In: Widerspruch Nr. 19/20 Ende der Linken? (1990), S.13-16 Autor: Manfred Buhr Artikel Umfrage Manfred Buhr: Historische Niederlage der Arbeiterbewegung - aber ohne Marx wird es nicht gehen 1. Der „aktuelle weltpolitische Wandel“, besser sagt man vielleicht der gegenwärtige Geschichtsprozeß, fordert in der Tat ein Nachdenken über das Geschichtsverständnis heraus. Allerdings meine ich, daß nicht nur über das „Geschichtsverständnis der Linken“ nachgedacht werden muß, sondern das Geschichtsverständnis aller gesellschaftlichen Gruppierungen ist zu überdenken. Kritische und selbstkritische Besinnung ist notwendig. Geschichtsphilosophie als Sozialphilosophie ist ein Zeichen der Zeit. Dabei scheint mir ein nicht unwesentlicher Ausgangspunkt zu sein, daß alle gegenwärtigen Gesellschaften reformbedürftig sind. keine von ihnen ist der Stein des Weisen. Was nun die „Linken“ angeht, so meine ich, daß in dieser zur Kenntnis genommen werden muß, daß es sich bei dem, was Sie „Zusammenbruch des bürokratisch-sozialistischen Systems“ nennen, um eine historische Niederlage der Arbeiterbewegung handelt, insbesondere der kommunistischen. Die Ursachen dafür sind vielfältiger Natur. Für eine der wichtigsten halte ich die Spaltung der Arbeiterbewegung bereits im 19. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang hinterfragt werden müssen dann solche Annahmen oder Theoreme, daß die sozialistische Revolution Historische Niederlage der Arbeiterbewegung - aber ohne Marx wird es nicht gehen ohne heroische Illusion auskomme (Marx), daß die neue Gesellschaft durch umfassende Planung (Planwirtschaft) gekennzeichnet sein müsse, eine Parteitheorie (Lenin), die zunächst für die Illegalität entwickelt wurde, zum Standard auch für die Legalität genommen und praktiziert wurde, woraus sich die sog. Bolschewisierung (Stalin) der kommunistischen Parteien, ihre Gleichschaltung herleitete, ohne daß dabei auf die je gegebenen historischen Bedingungen in den einzelnen Regionen, Ländern und such Parteien Rücksicht genommen wurde. Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß sozialistische Elemente in den Gesellschaften des sog. Realsozialismus schon als Sozialismus selber ausgegeben wurden. Die Aufzählung könnte leicht vermehrt werden. Doch entscheidend ist für mich die Einsicht, daß es sich beim angesprochenen „weltgeschichtlichen Wandel“ um eine historische Niederlage der Arbeiterbewegung handelt, weil nur von hier aus zu realistischen Zielen und realistischem Handeln vorgestoßen werden kann. Hinzufügen möchte ich noch, daß jede Niederlage auch eine Chance bedeutet. 2. Bei all dem darf allerdings nicht die Entwicklung des Kapitalismus außer acht bleiben, seine Aktionen gegen die Arbeiterbewegung und den Realsozialismus. Zur Zeit wird in manchen Stellungnahmen so getan, als hätte es zum Beispiel keinen kalten Krieg gegeben. 3. Die historischen Veränderungen, die in unseren Tagen vor sich gehen, bedeuten keine Bestätigung der These vom „Ende der Geschichte“. Im Gegenteil. Diese Veränderungen erweitern den Gesichtskreis, Geschichte zu denken, neu oder verändert zu denken, mit neuen oder kritisch überprüften Kategorien. Geschichte ist ein Möglichkeitsfeld und offen. Es gibt keinen festgeschriebenen Weg des Geschichtsprozesses, auch keinen vorhersagbaren. Dennoch ist Geschichte nichts Irrationales. Damit ist schon gesagt, daß man mit Alternativen zurückhaltend sein sollte. Es muß wieder begriffen werden, das es in der Geschichte um Fort- und Weiterentwicklung geht, woraus Fortschritt entsteht, der nichts Geradliniges ist. Das ist etwas anderes als Alternativen. Alternativen sind immer Umfrage: Manfred Buhr zugleich so etwas wie Festlegungen, weniger Zielangaben als vielmehr Zielfestschreibungen bzw. das Festschreiben eines historisch erreichten Zustands. 4. Sozialismus bedeutet von seinem Ursprung her Reaktion auf die soziale Frage, ihr Lösungsversuch (Lösung nicht als Zustand, sondern als Prozeß). Deshalb waren Marx und Engels der Meinung, daß sozialistische Revolutionen soziale Revolutionen sein müssen, und zwar soziale Revolutionen, die die Errungenschaften der politischen Revolution, womit sie vor allem die Französische Revolution meinten, voraussetzen. Zu diesen Voraussetzungen zählten sie den Demokratismus, die Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte. Für sie waren diese Errungenschaften nicht nur solche der bürgerlichen Revolution, sondern der gesamten Menschengattung. Es war ein verhängnisvoller Irrtum der kommunistischen Arbeiterbewegung, diese Gedankengänge von Marx und Engels kaum beachtet oder sogar mißachtet zu haben. Im Grunde genommen wurde dadurch Freiraum geschaffen für die Erhaltung und die Reproduktion von alten, zum Teil feudalen Strukturen und Mentalitäten, die verhindert haben, daß das gewollte Neue in Altes zurückfiel, stagnierte und rückläufig verlief. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hat die Französische Revolution heraufbeschworen, aber nicht verwirklicht, vor allem sozial nicht. Insofern sind diese nach wie vor einzuklagen, und zwar mit (politischen/rechtlichen) Mitteln, die eben diese Revolution hervorgebracht hat. Der zweite Akt dieser Revolution, die soziale, steht noch aus. Von hier aus gesehen, würde ich der These von Jürgen Habermas zustimmen, daß „der sozialistischen Linken die Rolle eines 'radikal-reformistischen Ferments'„ zukommt. Es geht dabei in der Tat um eine demokratische Kontrolle des Marktes, um politisch-rechtliche Regulative, die wirtschaftliche Macht durch das Soziale zu limitieren vermögen. Allerdings vermag die „Linke“ diese Rolle nur zu spielen, wenn sie Spaltung und Gegnerschaft in ihren Reihen überwindet, wenn sie sich einig im Ziel ist. Die Historische Niederlage der Arbeiterbewegung - aber ohne Marx wird es nicht gehen Wege, die sie dahin beschreitet, werden, können und müssen verschieden sein. Doch ohne Marx wird es nicht gehen.