Semantischer Transfer und die Rolle der L1

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Wolfgang Feigs
Semantischer Transfer und die Rolle der L1°
It has been claimed that learners prefer to transfer prototypical meanings of an L1word into a foreign language. This claim has been tested in two studies with learners
who had some competence in the foreign language in question. However, in this
cases the preference of prototypical meanings could arise from a learning effect
could be the result of a learning effect because usually such meaning are taught first.
Therefore an experiment was conducted with a foreign language unknown to the
subjects. The results confirm the claim mentioned above. Further suggestions are
made as to why prototypical meanings are preferred by learners and how the process
of transfer can be explained by a model of bilingual production. Finally, some didactic consequences of this study in second language acquisition are outlined.
1. Einleitung
Semantischer Transfer heisst, dass die Bedeutung eines L1-Wortes auf dessen
Standardübersetzungsäquivalent in der betreffenden Fremdsprache übertragen
wird. So könnte z.B. die Bedeutung ‚ovalförmige Öffnung …‘ von norweg.
øye in nåleøye auf das dt. Standardübersetzungsäquivalent Auge übertragen
werden und fälschlich zu *Nadelauge führen.
Kellerman hat in zwei Experimenten (1978 und 1986) nachzuweisen versucht,
dass semantischer Transfer aus der L1 in eine Fremdsprache umso grösser ist,
je näher die betreffende Bedeutung der prototypischen Bedeutung in der L1
ist. Die Vpn waren ganz überwiegend eindeutig fortgeschrittene holländische
studentische Englischlerner. Eine verschwindend geringe Anzahl Vpn waren
holländische Schüler, die als Anfangslerner des Englischen zu betrachten sind.
Das Testmaterial bestand aus holländischen Sätzen mit dem polysemenVerb
breken (brechen) bzw. mit dem polysemen Substantiv oog (Auge). Im folgenden sei nur das Experiment mit oog (Kellerman 1986) kurz referiert. Hier
°
Herzlichen Dank allen, die diese Arbeit unterstützt haben, besonders Egon Hitzler und
Arnt Gylland.
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hatten die Vpn im ersten Teil des Experimentes die Aufgabe, 15 holländische
Satzpaare daraufhin zu beurteilen, in welchem der beiden Sätze oog eher mit
engl. eye wiedergegeben werden konnte. Das war realiter in allen Fällen
möglich, da so ein negatives Urteil einer Vp ein eindeutiges Indiz dafür war,
dass sie von ihrer L1-Intuition Gebrauch machte, wohingegen ein positives
Urteil auch Ausdruck von reinem Raten oder realen Englischkenntnissen sein
konnte (Kellerman 1978, 83). In bezug auf oog nahm Kellerman (1986, 40)
an, dass dessen verwendete Bedeutungen – mit Ausnahme von ‚Sehorgan‘ –
nicht explizit gelehrt worden waren.
Im zweiten Teil des Experimentes hatten die Vpn bei denselben Saatzpaaren
zu entscheiden, in welchem der beiden Sätze die Bedeutung von oog der Bedeutung ‚Sehorgan‘ in der holländischen L1 ähnlicher war. Im dritten Teil des
Experimentes schliesslich ging es bei wieder den gleichen Satzpaaren auf dieselbe Weise um die subjektive Einschätzung der Gebrauchshäufigkeit in der
holländischen Umgangssprache. Mit Teil 2 und 3 wurde von Kellerman versucht, den Prototypizitätsgrad der verschiedenen Bedeutungen von oog im
Holländischen zu erfassen. Beide Teile wurden mit dem ersten Teil des Experimentes mit Hilfe eines Chi-Quadrat-Testes verglichen. Das Resultat war eine
hohe Übereinstimmung der Einschätzung der Transferierbarkeit der holländischen oog-Bedeutungen ins Englische mit dem Prototypizitätsgrad der oogBedeutungen in der holländischen L1. Hoher L1-Prototypizität entspricht hohe
Transferierbarkeit, niedriger L1-Prototypizität niedrige Transferierbarkeit, woraus Kellerman schliesst, „that transferability can indeed be established entirely on the basis of the learner’s knowlegde of his native language“ (1986,
37).
Die blosse Annahme Kellermans, dass die Bedeutungen der englischen Testwörter den Vpn in den beiden Experimenten nicht bekannt gewesen seien,
schliesst die Möglichkeit einer Kenntnis einzelner Bedeutungen oder die Wirkung impliziten Zielsprachenwissens nicht aus. Zumal Bedeutungen mit hoher
Prototypizität traditionellerweise zuerst gelehrt werden, könnte die bevorzugte
Transferierung dieser Bedeutungen in Kellermans Experimenten auch durch
einen Lerneffekt verursacht worden sein (vgl. van Helmond/ van Vugt 1984,
26). Dieser Verdacht bildete den Anlass zu dem im folgenden beschriebenen
Experiment. Grundlage für dieses Experiment war die von Kellerman (1986,
44) in bezug auf die Erwerbsfolge vorgeschlagene Hypothese: Lehrt man Vpn
zuerst nur prototypferne Bedeutungen („the least prototypical senses“), so
sollten sie in der Lage sein, die Verbindung prototypischer und medioprototypischer Bedeutungen („the more prototypical senses“) mit dem jeweiligen
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Standardübersetzungsäquivalent ohne positive Evidenz zu erwerben, umgekehrt aber sollte das bei zuerst gelehrten prototypischen bzw. medioprototypischen Bedeutungen für prototypferne Bedeutungen nicht möglich sein. Mit
einem auf dieser Hypothese aufbauenden Experiment, das eine unbekannte
Fremdsprache verwendet, kann die Wirkung früher erworbenen expliziten wie
impliziten Zielsprachenwissens ausgeschaltet, im Experiment erworbenes
Wissen kontrolliert und der Zusammenhang zwischen Transferierbarkeit und
Prototypizitätsgrad eindeutig nachgewiesen werden. Da in dem Experiment
Fremdsprache und L1 nicht wie bei Kellerman getrennt untersucht werden,
ermöglicht es auch die Rolle der L1 aus einer anderen Perspektive zu sehen.
Und schliesslich beantwortet das Experiment die Frage der Erwerbsfolge.
2. Vortest
2.1 Versuchspersonen
An dem Vortest nahmen insgesamt 37 erwachsene Vpn verschiedener sozialer
Positionen und Altersgruppen teil, die Norwegisch als L1 hatten.
2.2 Ermittlung der prototypischen Bedeutung und deren Visualisierung
An dieser Ermittlung nahmen 10 Vpn teil. Wie Untersuchungen von Battig/
Montague (1969, 1ff.) und Rosch (1973, 130ff.) gezeigt haben, werden prototypische Mitglieder einer Kategorie vorzugsweise zuerst genannt, wenn Vpn
Mitglieder der betreffenden Kategorie nennen sollen. Dementsprechend wurden die Vpn aufgefordert, spontan einen kurzen Satz mit dem norwegischen
polysemen Verbum gå (gehen) zu bilden. Danach wurden sie sofort um einen
2. und darauf um einen 3. entsprechenden Satz gebeten. Alle 30 Sätze wurden
von mir notiert. Auf diese Weise wurde tentativ die prototypische Bedeutung
von gå ermittelt. Tentativ deshalb, weil aus den Untersuchungen von Battig/
Montague und Rosch mit Ding- und Sachkategorien nicht geschlossen werden
kann, dass bei polysemen Verben dieselben Reaktionen vorliegen.
Die Vpn wurden um jeweils drei Sätze gebeten, um eine grössere Materialbasis zu bekommen, aber auch um die Wirkung verzerrender Assoziationen –
etwa zu dem Vortest unmittelbar vorausgehendem Lesestoff usw. – oder des
Bemühens, „intelligente“ Sätze zu bilden, zu reduzieren.
Die gå-Ausdrücke der erhaltenen Sätze wurden einer semantischen Merkmalsanalyse unterzogen. Die Merkmale wurden aus den erhaltenenen Sätzen
selbst eruiert. Die verschiedenen gå-Bedeutungsmerkmale wurden addiert und
die über dem Median liegenden Merkmale als
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POST
Abb.1. Visualisierung der prototypischen Bedeutung von norweg. gå (gehen)
prototypische Merkmale betrachtet, da sie in überdurchschnittlich vielen Sätzen auftauchten. Diese Merkmale waren: ‘AGENSLebewesen + BEWEGUNGBoden,Füsse + ZIEL‘. Sie konstituieren die prototypische Bedeutung von gå (vgl.
Ueda 1998, 138 ff.). Auf ihrer Grundlage wurde in Anlehnung an Aandstad
Hettasch (2000, 36ff.) die in Abb. 1 wiedergegebene Skizze entworfen.
2.3 Ermittlung medioprototypischer und prototypferner Bedeutungen
Diese Ermittlung wurde mit 17 VPn durchgeführt. In Anlehnung an Kellerman
(1986) wurden 7 Vpn direkt nacheinander zwei Listen vorgelegt. Zu der ersten
Liste wurden den Vpn in rascher Reihenfolge 15 Zettel mit je zwei Sätzen gezeigt. Die Vpn hatten die Aufgabe, auf der Liste abzukreuzen, ob die Bedeutung der gå-Form in Satz 1 oder 2 dem gå-Bild in Abb.1. ähnlicher war. Die
Sätze stammten teils aus 2.2. oder waren von mir auf der Grundlage von 2.2
gebildet worden.
In der zweiten Liste hatten die Vpn bei den gleichen Testsätzen zu entscheiden, ob die Bedeutung der gå-Form in Satz 1 oder 2 ihrer Meinung nach in der
norwegischen Umgangssprache häufiger vorkommt. Die für die Ähnlichkeit
und die Frequenz erzielten Scores wurden per Testsatz addiert. Die gåBedeutungen mit den niedrigsten Scores lieferten die prototypfernen Bedeutungen für den Haupttest, die mit den mittleren die medioprototypischen.
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10 neue Vpn bekamen je einen Satz mit einer prototypischen, medioprototypischen und prototypfernen Bedeutung von gå vorgelegt. Sie hatten die Aufgabe, diese Sätze auf einer 16 cm langen, nicht unterteilten Linie zwischen den
Endpunkten „meget typisk“ („sehr typisch“) und „minst typisk“ („am wenigsten typisch“) nach ihrer Typizität einzuschätzen (vgl. Rosch 1973, 131f.). Die
Durchschnittswerte bestätigten die tentativ ermittelten Werte. Die niedrigsten
Durchschnittswerte erzielten die protoypischen Bedeutungen mit 1,93 cm, die
mittleren die medioprototypischen mit 6,62 cm und die höchsten die prototypfernen mit 11,66 cm. Satzproduktionstest, semantische Merkmalsanalyse und
die Visualisierung des Resultates dieser Analyse haben also den Prototyp der
gå-Bedeutung getroffen. Darüber hinaus stützt dieser Befund die Holismusgegenüber der Modularitätshypothese, nämlich dass Sprache vom Rest der
Kognition nicht abtrennbar ist (vgl. Lakoff 1990, 67 et passim). Der gleiche
Test wurde auch mit ta-Sätzen durchgeführt, da diese Prüfung bei Aandstaad
Hettasch (2000, 31ff.) nicht vorgenommen wurde. Die Ergebnisse entsprechen
denen der gå-Sätze: prototypisch = 2,14 cm; medioprototypisch = 7,44 cm;
prototypfern = 10,13 cm.
2.4. Ermittlung der Verwandtschaft der Testsprachen
Hier wurden 10 VPn herangezogen. Um Kellermans Hypothese (s. 1.) prüfen
zu können, musste eine Zielsprache gewählt werden, in der die Vpn erstens
garantiert keine Kenntnisse besassen und die zweitens der norwegischen L1
verwandt war. Die Wahl fiel auf Holländisch. Holländischkenntnisse sind in
Norwegen kaum verbreitet, so dass es daher leicht war, Vpn ohne jegliche
Vorkenntnisse im Holländischen zu finden und den Effekt von früher Gelerntem auszuschliessen. Die Verwandtschaft der Testsprachen war erforderlich,
weil man beobachtet hat, dass Nichtverwandtschaft transferhemmend ist
(Ringbom 1987, 80 ff.).
Die Verwandschaft von Norwegisch und Holländisch wurde durch die Vpn
bestätigt. Sie hatten ähnlich wie in 2.3. auf einer 16 cm langen, nicht unterteilten Linie zwischen den Endpunkten „ligner norsk mye“(„ähnelt dem Norwegischen sehr“) und „ligner norsk lite“(„ähnelt dem Norwegischen wenig“)
anzukreuzen, wo ihrer Einschätzung nach Holländisch zu plazieren ist (vgl.
Aandstad Hettasch 2000, 30f.). Zusätzlich wurde auch nach der Einschätzung
von Russisch gefragt, das in einem Zusatz zum Haupttest verwendet wurde.
Die Kreuze für Holländisch befanden sich durchschnittlich bei 4,41 cm, die
für Russisch durchschnittlich bei 12,90 cm.
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3. Haupttest
3.1 Versuchspersonen
Vpn waren insgesamt 328 Studenten der Universität Trondheim und der
Hochschule in Volda/Westnorwegen. Sie stammten aus allen Semestern und
11 verschiedenen Fachbereichen (Anglistik, Germanistik, Geschichte, Informatik, Nordistik, Philosophie, Politologie, Psychologie, Publizistik, Religionswissenschaft und Romanistik). Sie wurden gruppenweise getestet und jede
Gruppe nur einmal. Alle hatten Norwegisch als L1.
3.2 Material
Das testkritische Material bestand aus den im Anhang wiedergebenen 20 kurzen holländischen Sätzen mit deren wörtlicher norwegischer Übersetzung. Die
Sätze mit norweg. tok sind Aandstad Hettasch (2000, 45, 59) entnommen bzw.
auf der Grundlage ihrer Arbeit gebildet worden. Die Sätze (1) – (4) enthalten
prototypferne Bedeutungen der Testverben, (5)-(8) prototypische Bedeutungen
und (9)-(12) medioprototypische Bedeutungen. In allen diesen Sätzen ist die
Bedeutung von norweg. gå/tok auf das holländische Standardübersetzungsäquivalent übertragen worden, um Transfer zu stimulieren, was allerdings zur
Folge hatte, dass nicht alle holländischen Sätze idiomatisch korrekt sind. Die
korrekten Sätze stehen im Anhang in Klammern. In den Sätzen (13)-(20) dagegen wurde das holländische Standardübersetzungsäquvalent mit einem anderen Verb substituiert, um Transfervermeidung zu stimulieren. Zusätzlich zu
(1)-(20) wurden 4 norwegische Ablenkersätze verwendet (s. Anh. (29)-(32)).
In diesen Ablenkersätzen wurden nur Kopulaverben benutzt, um die Wirkung
der Testverben nicht zu beeinflussen.
3.3 Testaufbau
Der Test bestand aus
1. einer Lernphase, die
a. die Präsentation der Testsätze und
b. eine Behaltensprüfung umfasste,
2. einer Entscheidungsphase mit anderen Testsätzen als in 1.a. sowie
3. einer zweiten Behaltensprüfung in bezug auf 1.a.
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3.4 Durchführung
Der Test wurde gemäss der Testhypothese (s. 1.) mit den in Tab. 2 wiedergegebenen Kombinationen von Lern- und Entscheidungsphase durchgeführt.
Diese Kobinationen wurden mit den Faktoren „transferiert“/ „nichttransferiert“, dh. Stimulierung von Transfer/ Transfervermeidung variiert (s. 3.2).
Die VPn wurden vor dem Test gefragt, ob jemand von ihnen Holländischkenntnisse besass. Das Testziel, so wurde ihnen gesagt, sei eine Untersuchung
des Phänomens ‚Sprachgefühl‘, das eine wichtige Rolle beim Fremdspracherwerb spiele. Der Test begann mit einer Präsentation der jeweiligen holländischen/norwegischen Sätze per Overhead (natürlich ohne die Parenthesen im
Anhang). Dabei wurde den Vpn gesagt, dass es auf die fettgedruckten Verbformen ankomme und dass norweg. går/ tok im Holländischen gewöhnlicherweise mit dem Standardübersetzungsäquivalent gaat/ nam wiedergegeben
werde. Danach wurde Satz für Satz der Gruppe „transferiert“ in folgender
Weise kommentiert: „Norsk går i setningen Det går verk i såret kan så direkte
gjengis med hollandsk gaat …“(„Norwegisch går in dem Satz Det går verk i
såret kann daher direkt mit holländisch gaat wiedergegeben werden ...“). Für
die Gruppe „nicht-transferiert“ lautete der Kommentar: „Norsk går i setningen
Det går verk i såret må på hollandsk imidlertid gjengis med et annet verb enn
standardoversettelsesekvivalenten gaat …“ („ Norwegisch går in dem Satz
Det går verk i såret muss im Holländischen jedoch mit einem anderen Verb
als dem Standardübersetzungsäquivalent gaat wiedergegeben werden …“).
Nach dieser Präsentation wurde eine Liste ausgeteilt. Zu dieser Liste wurden
den Vpn in randomisierter Reihenfolge die norwegischen Sätze der Präsentationsphase und die Ablenkersätze (29)-(32) je ca. 3 Sekunden lang per Overhead gezeigt. Die VPn hatten auf der Liste anzukreuzen, ob sie die Sätze in
der Präsentationsphase gesehen hatten oder nicht oder im Zweifel darüber waren. Nachdem die Listen eingesammelt worden waren, wurde eine zweite
Liste ausgeteilt. Zu dieser Liste wurden den Vpn die jeweiligen norwegischen
Sätze der Entscheidungsphase je ca. 3 Sekunden lang gezeigt. Die Vpn sollten
nun entscheiden, ob norweg. går/ tok in diesen Sätzen mit holländ. gaat/nam
wiedergegeben werden könnte. Dazu wurde den Vpn gesagt, dass es hier auf
ihr Sprachgefühl ankäme. Die ca. 3 Sekunden wurden mit der Sprechlänge der
Sätze „Har dere sett denne setningen før?“ („Haben Sie diesen Satz schon gesehen?“) und „Kan går (tok) gjengis med hollandsk gaat (nam) her?“ („Kann
går (tok) hier mit holländisch gaat (nam) wiedergegeben werden?“) gemessen. Auf der Rückseite dieser Liste sollten die Vpn schliesslich einen oder
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mehrere der norwegischen Sätze niederschreiben, die sie am Anfang des Tests
in der Präsentationsphase gesehen hatten. Dabei wurde keine wortwörtliche
Erinnerung verlangt. Der gesamte Test dauerte ca. 10 Minuten.
3.5. Ergebnisse
3.5.1. Die Behaltensprüfungen
Wie Tab.1 zeigt, sind die Testsätze der Präsentationsphase durch den ganzen
Test hindurch gut behalten worden. Nur zwei von 328 Vpn konnten sich an
keinen Testsatz in der 1. Behaltensprüfung erinnern. Insgesamt waren hier
1113 Sätze behalten worden.
Wichtig ist das gute Behalten unmittelbar nach der Entscheidungsphase, da es
zeigt, dass das Gelernte noch gut in Erinnerung war und eine reale Chance
hatte, die Entscheidung zu beeinflussen, ob die prototypischen/ medioprototypischen/prototypfernen Bedeutungen von norweg. går /tok in nichtgelernten
Sätzen mit holländ. gaat/ nam wiedergegeben werden können. Bei einer
Gruppe von 14 Vpn konnte die 2. Behaltensprüfung allerdings für prototypferne Bedeutungen aus technischen Gründen nicht durchgeführt werden. Nur
14 von daher insgesamt 314 Vpn hatten hier keinen Testsatz behalten. In 31
der erinnerten Testsätze tauchte entweder ein Nichttestverb auf, oder die Sätze
waren unvollendet, hatten einen völlig anderen Kontext, stammten aus der
Entscheidungsphase oder waren Ablenkersätze. Abzüglich dieser 31 Sätze
wurden hier insgesamt 753 Sätze behalten. Ansonsten waren die Testverben
mit ihren prototypischen/ medioprototypischen/ prototypfernen Bedeutungen
erhalten geblieben. In Gesprächen mit Vpn nach dem Test kam darüber hinaus
zum Ausdruck, dass sie den Unterschied der Testsätze von Lern- und Entscheidungsphase als Unterschied von „konkret“ und „abstrakt“ aufgefasst
hatten.
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Anzahl Vpn
unmittelbar nach Präsentati- unmittelbar nach Enton
scheidung
Behaltene Testsätze
prototypenfern
0
1
2
3
4
2
5
16
49
114
1,08
2,69
8,60
26,34
61,29
11
48
45
45
23
6,40
27,91
26,16
26,16
13,37
prototypisch
0
1
2
3
4
0
1
11
12
20
0
2,27
25,00
27,27
45,46
0
7
9
11
17
0
15,91
20,45
25,00
38,64
medioprototypisch
0
1
2
3
4
0
3
11
27
57
0
3,06
11,22
27,55
58,16
3
11
25
35
24
3,06
11,22
25,51
35,71
24,49
Tab. 1. Von den Vpn behaltene Testsätze der Lernphase (kursive Zahlen = Prozente)
3.2.5 Die Entscheidungen über die Transferierbarkeit
Tab. 2 gibt einen Überblick über die ermittelten Daten und den Vergleich der
Scores für „Transfer wahrscheinlich“ und „Transfer unwahrscheinlich“ mit
Hilfe des asymptotischen Binomialtestes. Tab. 3 bringt auf der Grundlage von
Tab. 2 den vertikalen Vergleich der relevanten Lern-/ EntscheidungsphaseKombinationen.
Tab. 2 zeigt in Zeile 1 eine signifikante Transferierbarkeit der prototypischen
Bedeutungen, in Zeile 2 eine signifikante Transfervermeidung prototypferner
Bedeutungen. Im ersten Falle ist die Entscheidung eindeutig auf der Grundlage der Prototypizitätskategorisierung getroffen worden. Sie muss das aber
auch im zweiten Falle sein, da es unwahrscheinlich ist, dass sich hier – wie
auch in Zeile 7 – eine signifikante Mehrheit plötzlich an das Gelernte hält und
deshalb die Frage der Entscheidungsphase mit „Transfer unwahrscheinlich“
beantwortet. Dafür spricht auch, dass Zeile 2 und 7 sich trotz unterschiedlicher
Lernphasen nicht signifikant unterscheiden (s. Tab. 3), also die Lernphase keinen entscheidenden Einfluss hat.
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Transfer
Lernphase
– Entscheidungsphase
1 prot.fern (=)
2 prot.(=)
– prot.
– prot.fern
151
49
67,41
29,17
73
127
32,59
70,83
5,15 <0,001
5,81 <0,001
56
44
3 prot.fern (=)
4 medioprot.(=)
– medioprot.
– prot.fern
143
101
67,45
45,91
69
119
32,55
54,09
5,01 <0,001
1,15 =0,250
53
55
5 prot.fern (≠)
– prot.
126
85,14
22
14,86
8,47 <0,001
37
80
61
50,00
35,47
80
111
50,00
64,53
0,10 =0,920
3,73 <0,001
40
43
6 prot.fern (≠)
– medioprot.
7 medioprot. ( ≠) – prot.fern
wahrscheinlich unwahrscheinlich
z
P
Vpn
Tab. 2. Transferierbarkeit nichtgelernter prototypischer/medioprototypischer/prototypferner
Bedeutungen, wenn die Zielsprache Holländisch ist (kursive Zahlen = Prozente; (=)
= transferiert; (≠) = nichttransferiert; z bezieht sich auf die jeweils höchste fettgedruckte Zahl)
Andererseits kommen in dieser Tabelle jedoch auch Lerneffekte zum Ausdruck. Zeile 1 und 5 unterscheiden sich signifikant voneinander (s. Tab. 3).
Bei transferierter Lernphase werden prozentual mehr prototypische Bedeutungen als nichttransferierbar und weniger als transferierbar betrachtet als bei
nichttransferierter Lernphase. Das muss seine Erklärung darin haben, dass die
nicht kategorial motivierten Entscheidungen der Vpn neben reinem Raten didaktisch motiviert sind. Die Vpn, die nicht auf der Grundlage der Prototypizitätskategorisierung entscheiden, tun das allein auf der Grundlage des Gelernten. Eine transferierte Lernphase stimuliert dabei Transfervermeidung, eine
nichttransferierte Transferierbarkeit. Sicher sind demnach in Zeile 2 von Tab.
2 unter „Transfer unwahrscheinlich“ auch Lerneffekte enthalten, die allerdings
angesichts der Übereinstimmung mit Zeile 7 (s. Tab. 3) unbedeutend sein
müssen. Die Kombination „nichttransferiert prototypisch – prototypfern“ wurde wegen dieser Übereinstimmung nicht getestet. Außerdem wären die Vpn
wohl nur verwirrt worden und hätten sich sicher ungläubig die Frage gestellt:
Wo sonst soll das Standardübersetzungsäquivalent natürlicher verwendet werden können, wenn nicht bei prototypischen Bedeutungen?
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W. Feigs: Semantischer Transfer und die Rolle der L1
Zeilen
Lern-/ Entscheidungsphasenkombination
von Tab. 2
__
P
1-2
1-3
1-5
1-6
prot.fern (=) – prot.
+ prot. (=)
– prot.fern
61,728
+ prot.fern (=) – medioprot. 0,00008
+ prot.fern (≠) – prot.
14,723
+ prot.fern (≠) – medioprot. 11,805
<0,001
>0,990
<0,001
<0,001
2-4
2-6
2-7
prot. (=) – prot.fern
+ medioprot.(=) – prot.fern 13,566
+ prot.fern (≠) – medioprot. 17,399
+ medioprot.(≠) – prot.fern 2,339
<0,001
<0,001
>0,100
3-6
prot.fern (=) – medioprot. + prot.fern (≠) – medioprot.
11,567
<0,001
4-7
medioprot. (=) – prot.fern + medioprot.(≠) – prot.fern
4,342
<0,050
6-7
prot.fern (≠) – medioprot. + medioprot.(≠) – prot.fern
7,167
<0,010
Tab.3.Relevante Chi-Quadrat-Vergleiche der getesteten Lern-/ EntscheidungsphaseKombinationen ((=) = transferierte und (≠) = nichttransferierte Lernphase)
In Verbindung mit medioprototypischen Bedeutungen muss der Lerneffekt
allerdings eine andere Erklärung haben, da er bei transferierter Lernphase
nicht zu einer prozentualen Erhöhung der Transfervermeidung und entsprechender Reduzierung der Transferierbarkeit, sondern zu einer Umkehrung dieses Verhältnisses führt. Die hier vorliegenden Befunde sind mit Labows Tasse-Schüssel-Experiment vergleichbar, wo Durchmesser und Kontext die Benennung der Gefäße determinieren. Ein relativ kleiner Durchmesser führt zu
„Tasse“, ein relativ großer zu „Schüssel“. Sind die Gefäße mit Kartoffelmus
gefüllt, geht „Tasse“ eher in „Schüssel“ über. In beiden Fällen ist der Übergang fließend (Anderson 19954, 159 ff.). Auch medioprototypische Bedeutungen scheinen keine festen Grenzen zu haben. Im transferierten Kontext gehen
sie eher in prototypferne Bedeutungen über und erzeugen damit sozusagen
zusätzlich eine Kombination „prototypfern – prototypfern“. In Zeile 3 von
Tab.2 erfolgt auf diese Weise eine kategorial und didaktisch motivierte Erhöhung der Transferierbarkeit medioprototypischer Bedeutungen, die – wie Zeile
6 zeigt – schon an sich zu 50% transferierbar sind. In Zeile 4 kommt es zu einer kategorial und didaktisch motivierten annähernden Gleichverteilung, da
die an sich signifikante Transfervermeidung prototypferner Bedeutungen –
vgl. Zeile 7 – reduziert wird.
50
ZfAL 35, 2001. 39-59.
Die Kombination „medioprototypisch – prototypisch“ und ihre Umkehrung
wurde nicht getestet. Hier wäre es nur um Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit der Transferierbarkeit gegangen. Der Effekt medioprototypischer Bedeutungen ließ sich aber besser mit den Kombinationen von „medioprototypisch“ und „prototypfern“ aufzeigen, da sich hier der kontrastreichere Unterschied zwischen „Transfer wahrscheinlich“ und „Transfer unwahrscheinlich“
findet.
In bezug auf Kellermans Experimente, seine Schlussfolgerung daraus und seine Hypothese betreffs der Erwerbsfolge (s. 1.) ergibt sich damit folgendes.
Aus der Verwendung einer unbekannten Zielsprache ergibt sich trotz Lerneffekten zweifelsfrei, dass die Transferierbarkeit umso größer ist, je prototypischer die Bedeutung ist. Kellermans Schlussfolgerung allerdings, dass die
Entscheidung über die Transferierbarkeit allein auf der Grundlage der L1 stattfindet, kann nicht aufrechterhalten werden. Das zeigt der Einfluss der Zielsprachenbedingungen „transferiert“/ „nichttransferiert“ auf diese Entscheidung: Die Lernererfahrung spielt auch eine Rolle. Was schließlich Kellermans
Hypothese zur Erwerbsfolge betrifft, so konnte diese bestätigt werden. Je
prototypischer die Bedeutung, desto eher kann sie auch ohne positive Evidenz
in der Zielsprache erworben werden. Je weniger prototypisch die Bedeutung
ist, desto nötiger ist positive Evidenz in der Zielsprache. Daraus ergibt sich die
Erwerbsfolge: 1. prototypische (s. Tab. 3, Zeile 1-6 und 1-2), 2. medioprototypische (s. Tab. 3, Zeile 2-6), 3. prototypferne Bedeutungen.
Die orthographische Ähnlichkeit von norweg. går und holländ. gaat hatte keine Einwirkung auf die Entscheidungen für „Transfer wahrscheinlich“ (vgl.
Ard/ Homburg 1994). Die Frequenzen von går (N = 334) und tok (N = 377)
sind nach dem asymptotischen Binomialtest zufallsbedingt (z = 1,58; P =
0,114).
4. Zusatztest
Der Haupttest wurde auch mit Russisch (in lateinischer Transliteration) als
Zielsprache durchgeführt. Alle 29 VPn, die an dem Test teilnahmen, hatten
Norwegisch als L1 und keine Russischkenntnisse. Die russischen Testsätze
waren Übersetzungen der norwegischen Sätze in (1)-(8) der Gruppe „transferiert“ (s. Anhang (21)-(28)). Auch hier hatte die Hervorhebung der Ähnlichkeit zwischen den beiden Sprachen den Vorrang vor idiomatischer Korrektheit. Die korrekten russischen Sätze stehen im Anhang in Klammern.
51
W. Feigs: Semantischer Transfer und die Rolle der L1
Die Ergebnisse zeigt Tab. 4. Die prototypischen Bedeutungen (25)-(28) und
die prototypfernen Bedeutungen (21)-(24) unterscheiden sich hier nicht in bezug auf Transferierbarkeit. Die von den Vpn empfundene Distanz zwischen
Norwegisch und Russisch (s. 2.4) war stärker als die mit den Testsätzen der
Präsentationsphase suggerierte Ähnlichkeit. Sie hielten sich bei prototypischen
wie bei prototypfernen Bedeutungen signifikant an das Gelernte. Der asymptotische Binomialtest ergab für „Transfer unwahrscheinlich“ im ersten Falle z
= 2,91; P = 0,004, im zweiten z = 3,88; P < 0,001. Bei diesem Ergebnis erübrigten sich weitere Tests.
Transfer
Lernphase
– Entscheidungsphase
prototypfern
prototypisch
– prototypisch
– prototypfern
wahrscheinlich unwahrscheinlich
15
16
28,85
25,00
37
48
71,15
75,00
__
Vpn
0,221
(P > 0,600)
13
16
Tab. 4 Transferierbarkeit nichtgelernerter prototypischer/ prototypferner Bedeutungen,
wenn die Zielsprache Russisch ist (kursive Zahlen = Prozente)
5. Diskussion
Im Folgenden soll die Rolle der L1 und der Zielsprache beim semantischen
Transfer näher beleuchtet und der Frage nachgegangen werden, ob hier neben
L1 und Zielsprache auch andere Fremdsprachen des Lerners wirksam sein
können. Zum Schluss ein Wort zu den didaktischen Konsequenzen des vorliegenden Experimentes.
Kellerman betrachtete die L1, d.h. die Prototypizitätskategorisierung in ihr, als
die alleinige Entscheidungsgrundlage für die Transferierbarkeit von Bedeutungen (s. 1.). In den Kellermanschen Ähnlichkeitstests zur L1 waren allerdings vorgegebene, also bewusstseinsexterne Phänomene miteinander zu vergleichen: In Kellerman (1978) verschiedene Bedeutungen des Testwortes, in
Kellerman (1986) der Prototyp mit Kategoriemitgliedern. Ein solcher Vergleich sagt jedoch nichts darüber aus, dass die Prototypizitätskategorisierung
der L1 inhärent ist. Im Vortest (s. 2.2f.) konnte hier dagegen mit Roschs Methode (1973, 131f.), bei der der Prototyp bewusstseinsintern verbleibt, auf die
tatsächliche Existenz einer Prototypenbildung und Prototypizitätskategorisierung in der L1 geschlossen werden. Dass eine solche Prototypizitätskategori-
52
ZfAL 35, 2001. 39-59.
sierung von L1-Bedeutungen den Entscheidungen der Vpn zugrundegelegen
haben muss, konnte durch die Verwendung einer den Vpn unbekannten
Fremdsprache, die den Einfluss von früher Gelerntem ausschloss, eindeutig
nachgewiesen werden (s. 1; 3.2.5; vgl. Giacobbe 1992, 233ff.).
Die nächste Frage ist, ob hier neben L1 und Zielsprache auch andere Fremdsprachen des Lerners an der Sprachverarbeitung beteiligt sind. Das erscheint
im Lichte der Vorstellungen vom mehrsprachigen mentalen Lexikon prinzipiell möglich (vgl. z.B. Raupach 1994, 30ff.). Die L1 und betreffende Fremdsprachen sind nach diesen Vorstellungen in einem einzigen grossen Speicher
repräsentiert und miteinander vernetzt. Die Stärke der Netzverbindungen wird
von der Kontinuität des Gebrauchs bestimmt. Auf diese Weise bilden Elemente derselben Sprache Subsysteme, aber auch Elemente verschiedener
Sprachen. Diese Netzverbindungen ermöglichen, dass bei der Zielsprachenproduktion neben der L1 andere Fremdsprachen aktiv sind, ohne allerdings
artikuliert zu werden.
Zu klären ist nun, welche Rolle andere Fremdsprachen im Transferprozess
spielen. Hierauf kann die Hypothese von Schachter (1994), nach der Transfer
Inferenz ist, eine Antwort geben. Die Grundlage für die Inferenz bildet nach
Schachter relevantes früher erworbenes explizites oder implizites Wissen, d.h.
Wissen über die Muttersprache und die Zielsprache. Hinzuzufügen sind aber
eben wohl auch andere Fremdsprachen des Lerners. Aus diesem Wissen
schlussfolgert der Lerner und bildet Hypothesen in bezug auf die Zielsprache,
die dann am Zielspracheninput getestet werden. Dabei sucht der Lerner nach
Verifizierung seiner Hypothesen, ist aber auch für Falsifizierungen offen, die
eine Korrektur der Hypothesen ermöglichen. Auf diese Weise erfährt er beim
Transfer von Bedeutungen fortlaufend in seiner/n Fremdsprache/n positives
oder negatives Feedback. Wie die hier involvierten Fremdsprachen und Englisch als die in Norwegen am besten beherrschte Fremdsprache im Anhang
zeigen, scheint positives Feedback realiter mit prototypischen und auch noch
medioprototypischen Bedeutungen zusammenzufallen, negatives Feedback
aber häufig mit prototypfernen Bedeutungen. Aus diesen Verhältnissen und
mit Hilfe der Prototypizitätskategorisierung, die dem Lerner aus seiner L1 zur
Verfügung steht, kann er daraus schlussfolgern: Prototypische Bedeutungen
sind mit hoher Wahrscheinlichkeit transferierbar, medioprototypische mit etwas geringerer und prototypferne mit der geringsten. Es ist also wahrscheinlich, dass es die Erfahrung des Lerners aus dem Gebrauch seiner Fremdsprache/n ist, die die unmittelbare Grundlage für die Inferenz bildet, die zu Trans-
W. Feigs: Semantischer Transfer und die Rolle der L1
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fer bzw. Transfervermeidung führt (s. 3.2.5). Allerdings scheint auch ein verstärkter Transfer prototypferner Bedeutungen in die Zielsprache möglich zu
sein, wenn diese in einer anderen Fremdsprache mit dem Standardübersetzungsäquivalent wiedergeben werden können und der Ausdruck dort eine hohe Frequenz hat und deshalb im Gedächtnis als Einzelfall aktiviert werden
kann. Darauf deutet jedenfalls Testsatz (4) hin (s. Anhang), der von allen
Testsätzen als einziger überdurchschnittlich häufig unter „Transfer wahrscheinlich“ auftritt.
Eine Bestätigung dafür, dass die Lernererfahrung mit einer/anderen Fremdsprache/n die Grundlage für die Transferierbarkeitsentscheidungen bildet,
können Personen ohne diese Erfahrung liefern. Solche Personen finden sich
heutzutage allerdings selten, zumal in Ländern wie Norwegen, deren Sprachen
keine internationale Geltung haben und man deshalb gezwungen ist, Fremdsprachen zu lernen. Aus diesem Grunde war es nur möglich, 7 solche Personen zu testen. Drei von ihnen waren Rentner, vier waren in nichtakademischen
Berufen tätig. Die älteste Vp war 87 Jahe alt, die jüngste Mitte 40. Mit ihnen
wurde die Testvariante „nichttransferierte prototypferne – prototypische Bedeutungen“ durchgeführt, da hier die Entscheidungen für „Transfer wahrscheinlich“ am deutlichsten zum Ausdruck kamen (s. Tab.2, Zeile 5). In der
zur Lernphase gehörenden Behaltensprüfung erinnerte sich keine Vp an keinen Testsatz, je 14,29% an einen und zwei, 42,86% an drei und 28,57% an
vier Testsätze. In der Behaltensprüfung nach der Entscheidungsphase dagegen
hatten 57,14% keinen einzigen Testsatz mehr behalten und der Rest nur je einen. In der Entscheidungsphase selbst wurden 18 (64,29%) der prototypischen
Bedeutungen unter „Transfer wahrscheinlich“ eingestuft und 10 (35,71%) unter „Transfer unwahrscheinlich“, wobei 18 im Gegensatz zu Zeile 5 in Tab. 2
ein Zufallsresultat ist (z = 1,32; P = 0,187). Der Chi-Quadrat-Vergleich mit
den studentischen Vpn ergab dementsprechend ein signifikantes _2 = 6,881; P
< 0,010. Dieses Resultat scheint auf eine Unsicherheit der nichtstudentischen
Vpn hinzudeuten. Ihnen scheint also die Erfahrung mit einer/anderen Fremdsprache/n als Grundlage für ihre Entscheidungen gefehlt zu haben. Vergleicht
man jedoch diese Vpn mit den studentischen Vpn in der Testvariante „transferierte prototypferne – prototypische Bedeutungen“ (s. Tab. 2, Zeile 1), weichen beide Gruppen nur zufällig voneinander ab (__ = 0,110; P > 0,700).
Demzufolge könnte auch vermutet werden, dass Transfer tatsächlich auch auf
der Grundlage der L1 allein zustandekommen kann, dass er aber durch Fremdsprachenerfahrung bedeutend verstärkt wird. Eine wesentlich höhere Anzahl
Vpn und evtl. der Einsatz weiterer Testvarianten sind erforderlich, um eine
54
ZfAL 35, 2001. 39-59.
Entscheidung zwischen diesen Interpretationsalternativen herbeiführen zu
können.
Zusammenfassend kann festgehalten werden: Alle sprachlichen Ressourcen
des Lerners spielen beim semantischen Transfer wahrscheinlich eine Rolle.
Die L1 scheint einmal die Prototypizitätskategorien zu liefern, mit deren Hilfe
die konkreten Feedback-Erfahrungen des Lerners aus der Verwendung seiner
Fremdsprache/n generalisiert werden, was die Grundlage für die durch den
Zielsprachenproduktionsdruck ausgelösten Inferenzen schafft. Zum anderen
konnte aber nicht ausgeschlossen werden, dass die L1 direkt die Basis für
Transfer bilden kann und Fremdsprachenerfahrung Transfer nur verstärkt.
Darüber hinaus können andere Fremdsprachen die Transferierbarkeit aber
auch dann erhöhen, wenn dort das Standardübersetzungsäquivalent möglich
und der Ausdruck hochfrequent ist, so dass er zum expliziten Wissensbestand
des Lerners gehört.
Was die didaktischen Konsequenzen des vorliegenden Experiments und vorausgehender Experimente betrifft, ist folgendes zu sagen. Erstens wird nicht
uneingeschränkt transferiert. Transfer ist umso stärker je verwandter die betreffenden Sprachen sind und umso schwächer je fremder sie sind. Selbst eine
fingierte Ähnlichkeit kann in letzterem Falle die Skepsis der Lerner nicht überlisten. Zweitens werden prototypferne Bedeutungen zweifelsfrei signifikant
weniger transferiert als prototypische und medioprototypische. Die Einschränkung und damit die Möglichkeit für Transfervermeidung erfolgt hier genau
dort, wo die Möglichkeit für Fehler am grössten ist, nämlich im metaphorischen Bereich. Es wird also im Prinzip nicht sinnlos transferiert. Wenn drittens die Kodierungen prototypischer und in etwas geringerem Grade auch medioprototypischer Bedeutungen in einer bestimmten Zielsprache auch ohne
positive Evidenz aus dem Input dieser Zielsprache erworben werden können,
dann ist der Erwerb dieser Zielsprache erleichtert und ökonomisiert. Da Transfer aus Fremdsprachen die Basis dafür abzugeben oder zu verstärken scheint,
sollte er daher nicht bekämpft, sondern gefördert werden, auch wenn es dabei
– vorübergehend – zu Fehlern kommt. Fehler sind Ausdruck des Lernens. Eine
Bekämpfung von negativem Transfer scheint ausserdem zu einer generellen
Vermeidung von Transfer zu führen, also auch des positiven Transfers. Das
deutet sich jedenfalls bei Aandstad Hettasch (2000, 83, 94) an, wo der positive
Transfer norwegischer Gymnasiasten aus der engl. L2 in die dt. L3 im Verhältnis zu norwegischen Germanistikstudenten stark reduziert ist, was wahrscheinlich auf die vehemente Bekämpfung dieses Transfers durch die Gymnasiallehrer zurückzuführen ist.
W. Feigs: Semantischer Transfer und die Rolle der L1
55
Literatur
Aandstad Hettasch, Kirsti (2000): Semantischer Transfer bei norwegischen Deutschlernern
mit Englisch als L2, Trondheim (hovedoppgave i tysk ved NTNU).
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Ard, Josh/ Taco Homburg (1994): Verification of Language Transfer, in: Gass/ Selinker.
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categories: a replication and extension of the Connecticut category norms, in: Journal of
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predictions about transferability, in: Working papers on bilingualism, Issue, No. 15
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about the Mind, Chicago/ London.
Raupach, Manfred (1994): Das mehrsprachige mentale Lexikon, in: Börner, Wolfgang/
Vogel, Klaus (Hrsg.): Kognitive Linguistik und Fremdsprachenerwerb, Tübingen, 19-37
(Tübinger Beiträge zur Linguistik 375).
Ringbom, Håkon (1987): The Role of the First Language in Foreign Language Learning,
Clevedon/ Philadelphia (Multilingual Matters 34).
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Moore, Timothy E. (Hrsg.): Cognitive development and the acquisition of language,
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Applied Linguistics, Vol. 1, 135-158.
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ZfAL 35, 2001. 39-59.
Anhang A
holländisch
norwegisch
t ransferiert
prototypfern
(1) Het gaat etter in de wond.
(De wond gaat etteren.)
–
Det går verk i såret.
(Die Wunde beginnt zu eitern.)
(An infection is spreading in the wound.)
I hans familie går alt på fransk.
(In seiner Familie geht alles auf
französisch.)
(His family is thoroughly French.)
(2) In zijn familie gaat alles in het Frans.
–
(3) Ze nam hem op het woord.
(Ze hield hem aan zijn woord.)
–
Hun tok ham på ordet.
(Sie nahm ihn beim Wort.)
(She took him literally.)
(4) Ze nam geen notitie van hem.
–
Hun tok ikke notis av ham.
(Sie nahm keine Notiz von ihm.)
(She took no notice of him.)
(5) Ze gaat morgen naar de winkel.
–
Hun går på butikken i morgen.
(Sie geht morgen in das Geschäft.)
(She goes to the shop to-morrow.)
(6) De kat gaat recht over de straat.
–
Katta går rett over gata.
(Die Katze geht geradewegs über die
Strasse.)
(The cat goes straight across the street.)
(7) Ze nam het boek uit de boekenkast.
–
Hun tok boka ut av bokhylla.
(Sie nahm das Buch aus dem Bücherregal.)
(She took the book from the shelf.)
(8) De moeder nam het mes van het kind. –
(De moeder nam het kind het mes af.)
Moren tok kniven fra barnet.
(Die Mutter nahm dem Kind das Messer
weg.)
(The mother took the knife from the child.)
prototypisch
medioprototypisch
(9) Het gaat beter en slechter met haar.
(Het gaat nu eens beter, dan eens
weer slechter met haar.)
(10) De trein gaat om 1930.
–
Det går opp og ned med henne.
(Es geht auf und ab mit ihr.)
(She has good days and bad days.)
– Toget går kl. 1930.
(Der Zug geht 1930 Uhr.)
(The train goes at 1930.)
(11) Zij nam een lang bad in de badkuip. – Hun tok et langt bad i badekaret.
(Sie nahm ein langes Bad in der
Badewanne.)
W. Feigs: Semantischer Transfer und die Rolle der L1
(She took a long bath in the bathtub.)
(12) De trainer nam de moed van hem af. –
(De trainer ontnam hem de moed.)
Treneren tok motet fra ham.
(Der Trainer nahm ihm den Mut.)
(The trainer took away his motivation.)
nichttransferiert
prototypfern
(13) Er ontstaat etter in de wond.
(14) In zijn familie praat men alleen Frans.
(15) Ze hield hem aan zijn woord.
(16) Ze schonk geen aandacht aan hem.
medioprototypisch
(17) Zij maakt het nu eens beter, dan weer
slechter.
(18) Det trein vertrekt om 1930.
(19) Zij badderde lang in de badkuip.
(20) De trainer ontmoedigde hem.
–
–
–
–
s. (1)
s. (2)
s. (3)
s. (4)
–
s. (9)
–
–
–
s. (10)
s. (11)
s. (12)
russisch
norwegisch
prototypfern
(21) Id_t gnoj iz rany. (Budet itti gnoj iz rany.)
(22) V ewo sem`e vs_ id_t po-francuzski.
(23) Ona vzjala ewo na slove. (Ona pojmala ewo na slove.)
(24) Ona ne vzjala zametku ot newo. (Ona ne zametila ewo.)
–
–
–
–
s. (1)
s. (2)
s. (3)
s. (4)
prototypisch
(25) Ona id_t v magazin zavtra. (Ona poid_t v magazin zavtra.)
(26) Ko_ka id_t prjamo _eres ulicu.
(27) Ona vzjala knigu s kni_noj polki.
(28) Mat‘ vzjala no_ u reb_nka.
–
–
–
–
s. (5)
s. (6)
s. (7)
s. (8)
Ablenkersätze
(29) Det er ingen utvei. (Es gibt keinen Ausweg.)
(30) Han ble svært syk. (Er wurde sehr krank.)
(31) Politiet var raskt til stede. (Die Polizei war schnell zur Stelle.)
(32) Hovedstaden i Latvia heter Riga. (Die Hauptstadt in Lettland heisst Riga.)
Russisk
to on b’ët ?enu.
è
Historien
Idët gnoj iz rany.
Norsk oversettelse
Det går verk i såret.
Idët sluh o tom,
går om at han slår sin
kone.
Ona vzjala ewo na slove.
Hun tok ham på ordet.
Ona ne vzjala zametku ot newo.
Hun tok ikke notis av ham.
57
58
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Anmerkung: Die beiden letzten Sätze sind idiomatisch nicht korrekt. Die Entsprechungen hätten unterschiedliche Verben erfordert: Ona pojomala ewo na slove./Ona ne zametila newo.
Anhang B
Kryss av hvilke setninger du nettopp har sett/ ikke sett eller er i tvil om å ha sett:
Sett
ikke sett
i tvil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Anhang C
I hvilke setninger tror du det er sannsynlig/ usannsynlig
at norsk går kan gjengis med russisk idët
og
at norsk tok kan gjengis med russisk vzjala?
Sett kryss hvor det passer etter din mening.
sannsynlig
1.
2.
3.
4.
Anmerkung: Die Reihenfolge der norwegischen Sätze war folgende:
Haupttest Teil 1: 1. Hun går på butikken i morgen.
2. Hun tok boka ut av bokhylla.
3. Katta går rett over gata.
4. Mora tok kniven fra barnet.
Haupttest Teil 2: 1. Det går verk i såret.
2. Hun tok ham på ordet.
3. I hans familie går alt på fransk.
4. Hun tok ikke notis av ham.
usannsynlig
W. Feigs: Semantischer Transfer und die Rolle der L1
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Anhang D
Russiskidët prjamo èeres ulicu.
Koska
Norsk
Katta goversettelse
år rett over gata. Ona vzjala knigu s kni?noj polk Mater? vzjala no? u rebënka.
Ona idët v magazin zavtra.
Hun går på butikken i morgen.
i.
Hun tok boka ut av bokhylla.
Anmerkung: Der erste Satz lautet korrekt: Ona poidët v magazin zavtra.
Adresse des Verfassers:
Prof. Dr. Wolfgang Feigs
Skjetnemarkv. 11 A
7081 Trondheim/Norge
[email protected]
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