Alternierende Regierung auf Bundesebene

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Nationalrat
Conseil national
Consiglio nazionale
Cussegl naziunal
00.468 n
Parlamentarische Initiative (Zisyadis)
Alternierende Regierung auf Bundesebene
Bericht der Staatspolitischen Kommission vom 7. September 2001
Die Kommission hat an ihrer Sitzung vom 17. Mai 2001 die von Nationalrat Zisyadis am 12. Dezember
2000 eingereichte Parlamentarische Initiative gemäss Artikel 21ter des Geschäftsverkehrsgesetzes
vorgeprüft.
Die Initiative fordert ein neues Regierungssystem mit alternierender Regierung, Legislaturprogramm, einem
festen Anteil von Ministerinnen oder Ministern aus den lateinischsprachigen Minderheiten sowie der
Möglichkeit einer Abberufung durch das Volk.
Antrag der Kommission
Die Kommission beantragt mit 15 zu 0 Stimmen bei 3 Enthaltungen, der Initiative keine Folge zu geben.
Im Namen der Kommission
Die Präsidentin: Hubmann
Inhalt:
1
Wortlaut und Begründung der Initiative
2
Erwägungen der Kommission
1 Wortlaut und Begründung der Initiative
1.1 Wortlaut der Parlamentarischen Initiative vom 15. Dezember 2000
Gestützt auf Artikel 160 Absatz 1 der Bundesverfassung und Artikel 21bis des
Geschäftsverkehrsgesetzes reiche ich die folgende Parlamentarische Initiative in der Form der allgemeinen
Anregung ein:
Mit einer Verfassungsrevision soll auf Bundesebene ein neues Regierungssystem eingeführt werden,
nämlich mit einer alternierenden Regierung mit Legislaturprogramm. Dieses neue Regierungssystem soll
folgende Elemente beinhalten:
Eine Premierministerin oder ein Premierminister wird von der Bundesversammlung für die Dauer
einer Legislaturperiode gewählt;
die Premierministerin oder der Premierminister bildet die Regierung;
die Regierung stellt die Vertrauensfrage, und die Bundesversammlung stimmt auf der Grundlage
eines Legislaturprogramms darüber ab;
die Bundesversammlung kann einen Misstrauensantrag einbringen;
das Volk kann die Abberufung der Regierung verlangen, wenn innert zwei Monaten 300 000
Stimmberechtigte einen entsprechenden Antrag unterschreiben;
in der Regierung gibt es einen festen Anteil von Ministerinnen oder Ministern aus den
lateinischsprachigen Minderheiten.
1.2 Begründung
Unser Regierungssystem auf Bundesebene ist praktisch unveränderbar und stark veraltet. Die politischen
Abläufe in vielen Bereichen unseres Landes müssen hinterfragt werden.
In allen Auseinandersetzungen um institutionelle Probleme gehören die Form der Exekutive und deren
Organisation zu den Fragen, die nicht mehr umgangen werden dürfen. Einerseits deshalb, weil jedes
Regierungssystem sich stark auf das Funktionieren des ganzen Staatswesens auswirkt. Es ist die
zentrale Säule, die das Gebäude der Staatsgewalt trägt und für deren Ausübung ausschlaggebend ist. Es
prägt die ganze Politik, definiert die Rolle der politischen Parteien, verknüpft die verschiedenen
Funktionselemente der Demokratie und legt die Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger fest.
Anderseits stösst das heterogene Regierungskollegium, wie wir es auf Bundesebene kennen, regelmässig
an seine Grenzen. Dieses Regierungssystem, in dem die Exekutive aus einem Nebeneinander von
Personen besteht, die an kein Legislaturprogramm gebunden sind, ist ein Sonderfall, der das politische
Leben in der Schweiz zutiefst prägt. Nicht umsonst wird der Mangel an visionärem Denken und an
Führungsstärke immer schmerzlicher empfunden. Die vorliegende Parlamentarische Initiative will den Primat der Politik wiederherstellen und für Kohärenz in
der Staatsleitung sorgen. Sie geht von einer Diagnose der gegenwärtigen Funktionsfehler und
Blockierungen aus:
Führungsschwäche In einem Regierungskollegium, dessen Mitglieder einzeln gewählt werden, ist die Führung naturgemäss
schwach. Niemand ist dazu legitimiert, Initiativen zu ergreifen oder allgemeine Leitlinien festzulegen.
Unbeweglichkeit
Das Fehlen eines gemeinsamen Legislaturprogramms führt zur Unbeweglichkeit im Handeln. Abwarten ist
oft die einzig mögliche Strategie.
Sektorialisierung
Mangels eines Programms und einer Gesamtsicht ist jedes Bundesratsmitglied versucht, sich auf sein
Departement zurückzuziehen und in seinem Bereich isoliert zu handeln.
Vorrang der Quantität
Ein politisches Handeln ohne Programm und damit ohne grundlegende Weichenstellungen führt letztlich
dazu, dass die Qualität der Quantität geopfert wird.
2
Schwäche gegenüber der Verwaltung
Eine Regierung ohne politisches Gesamtkonzept ist schwach gegenüber einer Verwaltung, der sie das
langfristige Handeln überlassen muss.
Dissens zwischen Regierung und Parlament
Da Legislative und Exekutive nicht an ein gemeinsames Programm gebunden sind, kommt es zum
politischen Dauerdissens.
Ohnmacht der Parteien
Im heutigen Regierungssystem haben die Parteien den einen Fuss in der Regierung und den andern in der
Opposition. Deshalb fällt es ihnen schwer, klare und kohärente Strategien zu entwickeln.
Diskreditierung der "Classe politique"
Die Politikerinnen und Politiker scheinen Teil der Staatsgewalt zu sein, üben diese jedoch nicht wirklich
aus. Weil die "Classe politique" daher schwach erscheint, diskreditiert sie sich umso mehr.
Verlust der Werte
In einem System, wo die Quantität die Oberhand hat und alle an der Staatsgewalt teilhaben, setzt sich
niemand mehr für die Werte als solche ein; diese gehen mehr und mehr verloren.
Primat von Individualismus und Lobbyismus In einer Welt, in der die Werte verloren gehen, dominiert der Individualismus. Die Politik verkommt zur
"klientelistischen" Verteidigung der Interessen sektorieller Lobbys.
Statt Konsens Resignation
Weil es an Klarheit und an Auseinandersetzung fehlt und weil die Unbeweglichkeit dominiert, tendiert man
zu einer Resignation, die sich als Konsens ausgibt.
Das vorgeschlagene neue Regierungssystem soll:
1. ein Programm im Sinne eines Legislaturvertrags einführen; 2. der Regierung Kohärenz und Zusammenhalt verleihen;
3. die Regierung führungsstark machen;
4. die Verbindungen zum Parlament verstärken;
5. die Kompetenzen des Parlaments stärken;
6. die Volksrechte stärken.
2 Erwägungen der Kommission
Die Kommission lehnt die Parlamentarische Initiative ab. Die in der Begründung vorgenommene Diagnose
der Schwachstellen des politischen Systems der Schweiz wird zwar in weiten Teilen als zutreffend
erachtet. Die meisten der daraus gezogenen Schlüsse und Forderungen beurteilt die Kommission jedoch
als unzweckmässig oder widersprüchlich.
So bezweifelt die Kommission grundsätzlich, dass mit der Einführung eines parlamentarischen
Regierungssystems die Volksrechte aufrechterhalten oder sogar ausgebaut werden können. Das
schweizerische Konkordanzsystem zeichnet sich dadurch aus, dass die initiativ­ und referendumsfähigen
Kreise in der Regierung integriert sind. Durch den Ausschluss wichtiger politischer Kräfte aus der
Regierung bei gleichzeitiger Beibehaltung von Initiative und Referendum könnte die Regierungspolitik
weitgehend lahm gelegt werden. Ein funktionierendes System einer ​alternierenden Regierung​ mit einem
durchsetzungsfähigen Regierungsprogramm wäre deshalb nur um den Preis eines Abbaus der
Volksrechte zu haben. Eine kontinuierliche Mitgestaltung der Sachpolitik durch das Volk ist jedoch einem
fleissigeren Regierungswechsel vorzuziehen.
Gleichzeitig will die Initiative mit der Möglichkeit der Abberufung der Regierung durch das Volk ein neues
Volksrecht einführen, das mit dem Gesamtziel ​ der Stärkung der Regierung ​ in Konkurrenz steht. Die
Abberufungsmöglichkeit steht sowohl mit der Regierungsverantwortung als auch mit der politischen
Verantwortung der die Regierung unterstützenden Koalition im Widerspruch. Ein solches Volksrecht
würde auch neue Möglichkeiten zur medialen Manipulation eröffnen.
Auch die vorgeschlagene Einsetzung eines Premierministers steht im Widerspruch zur politischen Kultur
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der Schweiz. Insbesondere widerspricht sie der schweizerischen Form des Föderalismus, die nach
Führung durch ein Kollegium verlangt.
Die SPK weist darauf hin, dass aufgrund des überwiesenen Postulates ​Reform des Regierungssystems​
(ad 90.249) bereits eine eingehende Prüfung des parlamentarischen Regierungssystems vorgenommen
worden ist. Der Bundesrat erfüllte diesen Auftrag, indem er seiner Botschaft vom 20. Oktober 1993 zum
Regierungs­ und Verwaltungsorganisationsgesetz eine ausführliche Studie ​Zur Frage der Wünschbarkeit
des Übergangs zu einem parlamentarischen Regierungssystem​ beifügte (BBl 1993 III 1112­1221). Diese
Studie stellt fest, dass ​im institutionellen Bereich zahlreiche tief greifende Rechtsänderungen
vorzunehmen wären​. Unerlässlich wäre insbesondere eine Umgestaltung des Verhältnisses zwischen
Parlament und Regierung; vermutlich wären aber auch das Wahlrecht, das Referendumsrecht und das
Zweikammersystem zu modifizieren. Betreffend die Einzelheiten verweist die SPK auf diese Studie. Diese
gelangt zu folgendem Schluss: ​In sorgsamer Würdigung aller Vor­ und Nachteile eines parlamentarischen
Systems und in Berücksichtigung der Vorzüge eines konsensorientierten politischen Prozesses gelangt
die Arbeitsgruppe zum Schluss, dass der Übergang zu einem konkurrenzgeprägten parlamentarischen
System unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht wünschbar ist.​
Die Kommission teilt im Grundsatz diese Schlussfolgerungen immer noch, obwohl sie mit dem Initianten
einig ist, dass der Status quo des schweizerischen Regierungssystems Schwachstellen aufweist. Sie ist
der Meinung, dass insbesondere das dritte und vierte Element der Initiative ​ Vertrauensfrage und
Misstrauensantrag ​ interessante Ansätze darstellen. Diese können im Rahmen der für Ende 2001
angekündigten Vorschläge des Bundesrates zur Staatsleitungsreform näher diskutiert werden.
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