Bündner Ki rchengeschichte Herausgeber: Evangelischer Kirchenrat Graubünden im Auftrag der Evange lisch -reform ierten Synode des Kantons Graubünden Mitarbeiter: Hans Berger, Peter Dalbert, Albert Frigg, Peter Niederstein Berater: Otto Clavuot 3.Teil Die Gegenreformation von Albert Frigg Verlag Bischofberger AG, Chur 7 In haltsverzeichnis Vorwort . 9 1. Katholische Reform und Gegenreformation A) Die Ausbreitung der Reformation . . . . B) Kaiser Karl V. als Verteidiger des katholischen Glaubens C) Eine innere Erneuerung der katholischen Kirche . 0) Das Konzil von Trient . E) Im Dienste der katholischen Reform und Gegenreformation F) Jesuiten und Kapuziner . a) Ignatius von Loyola und sein Orden . . b) Die Kapuziner 11 11 11 12 12 14 14 14 2. Die gegen reformatorische Tätigkeit in den Drei Bünden A) Die Drei Bünde im Spannungsfeld der grossen Politik B) Der Erzb ischofvon Mailand: Carlo Borromeo C) Die Zustände in den Südtälern . 0) Die Visitation im Misox und im Calancatal E) Die Hexenverfolgungen . F) Hexenjagd als getarnte Protestantenverfolgung? G) Das Strafgericht gegen Dr. Johann Planta . . . . H) «Mit Fähnlein, Wehr und Waffen zusammenzulaufen» I) Die Auseinandersetzungen im Veltlin . a) Die Frage nach fremden Priestern und Ordensboten b) Das «Collegium Helveticum» in Mailand c) Die Lateinschule in Sondrio . d) Nach dem Tode von Carlo Borromeo . K) Die italienischen Ordensmissionare in den Drei Bünden 17 17 3. Die Bündnerwirren . A) Die Zustände im Landesinneren B) Die Bündnispolitik . C) Der Bischofvon Chur im Exil .. 0) Die Prädikanten als politische Streiter E) Das Thusner Strafgericht . . . . F) Der Veltlinermord . G) Die Drei Bünde ohne ihre Untertanenlande Veltlin und Bormio H) Die evangelischen Flüchtlinge . . . . I) Die Ermordung des Pompejus Planta . K) Die Demütigung der Evange lischen .. L) Die ersten Erfolge der Rekatholisierung M) Der Widerstand der Prättigauer . . . N) Palmsonntag 1622 in Schiers 0) Der Tod des Fidelis von Sigmaringen P) «Die Püntner saind nit Menschen!» Q) Der Lindauer Vertrag . R) Die weitere Rekatholisierung . S) Der «Hungerwinter 1622/1623» T) Die katholische Kirche triumphiert U) Bekehrung mit Gewalt . V) Keine Gewalt hat Dauer . W) Die Verkündigung in der Volkssprache X) Die Barock-Kunst . 15 19 22 24 26 28 30 33 33 33 37 38 40 40 43 43 44 46 48 50 53 58 58 59 62 64 65 66 67 72 74 74 74 75 77 79 80 81 8 4. In den Unruhen doch noch Hoffnung . A) Die Reformierten setzen sich durch . B) Weitere konfessionelle Auseinandersetzungen C) Der Leidensweg der Unterengadiner . . . . . 0) Der Bundestag erörtert die Fragen der Konfessionskämpfe E) Neue Wirren und neues Elend . F) Die Not zeigt den Weg zur Versöhnlichkeit G) Rohan, «der gute Herzog» . 5. Die grossen Gestalten in der Zeit der Bündnerwirren A) Georg Jenatsch . a) Der Prädikant . b) Der Kämpfer . c) Die «Vier Wilhelm Teilen» d) Der «Condottiere» . . .. e) Die Konversion . . . . . f) Im Lager der Gegenreformation g) «Der gewaltige Puntsmann» .. h) Am Vorabend seines Todes . . . i) Die Mordtat im «Staubigen Hüetli» k) Wer waren die maskierten Mörder? B) Stefan Gabriel . a) Der Prädikant und der Zerfall der Sitten im Volke b) Der Katechet und Literat c) Der Kämpfer . d) Im Exil e) Die Heimkehr f) Die Pestjahre . g) Gabriel und die Konversion Jenatschs h) «Wir aber ... werden bis zur Heiserkeit unter den Rufenden sein» 86 86 87 87 88 89 90 91 95 95 95 98 100 100 101 102 103 103 104 106 108 108 109 110 112 112 113 114 115 6. Entspannung durch Erschöpfung A) Dem Frieden entgegen . B) Eine Standortbestimmung . C) Ein letztes Auflodern der Kämpfe 116 116 116 118 Literatu rverzeich nis 121 Bilderverzeich nis 125 9 Vorwort Die Reformation mit ihren tiefgreifenden Auswirkungen im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben der damaligen Zeit rief verständlicherweise eine Reaktion der bewahrenden Kräfte hervor. Die eingetretenen Veränderungen konnten nicht anders denn als Angriff auf die Einheit des Christentums gedeutet werden. Darum konnte der Versuch, dem «neuen Glauben» entgegenzutreten und Trennungen rückgängig zu machen, gar nicht lange ausbleiben. Der vorliegende dritte Teil der «Bündner Kirchengeschichte» behandelt jene Ereignisse des 16. und 17. Jahrhunderts, die wir als «Gegenreformation» bezeichnen. Dass neben theologischen politische Überlegungen und bis in die Dörfer hinein auch speziell machtpolitische Gründe treibende Kraft waren, wird in diesem Band mit grosser Sorgfalt berücksichtigt. Nach einem Blick auf entscheidende historische Bewegungen und Personen in der europäischen Christenheit wendet sich der Autor deren Ausläufern in den Drei Bünden zu. Eingebettet in europäische Spannungen verstärkten hier familiäre Auseinandersetzungen geographische Differenzen und wurden mit Hilfe des konfessionellen Konflikts zu den bekannten «Bündnerwirren». Zwischen Triumph und Niederlage, zwischen Hoffnung und Ent- täuschung wogte die Geschichte über die AI pentäler und ihre Bewohner hinweg. Anhand von persönlichen Schicksalen gibt der Verfasser Einblick in grössere Zusammenhänge, während einzelne Ereignisse zum Verstehen der damals beinahe unüberblickbaren Situation hilfreich sind. Der Leser wird mit viel Geschick in eine Zeit zurückgeführt, die in ihrem äusseren Erscheinungsbild als ebenso fremd erscheint, wie sie in ihrer «wirren» Suche nach Orientierung und Wahrheit uns Wohlvertrautes widerspiegelt. Nebst gekonnter Darstellung mag dies ein Grund dafür sein, dass dieses Kapitel der Bündner Kirchengeschichte uns Heutige so fasziniert. Der Kirchenrat ist herzlich dankbar, mit dem Band «Gegenreformation» dem interessierten Leser ein so schwieriges Kapitel Kirchengeschichte in so ansprechender Form präsentieren zu können. Er wünscht dem Buch einerseits viele aufmerksame Leser, und er ist andererseits gewiss, dass mancher Leser durch dieses Buch einen neuen Zugang zu dessen Inhalt findet. Chur, im Juli 1986 Der Evangelische Kirchenrat Graubünden Anmerkung des Verfassers des vorliegenden 3. Teils Bei der Darstellung dieser Geschichte der Gegenreformation in den Drei Bünden sind mir mehrere Gewährsleute mit Interesse und mit sachdienlichem Rat zur Seite gestanden. Gerne benütze ich die Gelegenheit, ihnen für ihre Anregungen und Handreichungen zu danken. Mein besonderer Dank richtet sich an die Kollegen unserer Kommission für die Herausgabe der «Bündner Kirchengeschichte»: Dr. Peter Dalbert, Chur, Dr. Hans Berger, Chur, Peter Niederstein, Tamins, sowie Dr. Otto Clavuot, Chur. Den Herren Dr. theo!. Albert Gasser, Chur, Dr. phi!. Christian Erni, Chur, und Dr. med. Hans Rudolf Schwarz, St. Peter, weiss ich mich für eine Durchsicht meiner Arbeit und für wertvolle Hinweise sowohl auf Stoffliches als auch auf Formales verbunden. Bei der Beschaffung von Bildmaterial boten vor allem die Vorsteher und die Beamten des Rätischen Museums, der Denkmalpflege 10 Graubünden, des Staatsarchives und der Kantonsbibliothek Graubünden und des Bündner Kunstmuseums in Chur Unterstützung. In verdankenswerter Weise vermittelten die Verlage Jan Thorbecke, Sigmaringen, F. Schuler, Chur, Schläpfer & Co. AG, Trogen, die «Tau -av Produktion» des Kollegiums in Stans, die Herren cand. phi!. Johannes Marx, Chur, Dr. Peter Dalbert, Chur, lic. phi!. Hans Peter Berger, Chur, Armin Gredig jun., Churwalden, Dr. Robert F. Schloeth, Zernez, Chefredaktor Stefan Bühler, Chur, lic. phi!. Linus Bühler, Oberrieden, gute Unterlagen zuhanden der Reproduktion von Photoaufnahmen, Ze ichnungen und Landkarten. Albert Frigg 11 1. Katholische Reform und Gegenreformation A) Die Ausbreitung der Reformation Die Reformation erfasste als eine mächtige Bewegung das Abendland und erschütterte es bis in seine Grundfesten hinein, seitdem Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine Thesen veröffentlicht hatte. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verlor die katholi sche Kirche mehr an Boden. Das Werk Luthers, Zwinglis und Calvins und ihrer Gefährten fand bald weite Ausstrahlung. In den deutschen Landen bekannten sich in gewissen Zeiten bis zu vier Fünftein der Bevölkerung zum «neuen Glauben». Auf einer Religionskarte von der Mitte des 16. Jahrhunderts sehen wir, dass sich die Reformation nicht nur in den deutschen Reichsgebieten und in der Eidgenossenschaft, sondern auch in den Niederlanden, in Eng land, Schottland und Skandinavien ausgebreitet hatte. Sogar im romanischen und osteuropäischen Kulturkreis hatte das evangelische Bekenntnis in manchen Gebieten gesiegt. B) Kaiser Karl V. als Verteidiger des katholischen Glaubens Die katholische Kirche hatte schwere Verluste erlitten. Sie wollte nicht weitere Einbrüche in Kauf nehmen. Daher musste sie ihre Kräfte zum Gegenangriff mobilisieren. Ihren fähigsten und mächtigsten «Feldherrn» sahen die Katholiken in Kaiser Karl V. Als Herr des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, als König von Spanien, Neapel und Sizilien, Herr der neuentdeckten Gebiete in Übersee, Universalerbe des gesamten österreichischen Hausbesitzes und Anwärter auf Böhmen und Ungarn, war er nach ihrer Überzeugung dazu berufen, der füh rende Verteidi ger des gefährdeten katholischen Glaubens in Europa zu werden. Nicht grundlos hatte er doch selber schon im Jahre 1521 den Fürsten in einer schriftlichen Erklärung ausrichten lassen: «Ihr wisst, dass ich abstamme von den al - lerchristlichsten Kaisern der edlen deutschen Nation, von den katholischen Königen von Span ien, den Erzherzögen von Österreich, den Herzögen von Burgund, die alle bis zum Tode getreue Söhne der römischen Kirche gewesen sind, Verteidiger des katholischen Glau bens ... » Mit seinem starken weltlichen Arm wollte Karl V. der geschwächten katholischen Kirche zu Hilfe eilen. Aber er hatte auf der politischen und militärischen Ebene unerbittliche Gegner, vor allem die französische Monarchie und - im Südosten von Habsburg - die stärkste Militärmacht der damaligen Zeit, osmanische Reich der Türken. Die ständigen Auseinandersetzungen mit diesen Feinden hinderten ihn immer wieder daran, seine Kräfte gezielt gegen die Ausbreitung und Festigung der Reformation in den deutschen Landen einzusetzen. Im Jahre 1546 schien sich die Lage jedoch zugunsten seiner Pläne zu wenden. Karl V. errang mit spanischen und italienischen Truppen im sogenannten «Schmalkaldischen Krieg» gegen die protestantischen deutschen Fürsten einige militärische Erfolge. Aber Karl V. hatte die Widerstandskraft seiner Gegner - besonders jene einiger deutscher Fürsten - unterschätzt. Truppen aufständischer Adeliger rückten an und trieben ihn zusehends in die Enge. Nicht nur die evangelischen Fürsten, sondern auch einige katholische, bedrängten ihn, da er ihnen zu mächtig geworden war. Die Lage verschlimmerte sich für den Kaiser selbst, der sich auch in einen Krieg mit Frankreich eingelassen hatte. Es gab für Karl V. keine Möglichkeit mehr, seine vormalige Machtposition zurückzuerobern. Er dankte ab. Er hatte sein Lebenswerk, sein hochgestecktes Ziel, die Einigung aller Völker im Abendland unter dem Banner des Katholizismus, nicht erreicht. Im «Augsburger Religionsfrieden» des Jahres 1555 vereinbarte der Reichstag: die lutherisch -augsburgische Konfession ist gleichberechtigt mit der römisch-katholischen. Die 12 Wahl des Bekenntnisses steht den Reichsständen frei: der Landesherr bestimmt die Konfession seiner Untertanen nach dem Grundsatz: «Wessen das Land, dessen die Religion, bzw. die Konfession» (<<cuius regio, eius religio»). In Reichsstädten sollen beide Konfessionen geduldet werden. So sprach man jetzt in den deutschen Landen von einem «Religionsfrieden». Trotzdem konnte aber nicht von einem Ende der Auseinandersetzungen die Rede sein; im Gegenteil: der «Augsburger Religionsfrieden» lieferte reichliche Nahrung für weitere Konfessionsstreitigkeiten. Mit seiner «weltlichen Gewalt» hatte der «allerchristlichste Kaiser» die Ausbreitung der Reformation nicht aufzuhalten vermocht. Der Religionsfriede von Augsburg verhalf beiden Konfessionen vorderhand zu einem Waffen stillstand. Angesichts der politischen und religiösen Spannungen konnte dieser aber nur von kurzer Dauer sein. C) Eine innere Erneuerung der katholischen Kirche Der Plan, Europa aus der kaiserlichen Machtfülle heraus - also gewissermassen von oben her nach unten - zu rekatholisieren, war gescheitert. Gab es aber vielleicht noch eine andere Möglichkeit, der Reformation auf ihrem Vormarsch Einhalt zu gebieten? Im katholischen Lager kam man immer mehr zur Einsicht, dass man im Kampf gegen die Evangelischen nur dann Erfolge erzielen könne, wenn man die Kirche selber zunächst «an Haupt und Gliedern» stärken und erneuern würde. Mit der äusseren Gewalt hatte man den Protestantismus nicht zu unterdrücken vermocht. Man sah ein, dass die katholische Kirche jetzt eine umfassende innere Reform erfahren müsse, bevor sie in den Kampf ziehe. Eine solche innere Erneuerung hatte zum Teil schon vor dem Auftreten von Martin Luther eingesetzt. In verschiedenen Ländern hatten sich vereinzelt bedeutsame Anstrengungen zu Reformen gezeigt. Denken wir an die Reformversuche des Oxforder Theologieprofessors John Wiclif, an das Schicksal des Magisters Jan Hus in Prag, und vergessen wir den Florentiner Dominikaner und Bussprediger Girolama Savonarola nicht. An vielen Orten entzündeten sich, meistens unabhängig vonein ander, Feuer der Empörung gegen Papsttum und Kirche. In diesem Zusammenhange wä ren auch die Katharer und Waldenser zu erwähnen, die bereits im 12. Jahrhundert in den romanischen Ländern die Vormachtstellung der Kirche gefährdet hatten. Erst als bedrohlichere Einbrüche in die kirchlichen Bereiche erfolgten - neben den bereits genannten Glaubensspaltungen im Deutschen Reich zum Beispiel der Abfall Englands und die Ausbreitung der Lehre Calvins in Frankreich -, erkannte Rom, dass es höchste Zeit geworden sei, gegen «äussere und innere neue Lehrer und Lehren» nach eigenen tüchtigen und standhaften «Seelsorgern und Führern» für das katholische Volk zu suchen. In früheren schweren Krisenzeiten der Kirche waren es öfters Ordensleute gewesen, welche die nötig gewordenen Reformen in die Wege geleitet hatten. Wir werden sehen, dass es auch jetzt wieder in erster Linie Ordensboten waren, welche die innere Erneuerung der ka tholischen Kirche herbeiführten und verwirklichten; in diesem Zusammenhang wird dann besonders auf Ignatius von Loyola und auf den von ihm gegründeten Jesuitenorden hinzuweisen sein. D) Das Konzil von Trient Das Konzil von Trient, welches der katholischen Kirche eine innere Stärkung bringen sollte und um dessen Zustandekommen sich noch Kaiser Karl V. bemüht hatte, tagte mit zwei langen Unterbrechungen von 1545 bis 1563 hauptsächlich in Trient. Die Konzilsväter waren gewillt, in ihren Verhandlungen Beschlüsse einzubringen, welche dazu dienen sollten, der römischen Kirche wieder mehr ihre innere und äussere Kraft und Macht zurückzugeben. Unter dem Eindruck des weitverbreiteten Abfalls von Rom musste mit einem solchen Konzil ein deutliches Zei- 13 Das Konzil von Trient, 1545-1563 Auf diesem Gemälde im Frauenkloster 51. Klara in Stans bilden die Konzilsväter ein weites Halbrund, in dessen Mittelpunkt Jesus als der Gekreuzigte dargestellt ist. ehen gesetzt werden: hinweg von Wittenberg, Zürich und Genf, zurück nach Rom! Den Konzilsteilnehmern lag daran, zahlreiche offensichtliche Missstände in der Kirche abzu schaffen. Sie bemühten sich, die typisch katholischen Lehren und Dogmen gegen die reformatorischen abzugrenzen. Sie legten die Fundamente der Kirchenlehre fest. Verteidigten die Evangelischen «die Schrift allein» als Glaubensgrundlage, so beharrten die Konzilsväter darauf, dass die Tradition auch eine unabdingbare Richtschnur des Glaubens sei, wobei die Frage offen gelassen wurde, ob die Tradition die Bibel inhaltlich ergänze, oder ob sie bloss die verbindliche Interpretation derselben sei. Schliesslich billigten sie ihrer Kirche allein das Recht zu, die Heilige Schrift richtig auszulegen. Grosses Gewicht erlangte der Konzilsentscheid über die «Rechtfertigung durch Glauben und Werke». Darin hielt man fest, der Mensch habe wohl die ursprüngliche Gerechtigkeit durch den Sündenfall Adams verloren, sein freier Wille sei jedoch nicht vernichtet worden, sondern nur geschwächt; der Mensch werde durch die Gnade Christi gerechtfertigt, aber Gott nehme die Freiheit und Verantwortung des Menschen ernst; so erlange der Christ die Gnade ohne jedes Verdienst, aber die Vollendung des Heils erfolge nicht ohne Mitwirkung des Menschen, sodass das ewige Leben Gnade und Verdienst sei. So 14 wurde ein deutlicher Akzent gesetzt, mit dem man unmissverständlich der reformatori schen Lehre von der Rechtfertigung allein durch Gnade (<<Sola gratia») entgegentrat. Weiter entschied das Konzil: die Häufung kirchlicher Ämter sei untersagt, der Handel mit denselben verboten. Der heftig umstrittene Geldablass wurde abgeschafft. Die Aufsichtsgewalt der Bischöfe in ihren Diözesen wurde verstärkt. Zur besseren Ausbildung von Priestern sollten entsprechende Seminare eingerichtet werden. Viel Zeit verwendeten die Konzilsteilnehmer, um die traditionelle Lehre von den sieben Sakramenten festzusetzen. Indirekt wirkte sich das Reformkonzil auch dahingehend aus, dass Irrlehren von nun an durch ein «Verzeichnis verbotener Bücher» (= «Index») von den Gläubigen ferngehalten werden sollten. Manche Beschlüsse der Tridentiner Synode erlangten grosse Bedeutung für das religiöse Leben der römischen Kirche bis zur Gegenwart. Anderseits aber dürfen wir nicht übersehen, dass auch mit dem Konzil in Trient nicht al/zuviel von einer wirklichen «Erneuerung an Haupt und Gliedern» erreicht wurde. E) Im Dienste der katholischen Reform und Gegenreformation So wurde also die innere Reform der katho lischen Kirche an die Hand genommen. Manche Schäden liessen sich im Ver laufe der Zeit mehr oder minder erfolgreich beheben. War man jetzt nach innen unerbittlich, so wurde man auch nach aussen hin erst recht unversöhnlich, konsequent und damit kriege risch im wört lichen Sinne. Ganz Europa sah sich dadurch hineingerissen in die Auseinandersetzungen der «Gegenreformation». Die «Aufrüstung» vollzog sich rasch, und zwar sowohl innerhalb der katholischen Kirche als auch auf dem politisch-militärischen Boden der kathol ischen Staaten. Die römisch-katholische Kirche und ihre Fürsten verbanden sich. Spanien wurde zum Stützpunkt des neu erstarkenden Katholizismus. Es war das Land je- ner Weltmonarchie, in welcher der Jesuitenorden und die Inquisition bereits seit gerau mer Zeit eine starke Machtposition innehatten. Das Szepter von Karl V. war an dessen Sohn Philipp 11. übergegangen. Der neue Herrscher übertraf während seiner Regierungszeit von 1556 bis 1598 noch seinen Vater, was den Eifer für den Katholizismus anbelangte . Spaniens Armeen kämpften unter tüchtigen Feldherren in verschiedenen Ländern. Alle Fä den liefen bei Philipp 11. zusammen,'dem nach altspanischer Tradition daran lag, den katholi schen Glauben gegen die äusseren und inneren Feinde mit aller Härte zu verteidigen. Dem Protestantismus in Frankreich, England und in den Niederlanden hatte er in seiner Aussenpo litik den Kampf angesagt. Zielsicher beschickte die habsbu rgisch-spanische Monarchie während des nächsten hal ben Jahrhunderts die strategisch wichtigen Kriegsschauplätze mit ihren Truppen. Mit ihren militärischen Feldzügen sollten zugleich die konfessionellen erfolgen. Für diese letzteren konnte niemand geeigneter sein als die Jesuiten und die Kapuziner. Diese «Soldaten, Eroberer, Gesetzgeber und Schriftgelehrten» aus den wieder erstarkenden katholischen Stammlanden sollten die Abtrünnigen erneut zum katholischen Glauben zurückfüh ren. F) Jesuiten und Kapu ziner a) Ignatius von Loyola und sein Orden Ignatius von Loyola, der Begründer des Jesui tenordens, wurde im Jahre 1491 geboren. Er stammte aus einem alten baskischen Adelsge sch lecht. Als Heranwachsender lebte er als Page an den Höfen verwandter hoher Aristo kraten. An den gleichen Stätten sehen wir ihn später als ausgelassenen, lebenslustigen Offi zier. Bei der Verteidigung von Pamplona gegen die Franzosen verletzte eine Kugel dem Dreissig jährigen ein Be in schwer. Wochenlang lag er darnieder. In dieser Zeit las er die «Geschichte Jesu» eines frommen Kartäusers und versch iedene m ittelalterl iche Heil igen legenden; 15 durch eifrige Lektüre erlebte er eine starke Sinneswandlung. Aus dem unbeschwerten und ehrgeizigen Hauptmann wurde ein schwärmerischer «Soldat Christi» und Verehrer der Mutter Jesu, Maria, und des Apostels Petrus. Von Stunde an wollte er seine Kräfte in den Dienst der Kirche stellen. Er verliess das väterliche Schloss, weihte seine Waffen und seine Rüstung der «Muttergottes» und zog als Pilger, Asket und Bettler umher und reiste nach Palästina, um dort Mohammedaner zu bekehren. Nach seiner Rückkehr eignete er sich eine höhere Schulbildung an. Die Erfahrungen, welche er bei der Suche nach Gott gemacht hatte, schrieb er in seinem Werk «Exercitia spiritualia» (<<Geistliche Übungen») nieder. Diese Schrift sollte auch andere Menschen dazu anregen, durch «Exerzitien» (Gebete und Betrachtungen, die gewöhnlich alljährlich während vier Wochen unter Leitung eines kundigen «Seelenführers» abgehalten werden) ihre Frömmigkeit zu vertiefen. Trotz anfänglichen Auseinandersetzungen mit der Inquisition, welche sich wiederholt misstrauisch mit dem «Schwärmer» befasste, sammelte Ignatius von Loyola einen kleinen Kreis von Anhängern um sich. In einer Kirche auf dem Montmartre in Paris verbanden sich die Gesinnungsgenossen im Jahre 1534 zur «Societas Jesu» (<<Gesellschaft Jesu»); 1540 erhielt ihre Vereinigung durch den Papst die Bestätigung als Orden. Ihre Hauptaufgabe sahen die Jesuiten vorderhand in der Mission. In Palästina und anderwärts wollten sie im Dienste des Papstes und ihrer Kirche wirken. Wegen des herrschenden Türkenkrieges konnten sie aber nicht in den Nahen Osten ziehen. So widmeten sie sich auf italienischem Boden der «inneren Mission»: der Volkspredigt, der Krankenpflege und der Waisenfürsorge. Im Jahre 1540 wurde Ignatius von Loyola zum General des Ordens gewählt. Rom wurde zum ständigen Sitz des Jesuitengenerals. Mit der Zeit erwies es sich immer deutlicher, dass der neue Orden zu einer durchexerzierten einsatzbereiten geistlichen Armee werden sollte. Nach dem Willen des Begründers musste sie sich vor allem durch Gehorsam auszeichnen. Die Ordensboten sollten für die äussere und die innere Mission kämpfen. Um dieser Aufgabe genügen zu können, mussten die Mitglieder des Kampfordens der «Gesellschaft Jesu» geistig auf das beste vorbereitet werden. Es wurden Jesuitenkollegien gegründet. Noch zu Lebzeiten des Ignatius (er starb im Jahre 1556) wurde in Rom die «Universitas Gregoriana» eröffnet. 1552 nahmen deutsche Theologiestudenten ihr Studium am «Collegium Germanicum», einem theologischen Seminar zur Ausbildung deutscher Geistlicher, in derselben Stadt auf. Die Jesuiten sammelten nun ihre Kräfte auf das Zie l hin, die Alleinherrschaft der katholischen Kirche wiederherzustellen. Durch streng methodisches und systematisches Vorgehen suchten sie, dieses Ziel zu erreichen. Zu ihren wichtigen Waffen wurden der Unterricht und die Beichte. Für die oberen Schichten pflegten sie die höhere Bildung, dem Volke machten sie die Heiligen- und Marienverehrung und den Rosenkranz lieb. Wo immer die Jesuiten Zugang fanden, empfahlen sie den Gläubigen häufige Beichte und Kommunion, eifrigen Besuch der Messe, Verehrung der Reliquien und Teilnahme an Wallfahrten. Die «Gesellschaft Jesu» erlebte innert kurzer Zeit eine starke Ausbreitung. Besonders fest fasste sie Fuss in Italien und Spanien, im habsburgischen Reich und in überseeischen Gebieten. Der habsburgische Einfluss aber reichte bis in die Drei Bünde. So ergab es sich von selbst, dass die Jesuiten recht bald auch auf rätischem Boden tätig wurden. b) Die Kapuziner Die Kapuziner hatten sich im Jahre 1528 vom Franziskanerorden (<<Ordo fratrum minorum», abgekürzt: «O.F.M.») abgezweigt und bildeten von 1619 an eine neue selbständige Bruderschaft. Die Grundlagen für diesen Ordenszweig waren die alten franziskanischen Regeln. Es ging da für die Mönche um die stille Besinnung in der klösterlichen Gemeinschaft und um den 16 In alle Welt sollten sie hinausgehen, um in Klöstern und ausserhalb derselben als Missionare den katholischen Glauben wieder zu festigen: so verstanden sich die Kapuziner selber als franziskanische Sendboten im Dienste ihrer rö mischen Kirche. Zeitgenössischer Kupferstich. Dienst am Mitmenschen. Die Ordensleute verpflichteten sich zu Predigt, Seelsorge, Liebesdienst und zur Armut, wie sie Franz von Assisi gelebt hatte. Aber jetzt kam für sie ein neues Element hinzu. Angesichts der Konfessionskämpfe sollten von nun an die Kapuziner ganz besonders auch zur Wiederbelebung der katholischen Frömmigkeit beitragen. Rasch bildete sich der äussere Rahmen. Der Orden formierte sich zu einer selbständigen Organisation unter dem Schutze der höchsten römisch-katholischen Zentralbehörde, der Kurie in Rom. Die Kirche benötigte Missionare. Sie brauchte sie jetzt nicht nur auf fernen Kontinenten, son dern in den eigenen Landen. So wurde der Ka puzinerorden zu einer angriffigen Missionsgesellschaft im Dienste der Gegenreformation. Innert kurzer Zeit nahmen die einfachen Männer in ihren groben braunen Kutten als «Franziskaner der Gegenreformation» Wohnsitz in Frankreich, Spanien, Österreich, sodann in der Eidgenossenschaft und in den Drei Bünden. 17 2. Die gegenreformatorische Tätigkeit in den Drei Bünden A) Die Drei Bünde im Spannungsfeld der grossen Politik Die Bewegungen der Reformation, der katho lischen Reform und der Gegenreformation sind untrennbar mit den grossen politischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit verbunden. So soll hier denn auch andeutungsweise auf die Machtkämpfe der damaligen Grossmächte Habsburg, Frankreich, Türkei und England eingegangen werden. Das Haus Habsburg war im ausgehenden Mittelalter zwar den Hellebarden der Eidgenossen nicht gewachsen, verzeichnete aber auf dem friedlicheren Wege der Heiratspolitik beneidenswerte Erfolge. Den Habsburgern fielen um die Wende zur Neuzeit durch Heirat und Eroberungen so viele Gebiete zu - das luxemburgische Erbe, ebenso das burgundische, das spanische und das mailändische -, so dass der Universalerbe Karl über ein Reich gebot, «in dem die Sonne nicht unterging». Zum Römischen Kaiser Deutscher Nation gekrönt, bemühte sich Karl V., die Einheit des Glaubens - und das konnte natürlich nur bedeuten: des katholischen Glaubens - in seinem Reiche herzustellen, um nach aussen hin kraftvoll und geschlossen auftreten zu können. An Gegnern seiner Machtfülle fehlte es nicht. So bedrängten, wie schon früher erwähnt, die Türken vom Balkan her sein Reich; und der ehrgeizige französische König Franz I. setzte zeitlebens alle Mittel ein, um die habsburgisch-spanische Klammer um Frankreich zu sprengen. Die grundsätzlich feindselige Haltung des französischen Königtums gegenüber Habsburg blieb auch nach dem Rücktritt Karls V. im Jahre 1555 erhalten. Zwar wurde damals das Reich geteilt. Karls Bruder Ferdinand I. erhielt neben den habsburgischen Stammlanden samt Böhmen die Kaiserkrone, während Karls Sohn Philipp 11. als König von Spanien auch die habsburgischen Vorlande erbte, nämlich Neapel, Sizilien, Sardinien, Mailand, die Frei grafschaft Burgund und die Niederlande. Dem stolzen spanischen König war kein Opfer zu gering, um zwei Ziele seiner Politik zu errei chen: die unbestrittene Vorherrschaft Spa niens in Europa und die Einheit des Glaubens in seinem Reiche. Dadurch blieb er verstrickt in Kriege gegen die Türken, gegen Frankreich und England, aber auch gegen die eigenen Untertanen in den Niederlanden, welche für ihre alten Rechte und für die Freiheit ihres calvinistischen oder lutherischen Bekenntnisses kämpften. Stärkung der königlichen Macht und gegen re formatorischer Einsatz für die Einheit der katholischen Konfession waren dann auch erklärte Ziele des späteren Habsburgerkaisers Ferdinand 11. (1619- 1637). Am Anfang des Dreissigjährigen Krieges (1618- 1648) erran gen für ihn die Heere des katholischen Fürstenbundes der Liga und des Feldherrn Al brecht von Wallenstein grosse Erfolge gegen die aufständischen Böhmen und gegen protestantische deutsche Fürsten. Durch die wachsende kaiserliche Macht alarmiert, griff der erste Minister Ludwigs XIII. von Frankreich, Kardinal Armand de Richelieu, ins Geschehen ein. Er scharte die Gegner Habsburg-Spaniens um sich: zahlreiche deutsche Fürsten, Schweden, die Republik Venedig. Diese Kampfgefährten unterstützte er zunächst mit Geld, dann mitWaffen und Heeren. Mit dem Westfälischen Frieden (1648) und dem Pyrenäenfrieden (1659) erreichte Frankreich zu seinem eigenen Vorteil eine empfindliche Schwächung der spanisch-habsburgischen Macht. Damit war gleichzeitig der Höhenflug beendet, der mit Karl V. unter der Devise «Ein Gott, ein Glaube, ein Reich!» begonnen hatte. Der Dreissigjährige Krieg wurde vor allem auf dem Boden der deutschen Reichsländer ausgetragen; zwar blieben die protestantischen deutschen Gebiete dank schwedischer und französischer Hilfe siegreich, aber sie zahlten 18 dies mit Elend, Entvölkerung und Verödung weiter Landstriche. Als einziger Stand der Alten Eidgenossen schaft wurden die Drei Bünde in diesen euro päischen Krieg verwickelt. Dies war gegebenermassen die Folge ihrer exponierten geopolitischen Lage, aber in tragischer Weise zugleich auch ihrer inneren Schwäche. Die bei den Machtblöcke Österreich und Spanien berührten sich nirgends direkt. Ihre dünn ste «Koppelungsstelle» war das zwischen dem spanischen Mailand und dem österreichischen Tirol liegende Gebiet der Drei Bünde. Daraus ergab sich zwangs läufig das brennende Interesse der beiden Grossmächte an diesem Passland, aber auch - was nicht übersehen werden darf - die Abhängigkeit der Bündner von deren Wohlwollen. Der einträg liche Transit und Handel und damit das Lebenselement des Freistaates beruhte auf der Freundschaft mit Mailand und Österreich. Einer Begünstigung der habsburgischen Mächte Spanien und Österreich durch die Bündner standen aber die Interessen Frankreichs und der mit ihm verbündeten Republik Venedig entgegen. Frankreich hatte seine al ten Ansprüche auf das Herzogtum Mailand nie aufgegeben und war nach wie vor bestrebt, das Passland als das Tor Mailands nach dem Tirol unter seine Kontrolle zu bekommen. Und der Dogenrepublik stand, wie der Bündner Pfarrer Bartholomäus Anhorn im 17. Jahrhundert schrieb, «dieser Pass nit allein des commerzii und kaufmans gewerben, sondern auch des Kriegsvolks wegen» sehr nahe. Venedig unterstrich sei ne Freu ndschaft zu m Drei bü ndenstaat mit der Gewährung des Niederlassungsrechtes für rund fünftausend Bündner mit ihren Famil ien. Verhängnisvoll wirkte es sich aus, dass diese vier Mächte, Österreich, Spanien, Venedig und Frankreich, mit ihren Agenten und Unterhändlern vorerst heimlich, dann aber öffentlich unser Land umwarben und an Geld nicht sparten, wenn es darum ging, die Gunst der Gemeinden oder einflussreicher Persönlichkeiten zu gewinnen. Solcher gezielter Einflussnahme mit ihren verheerenden Auswirkungen stand der Staat machtlos gegenüber. Seine Schwäche hatte mancherlei Ursachen. So fehlte jede Zentra lgewalt. Die wichtigsten Entscheidungsbefugnisse lagen bei den rund fünfzig Gerichtsgemeinden, welche sich denn auch als weitgehend autonome Staaten im Staate gebärdeten. Deren Verwaltung, wie auch die Verwaltung der Untertanengebiete Veltlin, Bormio und Chiavenna, lag oft in unwürdigen Händen. Man gewinnt den Eindruck, dass kaum jemand da war, der wirksam die Korruption bekämpft hätte. Der Ämterkauf war eine Selbstverständ lichkeit. Widersprüchliche wirtschaftliche und politische Interessen konnten sich hemmungslos ausleben. Ohne dabei die eigenen Taschen zu vergessen, vertraten die einen, angeführt von der aus Soglio stammenden Familie von Salis, die Anliegen von Frankreich und Venedig. Andere scharten sich um die Familie von Planta mit dem Stammsitz in Zuoz, um die Gemeinden für die Vorzüge eines Bündnisses mit Österreich und Spanien zu gewinnen. Es ist klar: je mehr sich die ausländischen Grossmächte um Anhänger in den Drei Bün den stritten, umsomehr steigerten sich in diesem Passland selbst die Spannungen und die Auseinandersetzungen. Das Bündnervolk war ja auch konfessionell gespalten. Zwar hatte der Gegensatz zwischen Katholiken und Reformierten bisher nie, wie unter den Eidgenossen, zu offenem Krieg geführt. Jetzt aber traten militante Streiter auf. Schlimmes musste befürchtet werden. Dem wachsenden Einfluss der Grossmächte ausgesetzt, spekulierten die einen immer mehr darauf, mit Hilfe Spaniens die verblichene Macht der katholischen Kirche in Rätien wieder herstellen zu können; die anderen warnten eindringlich vor einem Bündnis mit Mailand, welches unweigerlich den Einzug der spanischen Inquisition in den Bünden zur Fo lge haben würde. Wir sehen: Rätien war zum Zankapfel entfesselter Grossmächte von «draussen» geworden; im Lande «drinnen» konnten fatale Ere ig nisse nicht mehr ausbleiben. Der Dreibünden staat sah sich ausserstande, angesichts der drohenden Weltlage eine Neutralitätspolitik 19 uneigennützigen Diplomaten und Politikern beider Konfessionen. Die Drei Bünde waren den grossen politischen Stürmen wehrlos ausgeliefert. zu betreiben. Dazu fehlte ganz einfach die innere Geschlossenheit. Es mangelte an wirtschaftlicher Stärke, an einer wirksamen Landesverteidigung sowie an geschickten und Die Drei Bünde im europäischen Spannungsfeld Frankreich Deutsche Reichsgebiete Österreich (Hahshurg) Herzogtum Savoyen Republik Venedig Herzogtum Mailand (spani ch-hahshurgisch) B) Der Erzbischof von Mailand : Carlo Borromeo Als Initiant des Kampfes gegen die Reformierten in den Drei Bünden, in deren Untertanenlanden und in der Eidgenossenschaft trat gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine umstrittene mächtige Persönlichkeit in Erscheinung: Kardinal Carlo Borromeo, der Erzbischof von Mailand. Borromeo war ein Neffe von Papst Pius IV. Als päpstlicher Bevollmächtigter hatte er am Kon- zil von Trient teilgenommen. Man war von höchster Warte her entschlossen, auf dem Boden der Eidgenossenschaft und Rätiens einen besonders erfahrenen und profilierten Mann für die Aufgaben der Reform und der RekathoIisieru ng ei nzusetzen. er ielt den Titel: «Protector Der Helvetiae». Diese Bezeichnung konnte nicht bloss «Beschützer Helvetiens» bedeuten, sondern sagte zielgerichtet aus: «Beschützer des Katholizismus in der Eidgenossenschaft». 20 Kurzbiographie des Carlo Borromeo 2. Oktober 1538 Geburt in Arona am Lago Maggiare. Carlo ist ein Kind der wohlhabenden Mailänder Bankiersfamilie Borromeo. Seine Mutter Margherita de Medici ist die Schwester des Kardinals Giovanni Angelo Medici, welcher 1559 als Pius IV. Papst wird 1559 Abschluss des Studiums bei der Rechte mit dem Doktorat. Einstieg in eine glänzende Karriere als Vertrauensmann des Papstes und später als päpstlicher Bevollmächtigter am Konzil von Trient 1560 Ernennung zum Kardinaldiakon und ständigen Verwalter des Erzbistums Mailand. Verleihung des Titels: «Protector Helvetiae», d.h. des Beschützers der sieben katholischen Orte der Eidgenossenschaft November 1562 Erschütterung durch den frühen Tod seines ältesten Bruders Federico. Innere Umkehr. Zuwendung zu strengen asketischen Übungen 1563 Priesterweihe, und noch im gleichen Jahre Weihe zum Bischof 1565 Ernennung zum Kardinalerzbischof von Mailand. Es folgt ein fast zwanzigjähriges Episkopat, geprägt von unentwegter Reformtätigkeit, Visitationsreisen, Gründung neuer Kongregationen und Ausbildungsstätten für Geistliche, Ausführung von Tridentinischen Reformdekreten, Organisation materieller und pastoraler Hilfsdienste im Pestjahr 1576 u. a. m. 1567 Erste Reise in das Tessin. In Bellinzona Zusammentreffen auch mit Gesandten aus Uri, Schwyz und Unterwaiden 1570 Zweite Reise, eigentliche «Schweizerreise», nach dem Tessin, nach Luzern, Zug, Einsiedeln, St. Gallen, Schwyz, Rorschach. Herstellung von Kontakten auch mit den führenden Katholiken in Bünden. Auf die vielfältigen Initiativen Borromeos gehen u. a. zurück: die Gründung einer ständigen Nuntiatur in der Eidgenossenschaft, die Berufung der Kapuziner, die Gründung des Jesuitenkollegiums in Luzern (1574) und die Grundsteinlegung zur Ausbildungsstätte für schweizerische Geistliche «Collegia Elvetico» in Mailand 1581 Visitationsreise nach Bünden. Festlicher Einzug in Disentis/Muster. Der gefeierte Pilger aus Mailand betet vor den Reliquien der Klosterheiligen Placidus und Sigisbert Vor 1583 Ernennung zum päpstlichen Delegaten und zum Visitator der Eidgenossenschaft und der Drei Bünde November 1583 Visitationsreise ins Misox und Calancatal 3. November 1584 Todestag 1610 Heiligsprechung 21 Im Jahre 1586 schlossen die katholischen Orte der Eidgenossenschaft zum Schutz ihres Glaubensbekenntnisses den «Goldenen Bund» (später als «Borromäischer Bund» bezeichnet). Anlässlich der Bestätigung dieses Bundes im Jahre 1655 präsentierte der Luzerner Buchdrucker David Hautt einen Einblattdruck mit diesem Porträt Borromeos. 22 Ein fast legendärer Ruf ging Carlo Borromeo voraus. Man erzählte Grossartiges über seine Selbstlosigkeit, seinen glühenden echten Glauben und seine sittliche Reinheit und asketische Strenge. Aber man gleichzeitig kein Hehl daraus, dass er ein unnachgiebiger, leidenschaftlicher Eiferer sein könne. Als «Protektor» führte Borromeo drei Reisen in die Eidgenossen's chaft durch. Auf der zwe iten Reise, im Jahre 1570, nahm er unter anderem Verbindungen mit dem Abt des Klosters Disentis/Muster, mit Landrichter Peter Bundi vom Grauen Bund und mit dem Bischof von Chur, Beatus Porta, auf. Es ging ihm dabei um Wichtiges. Er trug sich mit dem Plan, auf rätischem Boden ein Bollwerk des Katholizismus zu errichten. In seinen Augen stand es in den Drei Bünden arg um die kirchlichen und politischen Verhältnisse. Die Reformierten hatten sich nach seinem Ermessen bereits zu viel Boden gesichert, und in den katholischen Pfarreien herrschten teils bedenkliche Zustände. Der «Beschützer Helvetiens» wusste sich dazu aufgerufen, auch als «Besch ützer des Katholizismus in Rätien» im Passland und in dessen Untertanengebieten tiefgreifende Reformen nach den Weisungen der Tridentiner Synode in die Wege zu leiten. Wie sollte der Erzb ischof von Mailand das Werk an die Hand nehmen? Es gab da ein grosses Hindernis: weil die Drei Bünde nicht zum Erzb istum Mailand gehörten, besass er keine Erlaubnis, hier seines Amtes zu walten. Trotzdem besuchte er im Jahre 1581 das Kloster Disentis/Muster. Noch ehe zwei Jahre um waren, ernannte ihn Papst Gregor XIII. zu seinem Delegaten und zum Visitator der Schweiz und der Drei Bünde und stattete ihn dazu mit grossen Vollmachten aus. Dem von Rom so ehrenvoll Gewürdigten lag daran, pflichtbewusst seine Aufgaben auszuführen. Noch im gleichen Jahre, 1583, visitierte er das Misox und das Calancatal. C) Die Zustände in den Südtälern Die benachbarten Bistümer südlich der bündnerischen Stammlande waren arg verwahrlost. Wir vernehmen da etwa Stimmen, die sagen, in der Mesolcina sei das Volk vor der Ankunft Borromeos als Folge einer unerhörten Ignoranz im Aberglauben versunken gewesen. Der Hexenwahn sei stark verbreitet gewesen. Es hätte Zeiten gegeben, da der Aberglaube dem Volke so im Blute gesteckt habe, dass die Gerichte auf Grund blosser Denunziation in grausamer Weise Todesurteile ausgesprochen und vollzogen hatten. Nirgends im Mesocco 23 rätischen Lande hätten Volk und Priester in so grober Unwissenheit dahingelebt wie im Misox. Die Evangelischen hatten im Tale an Boden · gewonnen. Von der Apenninen-Halbinsel her waren wiederholt einze lne Glaubensflüchtlinge ins Misox gekommen und hatten sich hier in verschiedenen Dörfern niedergelassen. Gegen den Widerstand der eidgenössischen katholischen Orte und des Grauen Bundes hatten auch Glaubensflüchtlinge aus Locarno den Weg in dasselbe Tal gefunden. Die evan gelischen Familien in dieser Diaspora standen in Verbindung mit ihren Glaubensgefährten im Rheinwa ld. Auch im Ca lancata l lebten meh rere Reform ierte. Aufschlussreich sind die Berichte des Jesuitenpaters Achille Gagliardi, des einen Beglei ters von Carlo Borromeo, über die kirchlich re lig iösen Zustände im Misox. Da wird das fo lgende düstere Bild gezeichnet: das Tal sei ganz in den Händen von geflüchteten abgefallenen Gläubigen, welche nun hier als Seelenhirten dienten. Einige derse lben hätten ketzerische Lehren verbre itet, andere hätten durch ihren schlechten Lebenswandel ein ungutes Beispiel gegeben. Viele im Volke seien durch diese Hirten zum Abfall verführt worden. Se lbst der Propst von San Vittore, der höchste Würdenträger im Tale, se i von der Häresie an- Roveredo gesteckt und als Hexenmeister tätig gewesen. Der Jesuitenpater führte die Liste der Missstände noch weiter: das ganze Tal habe von Wucher, illegitimen Ehen, gefährlichen und oft zu Mordtaten führenden Zwistigkeiten und Feindschaften nur so gestrotzt. Es habe sich eine nicht zu übertreffende Unwissenheit ausgebreitet. Es hätte sich niemand der Unterwei sung in der christlichen Sitte und Lehre angenommen. Soweit also der Bericht des einen Begleiters von Carlo Borromeo. Von evangelischer Seite dagegen verlautete: die Reformation habe im Tale stark aufgeräumt mit den Tanzveranstaltungen, mit dem Maskeraden-Treiben, mit unhaltbaren Zustän den in Wirtshäusern; sie habe den ausserehelichen Verbindungen den Kampf angesagt und habe zu strenger Zucht geführt. Welche der verschiedenen Berichterstattungen ist nun sachlich? Aussagen standen da gegen Aussagen. Die Leidenschaften waren auf beiden Seiten, bei Katholiken wie bei EvangeIischen, entfesselt. Sicher auszumachen ist angesichts der kon fessionellen Zerstritten heit ei nzig und aIlei n, dass die Spannungen und Differenzen in der Region so gross waren, dass es eines Tages zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung kom men musste. 24 Sta. Maria im Calancatal D) Die Visitation im Misox und im Calancatal Am 12. November 1583 betrat Kardinal Borromeo in Roveredo den rätischen Boden. Einem mailändischen Jesuiten und Juristen war es vorher in geschickten Verhandlungen gelungen zu erwirken, dass dem Kirchenfürsten nun beim Grenzübertritt keine Schwierigkeiten mehr bereitet würden. Der päpstlich bevollmächtigte «Beschützer» war begleitet vom Jesuiten Achille Gagliardi, dem Kapuzinerpater Panigarola und dem Kanonikus Ottavio Albiati, alle hervorragende Prediger. Borromeo wusste sich dazu beauftragt, auf sei ner Inspektionsreise in diese Region einerseits als Prediger und Seelsorger zu wirken und die katholische Kirchendisziplin wieder herzustellen, anderseits gegen die Lauheit anzukämpfen und die Häresie auszurotten und so eine Reform an Haupt und Gliedern einzuleiten. Bald spürten seine Gegner, dass sie es mit einem unerbittlichen Streiter zu tun hatten. Erschrocken stellten sie fest, dass der Visitator eben nicht bloss zu einer Visite oder Inspektion ins Tal gekommen war, sondern um hier gleichzeitig auch wie ein Strafrichter «Ordnung zu schaffen». Es kam der Tag, an weIchem in einem Protokoll der Evange lisch -Räti- schen Synode vermerkt wurde, es sei in Carlo Borromeo eine unglücksverheissende Bestie (<<inauspicata bestia») in die Südtäler eingedrungen. Borromeo besuchte alle Pfarreien des Misox und des Calancatales. In den Dörfern richtete er sein Augenmerk auf die Priester und die Mönche, besonders auf jene, die wankelmütig oder abtrünnig geworden waren. Ent laufene Mönche wurden wieder in die Klöster zurückgeholt. Der Propst von San Vittore, Domenico Quattrini, wurde als Häretiker vor Gericht gestellt, zur Strafe seiner Würde entkleidet und in den Laienstand versetzt. An seine Stelle berief Borromeo den hervorragend geschulten Akademiker Dr. Pietro Stoppani (Giovanni Pietro Stupano), Rektor des Helvetischen Kollegs in Mailand. Zugle ich ernannte er den neuen Propst auch zum Pfarrer von Roveredo und Santa Maria im Calancatal. Dieser ausgezeichnete Würdenträger wurde für Priester, Ordensleute und Laien die zentrale kirchliche Gestalt in der Region. Aber er sollte nicht der einzige verlässliche Priester aus dem Mailändischen sein; Jesuiten, Boten anderer Orden und eifrige Weltpriester wurden von dort hergeholt und in den Gemeinden der ennetbirgischen Täler der Drei Bünde eingesetzt. 25 lich bei einem «Ausreissen» geblieben. Man unternahm es ebenso leidenschaftlich, neu anzupflanzen. Die Devise lautete: «Hinweg mit dem ,Ketzertum' und neu angesät die ursprüngliche Saat!» Sie stimmte überein mit den Forderungen des Konzils von Trient. Sorgfältig wurde die Heranbildung tüchtiger Priester an die Hand genommen. Die Reform «am Haupte» durfte kein leeres Versprechen bleiben. Aber auch «die Glieder» sollten neu gestärkt werden. Man ging daran, die Bruderschaften neu aufzubauen. Drei solche begrün dete der Erzbischofvon Mailand im Misox: die Bruderschaft des allerheiligsten Sakramentes, der Messe (um dadurch im Volke wieder die Benutzung des Sakramentes zu fördern), die Rosenkranzbruderschaft zur Förderung der Marien -Verehrung und zur Bekämpfung des «neuen Geistes der Reformation» und - zum gleichen Zwecke - die Bruderschaft des Märtyrerheiligen Petrus von Verona. Die Kirche von Soazza im Misox Die Kapelle S. Carlo Borromeo in Lostallo im Misox. Bei einer Visitation von 1611 bewilligte der Bischof diesen Bau, und im Jahre 1633 wurde die Kapelle dann zu Ehren von Carlo Borromeo eingeweiht. Auch die Schulen wurden nun gefördert, Bü cher und Katechismen neu gedruckt und verbreitet. Schriften, welche im Volke zirkulierten und nicht mit den katholischen Lehren übereinstimmten, wurden eingezogen und verbrannt. Borromeo regte an, in Roveredo ein Jesuitenkollegium zu gründen, an dem ein tüchtiger neuer Klerus herangebildet werden sollte. Der Plan liess sich aber nicht ausführen. Das Referendum der Bündner Gemeinden gestattete es nicht, landesfremde Jesuiten als Lehrer an eine solche Schule zu berufen. Was sich nun in dieser Region vollzog, war nicht bloss ein Streben nach einer inneren Reform, sondern auch ein ausgesprochen poli tisch ausgerichteter Katholi zismus. «Säuberungen» waren jetzt fast an der Tagesordnung. Aber nie wäre es dabei ausschliess- 26 Arvigo im Calancatal Die Erfolge Borromeos und seiner Gefährten zeigten sich recht deutlich. Innert kurzer Zeit sahen sich die Evangeli schen in den Gemeinden ihrer Prädikanten beraubt. Von einer Stunde zur anderen wurden Letztere gezwungen, entweder in den Schoss der katholischen Kirche zurückzukehren, oder aber ihre Wirkungsstätten zu verlassen und in Richtung Norden zu fliehen. Vier evangelische Familien von Andergia, dem obersten Dorfe im Misox, (u.a. die Toscano und Alberti), hatten schon beim Aufkom men des Gerüchtes, dass Borromeo ins Land kommen würde, Hals über Kopf das Tal verlassen. Jene aber, welche es wagten, in den Dörfern zu bleiben, wurden von den Häschern des Kardinals aufgespürt, gefasst, als Hexen und Hexenmeister verhört und - wenn sie nicht bereit waren, sich zu unterwerfen - dem weltlichen Gericht zur Aburteilung überantwortet. Ein schreckliches Geschehen nahm damit sei nen Anfang. E} Die Hexenverfolgungen Als Carlo Borromeo am 26. November 1583 sich talaufwärts nach Mesocco begab, um dort seine «Visitation» fortzusetzen, blieb sein Gefährte Franz Barsotto, Jesuit und Jurist, in Roveredo zurück. Hier wollte er die Hexenprozesse durchführen und ein Exempel statuieren, damit man auch anderwärts wisse, dass man es mit dem Werk der Rückkehr in die ka tholische Kirche ernst meine. Der Jurist und gestrenge Theologe fühlte sich als Hüter von Recht und Vollstrecker des Gerichtes, indem er sich auch in Roveredo mit dem Vollzug des Prozesses gegen die Hexen befasste (<<A Rovereto occupato nella perfezione dei processi contro le Streghe»). Mit diesem Hinweis befinden wir uns unversehens bei einem düsteren Kapitel der Geschichte, beim Thema: «Hexenverfolgun gen». Der Hexenwahn war damals - und auch später - unter den Anhängern beider Konfessionen stark verbreitet. Man hatte bereits vor der Reformation und während derselben da oder dort - zum Beispiel im Jahre 1432 in Thusis Hexenprozesse geführt. Jedoch darf man sa gen, dass es sich dabei nur um einzelne Vorkommnisse gehandelt hatte. Zu einer allgemeinen Hexenjagd kam es erst später, das heisst, erst gegen das Ende des 16. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt wurde für die Drei Bünde die inquisitorische Tätigkeit Borromeos in den ennetbirgischen Tälern zum entscheidenden Signal für eine wahnwitzige Hexenverfolgung. Durch das radikale 27 Verhöre, Folterungen und Hinrichtungen - eine Darstellung aus dem Jahre 1514. Wirken und Vorgehen des Kardinals kam es zu einem wahren Sturm auf «Zauberer, Unholde, Hexen und Hexenmeister». Padre Achille Gagliardi, der Begleiter Borromeos, berichtet uns über die Vorkommnisse in den Südtälern in aller Offenherzigkeit: viele Einwohner hätten zugegeben, dass sie mit dem Teufel im Bunde stünden, dass sie nächtliche Zusammenkünfte hätten, auch dass sie andere Menschen, besonders Kinder, mit dem Pulver getrockneter Kröten oder mit Totengebeinen umgebracht hätten. Auf das Betreiben der Visitatoren und Inquisitoren aus dem Mailändischen kam es in der Mesolcina und im Calancatal zu zahlreichen Verzeigungen. Die Angeschuldigten wurden zum Verhör geschleppt und auf einen Stuhl gebunden. Dann mussten sie uferlos Fragen beantworten, Beichten ablegen und sich unter gewaltigem psychischem Druck Bekenntnisse abpressen lassen. Die Verhöre wurden für die meisten zu einem «Inferno», zur Hölle. Aber damit hatte es noch kein Bewenden. Weitere Höllenqualen kamen hinzu: Misshandlungen, Folterungen aller erdenklichen Art. Gross war jeweils der Zulauf jener, welche sensationslüstern den Prozessen beiwohnten. In Roveredo beispielsweise - so wird berichtet 28 - sollen ganze Scharen dabeigestanden haben, wenn die Verurteilten auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Das makabre Schauspiel war jenem der Hinrichtung der ersten Christen im heidnischen Rom vergleich bar. Und doch war hier manches recht anders: jene, die hingerichtet wurden, waren nicht ein zelne Bekannte oder gar Unbekannte aus einer grossen Stadt, sondern Bewohnerinnen und Bewohner kleiner Dörfer, allen bekannt, vielen verwandt. Unbeschreiblich mussten die Tragödien sein, die hier geschahen. Besonders dramatisch drückt das der evangelische Pfarrer und Historiker Christian Immanuel Kind aus, wenn er in seiner im Jahre 1858 verfassten Geschichte der Reformation in den Bistümern Chur und Como unter anderem festhält: «Das Jammergeschrei der Zuschauer mischte sich unter dem Knistern der Flammen mit dem Gewimmer der Brennenden, die nach Gaillards Meinung durch den Rosenkranz, den man ihnen um den Hals gehängt hatte, ein sicheres Heilspfand besassen». Finsteres Mittelalter? Wahnwitziger Aberglaube? Die Anschauungen entsprachen damals einer allgemeinen Überzeugung, dem fe sten Glauben - auch wenn wir dies heute als Aberglauben bezeichnen. Okkultes, Magie und Hexenwahn hatten in jener Zeit ihren Platz im Alltag, einen «Sitz im Leben». Es darf - was wir heute ja wirklich kaum fassen können nicht übersehen werden, dass viele der Verurteilten selber überzeugt waren, tatsächlich Hexen oder Hexenmeister zu sein. Nicht grundlos hat Friedrich Nietzsche in seiner Schrift «Zur Genealogie der Moral» unter anderem festgehalten : «Man erinnere sich doch der berühmten Hexen-Prozesse: damals zweifelten die scharfsichtigsten und menschenfreund lichsten Richter nicht daran, dass hier eine Schuld vorliege; die ,Hexen' selbst zweifelten nicht daran, - und dennoch fehlte die Schuld. -» Es gibt Hinweise darauf, dass, vermutlich auf das Misox und auf das Calancatal verteilt, 162 Frauen des Hexenwahns bezichtigt und grau enhaften Folterungen unterzogen wurden. 150 derselben bekannten sich des Bundes mit dem Teufel schuldig und schworen unter den Qualen der Misshandlungen ihren «Irrglauben» ab, taten Busse und wurden begnadigt. Zwölf (nach anderen Berichten vierzehn) Frauen aber blieben allen Anklagen und Peini gungen zum Trotz standhaft. Daraufhin wurden sie durch die weltliche Obrigkeit zum Tode verurteilt und mit dem Feuertode bestraft. Drei Männer und zwei Frauen wurden in Abwesenheit verurteilt. Einige Kinder, welche der Hexerei bezichtigt worden waren, wurden durch Kardinal Borromeo persönlich im Hin blick auf ihr Alter begnadigt und bloss mit Kirchenstrafen belegt. F) Hexenjagd als getarnte Protestantenverfolgun g? Beim Vorgehen Borromeos und seiner Gefährten zeigte sich recht bald ein bisher wenig bekanntes Element: man ging dazu über, die «Ketzer» als Verbündete des Teufels zu betrachten und sie entsprechend als Hexen und Hexenmeister zur Rechenschaftzu ziehen. Das bedeutete also: wer sich nicht mehr zum «alten» Glauben bekannte und sich weigerte, reumütig und bussfertig in den Schoss der katholischen Kirche zurückzukehren, wurde als Hexe oder Hexenmeister gebrandmarkt, verfolgt und abgeurteilt. Man erzählt, dass vor dem Eintreffen des Kardinals Borromeo im Calancatal fünfzig evan gelische Familien gewohnt hätten. Nach seiner Abreise hingegen sei keine einzige mehr da gewesen (laut einem anderen Bericht soll jedoch eine Familie noch zurückgeblieben sein). Borromeo setzte sich durch sein blutiges Strafgericht ein makabres Denkmal, ein Denkmal allerdings, das ihn in einem krassen Wi derspruch zeigt. Einerseits war er der tief reli giöse, empfindsame und selbstlose «Heilige der Gegenreformation», anderseits auch der harte und eiskalte Verfolger und Richter der «Ketzer». Wo können wir einen solchen Menschen ein stufen? Sicherlich dort, wo wir viele religiöse Eiferer jener Zeit sehen müssen, ob sie katholisch oder evangelisch gewesen sind: bei den 29 Eine Darstellung aus der Chronik von Johann Jakob Wick: Hexenverbrennung im Jahre 1574 in Baden. Hexenwahn und Teufelsfurcht führten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert immer wieder zu unbeschreiblichen Exzessen der Unmenschlich keit. typischen Gestalten des Glaubensfanatismus ihrer Epoche. Das blutrünstige Gerichtsverfahren, wie es Carlo Borromeo mit der Inquisition eingesetzt hatte, stiess auf starken Widerstand. Aber verfügten die Drei Bünde über Mittel und Wege, um wirksam gegen das Treiben der «visitierenden» Inquisitoren und Henker vorzugehen? Wohl beschloss der Bundestag, die Herren von Misox und Calanca, welche den Kardinal in die Region gerufen hatten, gerichtlich zu belangen. Aber die Vorgeladenen erschienen nicht vor dem Richter. Daraufhin wurden sie gefangengesetzt. Auf die Verwendung der katholischen Orte der Eidgenossenschaft hin musste man sie aber wieder freilassen. Die Drei Bünde sahen sich ausserstande, weitere Massnahmen zu ergreifen. Erst im Jahre 1598 setzte der Bundestag fest, es dürfe inskünftig keine gut beleumdete Per- son mehr auf Aussagen und Anklagen anderer Leute hin «eingezogen werden». Die Menschenrechte - so würde man es heute formulieren - seien zu respektieren. Einem Angeklagten müssten die elementarsten Rechte bei einem Prozess zugestanden werden. Die Verlautbarung war deutlich. Aber was nützten solche Forderungen in einer Zeit der Willkür, des Hexenwahns, des religiösen Fa natismus und des Faustrechts? Hexenprozesse kamen nicht nur in den Südtälern vor. Sie waren als ein typisches Zeichen der Zeit landauf und landab, in katholischen wie in evangelischen Regionen, anzutreffen. Man war diesem «Hervorbrechen dunkler Urgründe aus dem überpersönlich Unbewussten» (Carl Gustav Jung) ausgeliefert. Die Zeit war nicht reif für eine humanere Rechtsordnung. Im Gegenteil: Ende des 16. und im 17. Jahrhundert erreichten die Hexenverfolgungen ihren Höhepunkt, und sie dauer- 30 G} Das Strafgericht gegen Dr. Joh ann Planta Mit unseren Betrachtungen über die Hexen verfolgungen sind wir bereits bis in die Geschichte des 18. Jahrhunderts vorgedrungen. Kehren wir nun aber wieder zurück zu den Ereignissen in den Siebzigerjahren des 16. Jah rhunderts. In diesem Zusammenhang ist ein Geschehnis zu schildern, welches damals in ganz Bünden und auch über dessen Grenzen hinaus grosses Aufsehen erregte: die Auseinandersetzung über die Güter des im Jahre 1571 aufgehobenen Humiliatenordens, welche in der Folge zur Hinrichtung des katholischen Staatsmannes Dr. Johann Planta führte. Galgensäulen bei der Ruine Jörgenberg (Waltensburg/ Vuorz). ten bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Hexen, Gespenster und Geister blieben hartnäkkig im Regiment. Sie trieben im Volksglauben ihr Unwesen. Im ganzen Gebiet der Drei Bünde - wie anderwärts - mangelte es nicht an Spukgeschichten und Berichten über den Hexensabbat. Überall in Graubünden gibt es heute noch die Überlieferungen, Sagen und Legenden, weI che entsprechend von annodazumal erzählen. Und wo finden sich nicht die Stätten - vor al lem die bekannten Galgensäulen (z. B. jene bei der Ruine Jörgenberg bei Waltensburg/ Vuorz) - , welche uns dazu auffordern, über den Sinn und den tragischen Widersinn jener Zeiten nachzudenken, die wir manchmal ebenso widersprüchlich «die guten alten Zei ten» nennen? Im 11. Jahrhundert war in der Lombardei der Humiliatenorden als eine Laienbruderschaft vornehmer Mailänder gegründet worden. Ihm gehörten Mönche und Nonnen an, die sich mit Handarbeiten beschäftigten, aber auch Chorherren, die unverheiratet waren, und verheiratete Laien, welche die klösterliche Lebensweise nicht annahmen. Die Ordensmitglieder verpflichteten sich zu einem asketischen und bescheidenen (<<humilis» = demütig), from men Leben. Sie erfreuten sich denn auch einer gewissen Popularität; anderseits jedoch gerieten sie hin und wieder in Konflikt mit der kirchlichen Hierarchie. Zum offenen Kampf kam es im Jahre 1569, als ein Ordensbruder einen Mordanschlag auf Kardinal Borromeo unternahm, der fehlsch lug. Infolge dieses Attentates löste der Papst den Humiliatenorden auf. Um diese Zeit galt der gelehrte und unbestechliche Staatsmann Dr. iur. Johann Planta, der Pfandinhaber über die habsburgische Herrschaft Rhäzüns und die Herrschaft Hohentrins mit Trins, Tamins und Reichenau, als der mächtigste Mann in Bünden und als unerbittlicher Verfechter der katholischen Interessen im Lande. Durch eine Bulle (= päpstlicher Erlass) vom 28. Februar 1570 (1571) ermächtigte der Papst den Herrn von Rhäzüns, alle Güter und Pfründe der katholischen Kirche in den Bistümern Como und Chur, die infolge der Reformation in die Hände der Evangelischen über- 31 Das Schloss Rhäzüns gegangen waren, einzuziehen und katholischen Geistlichen zu übergeben. Zwei päpstliche Verfügungen, Spezialbreven, präzisierten, die Propstei St. Ursula in Teglio im Veltlin sei seinem Sohne Conrad Planta/ dem Churer Domdekan/ zuzusprechen. Diese Propstei hatte früher zum Ordensgut der Humiliaten gehört; dann aber hatten sie die Drei Bünde in Besitz genommen und sie zur Verwaltung der evangelischen Familie Guicciardi übergeben und ihr zugleich aufgetragen/ die reichen Ein künfte der Propstei nach einem Beschluss der Drei Bünde aus dem Jahre 1555 zur Unterstützung der reformierten Prädikanten, Kirchen und Schulen im Veltlin zu verwenden. Dr. Johann Planta hegte keine Bedenken, der päpstlichen Aufforderung Folge zu leisten. Versehen mit der Vollmacht des Papstes traf er - begleitet von seinem Sohne - im Veltlin ein. Im Einverständnis mit dem katholischen Landeshauptmann und dem Podesta von Teglio, aber ohne Rücksprache mit den Drei Bün den/ nahm er von der Propstei Besitz. Vergeblich versuchte sich die Familie Guicciardi dagegen zu wehren, dass man ihr das rechtmäs sige Lehen entreisse. Rasch verbreitete sich die Kunde von diesem spektakulären Geschehnis. Sie entfesselte die Wappen des PlantalWildenberg zu Rhäzüns . «Johannes von Planta herr zu Ratz. der Zytt Lantzhauptmen Im Feltlinn. 1590.» Glasscheibe, datiert 1590. 32 Teglio im Veltlin Leidenschaft der Evangelischen. Und die Lage spitzte sich zu, als zwei Prädikanten in Chur eine Abschrift der päpstlichen Bulle in die Hand bekamen. Wohl versuchten sie zunächst, eine friedliche Lösung anzustreben. «Allein Planta war nicht gewohnt, sich von Prädikanten imponieren zu lassen, und so blieben alle Vermittlungsversuche vergeblich.» Die Erregung im Volke wuchs, besonders als dann auch deutsche und romanische Abschriften der Bulle zirkulierten. Ein Aufruhr war zu befürchten. Die Häupter der Drei Bünde - die drei gewählten Führer jedes Bundes - sahen sich gezwungen einzugreifen. Auf der nächsten Ratsversammlung wurde Johann Planta aufgefordert, das Origi nal der Bulle auszuhändigen. Die Propstei in Teglio wurde zuhanden der Drei Bünde in Beschlag genommen: ihre Einkünfte sollten unter den evangelischen Prädikanten und einem Spital oder einer Schule im Veltlin verteilt werden. Dem Herrn von Rhäzüns wurde für die ergangenen Unkosten eine Busse von zweihun dert Goldkronen auferlegt. Wer gemeint hätte, der Streitfall sei damit erledigt, täuschte sich. Die Reformierten waren überzeugt, in Dr. Planta jenen Mann erkannt und überführt zu haben, welcher mit Hilfe des Papstes und Habsburgs und als leidenschaftli cher Verfechter der katholischen Interessen die angestammten bündnerischen Freiheiten untergraben oder gar zerstören wolle. Der Hass gegen den mächtigen Staatsmann, der zu weit gegangen war, wuchs. Da und dort in den Tälern rottete man sich zusammen. Zu erst erhob man sich im BergeII, wo die Erzfeinde der Familie Planta, die Salis, tonangebend waren, dann auch im Avers, im Oberhalbstein, in Obervaz, im Schams und Domleschg, schliesslich in Davos, im Prättigau, in Maienfeld, im Schanfigg und anderwärts. Nicht nur Reformierte traten an, sondern auch Katholiken. Man schwor dem allzu selbstherrlich gewordenen Potentaten Rache. Mit fliegenden Fahnen zogen die Aufständischen nach Chur. Zur gleichen Zeit war der Bundestag in der Stadt versammelt. Von den Geschehnissen' völlig überrascht, tat er alles, um die Aufgebrachten wieder zur Heimkehr zu bewegen. Man schloss die Stadttore. Johann Planta selber befand sich bei seinen engsten Freunden in der Stadt. Es gelang ihm, vor sei nen Verfolgern nach Laax zu fliehen. Die in der Umgebung von Chur lagernden «Fähnlein» - so nannte man die Trupps der einzelnen Gerichte mit ihren Fahnen - setzten ein Strafgericht ein. Und sie sandten ihre Abgeordneten nach Laax. Die Bulle, welche dem Herrn von Rhäzüns zum Verhängnis geworden war, wurde verlesen. Daraufhin legten einige Oberländer Dr. Planta in Ketten und 33 brachten den Gefangenen auf einem Pferd nach Chur. Am 25. März 1572 trat das Strafgericht zusammen. Den Ankläger nahm man aus den Reihen der Katholiken, den Verteidiger aus der Schar der Protestanten. Der angeklagte Siebzigjährige wurde gefoltert. Er legte Geständnisse ab, die er dann sogleich widerrief. Das Gericht gelangte zum Urteil, Johann Planta habe die sattsam bekannte päpstliche Bulle angenommen und sie lange Zeit hindurch geheimgehalten und dann von der Propstei Teglio eigenmächtig Besitz ergriffen; und schliesslich habe er sich mit fremder Hilfe zum Herrn von Bünden aufschwingen wollen. Der Angeschuldigte wurde zum Tode verurteilt. Am 31. März 1572 wurde er auf der Richtstätte vor dem Obern Tor in Chur enthauptet. Das Gericht beschlagnahmte sein Vermögen. Die nächsten Verwandten des Hingerichteten wurden mit schweren Geldstrafen belastet. H) «Mit Fähnlein, Wehr und Waffen zusammenzulaufen)) Es war nicht das erste Mal in der Geschichte der Drei Bünde, dass es kämpferischen Männern gelungen war, mit stichhaltigen Gründen oder unter einem Vorwand grosse Scharen bewaffneter Bürger aus verschiedenen Talschaften zu einem «Fähnlilupf» und zur Durchführung eines Strafgerichtes zu sammeln. Solche bürgerkriegsähnlichen Ereignisse waren meistens von Racheakten und Willkür gekennzeichnet, und nur selten obsiegten Recht und Gerechtig keit. Wiederholt versuchte man, gesetzliche Grundlagen zu schaffen, um aufrührerische Zusammenrottungen von Fähnlein zu vermeiden. Mit der Zustimmung der Gemeinden verbot der Bundestag zum Beispiel im Jahre 1574 bei Strafe an Leib und Gut, «mit Fähnlein, Wehr und Waffen zusammenzulaufen» oder ohne Wissen und Willen der Bundesbehörden «auf die Gemeinden zu reisen» und Aufruhr zu stiften. Zuwiderhandelnde sollten von ihren heimatlichen Gerichten oder allenfalls durch ein vom Bundestag bestelltes Sondergericht abgeurteilt werden. Entschlossen erhoben die Gemeinden diesen Artikel zum Landesgesetz, dem man feierlich die Bezeichnung «Dreisiegelbrief» gab, weil jeder Bund sein Siegel an dieses Dokument hängte. Dieser dreifach versiegelte Brief blieb wirkungslos. Die Drei Bünde verfügten über keine Behörde und keine Macht, welche den Verboten Nachachtung hätten verschaffen können. So blieb alles beim alten. Gebote und Verbote waren fein säuberlich formuliert und mit den Siegeln versehen; in Tat und Wahrheit jedoch erlebten es die Drei Bünde weiterhin, dass man sogar noch leidenschaftlicher und kriegerischer als bisher «mit Fähnlein, Wehr und Waffen» zusammenlief und Strafgerichte einsetzte. I) Die Auseinandersetzungen im Veltlin a) Die Frage nach fremden Priestern und Ordensboten Die Verhältnisse im Veltlin waren schwierig. Auf der einen Seite standen dort als die Herrschenden die mehrheitlich reformierten Bündner Amtsleute mit ihren Familien. Die Landesdekrete der Drei Bünde förderten meistens die Anliegen der Evange lischen. Auf der anderen Seite bemühten sich Rom und Spanien mit ihren wirksamen Druckmitteln, den Katholizismus zu schützen. Die Bevölkerung des Veltlins war in überwältigender Mehrheit dem angestammten Glauben treu geblieben. Sie sympathisierte deshalb und auch aus Abneigung gegen die Herrschaft der Bündner mit den genannten katholischen Mächten. Die Verfechter der Gegenreformation waren bestrebt, den katholischen Boden im Addatal zu verteidigen und den an die Reformierten verlorenen zurückzugewinnen. Dies sollte zu einem langwierigen Unterfangen werden, denn beide Konfessionsparteien waren entschlossen, ihre Positionen hartnäckig zu verteidigen. Eine' entscheidende Wende zugunsten des Katholizismus trat ein, als Kardinal Carlo Borro- 34 sung von «frömden Mönchen und Messpriestern» zu unterbinden? Wiederholt war diese Frage ein Verhandlungsgegenstand der Bundestage gewesen. Schon im Januar 1557 war in Ilanz beschlossen worden, dass «kein frömbd Geistlich Persohn, München oder Pfaffen», gleich welcher Konfession, in den Bündner Untertanenlanden aufgenommen werden dürfe, sie seien denn zuvor von ihrem ordentlichen Kapitel exa'miniert und aufgenommen worden: der Prädikant von der Bündner Synode, der Priester vom Bischof und Domkapitel von Chur. Der Kapuzinerpater Francesco da Bormio. Als Franziskus de Sermondi von Bormio gilt er als Gründer der schweizerischen Kapuzinerprovinz. meo und seine Mitstreiter ihr Augenmerk den Verhältnissen im Veltlin schenkten. Erste Anzeichen in dieser Richtung nehmen wir um das Jahr 1572 wahr. In dieser Zeit wurde ein besonders beredter und tüchtiger Wanderprediger, der Kapuzinerpater Francesco da Bormio, auf Betreiben Borromeos als Generalkommissar ins Veltlin berufen. Einer solchen Berufung stand nichts im Wege. Der Ordensbote war ein gebürtiger Veltliner. Also durfte er im Tale seine Tätigkeiten entfalten. Er hatte vorher in Oberitalien und auf der Insel Kreta als Missionar gewirkt. Jetzt hatte er im Veltlin ein Werk der Gegenreformation aufzubauen. In Padre Francesco erlebten die Bewohner des Tales wohl erstmals eine organisierte Kapuzinermission. Was nützte es, dass die Behörden der Drei Bünde allerhand unternahmen, um die Zulas- Diesen Bundestagsentscheiden wurde wenig Beachtung geschenkt. Immer wieder kam es vor, dass von auswärts her fremde Glaubensboten, katholische wie evangelische, übersiedelten und hier wirkten. Am 8. Februar 1572 ermahnten die Drei Bünde deshalb den Bündner Kommissar im Amtsbezirk Chiavenna, Hans von Salis, zur Ausweisung aller fremden Geistlichen, «allein vorbehalten die, welche ire stätte wohnung in unseren landen handt». Der obrigkeitliche Befehl trug keine Früchte. Erfolglos blieb auch eine im März des gleichen Jah res nachfolgende scharfe Aufforderung an denselben Kommissar zu tätigem Gehorsam. Die katholischen Veltliner waren nicht bereit nachzugeben. Sie waren entschlossen, entgegen den Weisungen der Bünde weiterhin fremde Prediger und Seelsorger ins Tal zu holen. Padre Francesco da Bormio tat seine Arbeit sorgfältig und mit Eifer. Im Jahre 1578 war er so weit, dass er glaubte, den Bischof von Vercelli, Giovanni Francesco Bonhomini, zu einer Visitation ins Veltlin einladen zu dürfen. Gewiss, eine solche konnte nur unter besonderen Vorsichtsmassnahmen erfolgen. Geschickt unternahm der Bischof seine Besuche unter dem Deckmantel einer Badereise nach Bormio. Bonhomini, ein Freund und Gesinnungsgenosse Borromeos, war vom Papst zum Nuntius für das Gebiet der Eidgenossenschaft und der Drei Bünde ernannt worden. Der Kardinal von Mailand hatte ihm persönlich geraten, durch zuverlässige Leute feststellen zu lassen, welches der beste Weg sei, um allfällige Wi- 35 Die Berufung der Kapuz iner in die Innerschweiz. Unter dem Pontifikat von Papst Gregor XIII. (1572-1585) gelang es Kardinal Carlo Borromeo, mit Hilfe der Politiker Walter von Ro ll in A ltdorf und Melchior Lussy in Stans, die Kapuziner in die Innerschweiz zu berufen. Unter den ersten Mönchen nahm - wie diese Darstellung nachdrücklich zeigt - Pater Francesco da Bormio, welcher bereits vor der Gründung der Helvetischen Kapuzinerprovinz im Veltlin gewirkt hatte, den entscheidenden Platz ein. Die alten Bäder von Bormio. 36 derstände der regierenden Bündner zu besei tigen. Niemand konnte ihm dabei mit besseren Ratschlägen zur Seite stehen als der Veltli ner Francesco da Bormio. Vergessen wir es nicht, der Visitator Bonhomini kam auf seiner Reise in Täler und Gemeinden, die vornehmlich von Katholiken bewohnt waren und in welchen in politischen Belangen die mehrheitlich evangelischen Bündner die Vormacht innehatten. Begeistert stellte Bonhomini fest, dass man ihn mit Freude empfing. Am 17. Juli 1578 traf er in Bormio ein. Gerne liess er sich von den Bewohnern dazu bewegen zu predigen. Fünf ihn begleitende Beichtväter - ob sie wohl alle Einheimische waren? - nahmen dem versammelten Volke die Beichte ab. Er selber warnte die Gläubigen vor den Ketzern und den fal schen Propheten. Dann firmte er angeblich an die zweitausend Personen - nach anderen Berichten waren es «über tausend» - und spen dete etwa fünfhundert weiteren die Kommu nion. Mit den Bündnern kam es zu keiner Konfrontation. Vielmehr ist zu erwähnen, dass der Visitator mehr den sittenlosen Veltliner Priestern misstraute als den Bündnern! Tatsächlich hegte er die Befürchtung, dass ihm die von ihm gemassregelten Priester aus Angst vor Bussen und Strafen Schwierigkeiten bereiten würden. Über die Bündner hingegen äusserte er sich lakonisch: der Wolf jage einem weniger Angst ein, wenn man ihn aus der Nähe und nicht aus der Ferne sehe. Nach einigen Tagen aber wurde Bonhomini doch hinterbracht, dass man ihn gefangennehmen und nach Chur schleppen wolle. Es habe sich herausgestellt, dass er nicht wegen Krankheit eine Badereise nach Bormio unternommen habe, sondern dass er einen Auftrag des Papstes ausführe. Bonhomini musste weichen. Aber ohne sich allzusehr aus der Ruhe bringen zu lassen, verliess er Bormio und übte recht unbesorgt sein Amt als Visitator noch in verschiedenen anderen Gemeinden aus. In Gaspano, wo mehr als die Hälfte der Einwohner evangelisch war, liess sich ein Begleiter Bonhominis dazu hin reissen, «den Lutheranern den Kopf mit etwas ganz anderem, als mit Seife zu waschen» - so lauten Bonhominis eigene Worte - und die Prädikanten mit scharfen Argumenten anzugreifen. Erst am 8. August verliess der Visitator das Veltlin, sechs Tage nachdem die Drei Bünde nun doch ein scharfes Dekret gegen ihn erlassen hatten. Damit beschloss er seine recht aussergewöhnliche «visita mascherata», seinen «getarnten Besuch». Noch aus dem visitierten Gebiet datiert ein Brief, in welchem Bonhomini festhielt, welche Verhältnisse er dort angetroffen habe: die Ka tholiken seien lau; die Ketzer seien fast allesamt Fremde, denen gegenüber Bekehrungsversuche wenig aussichtsvoll seien; in vielen Kirchen des Tales seien ketzerische Amtsleute bestattet worden, wodurch diese Gotteshäu ser entweiht seien. Von Mailand her versäumte man es nicht, deutliche Zeichen dafür zu setzen, dass es den katholischen Machthabern nicht gleichgültig war, wie sich die konfessionellen Verhältnisse im Veltlin entwickelten. Von daher ist es auch zu verstehen, dass im Sommer 1580 kein Geringerer als Kardinal Carlo Borromeo dem Addatal kurzen Besuch abstattete. Diplomatisch erklärte er seine Reise ins Veltlin als eine Pilgerfahrt, um nicht mit den bündnerischen Amtsleuten in Konflikt zu geraten. In Madonna di Tirano fanden sich zahlreiche Gläubige ein, um die Predigt des berühmten Kardinals anzuhören. Selbst Protestanten liessen es sich nicht nehmen, den gefeierten und zugleich umstrittenen Kirchenfürsten aus der Nähe kennenzulernen. Viele Evangelische zollten ihm ihre Bewunderung. Mit wachsender Besorgnis verfolgten die Drei Bünde die konfessionelle Entwick lung im Veltlin. Im Juni 1589 brachte der Landeshauptmann des Tales, Gubert von Salis, am Bundestag in Chur die Frage vor, ob man es zulassen solle, dass im Veltlin die Priester und Mönche ohne Vorwissen der Amtsleute mit fremden Prälaten in Como, in Rom und anderen Orten in Verbindung stünden. Fragen und Aussprachen nützten nicht viel. Im Jahre 1589 erschien ein neuer apostolischer Visitator im Addatal. Es war dies der Bischof von Como, Feliciano Ninguarda. Als gebürti- 37 ger Veltliner aus Morbegno durfte er die Kirchgemeinden inspizieren. Pflichtbewusst setzte er das Werk fort, das Bonhomini begründet hatte. Mit Genugtuung konnte er feststellen, dass die Ordensboten und die Weltgeistlichen in den letzten Jahren allerhand von seinem Vorgänger noch festgestellte und registrierte Mängel und Nöte in den Pfarrgemeinden behoben hatten. Mit Eifer ging Ninguarda darauf aus, sich weniger die Unzulänglichkeiten bei seinen eigenen Glaubensgenossen zu notieren, als vielmehr emsig zu ermitteln, welche Personen im Veltlin sich zur evangelischen Konfession bekannten und welche kirchlichen Gebäude ihnen gehörten. Besonderes Augenmerk schenkte er einerseits den Vornehmen und Einflussreichen unter den Reformierten und anderseits den protestantisch gewordenen Geistlichen, um herauszukriegen, welchem Orden sie einst allenfalls angehört hatten und welches ihre Familienverhältnisse gewesen waren. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser Visitator Unterlagen für die Inquisition beschaffen wollte. Die Aktivitäten von Borromeo, Francesco da Bormio, Bonhomini, Ninguarda und ihren Mitkämpfern weisen alle in die gleiche Richtung. Diese Streiter fühlten sich als «uomini di frontiera», «uomini di confine», als «Männer an der Grenze» und deshalb auch als die Verantwortlichen für die Verteidigung des Glaubens in ihrer Heimat. Für sie hatte «das lutherische Ketzertum», diese «protestantische Häresie», vom Norden her - «in quel confin Tedesco» (<<in diesem Grenzgebietzum Deutschen»)-in untragbarer Weise die Grenzen ihres Vaterlan des überschritten. «11 male viene dal nord» (<<Das Übel kommt aus dem Norden»)! Diese Feststellung war für sie nicht bloss ein Schlagwort. Längst schon galt für die einfachen Leute in den Gebieten der Abgrenzungen zwischen der italieni schen und deutschen Sprache in Anlehnung an einen Satz im Buche des Propheten Jeremia 1,14: «Omne malum a Septemtrione» (<<Alles Unheil kommt vom Norden»): «Ganz Germanien ist eine verruchte Nation, in der man die Feindschaft nicht nur mit dem Papst, sondern mit Italien überhaupt pflegt!» Für Borromeo und seine Gesinnungsgefährten war die Zeit gekommen, entschlossen den Kampf aufzunehmen gegen die «setta lutheri stica», die lutherische Sekte, welche beson ders von den protestantischen Bündnern hier eingeschleppt würde. Es ging den Gegenreformatoren um nichts Geringeres als um ein Ringen, das sie als «La nostra lotta» (<<Unser Kampf») empfanden. b) Das «Collegium Helveticum» in Mailand Seit Jahren beschäftigte sich Kardinal Borromeo mit der Frage, ob es nicht möglich sein sollte, dem Veltlin auf ordentlichem Wege vermehrt gut ausgebildete Priester zu vermitteln. Der Plan, in Roveredo ein Jesuitenkollegium zu führen, war gescheitert. Eine solche Schule im Addatal zu gründen, musste ausser Betracht fallen; die bündnerischen Amtsleute hätten dem Projekt nicht zugestimmt. Aber da bot sich nun eine andere Gelegenheit. Im Jahre 1579 hatte Borromeo in Zusammenarbeit mit höchsten kirchlichen Würdenträ gern und mit Unterstützung durch Papst Gregor XIII. in Mailand das «Collegium Helveti cum» gegründet. Dieses genoss recht bald den Ruf, eine hervorragende Stätte für die Ausbildung von Priestern zu sein. Hier erstreckte sich der Unterricht auf die lateinische, griechische und hebräische Sprache, auf Logik, Philosophie und Theologie und auf das kirchliche Recht. Die akademischen Grade und Weihen erteilte Kardinal Borromeo persön lich. Der Entschluss stand bald fest: wenn die Bündner weiterhin keine fremden katholi schen Prediger und Seelsorger im Veltlin zu lassen würden, dann sollten u. a. auch einheimische Studenten aus dem Addatal an der an gesehenen Schule in Mailand ausgebildet werden. Als tüchtige Priester konnten sie dann nach dem Studienabschluss in ihre Heimat zurückkehren und dort eingesetzt werden. Von diesem Plan errichtete Borromeo an seinem berühmten «Collegium Helveti cum» mehrere Freiplätze für Studenten aus den Bünden, aus dem Veltlin und Chiavenna. 38 Die Stadt Sondrio Damit umging er die Bestimmungen gegen fremde Priester, welche die Drei Bünde erlassen hatten. Aber der Optimismus des Kardinals wurde recht bald gedämpft. Überrascht musste er eines Tages feststellen, dass man auch auf der Seite seiner Gegner nicht untätig geblieben war. Tatsächlich war man dort im Begriffe, Pläne für die Gründung einer paritätischen Lateinschule in Sondrio zu schmieden. c) Die Lateinschule in Sondrio Wie wir vernommen haben, hatten die Drei Bünde im Jahre 1571 die Einkünfte der Prop stei Teglio wieder an sich gezogen und ange regt, dieselben allenfalls auch für eine Schule im Veltlin einzusetzen. Wiederholt schon hatten reformierte Bündner den Versuch unternommen, im Veltlin eine öffentliche Lateinschule zu gründen. Die Evangelisch -Rätische Synode befürwortete den Plan. Die bündnerischen Amtsleute im Addatal und die Prädikanten in den Gemeinden im Veltlin waren bemüht, die Schul gründung zu verwirklichen. Sie wussten um die Bedeutung einer Schule in den italienisch sprachigen Talschaften für die Förderung der humanistischen Bildung und die Stärkung der reformierten Position in diesen Randgebieten. Die Befürworter übersahen allerdings auch gewisse Hindernisse nicht. Sie mussten mit der Opposition der Mehrheit der Untertanen, aber auch des Grauen Bundes und der mailändischen Nachbaren, rechnen. Diplomatisch wählte man einen sehr ungewohnten Weg. Man beschloss, in Sondrio eine Lateinschule zu gründen und zu führen, weIche der Jugend beider Konfessionen offenstehen und an der kein religiöser Zwang ausgeübt werden sollte. Sie müsse auch den Söhnen der Familien aus den Untertanengebieten zugänglich sein. Auf evangelischer Seite proklamierte man das als einen gangbaren Weg zurToleranz. Die Katholiken aber lehnten sich dagegen auf. Sie sa hen in der Gründung einer solchen Schule eine offensichtliche Provokation; für sie konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass die reformierten Machthaber mit dieser Schule ein weiteres Mittel in die Hand zu bekommen trachteten, ihre Vorherrschaft auszubauen. Im Dezember 1582 beschloss der in seiner Mehrheit protestantisch gesinnte Bundestag, die höhere Landesschule in Sondrio zu errichten. 1584 waren die meisten Hürden genommen. Das Gymnasium konnte eröffnet werden . Als Rektor wurde Raphael Egli, der Sohn des ehemaligen Churer Stadtpfarrers Tobias Egli, 39 gewählt. Er hatte Theologie studiert und kannte Land und Leute in den Bünden wie im Veltlin aus seiner Jugendzeit. Er genoss das Vertrauen der reformierten politischen Führer in den Bünden wie das der Prädikanten. Pflichtbewusst verfasste Raphael Egli die Schulordnung und liess sie in Poschiavo drukken. Sie wurde zur ersten bekannten bündnerischen Schulordnung überhaupt. In den drei vorgesehenen Klassen sollten die Schüler Ita lienisch, Latein und Griechisch erlernen. Bei den Konfessionen wurde eigener Religionsunterricht zugesichert. Mindestens einer der drei vorgesehenen Lehrer sollte ein Katholik sein. Was wurde dann von diesem erstaunlichen Plan verwirklicht? Es steht fest, dass die Schu le eine Zeitlang geführt werden konnte. Aber d ie Opposition im Tale wurde zusehends stärker. Die Bevölkerung machte kein Hehl daraus, dass ihr dieses Gymnasium als ein verkappter Vorposten der Reformation ein Dorn im Auge war. Die weltlichen Machthaber und die kirchlichen Würdenträger in Mailand liefen gegen die Schule Sturm. Der Erzpriester von Sondrio, Johann Jakob Pusterla, beschimpfte das Gymnasium öffentlich als «ein Seminar der Lutheraner», weIches der «römischen Religion» Gefahr bringe und der Zucht und den Einkünften der Kirche schade. Landauf und landab sprach die katholi sche Bevölkerung nur noch von der «Ketzerschule». Dem Erzpriester Pusterla stand der Franziskanermönch Francesco aus Balerna zur Seite, welcher es wagte, angesichts der Streitigkeiten zu fordern, man solle den Veltlinern jeden Umgang mit den Evangelischen verbieten. Von Monat zu Monat gärte es mehr im Tale. Wenn die Amtsleute drohten, einige Fähnlein aus den Bünden herbeizurufen, so erwiderten die Gegner der Schule: «Und wir rufen die Spanier!» Nur mit grosser Mühe konnten blu tige Auseinandersetzungen verhindert werden. Nicht all ein im Veltlin und in den Drei Bünden fanden sich leidenschaftliche Befürworter und Gegner der Landesschule. Von Borromeo beeinflusst, forderten die katholischen Eidge- nossen und Mailand die Aufhebung dieser höheren Bildungsstätte. Die Bündner beharrten auf ihrem Beschluss. Im März 1584 war die Schule durch drei Kom missäre eröffnet worden. Im Juni des gleichen Jahres liessen die Ratsherren erneut verlau ten, die Landesschule sei weiterzuführen. Zur Bekräftigung dieses Entscheides wurden gleich zeitig fünfzehn Amtsleute zur Untersu chung des Aufruhres ins Veltlin beordert. Erzpriester Pusterla und seine Gefährten wurden zur Rechenschaft gezogen. Pusterla bekannte, als man ihn folterte, dass er die Errichtung der Schule zu hintertreiben versucht habe. Er und die weiteren Angeschuldigten kamen jedoch wider Erwarten mit gelinden Strafen davon. Die Auseinandersetzungen dauerten an. Kaum hatten die Bündner Boten das Tal wieder verlassen, gingen die Katholiken offen zur Opposition über. Borromeo und der spanische Statthalter von Mailand sowie die eidgenössischen katholischen Orte unterstützten sie darin. Bereits hörte man Gerüchte über einen bevorstehenden Einfall spanischer Truppen. Tatsächlich war der Kardinal dazu übergegangen, durch einen vermöglichen Bankier, Rainaldo Tettone, und den Architekten Ambrosio Rubiata Scharen anwerben zu lassen, we lche ins Veltlin eindringen und die Reformierten dort umbringen sollten. Die Verschwörung wurde entdeckt und scheiterte an der Wachsamkeit der Bündner. Jetzt war man der Spannungen und Unruhen müde. Am 9. Dezember 1584 verliess Raphael Egli das Veltlin. Am 10. Januar 1585 beschloss der Bundestag unter dem Drucke Spaniens und der eidgenössischen katholischen Orte die Aufhebung der Schule in Sondrio und die Verlegung derselben nach Chur. Vermutlich bestand sie dann eine Zeitlang dort neben dem Nikolaigymnasium. Erst viele Jah re später, 1618, erreichten es die Wortführer der Bündner Prädikanten, dass in Sondrio erneut eine Landesschule errichtet wurde. Als deren Leiter wurde Caspar A lexius von Chamues-ch, Theologieprofessor in Genf, seit 1617 Prädikant in Sondrio, berufen. Die evangelischen Amtsleute im Veltlin hatten die 40 Die Schriftzüge des Prädikanten Caspar Alexius im Matrikelbuch der Evangelisch -Rätischen Synode. Gründung des Gymnasiums gefördert und geschützt. Dem Lehrkörper gehörte auch der Prädikant Blasius Alexander an. Er und Alexius zählten sich zu den politisierenden reformierten Pfarrern und fanatischen Gegnern Spaniens. Es war von vorneherein klar, dass sich auch diese Schule nicht würde richtig entfalten können. Bei den Untertanen war sie als «ketzerisch» verschrieen. Der Parteihader hatte in dieser Zeit in Bünden bereits bürgerkriegsähnliche Formen angenommen. Als es dann im Jahre 1620 zum «Veltlinermord» kam - wir werden darüber später hören -, wurde das Gymnasium geschlossen, mit dessen Hilfe einige zu optimistische Prädikanten «das Evangel ium nach Italien» hatten verbreiten wollen. d) Nach dem Tode von Carlo Borromeo Kardinal Carlo Borromeo war inzwischen (1584) gestorben. Schon im Jahre 1610wurde er hei liggesprochen. Wer geglaubt hätte, der Kampf um die Gegenreform in den Bündner Untertanenlanden und in den Drei Bünden würde jetzt nachlassen, sah sich getäuscht. Besonders gespannt scheint die Lage im Veltlin gewesen zu sein. Anlässlich der Evangelisch-Rätischen Synode vom Juni 1588 in Thu sis machten die Synodalen Octavianus Meyus (Religionsflüchtling aus Italien, 1580-1597 Prädikant in Teglio, hernach in Chiavenna) und Scipio Calandrinus (auch er ein Glaubensflüchtling, in Sondrio) der Synode die Mitteilung, die Inquisitoren planten, die Prädikanten und andere ausländische Reformierte im Ad datale zu ermorden oder zu entführen. Die Berichterstatter konnten auf bittere Fakten verweisen: im April dieses Jahres 1588 sei der evangelische Seelsorger von Mello entführt worden, und anfangs Juni sei der Prädikant Frilius Paravicinus ermordet worden. Der konfessionelle Hass mischte sich mei stens auch mit dem Zorn gegen die bündneri schen Oberherren und deren Willkür. An der Spitze dieser Gegnerschaft stand jetzt ein ehemaliger Zögling des «Collegium Helveticum» in Mailand, Erzpriester Nikolaus Rusca in Son drio. Er wurde zusehends zum Träger der gegenreformatarischen Aktivitäten im Veltlin. Die Drei Bünde gingen mit ihren Untertanen landen schweren Zeiten entgegen. Angesichts der drohenden Haltung Spaniens standen sie in den meisten Fällen hilflos den Umtrieben der Boten und Sympathisanten der Gegenreformation gegenüber. K) Die ita lienisch en Ordensm ission are in den Drei Bünden Die Bündner Häupter mussten sich eingestehen, dass ihre Dekrete, welche die Zulassung fremder «Missionäre» im Untertanenland verbieten sollten, wenig wirksam geworden wa ren. Die Situation konnte mit der Zeit für Bünden nu r noch peinlich werden: je häufiger sol che Verfügungen erlassen wurden, umsomehr triumphierten jene Gemeinden im Veltlin, in welchen fremde Ordensbrüder oder Priester ihre Dienste ausübten. Hartnäckig mochte man noch im Januar 1585 fordern, betreffend die «Zulassung frömder Mönchen und Pfaffen im Veltlin bleibt man by ussgangenen Decreten und Abscheiden»; dabei hatten sich schon im Jahre 1580 mehrere Kapuziner nicht blass im Untertanenland, son dern in Bünden selber, z. B. im Puschlav, niedergelassen! Obwohl die Obrigkeit 1581 verfügt hatte, es sei den Privatpersonen verboten, fremden Mön chen oder Messpriestern «Unterschlauf» zu gewähren, gelang es den Bündnern nicht ein mal, jene fremden Missionare auszuweisen, die in gewissen rätischen Gemeinden in aller 41 schof von Chur und zum spanischen Herzog in Mailand. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Bischof von Chur, Johann V. Flugi von Amte von 1601 bis 1627. Seine Vorgänger hatten in den verflossenen Jahrzehnten nam hafte Rechte und viel Grund und Boden des Bistums verloren. Wegen Spannungen musste Bischof Flugi zeitweilig ausserhalb der Drei Bünde Wohnsitz nehmen. Dort, im Exil, auf seinem Vintschgau er Schloss Fürstenburg, trat er mit den Ka puzinern in nähere Verbindung. Dies war ein glückliches Zusammentreffen für ihn. Hier fand er Streiter für seine Sache und zuverlässige Gehilfen für die Rückeroberung der verlorenen Rechte und Güter seiner Diözese. So reiften die Pläne für eine Ausdehnung der Mönchsmission nach Rätien. Leidenschaftlich ermahnten die Kapuziner aus Italien die Predigtzuhörer, «dem alten Glauben» die Treue zu halten. Zeitgenössischer Kupferstich. Öffentlichkeit wirkten, ganz zu schweigen, jene, welche im Veltlin tätig waren. Denn selbst manche Evange lische im Veltlin - es waren dies vorwiegend bündnerische Amtsleute - boten abtrünnigen Geistlichen aus Italien in den Untertanengebieten Aufnahme und Schutz. So verhielten sich in Wirklichkeit beide konfessionellen Parteien gegenüber den Dekreten der Drei Bünde inkonsequent; beide handelten gegen die Bundestagsbeschlüsse! In den zwei ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts liessen sich zahlreiche Kapuziner in Bünden nieder. Sie kamen grossteils aus ihren Klöstern in Norditalien und im Veltlin. Ihre Mission war sorgfältig vorbereitet worden. Hinter den meist recht einfachen Patres standen massgebliche Persönlichkeiten, und ihre Oberen hatten gute Verbindungen zum Bi- Der Kapuziner Ignatius von Bergamo. 42 Edolo heute. Aus einem Kloster dieser italienischen Ortschaft nahe der Südgrenze Rätiens kamen zu Beginn des 17.Jahrhunderts zahlreiche jener Kapuziner, welche auf dem Boden der Drei Bünde und ihrer Untertanen lande ein Vordringen der Reformation bekämpften. Ein hervorragender Verfechter der Anliegen der Gegenreformation stand dem Bischof von Chur zur Seite: der Kapuziner Ignatius von Bergamo, der Vorsteher (= Guardian) eines Kapuzinerklosters, welches in der Valle Camonica in Edolo nahe an der Südgrenze Rätiens errichtet worden war. Wir werden später noch Näheres über Bischof Johann V. Flugi und die italienischen Ordensmissionare hören.