Die Gegenreformation Teil 1

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Bündner
Ki rchengeschichte
Herausgeber: Evangelischer Kirchenrat Graubünden im Auftrag
der Evange lisch -reform ierten Synode des Kantons Graubünden
Mitarbeiter: Hans Berger, Peter Dalbert, Albert Frigg,
Peter Niederstein
Berater:
Otto Clavuot
3.Teil
Die Gegenreformation
von Albert Frigg
Verlag Bischofberger AG, Chur
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In haltsverzeichnis
Vorwort
.
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1. Katholische Reform und Gegenreformation
A) Die Ausbreitung der Reformation . . . .
B) Kaiser Karl V. als Verteidiger des katholischen Glaubens
C) Eine innere Erneuerung der katholischen Kirche
.
0) Das Konzil von Trient
.
E) Im Dienste der katholischen Reform und Gegenreformation
F) Jesuiten und Kapuziner
.
a) Ignatius von Loyola und sein Orden
.
.
b) Die Kapuziner
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2. Die gegen reformatorische Tätigkeit in den Drei Bünden
A) Die Drei Bünde im Spannungsfeld der grossen Politik
B) Der Erzb ischofvon Mailand: Carlo Borromeo
C) Die Zustände in den Südtälern
.
0) Die Visitation im Misox und im Calancatal
E) Die Hexenverfolgungen
.
F) Hexenjagd als getarnte Protestantenverfolgung?
G) Das Strafgericht gegen Dr. Johann Planta . . . .
H) «Mit Fähnlein, Wehr und Waffen zusammenzulaufen»
I) Die Auseinandersetzungen im Veltlin
.
a) Die Frage nach fremden Priestern und Ordensboten
b) Das «Collegium Helveticum» in Mailand
c) Die Lateinschule in Sondrio
.
d) Nach dem Tode von Carlo Borromeo
.
K) Die italienischen Ordensmissionare in den Drei Bünden
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3. Die Bündnerwirren
.
A) Die Zustände im Landesinneren
B) Die Bündnispolitik
.
C) Der Bischofvon Chur im Exil ..
0) Die Prädikanten als politische Streiter
E) Das Thusner Strafgericht . . .
.
F) Der Veltlinermord
.
G) Die Drei Bünde ohne ihre Untertanenlande Veltlin und Bormio
H) Die evangelischen Flüchtlinge . . . .
I) Die Ermordung des Pompejus Planta .
K) Die Demütigung der Evange lischen ..
L) Die ersten Erfolge der Rekatholisierung
M) Der Widerstand der Prättigauer . . .
N) Palmsonntag 1622 in Schiers
0) Der Tod des Fidelis von Sigmaringen
P) «Die Püntner saind nit Menschen!»
Q) Der Lindauer Vertrag
.
R) Die weitere Rekatholisierung
.
S) Der «Hungerwinter 1622/1623»
T) Die katholische Kirche triumphiert
U) Bekehrung mit Gewalt
.
V) Keine Gewalt hat Dauer
.
W) Die Verkündigung in der Volkssprache
X) Die Barock-Kunst
.
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4. In den Unruhen doch noch Hoffnung
.
A) Die Reformierten setzen sich durch
.
B) Weitere konfessionelle Auseinandersetzungen
C) Der Leidensweg der Unterengadiner . . . . .
0) Der Bundestag erörtert die Fragen der Konfessionskämpfe
E) Neue Wirren und neues Elend
.
F) Die Not zeigt den Weg zur Versöhnlichkeit
G) Rohan, «der gute Herzog»
.
5. Die grossen Gestalten in der Zeit der Bündnerwirren
A) Georg Jenatsch .
a) Der Prädikant
.
b) Der Kämpfer
.
c) Die «Vier Wilhelm Teilen»
d) Der «Condottiere» . . ..
e) Die Konversion . . . . .
f) Im Lager der Gegenreformation
g) «Der gewaltige Puntsmann» ..
h) Am Vorabend seines Todes . . .
i) Die Mordtat im «Staubigen Hüetli»
k) Wer waren die maskierten Mörder?
B) Stefan Gabriel
.
a) Der Prädikant und der Zerfall der Sitten im Volke
b) Der Katechet und Literat
c) Der Kämpfer .
d) Im Exil
e) Die Heimkehr
f) Die Pestjahre .
g) Gabriel und die Konversion Jenatschs
h) «Wir aber ... werden bis zur Heiserkeit unter den Rufenden sein»
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6. Entspannung durch Erschöpfung
A) Dem Frieden entgegen
.
B) Eine Standortbestimmung
.
C) Ein letztes Auflodern der Kämpfe
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Literatu rverzeich nis
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Bilderverzeich nis
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Vorwort
Die Reformation mit ihren tiefgreifenden Auswirkungen im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben der damaligen Zeit rief verständlicherweise eine Reaktion der bewahrenden
Kräfte hervor. Die eingetretenen Veränderungen konnten nicht anders denn als Angriff auf
die Einheit des Christentums gedeutet werden. Darum konnte der Versuch, dem «neuen
Glauben» entgegenzutreten und Trennungen
rückgängig zu machen, gar nicht lange ausbleiben.
Der vorliegende dritte Teil der «Bündner Kirchengeschichte» behandelt jene Ereignisse
des 16. und 17. Jahrhunderts, die wir als «Gegenreformation» bezeichnen. Dass neben
theologischen politische Überlegungen und
bis in die Dörfer hinein auch speziell machtpolitische Gründe treibende Kraft waren, wird in
diesem Band mit grosser Sorgfalt berücksichtigt.
Nach einem Blick auf entscheidende historische Bewegungen und Personen in der europäischen Christenheit wendet sich der Autor
deren Ausläufern in den Drei Bünden zu. Eingebettet in europäische Spannungen verstärkten hier familiäre Auseinandersetzungen
geographische Differenzen und wurden mit
Hilfe des konfessionellen Konflikts zu den bekannten «Bündnerwirren». Zwischen Triumph
und Niederlage, zwischen Hoffnung und Ent-
täuschung wogte die Geschichte über die AI pentäler und ihre Bewohner hinweg.
Anhand von persönlichen Schicksalen gibt
der Verfasser Einblick in grössere Zusammenhänge, während einzelne Ereignisse zum Verstehen der damals beinahe unüberblickbaren
Situation hilfreich sind. Der Leser wird mit viel
Geschick in eine Zeit zurückgeführt, die in ihrem äusseren Erscheinungsbild als ebenso
fremd erscheint, wie sie in ihrer «wirren» Suche nach Orientierung und Wahrheit uns
Wohlvertrautes widerspiegelt. Nebst gekonnter Darstellung mag dies ein Grund dafür sein,
dass dieses Kapitel der Bündner Kirchengeschichte uns Heutige so fasziniert.
Der Kirchenrat ist herzlich dankbar, mit dem
Band «Gegenreformation» dem interessierten
Leser ein so schwieriges Kapitel Kirchengeschichte in so ansprechender Form präsentieren zu können. Er wünscht dem Buch einerseits viele aufmerksame Leser, und er ist andererseits gewiss, dass mancher Leser durch
dieses Buch einen neuen Zugang zu dessen Inhalt findet.
Chur, im Juli 1986
Der Evangelische Kirchenrat
Graubünden
Anmerkung des Verfassers des vorliegenden 3. Teils
Bei der Darstellung dieser Geschichte der Gegenreformation in den Drei Bünden sind mir
mehrere Gewährsleute mit Interesse und mit
sachdienlichem Rat zur Seite gestanden.
Gerne benütze ich die Gelegenheit, ihnen für
ihre Anregungen und Handreichungen zu
danken.
Mein besonderer Dank richtet sich an die Kollegen unserer Kommission für die Herausgabe der «Bündner Kirchengeschichte»: Dr.
Peter Dalbert, Chur, Dr. Hans Berger, Chur,
Peter Niederstein, Tamins, sowie Dr. Otto Clavuot, Chur.
Den Herren Dr. theo!. Albert Gasser, Chur, Dr.
phi!. Christian Erni, Chur, und Dr. med. Hans
Rudolf Schwarz, St. Peter, weiss ich mich für
eine Durchsicht meiner Arbeit und für wertvolle Hinweise sowohl auf Stoffliches als auch
auf Formales verbunden.
Bei der Beschaffung von Bildmaterial boten
vor allem die Vorsteher und die Beamten des
Rätischen Museums, der Denkmalpflege
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Graubünden, des Staatsarchives und der Kantonsbibliothek Graubünden und des Bündner
Kunstmuseums in Chur Unterstützung. In verdankenswerter Weise vermittelten die Verlage
Jan Thorbecke, Sigmaringen, F. Schuler,
Chur, Schläpfer & Co. AG, Trogen, die «Tau -av
Produktion» des Kollegiums in Stans, die Herren cand. phi!. Johannes Marx, Chur, Dr. Peter
Dalbert, Chur, lic. phi!. Hans Peter Berger,
Chur, Armin Gredig jun., Churwalden, Dr. Robert F. Schloeth, Zernez, Chefredaktor Stefan
Bühler, Chur, lic. phi!. Linus Bühler, Oberrieden, gute Unterlagen zuhanden der Reproduktion von Photoaufnahmen, Ze ichnungen und
Landkarten.
Albert Frigg
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1. Katholische Reform und Gegenreformation
A) Die Ausbreitung der Reformation
Die Reformation erfasste als eine mächtige
Bewegung das Abendland und erschütterte es
bis in seine Grundfesten hinein, seitdem Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine Thesen
veröffentlicht hatte.
Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verlor die katholi sche Kirche mehr an Boden. Das Werk Luthers, Zwinglis und Calvins und ihrer Gefährten fand bald weite Ausstrahlung. In den deutschen Landen bekannten sich in gewissen Zeiten bis zu vier Fünftein der Bevölkerung zum
«neuen Glauben».
Auf einer Religionskarte von der Mitte des 16.
Jahrhunderts sehen wir, dass sich die Reformation nicht nur in den deutschen Reichsgebieten und in der Eidgenossenschaft, sondern
auch in den Niederlanden, in Eng land, Schottland und Skandinavien ausgebreitet hatte. Sogar im romanischen und osteuropäischen Kulturkreis hatte das evangelische Bekenntnis in
manchen Gebieten gesiegt.
B) Kaiser Karl V. als Verteidiger des
katholischen Glaubens
Die katholische Kirche hatte schwere Verluste
erlitten. Sie wollte nicht weitere Einbrüche in
Kauf nehmen. Daher musste sie ihre Kräfte
zum Gegenangriff mobilisieren.
Ihren fähigsten und mächtigsten «Feldherrn»
sahen die Katholiken in Kaiser Karl V. Als Herr
des Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nation, als König von Spanien, Neapel und Sizilien, Herr der neuentdeckten Gebiete in
Übersee, Universalerbe des gesamten österreichischen Hausbesitzes und Anwärter auf
Böhmen und Ungarn, war er nach ihrer Überzeugung dazu berufen, der füh rende Verteidi ger des gefährdeten katholischen Glaubens in
Europa zu werden. Nicht grundlos hatte er
doch selber schon im Jahre 1521 den Fürsten
in einer schriftlichen Erklärung ausrichten lassen: «Ihr wisst, dass ich abstamme von den al -
lerchristlichsten Kaisern der edlen deutschen
Nation, von den katholischen Königen von
Span ien, den Erzherzögen von Österreich, den
Herzögen von Burgund, die alle bis zum Tode
getreue Söhne der römischen Kirche gewesen
sind, Verteidiger des katholischen Glau bens ... »
Mit seinem starken weltlichen Arm wollte Karl
V. der geschwächten katholischen Kirche zu
Hilfe eilen. Aber er hatte auf der politischen
und militärischen Ebene unerbittliche Gegner,
vor allem die französische Monarchie und - im
Südosten von Habsburg - die stärkste Militärmacht der damaligen Zeit,
osmanische
Reich der Türken. Die ständigen Auseinandersetzungen mit diesen Feinden hinderten ihn
immer wieder daran, seine Kräfte gezielt gegen die Ausbreitung und Festigung der Reformation in den deutschen Landen einzusetzen.
Im Jahre 1546 schien sich die Lage jedoch zugunsten seiner Pläne zu wenden. Karl V. errang mit spanischen und italienischen Truppen im sogenannten «Schmalkaldischen
Krieg» gegen die protestantischen deutschen
Fürsten einige militärische Erfolge.
Aber Karl V. hatte die Widerstandskraft seiner
Gegner - besonders jene einiger deutscher
Fürsten - unterschätzt. Truppen aufständischer Adeliger rückten an und trieben ihn zusehends in die Enge. Nicht nur die evangelischen Fürsten, sondern auch einige katholische, bedrängten ihn, da er ihnen zu mächtig
geworden war. Die Lage verschlimmerte sich
für den Kaiser selbst, der sich auch in einen
Krieg mit Frankreich eingelassen hatte.
Es gab für Karl V. keine Möglichkeit mehr,
seine vormalige Machtposition zurückzuerobern. Er dankte ab. Er hatte sein Lebenswerk,
sein hochgestecktes Ziel, die Einigung aller
Völker im Abendland unter dem Banner des
Katholizismus, nicht erreicht.
Im «Augsburger Religionsfrieden» des Jahres
1555 vereinbarte der Reichstag: die lutherisch -augsburgische Konfession ist gleichberechtigt mit der römisch-katholischen. Die
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Wahl des Bekenntnisses steht den Reichsständen frei: der Landesherr bestimmt die Konfession seiner Untertanen nach dem Grundsatz:
«Wessen das Land, dessen die Religion, bzw.
die Konfession» (<<cuius regio, eius religio»).
In Reichsstädten sollen beide Konfessionen
geduldet werden.
So sprach man jetzt in den deutschen Landen
von einem «Religionsfrieden». Trotzdem
konnte aber nicht von einem Ende der Auseinandersetzungen die Rede sein; im Gegenteil:
der «Augsburger Religionsfrieden» lieferte
reichliche Nahrung für weitere Konfessionsstreitigkeiten.
Mit seiner «weltlichen Gewalt» hatte der «allerchristlichste Kaiser» die Ausbreitung der
Reformation nicht aufzuhalten vermocht. Der
Religionsfriede von Augsburg verhalf beiden
Konfessionen vorderhand zu einem Waffen stillstand. Angesichts der politischen und religiösen Spannungen konnte dieser aber nur
von kurzer Dauer sein.
C) Eine innere Erneuerung der katholischen
Kirche
Der Plan, Europa aus der kaiserlichen Machtfülle heraus - also gewissermassen von oben
her nach unten - zu rekatholisieren, war gescheitert. Gab es aber vielleicht noch eine andere Möglichkeit, der Reformation auf ihrem
Vormarsch Einhalt zu gebieten?
Im katholischen Lager kam man immer mehr
zur Einsicht, dass man im Kampf gegen die
Evangelischen nur dann Erfolge erzielen
könne, wenn man die Kirche selber zunächst
«an Haupt und Gliedern» stärken und erneuern würde. Mit der äusseren Gewalt hatte man
den Protestantismus nicht zu unterdrücken
vermocht. Man sah ein, dass die katholische
Kirche jetzt eine umfassende innere Reform
erfahren müsse, bevor sie in den Kampf ziehe.
Eine solche innere Erneuerung hatte zum Teil
schon vor dem Auftreten von Martin Luther
eingesetzt. In verschiedenen Ländern hatten
sich vereinzelt bedeutsame Anstrengungen zu
Reformen gezeigt. Denken wir an die Reformversuche des Oxforder Theologieprofessors
John Wiclif, an das Schicksal des Magisters
Jan Hus in Prag, und vergessen wir den Florentiner Dominikaner und Bussprediger Girolama Savonarola nicht. An vielen Orten entzündeten sich, meistens unabhängig vonein ander, Feuer der Empörung gegen Papsttum
und Kirche. In diesem Zusammenhange wä ren auch die Katharer und Waldenser zu erwähnen, die bereits im 12. Jahrhundert in den
romanischen Ländern die Vormachtstellung
der Kirche gefährdet hatten.
Erst als bedrohlichere Einbrüche in die kirchlichen Bereiche erfolgten - neben den bereits
genannten Glaubensspaltungen im Deutschen Reich zum Beispiel der Abfall Englands
und die Ausbreitung der Lehre Calvins in
Frankreich -, erkannte Rom, dass es höchste
Zeit geworden sei, gegen «äussere und innere
neue Lehrer und Lehren» nach eigenen tüchtigen und standhaften «Seelsorgern und Führern» für das katholische Volk zu suchen.
In früheren schweren Krisenzeiten der Kirche
waren es öfters Ordensleute gewesen, welche
die nötig gewordenen Reformen in die Wege
geleitet hatten. Wir werden sehen, dass es
auch jetzt wieder in erster Linie Ordensboten
waren, welche die innere Erneuerung der ka tholischen Kirche herbeiführten und verwirklichten; in diesem Zusammenhang wird dann
besonders auf Ignatius von Loyola und auf
den von ihm gegründeten Jesuitenorden hinzuweisen sein.
D) Das Konzil von Trient
Das Konzil von Trient, welches der katholischen Kirche eine innere Stärkung bringen
sollte und um dessen Zustandekommen sich
noch Kaiser Karl V. bemüht hatte, tagte mit
zwei langen Unterbrechungen von 1545 bis
1563 hauptsächlich in Trient.
Die Konzilsväter waren gewillt, in ihren Verhandlungen Beschlüsse einzubringen, welche
dazu dienen sollten, der römischen Kirche
wieder mehr ihre innere und äussere Kraft und
Macht zurückzugeben. Unter dem Eindruck
des weitverbreiteten Abfalls von Rom musste
mit einem solchen Konzil ein deutliches Zei-
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Das Konzil von Trient, 1545-1563
Auf diesem Gemälde im Frauenkloster 51. Klara in Stans bilden die Konzilsväter ein weites Halbrund, in dessen Mittelpunkt Jesus als der Gekreuzigte dargestellt ist.
ehen gesetzt werden: hinweg von Wittenberg,
Zürich und Genf, zurück nach Rom!
Den Konzilsteilnehmern lag daran, zahlreiche
offensichtliche Missstände in der Kirche abzu schaffen. Sie bemühten sich, die typisch katholischen Lehren und Dogmen gegen die reformatorischen abzugrenzen. Sie legten die
Fundamente der Kirchenlehre fest.
Verteidigten die Evangelischen «die Schrift allein» als Glaubensgrundlage, so beharrten die
Konzilsväter darauf, dass die Tradition auch
eine unabdingbare Richtschnur des Glaubens
sei, wobei die Frage offen gelassen wurde, ob
die Tradition die Bibel inhaltlich ergänze, oder
ob sie bloss die verbindliche Interpretation
derselben sei. Schliesslich billigten sie ihrer
Kirche allein das Recht zu, die Heilige Schrift
richtig auszulegen.
Grosses Gewicht erlangte der Konzilsentscheid über die «Rechtfertigung durch Glauben und Werke». Darin hielt man fest, der
Mensch habe wohl die ursprüngliche Gerechtigkeit durch den Sündenfall Adams verloren,
sein freier Wille sei jedoch nicht vernichtet worden, sondern nur geschwächt; der
Mensch werde durch die Gnade Christi gerechtfertigt, aber Gott nehme die Freiheit und
Verantwortung des Menschen ernst; so erlange der Christ die Gnade ohne jedes Verdienst, aber die Vollendung des Heils erfolge
nicht ohne Mitwirkung des Menschen, sodass
das ewige Leben Gnade und Verdienst sei. So
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wurde ein deutlicher Akzent gesetzt, mit dem
man unmissverständlich der reformatori schen Lehre von der Rechtfertigung allein
durch Gnade (<<Sola gratia») entgegentrat.
Weiter entschied das Konzil: die Häufung
kirchlicher Ämter sei untersagt, der Handel
mit denselben verboten. Der heftig umstrittene Geldablass wurde abgeschafft. Die Aufsichtsgewalt der Bischöfe in ihren Diözesen
wurde verstärkt. Zur besseren Ausbildung von
Priestern sollten entsprechende Seminare
eingerichtet werden. Viel Zeit verwendeten
die Konzilsteilnehmer, um die traditionelle
Lehre von den sieben Sakramenten festzusetzen. Indirekt wirkte sich das Reformkonzil
auch dahingehend aus, dass Irrlehren von nun
an durch ein «Verzeichnis verbotener Bücher»
(= «Index») von den Gläubigen ferngehalten
werden sollten.
Manche Beschlüsse der Tridentiner Synode
erlangten grosse Bedeutung für das religiöse
Leben der römischen Kirche bis zur Gegenwart. Anderseits aber dürfen wir nicht übersehen, dass auch mit dem Konzil in Trient nicht
al/zuviel von einer wirklichen «Erneuerung an
Haupt und Gliedern» erreicht wurde.
E) Im Dienste der katholischen Reform und
Gegenreformation
So wurde also die innere Reform der katho lischen Kirche an die Hand genommen. Manche Schäden liessen sich im Ver laufe der Zeit
mehr oder minder erfolgreich beheben.
War man jetzt nach innen unerbittlich, so
wurde man auch nach aussen hin erst recht
unversöhnlich, konsequent und damit kriege risch im wört lichen Sinne.
Ganz Europa sah sich dadurch hineingerissen
in die Auseinandersetzungen der «Gegenreformation».
Die «Aufrüstung» vollzog sich rasch, und zwar
sowohl innerhalb der katholischen Kirche als
auch auf dem politisch-militärischen Boden
der kathol ischen Staaten. Die römisch-katholische Kirche und ihre Fürsten verbanden sich.
Spanien wurde zum Stützpunkt des neu erstarkenden Katholizismus. Es war das Land je-
ner Weltmonarchie, in welcher der Jesuitenorden und die Inquisition bereits seit gerau mer Zeit eine starke Machtposition innehatten.
Das Szepter von Karl V. war an dessen Sohn
Philipp 11. übergegangen. Der neue Herrscher
übertraf während seiner Regierungszeit von
1556 bis 1598 noch seinen Vater, was den Eifer
für den Katholizismus anbelangte .
Spaniens Armeen kämpften unter tüchtigen
Feldherren in verschiedenen Ländern. Alle Fä den liefen bei Philipp 11. zusammen,'dem nach
altspanischer Tradition daran lag, den katholi schen Glauben gegen die äusseren und inneren Feinde mit aller Härte zu verteidigen. Dem
Protestantismus in Frankreich, England und in
den Niederlanden hatte er in seiner Aussenpo litik den Kampf angesagt.
Zielsicher beschickte die habsbu rgisch-spanische Monarchie während des nächsten hal ben Jahrhunderts die strategisch wichtigen
Kriegsschauplätze mit ihren Truppen.
Mit ihren militärischen Feldzügen sollten zugleich die konfessionellen erfolgen. Für diese
letzteren konnte niemand geeigneter sein als
die Jesuiten und die Kapuziner. Diese «Soldaten, Eroberer, Gesetzgeber und Schriftgelehrten» aus den wieder erstarkenden katholischen Stammlanden sollten die Abtrünnigen
erneut zum katholischen Glauben zurückfüh ren.
F) Jesuiten und Kapu ziner
a) Ignatius von Loyola und sein Orden
Ignatius von Loyola, der Begründer des Jesui tenordens, wurde im Jahre 1491 geboren. Er
stammte aus einem alten baskischen Adelsge sch lecht. Als Heranwachsender lebte er als
Page an den Höfen verwandter hoher Aristo kraten. An den gleichen Stätten sehen wir ihn
später als ausgelassenen, lebenslustigen Offi zier.
Bei der Verteidigung von Pamplona gegen die
Franzosen verletzte eine Kugel dem Dreissig jährigen ein Be in schwer. Wochenlang lag er
darnieder. In dieser Zeit las er die «Geschichte
Jesu» eines frommen Kartäusers und versch iedene m ittelalterl iche Heil igen legenden;
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durch eifrige Lektüre erlebte er eine starke Sinneswandlung. Aus dem unbeschwerten und
ehrgeizigen Hauptmann wurde ein schwärmerischer «Soldat Christi» und Verehrer der
Mutter Jesu, Maria, und des Apostels Petrus.
Von Stunde an wollte er seine Kräfte in den
Dienst der Kirche stellen.
Er verliess das väterliche Schloss, weihte
seine Waffen und seine Rüstung der «Muttergottes» und zog als Pilger, Asket und Bettler
umher und reiste nach Palästina, um dort Mohammedaner zu bekehren. Nach seiner Rückkehr eignete er sich eine höhere Schulbildung
an.
Die Erfahrungen, welche er bei der Suche
nach Gott gemacht hatte, schrieb er in seinem
Werk «Exercitia spiritualia» (<<Geistliche
Übungen») nieder. Diese Schrift sollte auch
andere Menschen dazu anregen, durch «Exerzitien» (Gebete und Betrachtungen, die gewöhnlich alljährlich während vier Wochen unter Leitung eines kundigen «Seelenführers»
abgehalten werden) ihre Frömmigkeit zu vertiefen.
Trotz anfänglichen Auseinandersetzungen
mit der Inquisition, welche sich wiederholt
misstrauisch mit dem «Schwärmer» befasste,
sammelte Ignatius von Loyola einen kleinen
Kreis von Anhängern um sich. In einer Kirche
auf dem Montmartre in Paris verbanden sich
die Gesinnungsgenossen im Jahre 1534 zur
«Societas Jesu» (<<Gesellschaft Jesu»); 1540
erhielt ihre Vereinigung durch den Papst die
Bestätigung als Orden.
Ihre Hauptaufgabe sahen die Jesuiten vorderhand in der Mission. In Palästina und anderwärts wollten sie im Dienste des Papstes und
ihrer Kirche wirken. Wegen des herrschenden
Türkenkrieges konnten sie aber nicht in den
Nahen Osten ziehen. So widmeten sie sich auf
italienischem Boden der «inneren Mission»:
der Volkspredigt, der Krankenpflege und der
Waisenfürsorge.
Im Jahre 1540 wurde Ignatius von Loyola zum
General des Ordens gewählt. Rom wurde zum
ständigen Sitz des Jesuitengenerals.
Mit der Zeit erwies es sich immer deutlicher,
dass der neue Orden zu einer durchexerzierten einsatzbereiten geistlichen Armee werden
sollte. Nach dem Willen des Begründers
musste sie sich vor allem durch Gehorsam
auszeichnen. Die Ordensboten sollten für die
äussere und die innere Mission kämpfen.
Um dieser Aufgabe genügen zu können,
mussten die Mitglieder des Kampfordens der
«Gesellschaft Jesu» geistig auf das beste vorbereitet werden. Es wurden Jesuitenkollegien
gegründet. Noch zu Lebzeiten des Ignatius (er
starb im Jahre 1556) wurde in Rom die «Universitas Gregoriana» eröffnet. 1552 nahmen
deutsche Theologiestudenten ihr Studium am
«Collegium Germanicum», einem theologischen Seminar zur Ausbildung deutscher
Geistlicher, in derselben Stadt auf.
Die Jesuiten sammelten nun ihre Kräfte auf
das Zie l hin, die Alleinherrschaft der katholischen Kirche wiederherzustellen. Durch
streng methodisches und systematisches Vorgehen suchten sie, dieses Ziel zu erreichen. Zu
ihren wichtigen Waffen wurden der Unterricht
und die Beichte. Für die oberen Schichten
pflegten sie die höhere Bildung, dem Volke
machten sie die Heiligen- und Marienverehrung und den Rosenkranz lieb. Wo immer die
Jesuiten Zugang fanden, empfahlen sie den
Gläubigen häufige Beichte und Kommunion,
eifrigen Besuch der Messe, Verehrung der Reliquien und Teilnahme an Wallfahrten.
Die «Gesellschaft Jesu» erlebte innert kurzer
Zeit eine starke Ausbreitung. Besonders fest
fasste sie Fuss in Italien und Spanien, im habsburgischen Reich und in überseeischen Gebieten.
Der habsburgische Einfluss aber reichte bis in
die Drei Bünde. So ergab es sich von selbst,
dass die Jesuiten recht bald auch auf rätischem Boden tätig wurden.
b) Die Kapuziner
Die Kapuziner hatten sich im Jahre 1528 vom
Franziskanerorden (<<Ordo fratrum minorum»,
abgekürzt: «O.F.M.») abgezweigt und bildeten
von 1619 an eine neue selbständige Bruderschaft.
Die Grundlagen für diesen Ordenszweig waren die alten franziskanischen Regeln. Es ging
da für die Mönche um die stille Besinnung in
der klösterlichen Gemeinschaft und um den
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In alle Welt sollten sie hinausgehen, um in Klöstern und
ausserhalb derselben als Missionare
den
katholischen
Glauben wieder zu festigen: so
verstanden sich die Kapuziner
selber
als
franziskanische
Sendboten im Dienste ihrer rö mischen Kirche.
Zeitgenössischer Kupferstich.
Dienst am Mitmenschen. Die Ordensleute verpflichteten sich zu Predigt, Seelsorge, Liebesdienst und zur Armut, wie sie Franz von Assisi
gelebt hatte.
Aber jetzt kam für sie ein neues Element hinzu.
Angesichts der Konfessionskämpfe sollten
von nun an die Kapuziner ganz besonders
auch zur Wiederbelebung der katholischen
Frömmigkeit beitragen.
Rasch bildete sich der äussere Rahmen. Der
Orden formierte sich zu einer selbständigen
Organisation unter dem Schutze der höchsten
römisch-katholischen Zentralbehörde, der Kurie in Rom.
Die Kirche benötigte Missionare. Sie brauchte
sie jetzt nicht nur auf fernen Kontinenten, son dern in den eigenen Landen. So wurde der Ka puzinerorden zu einer angriffigen Missionsgesellschaft im Dienste der Gegenreformation.
Innert kurzer Zeit nahmen die einfachen Männer in ihren groben braunen Kutten als «Franziskaner der Gegenreformation» Wohnsitz in
Frankreich, Spanien, Österreich, sodann in der
Eidgenossenschaft und in den Drei Bünden.
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2. Die gegenreformatorische Tätigkeit in den Drei Bünden
A) Die Drei Bünde im Spannungsfeld der
grossen Politik
Die Bewegungen der Reformation, der katho lischen Reform und der Gegenreformation
sind untrennbar mit den grossen politischen
Auseinandersetzungen ihrer Zeit verbunden.
So soll hier denn auch andeutungsweise auf
die Machtkämpfe der damaligen Grossmächte Habsburg, Frankreich, Türkei und
England eingegangen werden.
Das Haus Habsburg war im ausgehenden Mittelalter zwar den Hellebarden der Eidgenossen nicht gewachsen, verzeichnete aber auf
dem friedlicheren Wege der Heiratspolitik beneidenswerte Erfolge. Den Habsburgern fielen um die Wende zur Neuzeit durch Heirat
und Eroberungen so viele Gebiete zu - das luxemburgische Erbe, ebenso das burgundische, das spanische und das mailändische -,
so dass der Universalerbe Karl über ein Reich
gebot, «in dem die Sonne nicht unterging».
Zum Römischen Kaiser Deutscher Nation gekrönt, bemühte sich Karl V., die Einheit des
Glaubens - und das konnte natürlich nur bedeuten: des katholischen Glaubens - in seinem Reiche herzustellen, um nach aussen hin
kraftvoll und geschlossen auftreten zu können.
An Gegnern seiner Machtfülle fehlte es nicht.
So bedrängten, wie schon früher erwähnt, die
Türken vom Balkan her sein Reich; und der
ehrgeizige französische König Franz I. setzte
zeitlebens alle Mittel ein, um die habsburgisch-spanische Klammer um Frankreich zu
sprengen.
Die grundsätzlich feindselige Haltung des
französischen Königtums gegenüber Habsburg blieb auch nach dem Rücktritt Karls V. im
Jahre 1555 erhalten. Zwar wurde damals das
Reich geteilt. Karls Bruder Ferdinand I. erhielt
neben den habsburgischen Stammlanden
samt Böhmen die Kaiserkrone, während Karls
Sohn Philipp 11. als König von Spanien auch
die habsburgischen Vorlande erbte, nämlich
Neapel, Sizilien, Sardinien, Mailand, die Frei grafschaft Burgund und die Niederlande.
Dem stolzen spanischen König war kein Opfer
zu gering, um zwei Ziele seiner Politik zu errei chen: die unbestrittene Vorherrschaft Spa niens in Europa und die Einheit des Glaubens
in seinem Reiche. Dadurch blieb er verstrickt
in Kriege gegen die Türken, gegen Frankreich
und England, aber auch gegen die eigenen
Untertanen in den Niederlanden, welche für
ihre alten Rechte und für die Freiheit ihres calvinistischen oder lutherischen Bekenntnisses
kämpften.
Stärkung der königlichen Macht und gegen re formatorischer Einsatz für die Einheit der katholischen Konfession waren dann auch erklärte Ziele des späteren Habsburgerkaisers
Ferdinand 11. (1619- 1637). Am Anfang des
Dreissigjährigen Krieges (1618- 1648) erran gen für ihn die Heere des katholischen Fürstenbundes der Liga und des Feldherrn Al brecht von Wallenstein grosse Erfolge gegen
die aufständischen Böhmen und gegen protestantische deutsche Fürsten.
Durch die wachsende kaiserliche Macht alarmiert, griff der erste Minister Ludwigs XIII. von
Frankreich, Kardinal Armand de Richelieu, ins
Geschehen ein. Er scharte die Gegner Habsburg-Spaniens um sich: zahlreiche deutsche
Fürsten, Schweden, die Republik Venedig.
Diese Kampfgefährten unterstützte er zunächst mit Geld, dann mitWaffen und Heeren.
Mit dem Westfälischen Frieden (1648) und
dem Pyrenäenfrieden (1659) erreichte Frankreich zu seinem eigenen Vorteil eine empfindliche Schwächung der spanisch-habsburgischen Macht. Damit war gleichzeitig der Höhenflug beendet, der mit Karl V. unter der Devise «Ein Gott, ein Glaube, ein Reich!» begonnen hatte.
Der Dreissigjährige Krieg wurde vor allem auf
dem Boden der deutschen Reichsländer ausgetragen; zwar blieben die protestantischen
deutschen Gebiete dank schwedischer und
französischer Hilfe siegreich, aber sie zahlten
18
dies mit Elend, Entvölkerung und Verödung
weiter Landstriche.
Als einziger Stand der Alten Eidgenossen schaft wurden die Drei Bünde in diesen euro päischen Krieg verwickelt. Dies war gegebenermassen die Folge ihrer exponierten geopolitischen Lage, aber in tragischer Weise zugleich auch ihrer inneren Schwäche.
Die bei den Machtblöcke Österreich und Spanien berührten sich nirgends direkt. Ihre dünn ste «Koppelungsstelle» war das zwischen
dem spanischen Mailand und dem österreichischen Tirol liegende Gebiet der Drei
Bünde. Daraus ergab sich zwangs läufig das
brennende Interesse der beiden Grossmächte
an diesem Passland, aber auch - was nicht
übersehen werden darf - die Abhängigkeit der
Bündner von deren Wohlwollen. Der einträg liche Transit und Handel und damit das Lebenselement des Freistaates beruhte auf der
Freundschaft mit Mailand und Österreich.
Einer Begünstigung der habsburgischen
Mächte Spanien und Österreich durch die
Bündner standen aber die Interessen Frankreichs und der mit ihm verbündeten Republik
Venedig entgegen. Frankreich hatte seine al ten Ansprüche auf das Herzogtum Mailand nie
aufgegeben und war nach wie vor bestrebt,
das Passland als das Tor Mailands nach dem
Tirol unter seine Kontrolle zu bekommen. Und
der Dogenrepublik stand, wie der Bündner
Pfarrer Bartholomäus Anhorn im 17. Jahrhundert schrieb, «dieser Pass nit allein des commerzii und kaufmans gewerben, sondern auch
des Kriegsvolks wegen» sehr nahe. Venedig
unterstrich sei ne Freu ndschaft zu m Drei bü ndenstaat mit der Gewährung des Niederlassungsrechtes für rund fünftausend Bündner
mit ihren Famil ien.
Verhängnisvoll wirkte es sich aus, dass diese
vier Mächte, Österreich, Spanien, Venedig
und Frankreich, mit ihren Agenten und Unterhändlern vorerst heimlich, dann aber öffentlich unser Land umwarben und an Geld nicht
sparten, wenn es darum ging, die Gunst der
Gemeinden oder einflussreicher Persönlichkeiten zu gewinnen. Solcher gezielter Einflussnahme mit ihren verheerenden Auswirkungen
stand der Staat machtlos gegenüber. Seine
Schwäche hatte mancherlei Ursachen. So
fehlte jede Zentra lgewalt. Die wichtigsten Entscheidungsbefugnisse lagen bei den rund
fünfzig Gerichtsgemeinden, welche sich denn
auch als weitgehend autonome Staaten im
Staate gebärdeten. Deren Verwaltung, wie
auch die Verwaltung der Untertanengebiete
Veltlin, Bormio und Chiavenna, lag oft in unwürdigen Händen. Man gewinnt den Eindruck, dass kaum jemand da war, der wirksam
die Korruption bekämpft hätte. Der Ämterkauf
war eine Selbstverständ lichkeit. Widersprüchliche wirtschaftliche und politische Interessen
konnten sich hemmungslos ausleben.
Ohne dabei die eigenen Taschen zu vergessen, vertraten die einen, angeführt von der aus
Soglio stammenden Familie von Salis, die Anliegen von Frankreich und Venedig. Andere
scharten sich um die Familie von Planta mit
dem Stammsitz in Zuoz, um die Gemeinden
für die Vorzüge eines Bündnisses mit Österreich und Spanien zu gewinnen.
Es ist klar: je mehr sich die ausländischen
Grossmächte um Anhänger in den Drei Bün den stritten, umsomehr steigerten sich in diesem Passland selbst die Spannungen und die
Auseinandersetzungen.
Das Bündnervolk war ja auch konfessionell
gespalten. Zwar hatte der Gegensatz zwischen
Katholiken und Reformierten bisher nie, wie
unter den Eidgenossen, zu offenem Krieg geführt. Jetzt aber traten militante Streiter auf.
Schlimmes musste befürchtet werden.
Dem wachsenden Einfluss der Grossmächte
ausgesetzt, spekulierten die einen immer
mehr darauf, mit Hilfe Spaniens die verblichene Macht der katholischen Kirche in Rätien
wieder herstellen zu können; die anderen
warnten eindringlich vor einem Bündnis mit
Mailand, welches unweigerlich den Einzug
der spanischen Inquisition in den Bünden zur
Fo lge haben würde.
Wir sehen: Rätien war zum Zankapfel entfesselter Grossmächte von «draussen» geworden; im Lande «drinnen» konnten fatale Ere ig nisse nicht mehr ausbleiben. Der Dreibünden staat sah sich ausserstande, angesichts der
drohenden Weltlage eine Neutralitätspolitik
19
uneigennützigen Diplomaten und Politikern
beider Konfessionen.
Die Drei Bünde waren den grossen politischen
Stürmen wehrlos ausgeliefert.
zu betreiben. Dazu fehlte ganz einfach die innere Geschlossenheit. Es mangelte an wirtschaftlicher Stärke, an einer wirksamen Landesverteidigung sowie an geschickten und
Die Drei Bünde im europäischen Spannungsfeld
Frankreich
Deutsche Reichsgebiete
Österreich
(Hahshurg)
Herzogtum Savoyen
Republik Venedig
Herzogtum Mailand
(spani ch-hahshurgisch)
B) Der Erzbischof von Mailand :
Carlo Borromeo
Als Initiant des Kampfes gegen die Reformierten in den Drei Bünden, in deren Untertanenlanden und in der Eidgenossenschaft trat gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine umstrittene mächtige Persönlichkeit in Erscheinung:
Kardinal Carlo Borromeo, der Erzbischof von
Mailand.
Borromeo war ein Neffe von Papst Pius IV. Als
päpstlicher Bevollmächtigter hatte er am Kon-
zil von Trient teilgenommen. Man war von
höchster Warte her entschlossen, auf dem Boden der Eidgenossenschaft und Rätiens einen
besonders erfahrenen und profilierten Mann
für die Aufgaben der Reform und der RekathoIisieru ng ei nzusetzen.
er ielt den Titel: «Protector
Der
Helvetiae». Diese Bezeichnung konnte nicht
bloss «Beschützer Helvetiens» bedeuten, sondern sagte zielgerichtet aus: «Beschützer des
Katholizismus in der Eidgenossenschaft».
20
Kurzbiographie des Carlo Borromeo
2. Oktober 1538
Geburt in Arona am Lago Maggiare.
Carlo ist ein Kind der wohlhabenden Mailänder Bankiersfamilie Borromeo. Seine Mutter Margherita de Medici ist die Schwester des Kardinals Giovanni Angelo Medici, welcher 1559 als Pius IV. Papst wird
1559
Abschluss des Studiums bei der Rechte mit dem Doktorat.
Einstieg in eine glänzende Karriere als Vertrauensmann des Papstes
und später als päpstlicher Bevollmächtigter am Konzil von Trient
1560
Ernennung zum Kardinaldiakon und ständigen Verwalter des Erzbistums Mailand.
Verleihung des Titels: «Protector Helvetiae», d.h. des Beschützers der
sieben katholischen Orte der Eidgenossenschaft
November 1562
Erschütterung durch den frühen Tod seines ältesten Bruders Federico. Innere Umkehr. Zuwendung zu strengen asketischen Übungen
1563
Priesterweihe, und noch im gleichen Jahre Weihe zum Bischof
1565
Ernennung zum Kardinalerzbischof von Mailand.
Es folgt ein fast zwanzigjähriges Episkopat, geprägt von unentwegter
Reformtätigkeit, Visitationsreisen, Gründung neuer Kongregationen
und Ausbildungsstätten für Geistliche, Ausführung von Tridentinischen Reformdekreten, Organisation materieller und pastoraler Hilfsdienste im Pestjahr 1576 u. a. m.
1567
Erste Reise in das Tessin. In Bellinzona Zusammentreffen auch mit Gesandten aus Uri, Schwyz und Unterwaiden
1570
Zweite Reise, eigentliche «Schweizerreise», nach dem Tessin, nach
Luzern, Zug, Einsiedeln, St. Gallen, Schwyz, Rorschach.
Herstellung von Kontakten auch mit den führenden Katholiken in Bünden.
Auf die vielfältigen Initiativen Borromeos gehen u. a. zurück: die
Gründung einer ständigen Nuntiatur in der Eidgenossenschaft, die
Berufung der Kapuziner, die Gründung des Jesuitenkollegiums in Luzern (1574) und die Grundsteinlegung zur Ausbildungsstätte für
schweizerische Geistliche «Collegia Elvetico» in Mailand
1581
Visitationsreise nach Bünden. Festlicher Einzug in Disentis/Muster.
Der gefeierte Pilger aus Mailand betet vor den Reliquien der Klosterheiligen Placidus und Sigisbert
Vor 1583
Ernennung zum päpstlichen Delegaten und zum Visitator der Eidgenossenschaft und der Drei Bünde
November 1583
Visitationsreise ins Misox und Calancatal
3. November 1584
Todestag
1610
Heiligsprechung
21
Im Jahre 1586 schlossen die katholischen Orte der Eidgenossenschaft zum Schutz ihres Glaubensbekenntnisses den «Goldenen Bund» (später als «Borromäischer Bund» bezeichnet). Anlässlich der Bestätigung dieses Bundes im Jahre 1655 präsentierte der Luzerner Buchdrucker
David Hautt einen Einblattdruck mit diesem Porträt Borromeos.
22
Ein fast legendärer Ruf ging Carlo Borromeo
voraus. Man erzählte Grossartiges über seine
Selbstlosigkeit, seinen glühenden echten
Glauben und seine sittliche Reinheit und asketische Strenge. Aber man
gleichzeitig
kein Hehl daraus, dass er ein unnachgiebiger,
leidenschaftlicher Eiferer sein könne.
Als «Protektor» führte Borromeo drei Reisen
in die Eidgenossen's chaft durch. Auf der zwe iten Reise, im Jahre 1570, nahm er unter anderem Verbindungen mit dem Abt des Klosters
Disentis/Muster, mit Landrichter Peter Bundi
vom Grauen Bund und mit dem Bischof von
Chur, Beatus Porta, auf. Es ging ihm dabei
um Wichtiges. Er trug sich mit dem Plan, auf
rätischem Boden ein Bollwerk des Katholizismus zu errichten. In seinen Augen stand es in
den Drei Bünden arg um die kirchlichen und
politischen Verhältnisse. Die Reformierten
hatten sich nach seinem Ermessen bereits zu
viel Boden gesichert, und in den katholischen
Pfarreien herrschten teils bedenkliche Zustände. Der «Beschützer Helvetiens» wusste
sich dazu aufgerufen, auch als «Besch ützer
des Katholizismus in Rätien» im Passland und
in dessen Untertanengebieten tiefgreifende
Reformen nach den Weisungen der Tridentiner Synode in die Wege zu leiten.
Wie sollte der Erzb ischof von Mailand das
Werk an die Hand nehmen? Es gab da ein
grosses Hindernis: weil die Drei Bünde nicht
zum Erzb istum Mailand gehörten, besass er
keine Erlaubnis, hier seines Amtes zu walten.
Trotzdem besuchte er im Jahre 1581 das Kloster Disentis/Muster. Noch ehe zwei Jahre um
waren, ernannte ihn Papst Gregor XIII. zu seinem Delegaten und zum Visitator der Schweiz
und der Drei Bünde und stattete ihn dazu mit
grossen Vollmachten aus.
Dem von Rom so ehrenvoll Gewürdigten lag
daran, pflichtbewusst seine Aufgaben auszuführen. Noch im gleichen Jahre, 1583, visitierte er das Misox und das Calancatal.
C) Die Zustände in den Südtälern
Die benachbarten Bistümer südlich der bündnerischen Stammlande waren arg verwahrlost. Wir vernehmen da etwa Stimmen, die sagen, in der Mesolcina sei das Volk vor der Ankunft Borromeos als Folge einer unerhörten
Ignoranz im Aberglauben versunken gewesen. Der Hexenwahn sei stark verbreitet gewesen. Es hätte Zeiten gegeben, da der Aberglaube dem Volke so im Blute gesteckt habe,
dass die Gerichte auf Grund blosser Denunziation in grausamer Weise Todesurteile ausgesprochen und vollzogen hatten. Nirgends im
Mesocco
23
rätischen Lande hätten Volk und Priester in so
grober Unwissenheit dahingelebt wie im Misox.
Die Evangelischen hatten im Tale an Boden ·
gewonnen. Von der Apenninen-Halbinsel her
waren wiederholt einze lne Glaubensflüchtlinge ins Misox gekommen und hatten sich
hier in verschiedenen Dörfern niedergelassen.
Gegen den Widerstand der eidgenössischen
katholischen Orte und des Grauen Bundes
hatten auch Glaubensflüchtlinge aus Locarno
den Weg in dasselbe Tal gefunden. Die evan gelischen Familien in dieser Diaspora standen
in Verbindung mit ihren Glaubensgefährten
im Rheinwa ld. Auch im Ca lancata l lebten
meh rere Reform ierte.
Aufschlussreich sind die Berichte des Jesuitenpaters Achille Gagliardi, des einen Beglei ters von Carlo Borromeo, über die kirchlich re lig iösen Zustände im Misox. Da wird das fo lgende düstere Bild gezeichnet: das Tal sei
ganz in den Händen von geflüchteten abgefallenen Gläubigen, welche nun hier als Seelenhirten dienten. Einige derse lben hätten ketzerische Lehren verbre itet, andere hätten durch
ihren schlechten Lebenswandel ein ungutes
Beispiel gegeben. Viele im Volke seien durch
diese Hirten zum Abfall verführt worden.
Se lbst der Propst von San Vittore, der höchste
Würdenträger im Tale, se i von der Häresie an-
Roveredo
gesteckt und als Hexenmeister tätig gewesen.
Der Jesuitenpater führte die Liste der Missstände noch weiter: das ganze Tal habe von
Wucher, illegitimen Ehen, gefährlichen und
oft zu Mordtaten führenden Zwistigkeiten und
Feindschaften nur so gestrotzt. Es habe sich
eine nicht zu übertreffende Unwissenheit ausgebreitet. Es hätte sich niemand der Unterwei sung in der christlichen Sitte und Lehre angenommen.
Soweit also der Bericht des einen Begleiters
von Carlo Borromeo.
Von evangelischer Seite dagegen verlautete:
die Reformation habe im Tale stark aufgeräumt mit den Tanzveranstaltungen, mit dem
Maskeraden-Treiben, mit unhaltbaren Zustän den in Wirtshäusern; sie habe den ausserehelichen Verbindungen den Kampf angesagt
und habe zu strenger Zucht geführt.
Welche der verschiedenen Berichterstattungen ist nun sachlich? Aussagen standen da gegen Aussagen. Die Leidenschaften waren auf
beiden Seiten, bei Katholiken wie bei EvangeIischen, entfesselt.
Sicher auszumachen ist angesichts der kon fessionellen Zerstritten heit ei nzig und aIlei n,
dass die Spannungen und Differenzen in der
Region so gross waren, dass es eines Tages zu
einer gewaltsamen Auseinandersetzung kom men musste.
24
Sta. Maria im Calancatal
D) Die Visitation im Misox und im Calancatal
Am 12. November 1583 betrat Kardinal Borromeo in Roveredo den rätischen Boden. Einem
mailändischen Jesuiten und Juristen war es
vorher in geschickten Verhandlungen gelungen zu erwirken, dass dem Kirchenfürsten nun
beim Grenzübertritt keine Schwierigkeiten
mehr bereitet würden.
Der päpstlich bevollmächtigte «Beschützer»
war begleitet vom Jesuiten Achille Gagliardi,
dem Kapuzinerpater Panigarola und dem Kanonikus Ottavio Albiati, alle hervorragende
Prediger.
Borromeo wusste sich dazu beauftragt, auf
sei ner Inspektionsreise in diese Region einerseits als Prediger und Seelsorger zu wirken
und die katholische Kirchendisziplin wieder
herzustellen, anderseits gegen die Lauheit anzukämpfen und die Häresie auszurotten und
so eine Reform an Haupt und Gliedern einzuleiten.
Bald spürten seine Gegner, dass sie es mit
einem unerbittlichen Streiter zu tun hatten. Erschrocken stellten sie fest, dass der Visitator
eben nicht bloss zu einer Visite oder Inspektion ins Tal gekommen war, sondern um hier
gleichzeitig auch wie ein Strafrichter «Ordnung zu schaffen». Es kam der Tag, an weIchem in einem Protokoll der Evange lisch -Räti-
schen Synode vermerkt wurde, es sei in Carlo
Borromeo eine unglücksverheissende Bestie
(<<inauspicata bestia») in die Südtäler eingedrungen.
Borromeo besuchte alle Pfarreien des Misox
und des Calancatales. In den Dörfern richtete
er sein Augenmerk auf die Priester und die
Mönche, besonders auf jene, die wankelmütig
oder abtrünnig geworden waren. Ent laufene
Mönche wurden wieder in die Klöster zurückgeholt.
Der Propst von San Vittore, Domenico Quattrini, wurde als Häretiker vor Gericht gestellt,
zur Strafe seiner Würde entkleidet und in den
Laienstand versetzt. An seine Stelle berief Borromeo den hervorragend geschulten Akademiker Dr. Pietro Stoppani (Giovanni Pietro
Stupano), Rektor des Helvetischen Kollegs in
Mailand. Zugle ich ernannte er den neuen
Propst auch zum Pfarrer von Roveredo und
Santa Maria im Calancatal. Dieser ausgezeichnete Würdenträger wurde für Priester, Ordensleute und Laien die zentrale kirchliche Gestalt in der Region. Aber er sollte nicht der einzige verlässliche Priester aus dem Mailändischen sein; Jesuiten, Boten anderer Orden
und eifrige Weltpriester wurden von dort hergeholt und in den Gemeinden der ennetbirgischen Täler der Drei Bünde eingesetzt.
25
lich bei einem «Ausreissen» geblieben. Man
unternahm es ebenso leidenschaftlich, neu
anzupflanzen. Die Devise lautete: «Hinweg
mit dem ,Ketzertum' und neu angesät die ursprüngliche Saat!» Sie stimmte überein mit
den Forderungen des Konzils von Trient.
Sorgfältig wurde die Heranbildung tüchtiger
Priester an die Hand genommen. Die Reform
«am Haupte» durfte kein leeres Versprechen
bleiben. Aber auch «die Glieder» sollten neu
gestärkt werden. Man ging daran, die Bruderschaften neu aufzubauen. Drei solche begrün dete der Erzbischofvon Mailand im Misox: die
Bruderschaft des allerheiligsten Sakramentes,
der Messe (um dadurch im Volke wieder die
Benutzung des Sakramentes zu fördern), die
Rosenkranzbruderschaft zur Förderung der
Marien -Verehrung und zur Bekämpfung des
«neuen Geistes der Reformation» und - zum
gleichen Zwecke - die Bruderschaft des Märtyrerheiligen Petrus von Verona.
Die Kirche von Soazza im Misox
Die Kapelle S. Carlo Borromeo in Lostallo im Misox. Bei
einer Visitation von 1611 bewilligte der Bischof diesen
Bau, und im Jahre 1633 wurde die Kapelle dann zu Ehren
von Carlo Borromeo eingeweiht.
Auch die Schulen wurden nun gefördert, Bü cher und Katechismen neu gedruckt und verbreitet. Schriften, welche im Volke zirkulierten
und nicht mit den katholischen Lehren übereinstimmten, wurden eingezogen und verbrannt.
Borromeo regte an, in Roveredo ein Jesuitenkollegium zu gründen, an dem ein tüchtiger
neuer Klerus herangebildet werden sollte. Der
Plan liess sich aber nicht ausführen. Das Referendum der Bündner Gemeinden gestattete
es nicht, landesfremde Jesuiten als Lehrer an
eine solche Schule zu berufen.
Was sich nun in dieser Region vollzog, war
nicht bloss ein Streben nach einer inneren Reform, sondern auch ein ausgesprochen poli tisch ausgerichteter Katholi zismus.
«Säuberungen» waren jetzt fast an der Tagesordnung. Aber nie wäre es dabei ausschliess-
26
Arvigo im Calancatal
Die Erfolge Borromeos und seiner Gefährten
zeigten sich recht deutlich.
Innert kurzer Zeit sahen sich die Evangeli schen in den Gemeinden ihrer Prädikanten beraubt. Von einer Stunde zur anderen wurden
Letztere gezwungen, entweder in den Schoss
der katholischen Kirche zurückzukehren, oder
aber ihre Wirkungsstätten zu verlassen und in
Richtung Norden zu fliehen.
Vier evangelische Familien von Andergia,
dem obersten Dorfe im Misox, (u.a. die Toscano und Alberti), hatten schon beim Aufkom men des Gerüchtes, dass Borromeo ins Land
kommen würde, Hals über Kopf das Tal verlassen. Jene aber, welche es wagten, in den Dörfern zu bleiben, wurden von den Häschern des
Kardinals aufgespürt, gefasst, als Hexen und
Hexenmeister verhört und - wenn sie nicht bereit waren, sich zu unterwerfen - dem weltlichen Gericht zur Aburteilung überantwortet.
Ein schreckliches Geschehen nahm damit sei nen Anfang.
E} Die Hexenverfolgungen
Als Carlo Borromeo am 26. November 1583
sich talaufwärts nach Mesocco begab, um
dort seine «Visitation» fortzusetzen, blieb sein
Gefährte Franz Barsotto, Jesuit und Jurist, in
Roveredo zurück. Hier wollte er die Hexenprozesse durchführen und ein Exempel statuieren, damit man auch anderwärts wisse, dass
man es mit dem Werk der Rückkehr in die ka tholische Kirche ernst meine. Der Jurist und
gestrenge Theologe fühlte sich als Hüter von
Recht und Vollstrecker des Gerichtes, indem
er sich auch in Roveredo mit dem Vollzug des
Prozesses gegen die Hexen befasste (<<A Rovereto occupato nella perfezione dei processi
contro le Streghe»).
Mit diesem Hinweis befinden wir uns unversehens bei einem düsteren Kapitel der Geschichte, beim Thema: «Hexenverfolgun gen».
Der Hexenwahn war damals - und auch später
- unter den Anhängern beider Konfessionen
stark verbreitet. Man hatte bereits vor der Reformation und während derselben da oder
dort - zum Beispiel im Jahre 1432 in Thusis Hexenprozesse geführt. Jedoch darf man sa gen, dass es sich dabei nur um einzelne Vorkommnisse gehandelt hatte.
Zu einer allgemeinen Hexenjagd kam es erst
später, das heisst, erst gegen das Ende des 16.
Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt wurde für
die Drei Bünde die inquisitorische Tätigkeit
Borromeos in den ennetbirgischen Tälern
zum entscheidenden Signal für eine wahnwitzige Hexenverfolgung. Durch das radikale
27
Verhöre, Folterungen und Hinrichtungen - eine Darstellung aus dem
Jahre 1514.
Wirken und Vorgehen des Kardinals kam es zu
einem wahren Sturm auf «Zauberer, Unholde,
Hexen und Hexenmeister».
Padre Achille Gagliardi, der Begleiter Borromeos, berichtet uns über die Vorkommnisse
in den Südtälern in aller Offenherzigkeit: viele
Einwohner hätten zugegeben, dass sie mit
dem Teufel im Bunde stünden, dass sie nächtliche Zusammenkünfte hätten, auch dass sie
andere Menschen, besonders Kinder, mit dem
Pulver getrockneter Kröten oder mit Totengebeinen umgebracht hätten.
Auf das Betreiben der Visitatoren und Inquisitoren aus dem Mailändischen kam es in der
Mesolcina und im Calancatal zu zahlreichen
Verzeigungen. Die Angeschuldigten wurden
zum Verhör geschleppt und auf einen Stuhl
gebunden. Dann mussten sie uferlos Fragen
beantworten, Beichten ablegen und sich unter
gewaltigem psychischem Druck Bekenntnisse
abpressen lassen. Die Verhöre wurden für die
meisten zu einem «Inferno», zur Hölle. Aber
damit hatte es noch kein Bewenden. Weitere
Höllenqualen kamen hinzu: Misshandlungen,
Folterungen aller erdenklichen Art.
Gross war jeweils der Zulauf jener, welche
sensationslüstern den Prozessen beiwohnten.
In Roveredo beispielsweise - so wird berichtet
28
- sollen ganze Scharen dabeigestanden haben, wenn die Verurteilten auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Das makabre
Schauspiel war jenem der Hinrichtung der ersten Christen im heidnischen Rom vergleich bar. Und doch war hier manches recht anders:
jene, die hingerichtet wurden, waren nicht ein zelne Bekannte oder gar Unbekannte aus einer
grossen Stadt, sondern Bewohnerinnen und
Bewohner kleiner Dörfer, allen bekannt, vielen
verwandt. Unbeschreiblich mussten die Tragödien sein, die hier geschahen. Besonders
dramatisch drückt das der evangelische Pfarrer und Historiker Christian Immanuel Kind
aus, wenn er in seiner im Jahre 1858 verfassten Geschichte der Reformation in den Bistümern Chur und Como unter anderem festhält: «Das Jammergeschrei der Zuschauer
mischte sich unter dem Knistern der Flammen
mit dem Gewimmer der Brennenden, die nach
Gaillards Meinung durch den Rosenkranz, den
man ihnen um den Hals gehängt hatte, ein
sicheres Heilspfand besassen».
Finsteres Mittelalter? Wahnwitziger Aberglaube? Die Anschauungen entsprachen damals einer allgemeinen Überzeugung, dem fe sten Glauben - auch wenn wir dies heute als
Aberglauben bezeichnen. Okkultes, Magie
und Hexenwahn hatten in jener Zeit ihren Platz
im Alltag, einen «Sitz im Leben». Es darf - was
wir heute ja wirklich kaum fassen können nicht übersehen werden, dass viele der Verurteilten selber überzeugt waren, tatsächlich Hexen oder Hexenmeister zu sein. Nicht grundlos hat Friedrich Nietzsche in seiner Schrift
«Zur Genealogie der Moral» unter anderem
festgehalten : «Man erinnere sich doch der berühmten Hexen-Prozesse: damals zweifelten
die scharfsichtigsten und menschenfreund lichsten Richter nicht daran, dass hier eine
Schuld vorliege; die ,Hexen' selbst zweifelten nicht daran, - und dennoch fehlte die
Schuld. -»
Es gibt Hinweise darauf, dass, vermutlich auf
das Misox und auf das Calancatal verteilt, 162
Frauen des Hexenwahns bezichtigt und grau enhaften Folterungen unterzogen wurden.
150 derselben bekannten sich des Bundes mit
dem Teufel schuldig und schworen unter den
Qualen der Misshandlungen ihren «Irrglauben» ab, taten Busse und wurden begnadigt.
Zwölf (nach anderen Berichten vierzehn)
Frauen aber blieben allen Anklagen und Peini gungen zum Trotz standhaft. Daraufhin wurden sie durch die weltliche Obrigkeit zum
Tode verurteilt und mit dem Feuertode bestraft.
Drei Männer und zwei Frauen wurden in Abwesenheit verurteilt. Einige Kinder, welche
der Hexerei bezichtigt worden waren, wurden
durch Kardinal Borromeo persönlich im Hin blick auf ihr Alter begnadigt und bloss mit Kirchenstrafen belegt.
F) Hexenjagd als getarnte Protestantenverfolgun g?
Beim Vorgehen Borromeos und seiner Gefährten zeigte sich recht bald ein bisher wenig
bekanntes Element: man ging dazu über, die
«Ketzer» als Verbündete des Teufels zu betrachten und sie entsprechend als Hexen und
Hexenmeister zur Rechenschaftzu ziehen. Das
bedeutete also: wer sich nicht mehr zum «alten» Glauben bekannte und sich weigerte,
reumütig und bussfertig in den Schoss der katholischen Kirche zurückzukehren, wurde als
Hexe oder Hexenmeister gebrandmarkt, verfolgt und abgeurteilt.
Man erzählt, dass vor dem Eintreffen des Kardinals Borromeo im Calancatal fünfzig evan gelische Familien gewohnt hätten. Nach seiner Abreise hingegen sei keine einzige mehr
da gewesen (laut einem anderen Bericht soll
jedoch eine Familie noch zurückgeblieben
sein).
Borromeo setzte sich durch sein blutiges
Strafgericht ein makabres Denkmal, ein Denkmal allerdings, das ihn in einem krassen Wi derspruch zeigt. Einerseits war er der tief reli giöse, empfindsame und selbstlose «Heilige
der Gegenreformation», anderseits auch der
harte und eiskalte Verfolger und Richter der
«Ketzer».
Wo können wir einen solchen Menschen ein stufen? Sicherlich dort, wo wir viele religiöse
Eiferer jener Zeit sehen müssen, ob sie katholisch oder evangelisch gewesen sind: bei den
29
Eine Darstellung aus der Chronik
von Johann Jakob Wick: Hexenverbrennung im Jahre 1574 in
Baden. Hexenwahn und
Teufelsfurcht führten vom 16. bis
zum 18. Jahrhundert immer
wieder zu unbeschreiblichen
Exzessen der Unmenschlich keit.
typischen Gestalten des Glaubensfanatismus
ihrer Epoche.
Das blutrünstige Gerichtsverfahren, wie es
Carlo Borromeo mit der Inquisition eingesetzt
hatte, stiess auf starken Widerstand. Aber verfügten die Drei Bünde über Mittel und Wege,
um wirksam gegen das Treiben der «visitierenden» Inquisitoren und Henker vorzugehen?
Wohl beschloss der Bundestag, die Herren
von Misox und Calanca, welche den Kardinal
in die Region gerufen hatten, gerichtlich zu belangen. Aber die Vorgeladenen erschienen
nicht vor dem Richter. Daraufhin wurden sie
gefangengesetzt. Auf die Verwendung der katholischen Orte der Eidgenossenschaft hin
musste man sie aber wieder freilassen. Die
Drei Bünde sahen sich ausserstande, weitere
Massnahmen zu ergreifen.
Erst im Jahre 1598 setzte der Bundestag fest,
es dürfe inskünftig keine gut beleumdete Per-
son mehr auf Aussagen und Anklagen anderer
Leute hin «eingezogen werden». Die Menschenrechte - so würde man es heute formulieren - seien zu respektieren. Einem Angeklagten müssten die elementarsten Rechte bei
einem Prozess zugestanden werden.
Die Verlautbarung war deutlich. Aber was
nützten solche Forderungen in einer Zeit der
Willkür, des Hexenwahns, des religiösen Fa natismus und des Faustrechts?
Hexenprozesse kamen nicht nur in den Südtälern vor. Sie waren als ein typisches Zeichen
der Zeit landauf und landab, in katholischen
wie in evangelischen Regionen, anzutreffen.
Man war diesem «Hervorbrechen dunkler Urgründe aus dem überpersönlich Unbewussten» (Carl Gustav Jung) ausgeliefert.
Die Zeit war nicht reif für eine humanere
Rechtsordnung. Im Gegenteil: Ende des 16.
und im 17. Jahrhundert erreichten die Hexenverfolgungen ihren Höhepunkt, und sie dauer-
30
G} Das Strafgericht gegen Dr. Joh ann Planta
Mit unseren Betrachtungen über die Hexen verfolgungen sind wir bereits bis in die Geschichte des 18. Jahrhunderts vorgedrungen.
Kehren wir nun aber wieder zurück zu den Ereignissen in den Siebzigerjahren des 16. Jah rhunderts.
In diesem Zusammenhang ist ein Geschehnis
zu schildern, welches damals in ganz Bünden
und auch über dessen Grenzen hinaus grosses Aufsehen erregte: die Auseinandersetzung über die Güter des im Jahre 1571 aufgehobenen Humiliatenordens, welche in der
Folge zur Hinrichtung des katholischen Staatsmannes Dr. Johann Planta führte.
Galgensäulen bei der Ruine Jörgenberg (Waltensburg/
Vuorz).
ten bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Hexen, Gespenster und Geister blieben hartnäkkig im Regiment. Sie trieben im Volksglauben
ihr Unwesen. Im ganzen Gebiet der Drei
Bünde - wie anderwärts - mangelte es nicht
an Spukgeschichten und Berichten über den
Hexensabbat.
Überall in Graubünden gibt es heute noch die
Überlieferungen, Sagen und Legenden, weI che entsprechend von annodazumal erzählen.
Und wo finden sich nicht die Stätten - vor al lem die bekannten Galgensäulen (z. B. jene
bei der Ruine Jörgenberg bei Waltensburg/
Vuorz) - , welche uns dazu auffordern, über
den Sinn und den tragischen Widersinn jener
Zeiten nachzudenken, die wir manchmal
ebenso widersprüchlich «die guten alten Zei ten» nennen?
Im 11. Jahrhundert war in der Lombardei der
Humiliatenorden als eine Laienbruderschaft
vornehmer Mailänder gegründet worden. Ihm
gehörten Mönche und Nonnen an, die sich mit
Handarbeiten beschäftigten, aber auch Chorherren, die unverheiratet waren, und verheiratete Laien, welche die klösterliche Lebensweise nicht annahmen. Die Ordensmitglieder
verpflichteten sich zu einem asketischen und
bescheidenen (<<humilis» = demütig), from men Leben. Sie erfreuten sich denn auch einer
gewissen Popularität; anderseits jedoch gerieten sie hin und wieder in Konflikt mit der
kirchlichen Hierarchie. Zum offenen Kampf
kam es im Jahre 1569, als ein Ordensbruder
einen Mordanschlag auf Kardinal Borromeo
unternahm, der fehlsch lug. Infolge dieses Attentates löste der Papst den Humiliatenorden
auf.
Um diese Zeit galt der gelehrte und unbestechliche Staatsmann Dr. iur. Johann Planta,
der Pfandinhaber über die habsburgische
Herrschaft Rhäzüns und die Herrschaft Hohentrins mit Trins, Tamins und Reichenau, als
der mächtigste Mann in Bünden und als unerbittlicher Verfechter der katholischen Interessen im Lande.
Durch eine Bulle (= päpstlicher Erlass) vom
28. Februar 1570 (1571) ermächtigte der Papst
den Herrn von Rhäzüns, alle Güter und
Pfründe der katholischen Kirche in den Bistümern Como und Chur, die infolge der Reformation in die Hände der Evangelischen über-
31
Das Schloss Rhäzüns
gegangen waren, einzuziehen und katholischen Geistlichen zu übergeben. Zwei päpstliche Verfügungen, Spezialbreven, präzisierten, die Propstei St. Ursula in Teglio im Veltlin
sei seinem Sohne Conrad Planta/ dem Churer Domdekan/ zuzusprechen. Diese Propstei
hatte früher zum Ordensgut der Humiliaten
gehört; dann aber hatten sie die Drei Bünde in
Besitz genommen und sie zur Verwaltung der
evangelischen Familie Guicciardi übergeben
und ihr zugleich aufgetragen/ die reichen Ein künfte der Propstei nach einem Beschluss der
Drei Bünde aus dem Jahre 1555 zur Unterstützung der reformierten Prädikanten, Kirchen
und Schulen im Veltlin zu verwenden.
Dr. Johann Planta hegte keine Bedenken, der
päpstlichen Aufforderung Folge zu leisten.
Versehen mit der Vollmacht des Papstes traf
er - begleitet von seinem Sohne - im Veltlin
ein. Im Einverständnis mit dem katholischen
Landeshauptmann und dem Podesta von Teglio, aber ohne Rücksprache mit den Drei Bün den/ nahm er von der Propstei Besitz. Vergeblich versuchte sich die Familie Guicciardi dagegen zu wehren, dass man ihr das rechtmäs sige Lehen entreisse.
Rasch verbreitete sich die Kunde von diesem
spektakulären Geschehnis. Sie entfesselte die
Wappen des PlantalWildenberg zu Rhäzüns .
«Johannes von Planta
herr zu Ratz.
der Zytt Lantzhauptmen Im Feltlinn. 1590.»
Glasscheibe, datiert 1590.
32
Teglio im Veltlin
Leidenschaft der Evangelischen. Und die Lage
spitzte sich zu, als zwei Prädikanten in Chur
eine Abschrift der päpstlichen Bulle in die
Hand bekamen. Wohl versuchten sie zunächst, eine friedliche Lösung anzustreben.
«Allein Planta war nicht gewohnt, sich von
Prädikanten imponieren zu lassen, und so
blieben alle Vermittlungsversuche vergeblich.»
Die Erregung im Volke wuchs, besonders als
dann auch deutsche und romanische Abschriften der Bulle zirkulierten.
Ein Aufruhr war zu befürchten. Die Häupter
der Drei Bünde - die drei gewählten Führer jedes Bundes - sahen sich gezwungen einzugreifen. Auf der nächsten Ratsversammlung
wurde Johann Planta aufgefordert, das Origi nal der Bulle auszuhändigen. Die Propstei in
Teglio wurde zuhanden der Drei Bünde in Beschlag genommen: ihre Einkünfte sollten unter den evangelischen Prädikanten und einem
Spital oder einer Schule im Veltlin verteilt werden. Dem Herrn von Rhäzüns wurde für die ergangenen Unkosten eine Busse von zweihun dert Goldkronen auferlegt.
Wer gemeint hätte, der Streitfall sei damit erledigt, täuschte sich. Die Reformierten waren
überzeugt, in Dr. Planta jenen Mann erkannt
und überführt zu haben, welcher mit Hilfe des
Papstes und Habsburgs und als leidenschaftli cher Verfechter der katholischen Interessen
die angestammten bündnerischen Freiheiten
untergraben oder gar zerstören wolle.
Der Hass gegen den mächtigen Staatsmann,
der zu weit gegangen war, wuchs. Da und dort
in den Tälern rottete man sich zusammen. Zu erst erhob man sich im BergeII, wo die Erzfeinde der Familie Planta, die Salis, tonangebend waren, dann auch im Avers, im Oberhalbstein, in Obervaz, im Schams und Domleschg, schliesslich in Davos, im Prättigau, in
Maienfeld, im Schanfigg und anderwärts.
Nicht nur Reformierte traten an, sondern auch
Katholiken. Man schwor dem allzu selbstherrlich gewordenen Potentaten Rache.
Mit fliegenden Fahnen zogen die Aufständischen nach Chur. Zur gleichen Zeit war der
Bundestag in der Stadt versammelt. Von den
Geschehnissen' völlig überrascht, tat er alles,
um die Aufgebrachten wieder zur Heimkehr zu
bewegen. Man schloss die Stadttore. Johann
Planta selber befand sich bei seinen engsten
Freunden in der Stadt. Es gelang ihm, vor sei nen Verfolgern nach Laax zu fliehen.
Die in der Umgebung von Chur lagernden
«Fähnlein» - so nannte man die Trupps der
einzelnen Gerichte mit ihren Fahnen - setzten
ein Strafgericht ein. Und sie sandten ihre Abgeordneten nach Laax. Die Bulle, welche dem
Herrn von Rhäzüns zum Verhängnis geworden war, wurde verlesen. Daraufhin legten
einige Oberländer Dr. Planta in Ketten und
33
brachten den Gefangenen auf einem Pferd
nach Chur.
Am 25. März 1572 trat das Strafgericht zusammen. Den Ankläger nahm man aus den Reihen
der Katholiken, den Verteidiger aus der Schar
der Protestanten.
Der angeklagte Siebzigjährige wurde gefoltert. Er legte Geständnisse ab, die er dann sogleich widerrief.
Das Gericht gelangte zum Urteil, Johann
Planta habe die sattsam bekannte päpstliche
Bulle angenommen und sie lange Zeit hindurch geheimgehalten und dann von der
Propstei Teglio eigenmächtig Besitz ergriffen;
und schliesslich habe er sich mit fremder Hilfe
zum Herrn von Bünden aufschwingen wollen.
Der Angeschuldigte wurde zum Tode verurteilt. Am 31. März 1572 wurde er auf der Richtstätte vor dem Obern Tor in Chur enthauptet.
Das Gericht beschlagnahmte sein Vermögen.
Die nächsten Verwandten des Hingerichteten
wurden mit schweren Geldstrafen belastet.
H) «Mit Fähnlein, Wehr und Waffen
zusammenzulaufen))
Es war nicht das erste Mal in der Geschichte
der Drei Bünde, dass es kämpferischen Männern gelungen war, mit stichhaltigen Gründen
oder unter einem Vorwand grosse Scharen
bewaffneter Bürger aus verschiedenen Talschaften zu einem «Fähnlilupf» und zur Durchführung eines Strafgerichtes zu sammeln.
Solche bürgerkriegsähnlichen Ereignisse waren meistens von Racheakten und Willkür gekennzeichnet, und nur selten obsiegten Recht
und Gerechtig keit.
Wiederholt versuchte man,
gesetzliche
Grundlagen zu schaffen, um aufrührerische
Zusammenrottungen von Fähnlein zu vermeiden. Mit der Zustimmung der Gemeinden verbot der Bundestag zum Beispiel im Jahre 1574
bei Strafe an Leib und Gut, «mit Fähnlein,
Wehr und Waffen zusammenzulaufen» oder
ohne Wissen und Willen der Bundesbehörden
«auf die Gemeinden zu reisen» und Aufruhr zu
stiften. Zuwiderhandelnde sollten von ihren
heimatlichen Gerichten oder allenfalls durch
ein vom Bundestag bestelltes Sondergericht
abgeurteilt werden. Entschlossen erhoben die
Gemeinden diesen Artikel zum Landesgesetz,
dem man feierlich die Bezeichnung «Dreisiegelbrief» gab, weil jeder Bund sein Siegel an
dieses Dokument hängte.
Dieser dreifach versiegelte Brief blieb wirkungslos. Die Drei Bünde verfügten über keine
Behörde und keine Macht, welche den Verboten Nachachtung hätten verschaffen können.
So blieb alles beim alten. Gebote und Verbote
waren fein säuberlich formuliert und mit den
Siegeln versehen; in Tat und Wahrheit jedoch
erlebten es die Drei Bünde weiterhin, dass
man sogar noch leidenschaftlicher und kriegerischer als bisher «mit Fähnlein, Wehr und
Waffen» zusammenlief und Strafgerichte einsetzte.
I) Die Auseinandersetzungen im Veltlin
a) Die Frage nach fremden Priestern und
Ordensboten
Die Verhältnisse im Veltlin waren schwierig.
Auf der einen Seite standen dort als die Herrschenden die mehrheitlich reformierten
Bündner Amtsleute mit ihren Familien. Die
Landesdekrete der Drei Bünde förderten meistens die Anliegen der Evange lischen. Auf der
anderen Seite bemühten sich Rom und Spanien mit ihren wirksamen Druckmitteln, den
Katholizismus zu schützen.
Die Bevölkerung des Veltlins war in überwältigender Mehrheit dem angestammten Glauben treu geblieben. Sie sympathisierte deshalb und auch aus Abneigung gegen die Herrschaft der Bündner mit den genannten katholischen Mächten.
Die Verfechter der Gegenreformation waren
bestrebt, den katholischen Boden im Addatal
zu verteidigen und den an die Reformierten
verlorenen zurückzugewinnen. Dies sollte zu
einem langwierigen Unterfangen werden,
denn beide Konfessionsparteien waren entschlossen, ihre Positionen hartnäckig zu verteidigen.
Eine' entscheidende Wende zugunsten des Katholizismus trat ein, als Kardinal Carlo Borro-
34
sung von «frömden Mönchen und Messpriestern» zu unterbinden? Wiederholt war diese
Frage ein Verhandlungsgegenstand der Bundestage gewesen. Schon im Januar 1557 war
in Ilanz beschlossen worden, dass «kein
frömbd Geistlich Persohn, München oder
Pfaffen», gleich welcher Konfession, in den
Bündner Untertanenlanden aufgenommen
werden dürfe, sie seien denn zuvor von ihrem
ordentlichen Kapitel exa'miniert und aufgenommen worden: der Prädikant von der
Bündner Synode, der Priester vom Bischof
und Domkapitel von Chur.
Der Kapuzinerpater Francesco da Bormio.
Als Franziskus de Sermondi von Bormio gilt er als Gründer der schweizerischen Kapuzinerprovinz.
meo und seine Mitstreiter ihr Augenmerk den
Verhältnissen im Veltlin schenkten.
Erste Anzeichen in dieser Richtung nehmen
wir um das Jahr 1572 wahr. In dieser Zeit
wurde ein besonders beredter und tüchtiger
Wanderprediger, der Kapuzinerpater Francesco da Bormio, auf Betreiben Borromeos als
Generalkommissar ins Veltlin berufen. Einer
solchen Berufung stand nichts im Wege. Der
Ordensbote war ein gebürtiger Veltliner. Also
durfte er im Tale seine Tätigkeiten entfalten. Er
hatte vorher in Oberitalien und auf der Insel
Kreta als Missionar gewirkt. Jetzt hatte er im
Veltlin ein Werk der Gegenreformation aufzubauen. In Padre Francesco erlebten die Bewohner des Tales wohl erstmals eine organisierte Kapuzinermission.
Was nützte es, dass die Behörden der Drei
Bünde allerhand unternahmen, um die Zulas-
Diesen Bundestagsentscheiden wurde wenig
Beachtung geschenkt. Immer wieder kam es
vor, dass von auswärts her fremde Glaubensboten, katholische wie evangelische, übersiedelten und hier wirkten. Am 8. Februar 1572
ermahnten die Drei Bünde deshalb den Bündner Kommissar im Amtsbezirk Chiavenna,
Hans von Salis, zur Ausweisung aller fremden
Geistlichen, «allein vorbehalten die, welche
ire stätte wohnung in unseren landen handt».
Der obrigkeitliche Befehl trug keine Früchte.
Erfolglos blieb auch eine im März des gleichen
Jah res nachfolgende scharfe Aufforderung an
denselben Kommissar zu tätigem Gehorsam.
Die katholischen Veltliner waren nicht bereit
nachzugeben. Sie waren entschlossen, entgegen den Weisungen der Bünde weiterhin
fremde Prediger und Seelsorger ins Tal zu holen.
Padre Francesco da Bormio tat seine Arbeit
sorgfältig und mit Eifer. Im Jahre 1578 war er
so weit, dass er glaubte, den Bischof von Vercelli, Giovanni Francesco Bonhomini, zu einer
Visitation ins Veltlin einladen zu dürfen. Gewiss, eine solche konnte nur unter besonderen Vorsichtsmassnahmen erfolgen. Geschickt unternahm der Bischof seine Besuche
unter dem Deckmantel einer Badereise nach
Bormio.
Bonhomini, ein Freund und Gesinnungsgenosse Borromeos, war vom Papst zum Nuntius für das Gebiet der Eidgenossenschaft und
der Drei Bünde ernannt worden. Der Kardinal
von Mailand hatte ihm persönlich geraten,
durch zuverlässige Leute feststellen zu lassen,
welches der beste Weg sei, um allfällige Wi-
35
Die Berufung der Kapuz iner in die Innerschweiz.
Unter dem Pontifikat von Papst Gregor XIII. (1572-1585) gelang es Kardinal Carlo Borromeo, mit Hilfe der Politiker Walter von Ro ll in A ltdorf und Melchior Lussy in Stans, die Kapuziner in die Innerschweiz zu berufen. Unter den ersten Mönchen nahm - wie diese Darstellung nachdrücklich zeigt - Pater Francesco da Bormio, welcher bereits vor der Gründung
der Helvetischen Kapuzinerprovinz im Veltlin gewirkt hatte, den entscheidenden Platz ein.
Die alten Bäder von Bormio.
36
derstände der regierenden Bündner zu besei tigen. Niemand konnte ihm dabei mit besseren Ratschlägen zur Seite stehen als der Veltli ner Francesco da Bormio.
Vergessen wir es nicht, der Visitator Bonhomini kam auf seiner Reise in Täler und Gemeinden, die vornehmlich von Katholiken bewohnt waren und in welchen in politischen
Belangen die mehrheitlich evangelischen
Bündner die Vormacht innehatten.
Begeistert stellte Bonhomini fest, dass man
ihn mit Freude empfing. Am 17. Juli 1578 traf
er in Bormio ein. Gerne liess er sich von den
Bewohnern dazu bewegen zu predigen. Fünf
ihn begleitende Beichtväter - ob sie wohl alle
Einheimische waren? - nahmen dem versammelten Volke die Beichte ab. Er selber warnte
die Gläubigen vor den Ketzern und den fal schen Propheten. Dann firmte er angeblich an
die zweitausend Personen - nach anderen Berichten waren es «über tausend» - und spen dete etwa fünfhundert weiteren die Kommu nion. Mit den Bündnern kam es zu keiner Konfrontation. Vielmehr ist zu erwähnen, dass der
Visitator mehr den sittenlosen Veltliner Priestern misstraute als den Bündnern! Tatsächlich hegte er die Befürchtung, dass ihm die
von ihm gemassregelten Priester aus Angst
vor Bussen und Strafen Schwierigkeiten bereiten würden. Über die Bündner hingegen
äusserte er sich lakonisch: der Wolf jage
einem weniger Angst ein, wenn man ihn aus
der Nähe und nicht aus der Ferne sehe.
Nach einigen Tagen aber wurde Bonhomini
doch hinterbracht, dass man ihn gefangennehmen und nach Chur schleppen wolle. Es
habe sich herausgestellt, dass er nicht wegen
Krankheit eine Badereise nach Bormio unternommen habe, sondern dass er einen Auftrag
des Papstes ausführe.
Bonhomini musste weichen. Aber ohne sich
allzusehr aus der Ruhe bringen zu lassen, verliess er Bormio und übte recht unbesorgt sein
Amt als Visitator noch in verschiedenen anderen Gemeinden aus. In Gaspano, wo mehr als
die Hälfte der Einwohner evangelisch war,
liess sich ein Begleiter Bonhominis dazu hin reissen, «den Lutheranern den Kopf mit etwas
ganz anderem, als mit Seife zu waschen» - so
lauten Bonhominis eigene Worte - und die
Prädikanten mit scharfen Argumenten anzugreifen.
Erst am 8. August verliess der Visitator das
Veltlin, sechs Tage nachdem die Drei Bünde
nun doch ein scharfes Dekret gegen ihn erlassen hatten. Damit beschloss er seine recht
aussergewöhnliche «visita mascherata», seinen «getarnten Besuch».
Noch aus dem visitierten Gebiet datiert ein
Brief, in welchem Bonhomini festhielt, welche
Verhältnisse er dort angetroffen habe: die Ka tholiken seien lau; die Ketzer seien fast allesamt Fremde, denen gegenüber Bekehrungsversuche wenig aussichtsvoll seien; in vielen
Kirchen des Tales seien ketzerische Amtsleute
bestattet worden, wodurch diese Gotteshäu ser entweiht seien.
Von Mailand her versäumte man es nicht,
deutliche Zeichen dafür zu setzen, dass es den
katholischen Machthabern nicht gleichgültig
war, wie sich die konfessionellen Verhältnisse
im Veltlin entwickelten. Von daher ist es auch
zu verstehen, dass im Sommer 1580 kein Geringerer als Kardinal Carlo Borromeo dem Addatal
kurzen Besuch abstattete. Diplomatisch erklärte er seine Reise ins Veltlin als
eine Pilgerfahrt, um nicht mit den bündnerischen Amtsleuten in Konflikt zu geraten.
In Madonna di Tirano fanden sich zahlreiche
Gläubige ein, um die Predigt des berühmten
Kardinals anzuhören. Selbst Protestanten liessen es sich nicht nehmen, den gefeierten und
zugleich umstrittenen Kirchenfürsten aus der
Nähe kennenzulernen. Viele Evangelische
zollten ihm ihre Bewunderung.
Mit wachsender Besorgnis verfolgten die Drei
Bünde die konfessionelle Entwick lung im Veltlin. Im Juni 1589 brachte der Landeshauptmann des Tales, Gubert von Salis, am Bundestag in Chur die Frage vor, ob man es zulassen
solle, dass im Veltlin die Priester und Mönche
ohne Vorwissen der Amtsleute mit fremden
Prälaten in Como, in Rom und anderen Orten
in Verbindung stünden.
Fragen und Aussprachen nützten nicht viel. Im
Jahre 1589 erschien ein neuer apostolischer
Visitator im Addatal. Es war dies der Bischof
von Como, Feliciano Ninguarda. Als gebürti-
37
ger Veltliner aus Morbegno durfte er die Kirchgemeinden inspizieren. Pflichtbewusst setzte
er das Werk fort, das Bonhomini begründet
hatte. Mit Genugtuung konnte er feststellen,
dass die Ordensboten und die Weltgeistlichen
in den letzten Jahren allerhand von seinem
Vorgänger noch festgestellte und registrierte
Mängel und Nöte in den Pfarrgemeinden behoben hatten.
Mit Eifer ging Ninguarda darauf aus, sich weniger die Unzulänglichkeiten bei seinen eigenen Glaubensgenossen zu notieren, als vielmehr emsig zu ermitteln, welche Personen im
Veltlin sich zur evangelischen Konfession
bekannten und welche kirchlichen Gebäude
ihnen gehörten. Besonderes Augenmerk
schenkte er einerseits den Vornehmen und
Einflussreichen unter den Reformierten und
anderseits den protestantisch gewordenen
Geistlichen, um herauszukriegen, welchem
Orden sie einst allenfalls angehört hatten und
welches ihre Familienverhältnisse gewesen
waren. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser
Visitator Unterlagen für die Inquisition beschaffen wollte.
Die Aktivitäten von Borromeo, Francesco da
Bormio, Bonhomini, Ninguarda und ihren Mitkämpfern weisen alle in die gleiche Richtung.
Diese Streiter fühlten sich als «uomini di frontiera», «uomini di confine», als «Männer an
der Grenze» und deshalb auch als die Verantwortlichen für die Verteidigung des Glaubens
in ihrer Heimat. Für sie hatte «das lutherische
Ketzertum», diese «protestantische Häresie»,
vom Norden her - «in quel confin Tedesco»
(<<in diesem Grenzgebietzum Deutschen»)-in
untragbarer Weise die Grenzen ihres Vaterlan des überschritten.
«11 male viene dal nord» (<<Das Übel kommt
aus dem Norden»)! Diese Feststellung war für
sie nicht bloss ein Schlagwort. Längst schon
galt für die einfachen Leute in den Gebieten der Abgrenzungen zwischen der italieni schen und deutschen Sprache in Anlehnung
an einen Satz im Buche des Propheten Jeremia 1,14: «Omne malum a Septemtrione»
(<<Alles Unheil kommt vom Norden»): «Ganz
Germanien ist eine verruchte Nation, in der
man die Feindschaft nicht nur mit dem Papst,
sondern mit Italien überhaupt pflegt!»
Für Borromeo und seine Gesinnungsgefährten war die Zeit gekommen, entschlossen den
Kampf aufzunehmen gegen die «setta lutheri stica», die lutherische Sekte, welche beson ders von den protestantischen Bündnern hier
eingeschleppt würde. Es ging den Gegenreformatoren um nichts Geringeres als um ein
Ringen, das sie als «La nostra lotta» (<<Unser
Kampf») empfanden.
b) Das «Collegium Helveticum» in Mailand
Seit Jahren beschäftigte sich Kardinal Borromeo mit der Frage, ob es nicht möglich sein
sollte, dem Veltlin auf ordentlichem Wege vermehrt gut ausgebildete Priester zu vermitteln.
Der Plan, in Roveredo ein Jesuitenkollegium
zu führen, war gescheitert. Eine solche Schule
im Addatal zu gründen, musste ausser Betracht fallen; die bündnerischen Amtsleute
hätten dem Projekt nicht zugestimmt.
Aber da bot sich nun eine andere Gelegenheit.
Im Jahre 1579 hatte Borromeo in Zusammenarbeit mit höchsten kirchlichen Würdenträ gern und mit Unterstützung durch Papst Gregor XIII. in Mailand das «Collegium Helveti cum» gegründet. Dieses genoss recht bald
den Ruf, eine hervorragende Stätte für die
Ausbildung von Priestern zu sein. Hier erstreckte sich der Unterricht auf die lateinische,
griechische und hebräische Sprache, auf Logik, Philosophie und Theologie und auf das
kirchliche Recht. Die akademischen Grade und
Weihen erteilte Kardinal Borromeo persön lich.
Der Entschluss stand bald fest: wenn die
Bündner weiterhin keine fremden katholi schen Prediger und Seelsorger im Veltlin zu lassen würden, dann sollten u. a. auch einheimische Studenten aus dem Addatal an der an gesehenen Schule in Mailand ausgebildet
werden. Als tüchtige Priester konnten sie dann
nach dem Studienabschluss in ihre Heimat zurückkehren und dort eingesetzt werden.
Von diesem Plan
errichtete Borromeo
an seinem berühmten «Collegium Helveti cum» mehrere Freiplätze für Studenten aus
den Bünden, aus dem Veltlin und Chiavenna.
38
Die Stadt Sondrio
Damit umging er die Bestimmungen gegen
fremde Priester, welche die Drei Bünde erlassen hatten.
Aber der Optimismus des Kardinals wurde
recht bald gedämpft. Überrascht musste er
eines Tages feststellen, dass man auch auf der
Seite seiner Gegner nicht untätig geblieben
war. Tatsächlich war man dort im Begriffe,
Pläne für die Gründung einer paritätischen Lateinschule in Sondrio zu schmieden.
c) Die Lateinschule in Sondrio
Wie wir vernommen haben, hatten die Drei
Bünde im Jahre 1571 die Einkünfte der Prop stei Teglio wieder an sich gezogen und ange regt, dieselben allenfalls auch für eine Schule
im Veltlin einzusetzen. Wiederholt schon hatten reformierte Bündner den Versuch unternommen, im Veltlin eine öffentliche Lateinschule zu gründen.
Die Evangelisch -Rätische Synode befürwortete den Plan. Die bündnerischen Amtsleute
im Addatal und die Prädikanten in den Gemeinden im Veltlin waren bemüht, die Schul gründung zu verwirklichen. Sie wussten um
die Bedeutung einer Schule in den italienisch sprachigen Talschaften für die Förderung der
humanistischen Bildung und die Stärkung der
reformierten Position in diesen Randgebieten.
Die Befürworter übersahen allerdings auch
gewisse Hindernisse nicht. Sie mussten mit
der Opposition der Mehrheit der Untertanen,
aber auch des Grauen Bundes und der mailändischen Nachbaren, rechnen.
Diplomatisch wählte man einen sehr ungewohnten Weg. Man beschloss, in Sondrio eine
Lateinschule zu gründen und zu führen, weIche der Jugend beider Konfessionen offenstehen und an der kein religiöser Zwang ausgeübt werden sollte. Sie müsse auch den Söhnen der Familien aus den Untertanengebieten
zugänglich sein.
Auf evangelischer Seite proklamierte man das
als einen gangbaren Weg zurToleranz. Die Katholiken aber lehnten sich dagegen auf. Sie sa hen in der Gründung einer solchen Schule
eine offensichtliche Provokation; für sie
konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass
die reformierten Machthaber mit dieser
Schule ein weiteres Mittel in die Hand zu bekommen trachteten, ihre Vorherrschaft auszubauen.
Im Dezember 1582 beschloss der in seiner
Mehrheit protestantisch gesinnte Bundestag,
die höhere Landesschule in Sondrio zu errichten. 1584 waren die meisten Hürden genommen. Das Gymnasium konnte eröffnet werden .
Als Rektor wurde Raphael Egli, der Sohn des
ehemaligen Churer Stadtpfarrers Tobias Egli,
39
gewählt. Er hatte Theologie studiert und
kannte Land und Leute in den Bünden wie im
Veltlin aus seiner Jugendzeit. Er genoss das
Vertrauen der reformierten politischen Führer
in den Bünden wie das der Prädikanten.
Pflichtbewusst verfasste Raphael Egli die
Schulordnung und liess sie in Poschiavo drukken. Sie wurde zur ersten bekannten bündnerischen Schulordnung überhaupt. In den drei
vorgesehenen Klassen sollten die Schüler Ita lienisch, Latein und Griechisch erlernen. Bei den Konfessionen wurde eigener Religionsunterricht zugesichert. Mindestens einer der
drei vorgesehenen Lehrer sollte ein Katholik
sein.
Was wurde dann von diesem erstaunlichen
Plan verwirklicht? Es steht fest, dass die
Schu le eine Zeitlang geführt werden konnte.
Aber d ie Opposition im Tale wurde zusehends
stärker. Die Bevölkerung machte kein Hehl
daraus, dass ihr dieses Gymnasium als ein
verkappter Vorposten der Reformation ein
Dorn im Auge war. Die weltlichen Machthaber
und die kirchlichen Würdenträger in Mailand
liefen gegen die Schule Sturm.
Der Erzpriester von Sondrio, Johann Jakob
Pusterla, beschimpfte das Gymnasium öffentlich als «ein Seminar der Lutheraner», weIches der «römischen Religion» Gefahr bringe
und der Zucht und den Einkünften der Kirche
schade. Landauf und landab sprach die katholi sche Bevölkerung nur noch von der «Ketzerschule». Dem Erzpriester Pusterla stand der
Franziskanermönch Francesco aus Balerna
zur Seite, welcher es wagte, angesichts der
Streitigkeiten zu fordern, man solle den Veltlinern jeden Umgang mit den Evangelischen
verbieten.
Von Monat zu Monat gärte es mehr im Tale.
Wenn die Amtsleute drohten, einige Fähnlein
aus den Bünden herbeizurufen, so erwiderten
die Gegner der Schule: «Und wir rufen die
Spanier!» Nur mit grosser Mühe konnten blu tige Auseinandersetzungen verhindert werden.
Nicht all ein im Veltlin und in den Drei Bünden
fanden sich leidenschaftliche Befürworter und
Gegner der Landesschule. Von Borromeo beeinflusst, forderten die katholischen Eidge-
nossen und Mailand die Aufhebung dieser höheren Bildungsstätte.
Die Bündner beharrten auf ihrem Beschluss.
Im März 1584 war die Schule durch drei Kom missäre eröffnet worden. Im Juni des gleichen
Jahres liessen die Ratsherren erneut verlau ten, die Landesschule sei weiterzuführen. Zur
Bekräftigung dieses Entscheides wurden
gleich zeitig fünfzehn Amtsleute zur Untersu chung des Aufruhres ins Veltlin beordert. Erzpriester Pusterla und seine Gefährten wurden
zur Rechenschaft gezogen. Pusterla bekannte,
als man ihn folterte, dass er die Errichtung der
Schule zu hintertreiben versucht habe. Er und
die weiteren Angeschuldigten kamen jedoch
wider Erwarten mit gelinden Strafen davon.
Die Auseinandersetzungen dauerten an.
Kaum hatten die Bündner Boten das Tal wieder verlassen, gingen die Katholiken offen zur
Opposition über. Borromeo und der spanische Statthalter von Mailand sowie die eidgenössischen katholischen Orte unterstützten
sie darin.
Bereits hörte man Gerüchte über einen bevorstehenden Einfall spanischer Truppen. Tatsächlich war der Kardinal dazu übergegangen,
durch einen vermöglichen Bankier, Rainaldo
Tettone, und den Architekten Ambrosio Rubiata Scharen anwerben zu lassen, we lche ins
Veltlin eindringen und die Reformierten dort
umbringen sollten. Die Verschwörung wurde
entdeckt und scheiterte an der Wachsamkeit
der Bündner.
Jetzt war man der Spannungen und Unruhen
müde. Am 9. Dezember 1584 verliess Raphael
Egli das Veltlin. Am 10. Januar 1585 beschloss
der Bundestag unter dem Drucke Spaniens
und der eidgenössischen katholischen Orte
die Aufhebung der Schule in Sondrio und die
Verlegung derselben nach Chur. Vermutlich
bestand sie dann eine Zeitlang dort neben
dem Nikolaigymnasium.
Erst viele Jah re später, 1618, erreichten es die
Wortführer der Bündner Prädikanten, dass in
Sondrio erneut eine Landesschule errichtet
wurde. Als deren Leiter wurde Caspar A lexius
von Chamues-ch, Theologieprofessor in Genf,
seit 1617 Prädikant in Sondrio, berufen. Die
evangelischen Amtsleute im Veltlin hatten die
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Die Schriftzüge des Prädikanten Caspar Alexius im Matrikelbuch der Evangelisch -Rätischen Synode.
Gründung des Gymnasiums gefördert und geschützt. Dem Lehrkörper gehörte auch der
Prädikant Blasius Alexander an. Er und Alexius zählten sich zu den politisierenden reformierten Pfarrern und fanatischen Gegnern
Spaniens.
Es war von vorneherein klar, dass sich auch
diese Schule nicht würde richtig entfalten können. Bei den Untertanen war sie als «ketzerisch» verschrieen. Der Parteihader hatte in
dieser Zeit in Bünden bereits bürgerkriegsähnliche Formen angenommen. Als es dann
im Jahre 1620 zum «Veltlinermord» kam - wir
werden darüber später hören -, wurde das
Gymnasium geschlossen, mit dessen Hilfe
einige zu optimistische Prädikanten «das
Evangel ium nach Italien» hatten verbreiten
wollen.
d) Nach dem Tode von Carlo Borromeo
Kardinal Carlo Borromeo war inzwischen
(1584) gestorben. Schon im Jahre 1610wurde
er hei liggesprochen.
Wer geglaubt hätte, der Kampf um die Gegenreform in den Bündner Untertanenlanden und
in den Drei Bünden würde jetzt nachlassen,
sah sich getäuscht.
Besonders gespannt scheint die Lage im Veltlin gewesen zu sein. Anlässlich der Evangelisch-Rätischen Synode vom Juni 1588 in Thu sis machten die Synodalen Octavianus Meyus
(Religionsflüchtling aus Italien, 1580-1597
Prädikant in Teglio, hernach in Chiavenna)
und Scipio Calandrinus (auch er ein Glaubensflüchtling, in Sondrio) der Synode die Mitteilung, die Inquisitoren planten, die Prädikanten
und andere ausländische Reformierte im Ad datale zu ermorden oder zu entführen.
Die Berichterstatter konnten auf bittere Fakten
verweisen: im April dieses Jahres 1588 sei der
evangelische Seelsorger von Mello entführt
worden, und anfangs Juni sei der Prädikant
Frilius Paravicinus ermordet worden.
Der konfessionelle Hass mischte sich mei stens auch mit dem Zorn gegen die bündneri schen Oberherren und deren Willkür. An der
Spitze dieser Gegnerschaft stand jetzt ein ehemaliger Zögling des «Collegium Helveticum»
in Mailand, Erzpriester Nikolaus Rusca in Son drio. Er wurde zusehends zum Träger der gegenreformatarischen Aktivitäten im Veltlin.
Die Drei Bünde gingen mit ihren Untertanen landen schweren Zeiten entgegen. Angesichts
der drohenden Haltung Spaniens standen sie
in den meisten Fällen hilflos den Umtrieben
der Boten und Sympathisanten der Gegenreformation gegenüber.
K) Die ita lienisch en Ordensm ission are in den
Drei Bünden
Die Bündner Häupter mussten sich eingestehen, dass ihre Dekrete, welche die Zulassung
fremder «Missionäre» im Untertanenland verbieten sollten, wenig wirksam geworden wa ren. Die Situation konnte mit der Zeit für Bünden nu r noch peinlich werden: je häufiger sol che Verfügungen erlassen wurden, umsomehr triumphierten jene Gemeinden im Veltlin, in welchen fremde Ordensbrüder oder
Priester ihre Dienste ausübten.
Hartnäckig mochte man noch im Januar 1585
fordern, betreffend die «Zulassung frömder
Mönchen und Pfaffen im Veltlin bleibt man by
ussgangenen Decreten und Abscheiden»; dabei hatten sich schon im Jahre 1580 mehrere
Kapuziner nicht blass im Untertanenland, son dern in Bünden selber, z. B. im Puschlav, niedergelassen!
Obwohl die Obrigkeit 1581 verfügt hatte, es sei
den Privatpersonen verboten, fremden Mön chen oder Messpriestern «Unterschlauf» zu
gewähren, gelang es den Bündnern nicht ein mal, jene fremden Missionare auszuweisen,
die in gewissen rätischen Gemeinden in aller
41
schof von Chur und zum spanischen Herzog in
Mailand.
Eine wichtige Rolle spielte dabei der Bischof
von Chur, Johann V. Flugi von
Amte von 1601 bis 1627. Seine Vorgänger hatten in den verflossenen Jahrzehnten nam hafte Rechte und viel Grund und Boden des
Bistums verloren.
Wegen Spannungen musste Bischof Flugi
zeitweilig ausserhalb der Drei Bünde Wohnsitz nehmen. Dort, im Exil, auf seinem Vintschgau er Schloss Fürstenburg, trat er mit den Ka puzinern in nähere Verbindung. Dies war ein
glückliches Zusammentreffen für ihn. Hier
fand er Streiter für seine Sache und zuverlässige Gehilfen für die Rückeroberung der verlorenen Rechte und Güter seiner Diözese. So
reiften die Pläne für eine Ausdehnung der
Mönchsmission nach Rätien.
Leidenschaftlich ermahnten die Kapuziner aus Italien die
Predigtzuhörer, «dem alten Glauben» die Treue zu halten.
Zeitgenössischer Kupferstich.
Öffentlichkeit wirkten, ganz zu schweigen,
jene, welche im Veltlin tätig waren. Denn
selbst manche Evange lische im Veltlin - es
waren dies vorwiegend bündnerische Amtsleute - boten abtrünnigen Geistlichen aus Italien in den Untertanengebieten Aufnahme
und Schutz.
So verhielten sich in Wirklichkeit beide konfessionellen Parteien gegenüber den Dekreten
der Drei Bünde inkonsequent; beide handelten gegen die Bundestagsbeschlüsse!
In den zwei ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts liessen sich zahlreiche Kapuziner in
Bünden nieder. Sie kamen grossteils aus ihren
Klöstern in Norditalien und im Veltlin. Ihre
Mission war sorgfältig vorbereitet worden.
Hinter den meist recht einfachen Patres standen massgebliche Persönlichkeiten, und ihre
Oberen hatten gute Verbindungen zum Bi-
Der Kapuziner Ignatius von Bergamo.
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Edolo heute.
Aus einem Kloster dieser italienischen Ortschaft nahe der
Südgrenze Rätiens kamen zu Beginn des 17.Jahrhunderts
zahlreiche jener Kapuziner, welche auf dem Boden der
Drei Bünde und ihrer Untertanen lande ein Vordringen der
Reformation bekämpften.
Ein hervorragender Verfechter der Anliegen
der Gegenreformation stand dem Bischof von
Chur zur Seite: der Kapuziner Ignatius von
Bergamo, der Vorsteher (= Guardian) eines
Kapuzinerklosters, welches in der Valle Camonica in Edolo nahe an der Südgrenze Rätiens
errichtet worden war.
Wir werden später noch Näheres über Bischof
Johann V. Flugi und die italienischen Ordensmissionare hören.
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