In Thüringen ticken die Uhren anders - AIDS

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BEILAGE
VOM
28. November 2015
NUMMER 48/15
In Thüringen ticken die Uhren anders
Am 1. Dezember ist WeltAids-Tag. Grund genug,
sich mit der zwar nicht
mehr lebensbedrohlichen
aber dennoch gefährlichen
Immunschwächekrankheit
erneut auseinanderzusetzen. Seit 30 Jahren kämpft
die Welt gegen Aids, doch
eine Heilung ist noch immer nicht in Sicht.
Von Ulrike Kern
„ Medizinisch ist das Thema
HIV durch. Aber gesellschaftlich noch lange nicht“, schätzt
die Sozialarbeiterin Madlen
Zimmer vom Aids-Hilfe Weimar & Ostthüringen e.V. ein.
Mit den heutigen Kombipräparaten gegen die Immunschwäche liegt die Lebenserwartung eines Positiven statistisch sogar über der eines Diabetikers. Seit Mitte der 90er
Jahre ist es somit kein Todesurteil mehr, das Virus (Humanes Immundefizienz-Virus) in
sich zu tragen, sondern heißt
vielmehr, lebenslang eine chronische Infektion in Schach halten zu müssen.
Doch von den Fakten einmal
abgesehen, gibt es auch noch
eine soziale Komponente der
Krankheit, gibt es Ausgrenzungen und Diskriminierungen,
Martin M. (Name geändert) aus Eisenach in der Fotodokumentation „Eine Art von Abwesenheit“ in der Galerie Markt 21 in Weimar. Bis 9. Dezember sind die Selbstporträts des Fotografen Dirk H.
Wilms zu sehen, in denen er seinen Umgang mit HIV ausdrückt.
Foto: Matthias Eckert
Infizierte in Millionen 2014
Scham und Angst. Und deshalb
ist es nicht einfach, in Thüringen einen HIV-Positiven zu finden, der seine Lebensgeschichte für die Zeitung und damit der
Öffentlichkeit erzählt. Weil HIV
oder Aids eben doch nicht Diabetes ist.
In Eisenach gibt es einen:
Martin M. (Name geändert), 49
Jahre alt, gebürtig in Coesfeld
im Münsterland. 1998 kommt er
mit einer schweren Infektionskrankheit ins Krankenhaus.
Sein HIV-Test fällt plötzlich
positiv aus. Gerechnet hatte er
damit nicht und damals auch
nicht die Zeit, die Konsequenzen der Diagnose zu realisieren.
„ Meine Infektion war so dramatisch, das Fieber so hoch, dass
ich erst einmal damit fertig werden musste“, erinnert er sich.
Die Ärzte teilen seinen Eltern
das Testergebnis mit, er selbst
hat durch seinen kritischen Zustand nicht die Gelegenheit dazu. „ Für meine Eltern war es ein
absoluter Schock, denn sie hatten nur die Schreckensbilder
der Krankheit im Kopf.“
Martin M. weiß, bei wem er
sich angesteckt hat – ungeschützter Verkehr mit einem
Mann, der bis dato selbst nichts
von seiner Infektion wusste.
Wütend ist er nicht auf ihn. Das
bringe auch nichts, weil es nicht
mehr rückgängig zu machen
geht.
Nach 14 Tagen im Krankenhaus Coesfeld wird er 1998 in
die Uniklinik nach Münster verlegt und nach der überstandenen Infektion mit der Therapie
Zahlen und Fakten
HIV-Infektionen weltweit
Neuinfektionen 2014
West-, Zentraleuropa und Nordamerika
2,4 Mio.
Nordafrika,
Naher Osten
0,2 Mio.
85 000
Karibik
0,3 Mio.
22 000
13 000
Mittel- und
Südamerika
1,7 Mio.
87 000
Osteuropa,
Zentralasien
1,5 Mio.
140 000
Süd- und
Südostasien
Afrika südlich
der Sahara
5,0
Mio.
25,8
Mio.
1 400 000
340 000
Zahl der weltweit mit HIV...
2000
2014
Infizierten
Neuinfizierten
Stand 2014
Quelle: UNAIDS
gegen HIV begonnen. Es ist eine
schwere Zeit für Martin M.,
denn die Medikamente, die die
Ausbreitung des Virus nur eindämmen können, erzielen nicht
die erhoffte Wirkung und die
Nebenwirkungen wie Übelkeit
und Durchfall zehren an den
Kräften.
Er zieht nach Frankfurt/Main,
lernt seinen Lebensgefährten
kennen, und beide entscheiden
sich bewusst, für das ruhigere,
beschaulichere Leben in Eisenach. Seit acht Jahren lebt er nun
in Thüringen. „ Inzwischen bin
ich angekommen.“ Der ebenfalls mit HIV-Infizierte Lebensgefährte ist 2012 verstorben – an
Krebs. Seitdem ist Martin M. allein. Er ist in der Kirchgemeinde engagiert und integriert,
wird von seinem Umfeld und
seiner Familie voll und ganz akzeptiert, ist als einstiger Systemadministrator ein gefragter
Mann – allerdings arbeitslos,
23353
was wohl auch an seinen gesundheitlichen Einschränkungen liegt.
Ähnlich einer
Chemotherapie
Jeden Morgen und jeden Abend
muss er ein Kombi-Präparat
nehmen, das die Krankheit in
Schach halten soll – ähnlich
einer Chemotherapie. Seine
Leistungsfähigkeit ist dadurch
eingeschränkt.
Er
kommt
schnell aus der Puste, weshalb
er lieber Rad fährt als läuft, leidet an Polyneuropathie, einer
Erkrankung des peripheren
Nervensystems, die ihn die
Temperatur seiner Hände und
Füße nicht mehr spüren lässt.
Trotzdem ist Martin M. ein
zufriedener Mensch mit einen
immer wiederkehrenden geregelten Tagesablauf. Was er sich
28,6
36,9 Mio.
3,1
2,0 Mio.
e Das Humane Immunschwächevirus (HIV) ist
die Ursache für die Krankheit Aids. Es wird vor allem durch ungeschützten
Geschlechtsverkehr und
infizierte Injektionsnadeln
übertragen. Das Virus ist
sehr wandlungsfähig. Viele
Tests für einen Impfstoff
sind bisher gescheitert.
e Der Erreger legt unter anderem bestimmte Immunzellen lahm. Deshalb kann das
Abwehrsystem des Körpers Krankheitserreger wie
Bakterien und Viren nicht
mehr wirkungsvoll bekämpfen. Selbst an sich
harmlose Infektionen kön-
für die Zukunft wünscht? „ Dass
mein Leben so beschaulich und
angenehm weitergeht und die
gesundheitlichen Einschränkungen nicht zunehmen.“ Einmal monatlich besucht er das
Regenbogencafé des Aidshilfe
Weimar & Ostthüringen e.V.,
dessen Besucher ihm zur Ersatzfamilie geworden sind. Und
zweimal im Quartal fährt er
zum Arzt nach Erfurt.
Derart unter Kontrolle und
mittels moderner Kombinationstherapie ist HIV nicht mal
mehr ansteckend, klärt Madlen
Zimmer vom Aidshilfe Weimar
& Ostthüringen e.V. auf. Doch
nach Schätzungen des RobertKoch-Instituts (RKI) wissen in
Deutschland etwa 13 200 von
83 400 Menschen mit HIV oder
Aids nichts von ihrer Infektion.
„ HIV kommt meist Huckepack
mit anderen sexuell übertragbaren Krankheiten wie Syphilis
oder Chlamydien“, erklärt die
nen so zur tödlichen Bedrohung werden.
e Nach einer erkannten HIVInfektion lassen sich Ausbruch und Symptome von
Aids (Acquired Immune
Deficiency Syndrome, Erworbenes Immunschwäche-Syndrom) mit verschiedenen Medikamenten
bekämpfen. Die Kombination solcher Arzneien kann
die Vermehrung des Erregers im Blut verhindern.
e Laut Robert-Koch-Institut
(RKI) gibt es in Thüringen
640 HIV-Infizierte. Bei 29
wurde eine Neudiagnose
gestellt – 42 im Jahr 2014.
Sozialarbeiterin, die gemeinsam mit ihrem Kollegen Andreas Willing für den Bereich
Ostthüringen und Weimar zuständig ist. „ In Thüringen ticken die Uhren anders“, erklärt
sie. „ Es gibt wenige Positive,
weil Infizierte die ländlichen
Gebiete Thüringens Richtung
Ballungszentren
verlassen,
schon allein wegen der medizinischen Betreuung und der Gemeinschaft unter ebenfalls Betroffenen.“
Gesellschaftlich sind HIV
und Aids noch lange nicht überwunden. Unwissenheit und
Angst stehen dem entgegen.
Selbst geschultes medizinisches Personal diskriminiert
Betroffene, weiß Madlen Zimmer zu berichten. Außer berufliche Einschränkungen für Piloten und Unfallchirurgen bestehen in Deutschland keine
Arbeitsverbote für Infizierte.
Der Verein Aids-Hilfe Wei-
e An Aids verstorben sind in
Thüringen seit Beginn der
Epidemie nach Schätzung
des RKI 70 Personen.
e Die meisten HIV-Infizierten in Thüringen können
den Ballungsräumen Erfurt, Gera und Jena zugeordnet werden.
e In Thüringen existieren
drei HIV-Schwerpunktpraxen mit Sitz in Erfurt, Weimar und Jena.
e Beratungsstellen in Thüringen gibt es bei jedem Gesundheitsamt (22) und den
beiden Thüringer Aidshilfen in Weimar und Erfurt.
mar & Ostthüringen begleitet
Betroffene, gibt Hilfe zur Selbsthilfe, bei Behördengängen und
in Versicherungsfragen, organisiert Fortbildungen und Treffen. Und zu allererst bietet der
Verein kostenlose Tests für HIV
und Syphilis an. Meist erkundigen sich die Menschen, die meinen, sich angesteckt zu haben,
zuerst im Netz und rufen anschließend bei der Aidshilfe an.
Dann können Kontakte vermittelt werden, spezielle Ärzte benannt, denn schnelles Therapieren verbessert die Lebensqualität.
Zu 80 Prozent wird in
Deutschland HIV beim Geschlechtsverkehr
zwischen
Männern übertragen. „ Bewusst
sagen wir nicht Schwule, denn
es gibt auch Männer, die ein heterosexuelles
Familienleben
haben und sich außerhalb dessen infizieren“, so Madlen Zimmer. Weitaus problematischer
sind die Unwissenden, die Drogenabhängigen beispielsweise,
die die selben Nadeln wie ein
Infizierter benutzen.
Noch ist die Infrastruktur in
Thüringen für HIV-Infizierte
nicht die beste, doch langsam
setzt eine soziale Bewegung ein,
entwickeln sich und fruchten
Projekte. Es gibt ein „ BuddyProjekt“, in dem ein HIV-Positiver einen Neuinfizierten mit
seinen Fragen und Ängsten an
die Hand nimmt. Es gibt Ausstellungen, wie derzeit in Weimar und es gab am vergangenen
Wochenende das Zweite Mitteldeutsche Positiventreffen in
Dresden. 2016 findet es für alle
drei Bundesländer in Erfurt
statt – unweit der Wahlheimat
von Martin M.
Beratungsstelle Jena
(dienstags besetzt),
Schillergässchen 5, (03641)
61 89 98, www.jena.aidshilfe.de
!
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