses Bewusstsein ist das Objekt der
Verse, die Scholem in einem an Benjamin gewidmeten Gedicht schreibt:
„In alten Zeiten führten alle Bahnen
zu Gott und seinem Name, irgendwie
Wir sind nicht fromm. Wir bleiben im Profanen
und wo einst Gott stand, steht: Melancholie”.102
102
GERSHOM SCHOLEM, in Glückloser Engel. Dichtungen zu Walter Benjamin, hg. von E. Wizisla und Michael
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162
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worden: Die Werke Benjamins sind in der kritischen Ausgabe: Gesammelte Schriften hg. von R. Tiedemann und
H. Schweppenhäuser, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1972-1989 gesammelt. Die folgenden Bände sind
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