Michi Knecht, Humboldt-Universität zu Berlin

Werbung
Michi Knecht
Jenseits von Kultur: Sozialanthropologische Perspektiven auf Diversität,
Handlungsfähigkeit und Ethik im Umgang mit Patientenverfügungen
Deutsche Zusammenfassung:
In Anerkennung der für Gegenwartsgesellschaften konstitutiven Diversität ihrer
Bevölkerungen diskutieren Bioethik und Medizin verstärkt die kulturelle Relativität ihrer
eigenen Voraussetzungen, die Kulturspezifik "anderer" Positionen und die Möglichkeiten
kulturübergreifender Orientierungen. Dabei kommt häufig ein Kulturbegriff zum Einsatz, der
aus der Perspektive der aktuellen Sozial- und Kulturanthropologie zu statisch, zu
homogenisierend und zu sehr auf Differenz und Abgrenzung hin orientiert ist. Der Beitrag
diskutiert zunächst Konzepte von Kultur, die solche Verkürzungen zu vermeiden suchen. Sie
betonen hingegen Verflechtungszusammenhänge unter dem Vorzeichen intensivierter
Globalisierung und deuten Kultur aktiv und reflexiv, als Ressource menschlichen Tuns, und
nicht deterministisch als Kausalfaktor. Anschließend wird der ethnographische
Forschungsstand zu Patientenverfügungen in westlichen Gesundheitssystemen
zusammengefasst. Zeitintensive, qualitative Forschung verdeutlicht die Gefahr einer
Kulturalisierung sozialer Ungleichheiten, die spezifische Positionalität bioethischer Prämissen
und die Vielfalt und Komplexität im Umgang mit Patientenverfügungen. Der Beitrag schließt
mit Hinweisen darauf, wie Diversität in Entscheidungsprozessen am Ende des Lebens jenseits
von Kultur analysiert werden kann.
Schlüsselwörter: Kultur, Ethnographie, kulturelle und soziale Diversität, Sterbeprozesse,
Patientenverfügungen, Entscheidungen am Lebensende
Beyond culture. Perspectives from social anthropology on diversity, agency and ethics in
dealing with advance health care directives
Definition of the problem: In acknowledgement of diversity as a constitutive dimension of
contemporary societies, bioethics and biomedicine increasingly reflect on the cultural
relativity of ethic presuppositions, on the cultural specificity of "other" positions and on the
possibility of universal orientations. From the perspective of contemporary cultural and social
anthropology, however, the concept of culture used in this debates often appears to be too
static, too homogenizing and exceedingly oriented towards difference and demarcation.
Arguments: The article discusses concepts of culture that try to avoid such reductionisms.
They instead foreground the hybridity and entangledness of all cultures, and view culture as
active and reflexive, as a resource for human agency rather than a deterministic, causal force.
Subsequently, ethnographic research on advance care directives in Western health systems is
reviewed and evaluated. Conclusion: Intensive qualitative research reveals the complexities
and pluralities in dealing with advance care directives. It further demonstrates the
positionality of bioethics premises and points to the dangers of culturalizing social
differences. The article concludes with a sketch of analytic possibilities to explain diversity in
end of life decisions making beyond the concept of culture.
1
Key words: Culture, ethnography, social and cultural diversity, processes of dying, advance
care directives, decision making in end-of-life situations
Lange Zeit hat sich vor allem das deutsche Gesundheitssystem schwer getan mit der
Anerkennung der Tatsache, dass durch zunehmende Mobilität, Globalisierung und Migration
auch die Akteure im medizinischen Feld – Patientinnen und Patienten genauso wie
Pflegeprofessionen, Ärztinnen und Ärzte, Forschende – nachhaltig heterogenisiert werden.
Konfrontiert mit einer ausgeprägten Pluralität von Lebensstilen, Wertehorizonten und,
Identifikationen sowie mit steigender sozialer Ungleichheit in Bezug auf materielle
Ressourcen und Bildungszugänge stellt sich für Medizin, Pflege und Bioethik die Frage nach
dem professionellen Umgang mit Diversität im Medizinbereich gegenwärtig mit
Dringlichkeit. Damit verbunden ist die Frage, welche Relevanz Kultur und der Anerkennung
einer kulturellen Relativität von Werten im Rahmen professionellen medizinischen Handelns
und innerhalb der Strukturen des Gesundheitssystems zukommt oder zukommen sollte.
Als Spezialdisziplin für kulturellen Pluralismus, Alltag und "fremde" Kulturen werden an
diesem Punkt auch die Konzepte und Perspektiven der Sozial- und Kulturanthropologie
nachgefragt.1 Das Fach soll – und will das aus seinem Selbstverständnis als kritische Sozialund Kulturwissenschaft heraus auch – beitragen zu einem angemessenen Umgang mit
Alterität und Relativismus. Es soll gesellschaftliches Wissen über "kultursensible" oder
"kulturspezifische" Themen verbessern und zur Übersetzung und zum Wissenstransfer
zwischen "anderen" und "westlichen" Kulturen – in beiden Richtungen – beitragen.
Mein Beitrag skizziert in drei Punkten, mit welchen epistemologischen und theoretischen
Vorbehalten, mit welchen empirisch-ethnographischen Forschungsdesigns und Ergebnissen
und mit welchen Ideen zu einer Neukonzeption des Problems die Sozial- und
Kulturanthropologie auf die Nachfrage nach disziplinärer Kompetenz im Forschungsfeld
"Patientenverfügungen und Entscheidungsprozesse am Ende des Lebens“ in den letzten
Jahren reagiert hat.
In einem ersten Punkt erläutere ich, warum das Fach auf die Nachfrage nach Auskünften über
"kulturelle Differenz" oder das „kulturspezifische“ Verhalten bestimmter Gruppen in
International und vor allem im englischen Sprachraum ist die Bezeichnung „Sozial- und Kulturanthropologie“
üblich. Im deutschen Sprachraum wird auch der Name „Ethnologie“ noch häufig verwendet, sowohl in einer
Fokussierung auf europäische wie auf außereuropäische Kulturen. Älteren Datums sind die Bezeichnungen
„Volkskunde“ (für eine empirische Alltagsforschung in der eigenen Kultur, die vor allem die Lebensweisen der
„Vielen“ und der unteren Schichten oder Klassen beschreibt) und „Völkerkunde“ (für die empirische
Alltagsforschung überwiegend zu außereuropäischen und schriftlosen Kulturen). Die in den deutschsprachigen
Ländern immer noch existierende institutionelle Trennung von „europäischer“ und „außereuropäischer“
Ethnologie ist in anderen Ländern unüblich. In diesem Artikel verwende ich die Bezeichnungen „Sozial- und
Kulturanthropologie“ und „Ethnologie“ synonym.
1
2
biomedizinischen Situationen in den letzten Jahren immer kritischer, um nicht zu sagen:
murrend und überdrüssig reagiert. Die Sozial- und Kulturanthropologie führt einen
regelrechten Abwehrkampf gegen naive, utilitaristische und reduktionistische Kulturkonzepte,
gegen Vorstellungen von Kultur als etwas, das im Inneren einer Gemeinschaft oder
Gesellschaft, einer ethnischen oder religiösen Gruppe permanent verwurzelt ist und das die
Entscheidungen von Menschen kausal determiniert. Das zeitgenössische Kulturkonzept, mit
dem die Sozial- und Kulturanthropologie heute arbeitet, reflektiert die komplexen
Orientierungen von Menschen unter Globalisierungsbedingungen und begreift Kultur immer
als eine dynamische, relationale Konstellation. Es eignet sich, so mein Argument, kaum, um
dem legitimen Wunsch nach Handlungsanleitungen für den Umgang mit kultureller Pluralität
im medizinischen Bereich auf einfache Art und Weise zu entsprechen.
In einem zweiten Punkt fasse ich ergebnisorientiert zusammen, was zeitintensive,
ethnographisch-sozialanthropologische Forschung mit ihren die Relevanzen der Akteure
privilegierenden empirischen Methoden bislang zum Umgang sehr heterogener Gruppen von
Menschen mit Patientenverfügungen in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Hospizen,
erforscht hat. Die ethnographischen Beiträge machen Vorstellungen von der "Kulturspezifik",
aber auch von der „autonomen Entscheidbarkeit“ und noch genereller: der Planbarkeit der
Prozesse am Ende des Lebens auf den Tod hin zu eher komplexer als einfacher. Sie
demonstrieren, dass es ganz bestimmte, sozial verortete Erfahrungen und Interessen sind, die
sich in den verallgemeinerten bioethischen Idealvorstellungen selbstbestimmten Sterbens in
Patientenverfügungen manifestieren. Und sie beschreiben eindringlich strukturelle
Ambivalenzen, sich verändernde Temporalitäten und unabsehbare Wendungen, die sich im
Verlauf des Sterbens in den Interaktionsgeflechten zwischen Patienten, medizinischem
Fachpersonal, Angehörigen, Behandlungsformen und Pharmazeutika und in der
Auseinandersetzung mit Makro-Einflüssen, beispielsweise der zunehmenden Ökonomisierung
von Krankheit und Tod, herausbilden.
In meinem dritten Punkt skizziere ich ein theoretisches Angebot zur Rekonzeptualisierung
von Entscheidungsfähigkeit in biomedizinischen Settings am Lebensende, das eine einfache
Gleichsetzung von Wissen, Subjektivität und Bewusstsein mit Handlungs- und
Entscheidungsfähigkeit hinterfragt und die Dichotomie von „individualistischen“ in
Abgrenzung zu „kollektivistischen“ Autonomiekonzepten unterläuft. Es betont vielmehr die
Interaktivität und unvermeidbare Kontextabhängigkeit von agency und weitet die Perspektive
auch auf medizinische Infrastrukturen, Technologien und Materialitäten aus. Das
Kulturkonzept ist hier nicht von primärer Bedeutung. Auf diese Weise wird "jenseits von
Kultur" noch einmal anders und neu untersuchbar, was eine Patientenverfügung in
pluralisierten Gesundheitssystemen eigentlich „macht“ und bewirkt.
3
1. Von Kultur als Programm zu Kultur als Problem
Bislang ist es der Sozial- und Kulturanthropologie und der Europäischen Ethnologie kaum
gelungen, ihre analytischen Konzepte, ihre methodischen Zugänge und ihr fachspezifisches
Reflexionsuniversum für aktuelle Bioethikdiskussionen im Bereich der Medizin relevant zu
machen. Diese Aussage gilt ganz besonders für den deutschsprachigen Wissenschaftsraum. In
der Schweiz, Deutschland und Österreich zählt die Ethnologie zu den "kleinen Fächern", ihr
Theorie bildendes und Themen setzendes Vermögen spielt im Vergleich zu prominenteren
Sozial- und Kulturwissenschaften nur eine untergeordnete Rolle. Eine eigenständige
ethnologische Medizin- und Bioethikforschung wird entsprechend der schmalen
institutionellen Gesamtsituation nur an wenigen Universitäten und Forschungseinrichtungen
im deutschsprachigen Raum betrieben.2
In der internationalen Sozial- und Kulturanthropologie, besonders im englisch- und
französischsprachigen Wissenschaftsraum, ist die Situation anders. Hier zählen Sozial- und
Kulturanthropologie vielerorts zu den breit ausgebauten Grundlagenfächern; die
kulturvergleichende Medizinanthropologie und die Sozialanthropologie der Biomedizin und
der Bioethik sind seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts systematisch entwickelt und
breit institutionalisiert worden.3 Die längst kulturelle und nationale Grenzen überschreitende,
transnationale Bioethik wird hier als Parallelphänomen von Biomedizin und
biotechnologischer Expansion analysiert, als Teil eines Prozesses, in dem das Normale und
das Pathologische als ethische Dimensionen artikuliert und Interventionen am Beginn und
Ende des Lebens problematisiert werden, als „Raum konkreter Probleme, Gefahren und
Hoffnungen, die gleichermaßen aktuell wie emergent und virtuell“ sind [26, S. 53].
In der Öffentlichkeit und in den Nachbarwissenschaften wird die Sozial- und
Kulturanthropologie primär als diejenige Disziplin wahrgenommen, die für die Erforschung
des "Exotischen" der kulturellen Vielfalt Europas zuständig ist. Medizin und Bioethik
erwarten von der Ethnologie Expertise für den Umgang mit kultureller Diversität.
Entsprechend dem hohen Handlungsdruck in klinischen Settings werden möglichst klare
Modelle für eine "kultursensible medizinische Praxis" erhofft, vielleicht sogar Checklisten
über kulturspezifische Krankheitsvorstellungen und "kulturbedingte" Einstellungen gegenüber
2
Am Max-Planck-Institut für Sozialanthropologie in Halle arbeitet seit 2006 eine Forschergruppe zu Medizin,
Wissenschaft und Technik in Afrika. An der Universität Basel, der Freien Universität Berlin und der Universität
Heidelberg haben sich kleinere Zentren für Medizinanthropologie etablieren können; Arbeitsgruppen innerhalb
der ethnologischen Fachverbände ermöglichen die überregionale Zusammenarbeit. An der Humboldt-Universität
zu Berlin fördert das "ColLaboratory Social Anthropology and Life Sciences" interdisziplinäre Zusammenarbeit
an der Schnittstelle von Sozial- und Kulturanthropologie und interdisziplinärer Wissenschafts- und
Technikforschung.
3
Zu den einflussreichen Vertreterinnen und Vertretern sozial- und kulturanthropologischer Medizin- und
Wissenschaftsforschung zählen in Kanada u.a. Margaret Lock und Allan Young; in den USA Lawrence Cohen,
Paul Farmer, Marcia Inhorn, Arthur Kleinman, Emily Martin und Paul Rabinow; in Frankreich Didier Fassin und
in Großbritannien Sarah Franklin und Cecil Helman
4
dem Gesundheitssystem. Dass das Fach auf diese Nachfrage grosso modo nicht wirklich aktiv
reagiert, hat vor allem zwei Ursachen.
Zum einen lokalisiert die Ethnologie ihre disziplinäre und kognitive Identität nicht mehr –
oder jedenfalls nicht mehr exklusiv – in einer Zuständigkeit für "fremde" Kulturen. Für den
größten Teil des Zwanzigsten Jahrhunders war dies die konventionelle Selbstbeschreibung
des Faches. Unter dem Signum intensivierter Globalisierung ist die strikte Trennung von
eigener und fremder Kultur jedoch zunehmend problematissch geworden. Gegenwärtig sehen
sich Ethnologinnen und Ethnologen eher als Philosophen des Alltags und Analytiker des
Common Sense [12, Vorwort S. x Seitenzahl?] unabhängig von jedweder regionalen
Eingrenzung. Der rigide Isomorphismus von Raum, Sprache und kultureller Identität, die
Annahme also, dass ein bewohntes Gebiet, eine gesprochene Sprache und geteilte
Wertvorstellungen und Orientierungsmodelle im Regelfall deckungsgleich sind, hat sich als
viel zu simples Modell erwiesen, um kulturelle Dynamiken und
Verflechtungszusammenhänge in Gegenwartsgesellschaften angemessen zu theoretisieren.
Entsprechend definiert die britische Sozialanthropologin Marilyn Strathern kontemporäre
ethnologische Kompetenz als das Vermögen, gleichzeitig die kulturspezifischen Herkünfte
der eigenen, auch wissenschaftlichen und bioethischen, Konzepte zu rekonstruieren und ihre
interkulturelle Anwendbarkeit zu demonstrieren [28, S. 293]. Hier wird eine sehr feine Linie
bestimmt – und gleichzeitig eine radikale Mittlerposition eingenommen – zwischen den sonst
so häufig dichotom konzipierten Polen „Universalismus“ und „Partikularismus". Nicht nur ist
das Fremde niemals nur fremd; vor allem erfordert auch das Eigene Selbstaufklärung. Typisch
für die gegenwärtige Haltung der Ethnologie ist deshalb ein „eingeschränkter und engagierter
Relativismus“ [14, S. 64], der Gemeinsamkeiten aller Menschen und Kulturen als konstitutiv
für seinen wissenschaftlichen Handlungshorizont begreift, diese jedoch nicht voraussetzt,
sondern als Ergebnis von Kommunikation und Interaktion, als negotiated universals [20] oder
Dimensionen eines "gemeinsamen Fonds" [19] erwartet.
Zum anderen hat sich die ethnologische Arbeit mit dem Konzept "Kultur" weit von dem
entfernt, was in der Öffentlichkeit, in Mediendiskursen und gesellschaftlichen
Deutungsdebatten unter Kultur verstanden wird. Mit festen, unveränderlichen
"Eigenschaften", die Personen als "Kulturmerkmale" qua Sozialisation scheinbar lebenslang
innewohnen, individuelles Verhalten determinieren und allen oder den meisten Mitgliedern
einer Gruppe gemein sind, hat Kultur aus der Perspektive der Ethnologie heute weniger denn
je zu tun. In aktuellen Theoriedebatten des Faches wird Kultur unhintergehbar als prozessual
und beweglich konzipiert. Kultur gilt als Ressource oder Wissensform, die individuelles
Handeln nicht kausal bestimmt, sondern die von Akteuren stets aktiv und reflexiv angeeignet
wird. Als Serie von Kommunikations-, Interaktions- und Distinktionsakten stellt sie ein
relationales und unabgeschlossenes Phänomen dar, ist gleichermaßen Produkt wie Modus von
5
Begegnungen. Kultur ist in ihrem Kern und nicht nur an ihren Peripherien heterogen,
konfliktreich und umstritten und als Ergebnis von Austauschprozessen, Beziehungen und
Verflechtungen immer hybride, niemals rein.
Ein solcher Zugang steht in eklatantem Widerspruch zu statischen, homogenisierenden und
verdinglichenden Konzepten von Kultur. Er versteht sich als Warnzeichen vor der Gefahr,
durch verallgemeinerte, kulturelle Differenzbehauptungen neue wie alte Stereotype zu
(re)produzieren. Diese Gefahr existiert auch im Medizin- und Gesundheitssystem, wenn
"Kultur" nicht als Chance für neue Reflektionsformen über das Verhältnis von Medizin und
Gesellschaft verstanden sondern möglichst reibungslos in bereits existierende Konzepte und
Forschungsprogramme eingemeindet wird, als sei Kultur ein zusätzlicher Bedingungsfaktor
analog etwa zu Bluthochdruck und anderen Risiken. Ernüchtert resümiert die amerikanische
Medizinanthropologin Susan DiGiacomo: "Bioscientific uses of the concept of culture have
led, disappointingly, to its reification as ‚belief’ and its incorporation into the naturalistic
epistemology of Western institutional medicine. The unfortunate consequence is the
medicalization of culture understood as ‘difference’ which often stands in for social class" [7,
S. 354].
Symmetrische Forschungsdesigns und die Fallstricke "kultureller Differenz"
Wenn Kultur Form und Folge sozialen Austauschs ist, wenn sie überhaupt erst in und aus
Interaktion entsteht und ausschließlich relational gedacht werden kann, dann hat das
selbstverständlich auch Konsequenzen für die Forschungsstrategien, mit denen die Sozialund Kulturanthropologie biomedizinische Situationen in kulturell und sozial heterogenen
Gesellschaften untersucht.4
Aus der Interaktivität und Relationalität von Kultur leitet sich zum einen ab, dass
ethnologische Forschungsdesigns in der Regel symmetrisch (vgl. ausführlich [5] und [19])
aufgebaut sind und alle signifikanten Verflechtungen und Beziehungen in einer zu
erforschenden Situation zu berücksichtigen versuchen. Kultur wird also nicht lediglich auf
einer Seite der Interaktion lokalisiert, etwa als persönliche Geschichte, biographischer
Hintergrund und wahrnehmbare "Andersheit" von Patientinnen und Patienten im
Gesundheitssystem. Kultur wird auch auf der Seite der medizinischen Professionen und
Kliniken verortet, im Herzen von Naturwissenschaften, Bioethik und Biomedizin selbst
[1995, S.59]. Die scheinbar transpositionale Objektivität von Bioethik und Biomedizin soll
Sofern solche Studien kontroverse medizinische Interventionen adressieren – Konzepte und Praxen von
Gehirntod in verschiedenen Gesellschaften (vgl. ausführlich [21]), die Grenzen des biotechnischen Imperatives
im Falle lebensbedrohender Krankheiten (beispielsweise [25]), das soziale Leben prädiktiven genetischen
Wissens [17], usw. – sind sie implizit oder explizit immer auch Studien über den bioethischen Umgang mit
Krankheit, Gesundheit und medizinischer Praxis..
4
6
durch eine Beschreibung positionierter und heterogener Perspektiven im sozialen Raum der
Medizin und der Gesundheitssystem ersetzt werden [14, S. 55]. Diese doppelte oder sogar
multiple Optik kann sicher nicht in jedem einzelnen Forschungsprojekt in voller empirischer
Breite realisiert werden; sie kennzeichnet aber die ethnologische Grundhaltung im
Forschungsfeld und orientiert die Forschungsdesigns auch da, wo ihr empirischer Fokus
thematisch eingeschränkt werden muss.
Die zweite analytische Forderung für die Konstruktion ethnographischer Forschungsdesigns,
die sich aus einem offenen, beweglichen, relationalen und unvermeidlich hybriden
Kulturbegriff ableitet, zielt auf die Problematisierung des Common-Sense-Verständnisses von
"kultureller Differenz". Hier ist die Beziehungshaftigkeit der Sache, um die es geht, ja bereits
in der Begrifflichkeit selbst expliziert: Denn different kann etwas nur in Bezug auf etwas
anderes sein. Niemand ist aus sich selbst heraus "fremd"; das "kulturell Differente" ist immer
ein Phänomen der Konstellation und der Relation, der Abgrenzung und des Vergleichs, der
Perspektive und der Deutungsmacht. Dennoch wird kulturelle Differenz immer wieder auch
so verhandelt, als entstünde sie vor aller Interaktion als ein Konglomerat von Normen und
Werten, das manche Menschen wie ein festgewachsenes Gepäckstück zeitlebens mit sich
herumschleppten. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede, habituelle Prägungen,
milieuspezifische Alltagsroutinen, sozial und kulturell gelernte Umgangsweisen mit
Krankheit und Körperlichkeit, Sterben und Tod. Je selbstverständlicher diese erscheinen,
desto effektiver sind sie häufig in der Mitgestaltung sozialer Situationen. Zu zeigen – und
nicht vorempirisch vorauszusetzen – wäre jedoch, wie kulturelle Kosmologien und Haltungen
von sozialen Akteuren in eine Situation eingebracht werden; wie kulturelle Deutungshorizonte
von aktiven und reflexiven Subjekten eingesetzt werden und gleichzeitig Verhaltensweisen,
Deutungsmuster und Subjektpositionen strukturieren. Welche Rolle beispielsweise
Orientierungen und Deutungsmuster der Herkunftskultur spielen, wenn Migrantinnen oder
Migranten in Beziehung mit den Gesundheitssystemen ihrer Einwanderungsgesellschaften
treten, ist eine theoretisch wie empirisch grundsätzlich offene Frage. Es gilt zu untersuchen,
ob vor dem Hintergrund bisheriger Migrationserfahrungen und langfristig transnationaler
Lebensformen in einer medizinischen Krisensituation Kenntnisse und Einsichten aus den
Herkunftskulturen interaktiv akzentuiert, zugespitzt und radikalisiert werden oder ob diese
ganz im Gegenteil partiell oder gänzlich ihre Relevanz verlieren und ganz anderen
Orientierungen Platz machen. Auskunft hierzu können Untersuchungen geben, die die
interaktiven Qualitäten kultureller Deutungsmuster einzufangen, zu beschreiben und zu
theoretisieren in der Lage sind.
2. Sozial- und medizinanthropologische Forschungsbeiträge zur bioethischen Diskussion
über Patientenverfügungen
7
Ethnographen reden nicht nur mit den Menschen, deren Lebenswelten sie zu verstehen
suchen, sie beteiligen sich auch an ihrem Alltag und werden so Teil der sozialen Netze und
Austauschbeziehungen, die sie erforschen. Dieses methodische Vorgehen ist weit offen für
die Relevanzen der Untersuchten und die Dynamiken des Forschungsprozesses. Es
ermöglicht, auch unerwartete Zusammenhänge und Bezüge wahrzunehmen oder zu
"entdecken". Ethnographien zielen in der Regel nicht darauf ab, repräsentative Aussagen über
spezifische Bevölkerungsgruppen zu machen. Es geht vielmehr darum, die Vielschichtigkeit
und Komplexität eines Falles angemessen zu erforschen. Die Generalisierungen, die
ethnographische Fallstudien ermöglichen, beziehen sich deshalb immer nur auf ähnlich
gelagerte, vergleichbare Fälle. Ethnographische Forschung eignet sich darüber hinaus zur
genaueren Erforschung von Zusammenhängen, die durch andere Studien etabliert, aber noch
nicht sinnvoll erklärt werden konnten; zur Verbesserung unterkomplexer Forschungstheorien
und zur Exploration neuer Forschungsfelder.
Im Folgenden lege ich den ethnographischen Forschungsstand zum Umgang mit und zur
Bedeutung von Patientenverfügungen hinsichtlich zweier Fragen dar. Ich fasse erstens,
zusammen, welche Einsichten die Ethnographie aus der Perspektive von Patientinnen und
Patienten sowie ihren Angehörigen in tatsächliche Praxen des Umgangs mit
Patientenverfügungen ermöglicht . Ich skizziere, zweitens, Beobachtungen und Hinweise der
ethnographischen Forschung zu Patientenverfügung in multikulturellen klinischen Settings
und zu kultureller Diversität.
Sozialer Kontext und die soziale Positioniertheit von Patientenverfügungen
Der qualitative Forschungsstand zu Sterbeprozessen in Kliniken, Hospizen und Pflegeheimen
fällt insgesamt dünn aus (vgl. ausführlich [13]). Detaillierte ethnographische Studien zum
Umgang mit Patientenverfügungen liegen ausschließlich für englischsprachige
Länder (vgl. u.a. [8, 10, 11, 15, 16, 24, 27]), die Niederlande [29] und Japan (u.a. [21, 22,
23]) vor.5 Die publizierten ethnographischen Untersuchungen beleuchten vor allem die
immense Kontextabhängigkeit und soziale Relationalität von Entscheidungen im
Sterbeprozess. Sie zeigen, dass die Konstellationen und Gefüge, die in Sterbeprozesse
hineinspielen, weit über die face-to-face Beziehungen der direkt Beteiligten hinaus gehen und
auch Krankenkassen und Ärzteverbände, Ökonomien und Biopolitiken, verfügbare
Infrastrukturen und Pflegemöglichkeiten umfassen. Die "gleichschwebende Aufmerksamkeit“
der Ethnologin oder des Ethnologen arbeitet gegen eine selektive Hervorhebung der
Bedeutung von Patientenverfügungen und verschiebt den Blick auf Sterben und end-of-life
living als Prozess. Dadurch werden auch Fragen nach der Qualität der Pflege und des
5
Eine sehr aufschlussreiche ethnographisch-ethnologische Studie zu Sterbeprozessen als Lebensform und zu den
damit verbundenen Autonomievorstellungen und Kommunikationsmustern in einem deutschen Hospiz hat vor
kurzem Nicholas Eschenbruch (2007) vorgelegt; der Umgang mit Patientenverfügung wird hier jedoch nicht
behandelt.
8
gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit Sterben relevant. Ethnographische Forschung
unterstreicht die strukturellen Ambivalenzen und Diskontinuitäten von Entscheidungen im
Sterbeprozess und zwar auch dort, wo sehr genaue oder sogar optimale diagnostische und
prognostische Informationen vorhanden sind: Patientinnen, Patienten und ihre signifikanten
Anderen wissen oft auf eine sehr existentielle Art und Weise nicht, was sie wollen (vgl.
pointiert hierzu [1]), sie ändern ihre Entscheidungen in kurz- oder langfristigen Intervallen
(Beispiele in [8, 15], vgl. auch [3]) und lassen sich durch unvorhergesehene Wendungen und
Ereignisse in ihren Positionen irritieren oder erschüttern (vgl. ausführlich [29]).
Die ethnographischen Untersuchungen machen darüber hinaus deutlich, dass die Erwartungen
und Hoffnungen, die sich an die Nutzung von Patientenverfügungen knüpfen und die
impliziten wie expliziten Wertsetzungen, die in ihre Erstellung und Logik einfließen, sozial
und kulturell spezifische Positionen und Lebenserfahrungen markieren. Beispielhaft seien hier
die Arbeiten von Anne-Mei The et al (Ergebnisse in [29]) zu Sterbeprozessen von
Demenzkranken in niederländischen Pflegeheimen und die ethnographisch-interdisziplinären
Untersuchungen von Theresa Drought und Barbara König [8] in einer MedicAid Klinik in
Oakland, Kalifornien vorgestellt. Beide Untersuchungen problematisieren empirisch die
Autonomie von Entscheidungen in Sterbeprozessen, auch wenn klar formulierte
Patientenverfügungen vorliegen und individuelle Autonomie als hohes Gut sehr geschätzt
wird. Sie zeigen eindringlich:
1. Für Entscheidungen im Sterbeprozess ist eine hohe kommunikative und interaktive
Dichte kennzeichnend. Da, wo die Ärztinnen und Ärzte, orientiert am Patientenwillen,
diesen nicht sicher wahrnehmen können, erweisen sich Patientenverfügungen oft als
hilfreich. Die Ethnographien berichten aber auch davon, dass Patientenverfügungen
bisweilen keine ausreichende oder nicht die einzige Grundlage von Entscheidungen
bilden. Andere Elemente – ärztliches Ethos, die von Angehörigen und Pflegepersonal
wahrgenommene Lebensqualität und situative Intentionalität der Patienten – spielen
ebenfalls eine bedeutsame Rolle. In einer dichten Folge von Absprachen und
Abwägungen zwischen allen Beteiligten werden immer wieder auch Entscheidungen
getroffen, die den in einer Patientenverfügung geäußerten Wünschen nicht
entsprechen (können).
2. Patienten und ihre Angehörige nehmen häufig auch dort keine Wahlmöglichkeiten
wahr, wo diese ganz offenbar vorhanden sind, etwa in der Frage der Fortsetzung
bestimmter Behandlungsschemata. Die Gründe, die hiefür angegeben werden, sind
vielfältig: Wenn Krankheiten als unumkehrbar tödlich diagnostiziert wurden, scheint
die Unmöglichkeit, das Leben zu wählen, "Wahl" als Option generell zu entwerten.
Beschrieben werden auch Situationen, in denen das körperliche und emotionale
Erleben eine so imperative Dringlichkeit erhält, dass "Wahl" als Idee obsolet
erscheint. Patienten und Angehörige können sich auch so vollkommen auf die
9
Interpretation und Repräsentation der medizinischen Situation durch Ärztinnen und
Ärzte angewiesen fühlen, dass sie keine Wahlmöglichkeit wahrnehmen.
3. Vorstellungen von Patientenautonomie fächern sich in ein breites Spektrum
unterschiedlicher Ideen und Umgangsweisen auf. Die amerikanische
Kulturanthropologin Barbara König, die unter anderem auch mit Fallgeschichten
unterschiedlicher Patientinnen und Patienten arbeitet, porträtiert in einem dieser
Narrative einen 59-jährigen, weißen US-Amerikaner als paradigmatischen "idealen
Nutzer" von Patientenverfügungen [15].6 Es handelt sich um einen gut ausgebildeten,
berufstätigen Mann, der Zeit seines Lebens eine unabhängige Existenz jenseits
familiärer Strukturen bevorzugte und aus der Perspektive seiner medizinischen
Betreuer nach einer Krebsdiagnose bewundernswert, aber eben auch a-typisch,
"selbständig" und "rational" agiert, eine Patientenverfügung abfasst, seine zukünftige
Pflege und sein Begräbnis plant und eine Fortsetzung kaum Erfolg versprechender
Behandlungsmethoden von einem relativ frühen Zeitpunkt an konsistent ablehnt.
König zeigt aber auch, dass andere Patientinnen und Patienten einen anderen
Autonomiebegriff leben, etwa Entscheidungsprozesse innerhalb einer Gruppe der sie
Betreuenden bevorzugen. Die Ethnographien beschreiben ein breites Spektrum von
Reaktionen, mit denen Patienten den normativen Ideen von Autonomie, die mit
Patientenverfügungen verknüpft sind, begegnen. Die Verteilung dieser
unterschiedlichen Positionen im sozialen und kulturellen Raum lässt sich jedoch nicht
entlang eindeutiger "ethnischer", "kultureller" oder sozialer Gruppenzugehörigkeiten
nachzeichnen.
Patientenverfügungen in multikulturellen klinischen Feldern
Meinungsumfragen und sozialwissenschaftliche Untersuchungen kommen immer wieder zu
dem Ergebnis, dass Kultur oder Ethnizität einen relevanten Indikator zur Erklärung von
unterschiedlichen Meinungen über und Umgangsformen mit Patientenverfügungen darstellt.7
Quantitative Korrelationen der Art, dass Menschen mit Migrationshintergrund seltener als die
einheimische Bevölkerung Patientenverfügungen befürworten, können alleine jedoch meist
nicht erklären, welche Zusammenhänge für die gemessenen Differenzen verantwortlich sind.
Es bleibt offen, ob und inwieweit kulturelle Orientierungen oder Misstrauen gegenüber den
6
Für die USA liegen eine Reihe repräsentativer Untersuchungen vor, die statistisch hoch signifikant zeigen, dass
in erster Linie weiße Angehörige der Mittelschichten ab dem fünften Lebensjahrzehnt Patientenverfügungen als
Gestaltungsoption annehmen und ausfüllen (vgl. u. a. [8, 11]). Für Deutschland zeigen Meinungsumfragen eine
auffallende Kluft: Während eine Mehrheit der Bevölkerung Patientenverfügungen generell befürwortet hat nur
ein kleiner Teil eine solche Verfügung tatsächlich unterschrieben ([4]; im hier zitierten Gesundheitsmonitor lag
die allgemeine Zustimmungsquote bei über 60 Prozent, der Anteil der Befragten, die eine Patientenverfügung
unterschrieben hatten, bei 10 Prozent).
7
Ethnizität ist ein schillernder Begriff, der von unterschiedlichen Autoren, theoretischen Schulen und in diversen
öffentlichen Diskursen sehr verschieden eingesetzt wird. Gemeint ist in der Regel eine Identifikation mit oder
die Zugehörigkeit zu bestimmten Sprach-, Religions-, Regional- oder Herkunftsgruppen unterhalb der Ebene von
Staat und Nation. Für die empirisch-ethnographische Forschung besonders relevant sind die Unterscheidung von
Selbst- und Fremdzuschreibungen sowie die Anerkennung hybrider und heterogener Identifikationsmuster.
10
medizinischen Systemen, Erfahrungen von Diskriminierung, ökonomische Faktoren, Bildung,
stratifizierte Informationszugänge, Sprache oder andere Aspekte der sozialen Situation,
mehrere dieser Faktoren oder jede mögliche Mischung eine Rolle spielen (vgl. [11, S. 405]).
Am Beispiel einer Studie der amerikanischen Ethnologin Geyla Frank und ihrer
Forschungsgruppe [11] soll kurz erläutert werden, welche Einsichten ethnographische Studien
an dieser Stelle liefern können. Frank und ihr Team führten Mitte der 90er Jahre eine
multidisziplinäre, mehrjährige Studie zum Umgang mit Patientenverfügungen bei 800 über
65jährigen Amerikanerinnen und Amerikanern durch. Mit jeweils 200 Personen, die sich
selbst einer der vier Bevölkerungsgruppen "Euroamerikaner", "Afroamerikaner",
"koreanische Immigranten" oder "mexikanische Immigranten" zuordneten, wurden mündlich
Fragebogeninterviews durchgeführt. Die Auswertung ergab, dass 28 Prozent der
Euroamerikaner, aber nur 10 Prozent der Mexican Americans, zwei Prozent der
Afroamericans und keiner der in Korea geborenen Interviewpartner eine Patientenverfügung
(advance care directive) unterschrieben hatte.
Diese Zahlen wurden durch ethnographische Untersuchungen ergänzt und qualifiziert. Es
wurde Kontextwissen generiert, das die Situation der Interviewten in dichten Fallstudien
beschrieb und die erhobenen Interviewdaten in weitere Lebensumstände einbettete. So stellte
sich beispielsweise heraus, dass die meisten der erst vor kurzem eingewanderten
Koreanerinnen und Koreaner das Konzept der Patientenverfügung überhaupt nicht kannten.
Nahezu alle hatten sich jedoch bereits auf andere Art und Weise mit ihrer eigenen Endlichkeit
auseinandergesetzt. Sie waren Mitglieder in so genannten "Begräbnisgenossenschaften", das
sind von koreanischen Immigranten organisierte Gemeinschaften, die im Sterbefall Kredite
vergeben, gegenseitige Hilfe organisieren und die Hinterbliebenen absichern. So lange sie
nicht akut erkrankten und in direkten Kontakt mit dem US-amerikanischen
Gesundheitssystem kamen, waren Patientenverfügungen für diese Personengruppe einfach
kein Thema.
Auch hinsichtlich der Annahme einer "kultursensiblen" Bioethik, laut der beispielsweise
Koreanerinnen und Koreaner Entscheidungen in medizinischen Krisenfällen und in
Sterbeprozessen nicht im Rahmen einer auf das Individuum, sondern einer auf die Familie
ausgerichteten persönlichen Ethik treffen, ermöglicht die ethnographische Forschung
Einsichten (im Folgenden ein weiteres Beispiel aus[11]): Bei der Auswertung der
Fragebogenstudie waren die Antworten der 65-jährigen, vor 12 Jahren in die USA
eingewanderten Frau Kim als "widersprüchlich" und nicht verständlich markiert worden. Sie
hatte im Interview reanimierende und lebensverlängernde medizinische Interventionen stark
befürwortet, solche Maßnahmen für sich selbst jedoch gleichzeitig entschieden abgelehnt und
zudem angegeben, dass im "gegebenen" Moment ohnehin ihre Kinder, und nicht sie selbst,
11
über alle medizinischen Behandlungsformen entscheiden würden. "I am the one who is going
to die" gab Frau Kim zu Protokoll, "so I don't control the situation" [11, S. 404]. Frank und
ihre Kolleginnen und Kollegen arbeiteten zum einen heraus, dass Frau Kims Sterben als einen
körperlichen und zutiefst sozialen Prozess begreift, für den ein sukzessiver, sich fortsetzender
Verlust von Autonomie und Kontrolle konstitutiv ist. Alles, was mit Krankheit und Tod
verbunden ist, erscheint ihr keineswegs nur für sich selbst relevant, sondern auch für ihre
Verwandten, insbesondere ihre Kinder. Sollten sich diese beispielsweise noch nicht
ausreichend von ihr verabschiedet haben, so wäre es ihrer Meinung nach gerechtfertigt, wenn
sie sich zusammen mit den Ärzten für lebensverlängernde Maßnahmen entscheiden, auch
wenn Frau Kim selbst ein schnelles Ende lieber wäre.
Was lässt sich auf der Basis einer solch singulären ethnographischen Vignette folgern oder
erklären? Dass soziale, familiäre Beziehungen für Frau Kim wichtiger sind als ihre eigenen,
individuellen Meinungen und Wünsche? Eine solch dichotome Lesart scheint hier nicht
wirklich zu greifen. Eher sprechen die Aussagen von Frau Kim dafür, dass Sterben in ihrer
Sicht ein Prozess ist, in dem sich der Körper und die sozialen Beziehungen einer Person
sowohl verändern als auch identisch bleiben, dass es ein Kontinuum gibt. Hier von einem
"relationalen Verständnis von Autonomie" in Abgrenzung zu einem "individualistischen
Autonomiekonzept" zu sprechen, halte ich für irreführend. Zu groß erscheint die Gefahr,
durch diese Begrifflichkeit einen Gegensatz zu konstruieren, der aus Frau Kims Perspektive
nur bedingt relevant ist. Zudem würde hier eine Differenz zwischen koreanischen und anderen
Amerikanerinnen und Amerikanern konstruiert, die in Zeiten zunehmender Hybridisierung
und Heterogenisierung auch von Diasporagemeinden nicht gerechtfertigt erscheint.
3. Jenseits von Kultur: Eine alternative Untersuchungsperspektive
Die wenigen ethnographischen Beispiele, die ich hier anführen kann, deuten aus einer
empirischen Perspektive einige Probleme differenztheoretischer Kulturkonzepte an, auf die
ich im ersten Teil dieses Beitrages bereits aus theoretischen Überlegungen heraus
aufmerksam gemacht hatte. Statt die Berücksichtigung "kultureller Besonderheiten" in
medizinischen und bioethischen Programmen zu fordern, formieren sich innerhalb der
Ethnologie deswegen gegenwärtig Stimmen, die die Erklärung von Diversität und Differenz
unter Globalisierungsbedingungen jenseits kultureller Deutungsmuster vorschlagen. Ein
theoretischer Zugang über Wissenspraktiken (vgl. [2]) und Wissenswege erlaubt
möglicherweise genauere Rekonstruktionen individueller Positionen von Akteuren im
medizinischen Feld, als es der Kulturbegriff noch vermag. Der Wissensbegriff suggeriert
weniger Totalität, Homogenität und Kohärenz, als der Kulturbegriff. Mit einem Fokus auf
Wissenspraktiken lassen sich die täglich neu entstehenden bricolagen des Wissens, die aus
diversen Quellen zusammengebastelten Orientierungsmodelle von Menschen, gut
beschreiben. Diversität wird hier nicht einseitig aus der kulturellen und sozialen Herkunft
eines Menschen erklärt, sondern auch als Effekt stratifizierter Zugänge zu Wissen,
12
Information, Bildung, als auszuhandelnde Größe und als kontextabhängiges Phänomen.
Unterschiedlichkeit wird dadurch zu einer weniger kategorischen als graduellen Dimension.
Vor allem aber geht es der Ethnographie um ein Verständnis der Interaktionen in
biomedizinischen Settings, um das Anliegen, auch solche Dynamiken und Entwicklungen
nachzuzeichnen, die nicht allein von den Einstellungen und Haltungen der beteiligten Akteure
geprägt sind, um den Versuch, auch Relationalität und Autonomie als Effekte von Interaktion
zu fassen. Eine wichtige methodische Frage hierzu lautet: Wenn ich erklären möchte, was für
eine Rolle eine vorhandene oder eben nicht-vorhandene Patientenverfügung im komplexen,
von strukturellen Ambivalenzen gekennzeichneten Sterbeprozess unter Bedingungen der
High-Tech-Medizin oder moderner Pflege spielt, reicht es da, die Intentionen und Meinungen
der Beteiligten zu kennen? Die theoretisch-analytische Frage zu diesem Anliegen lautet: Wie
kann ich die Herausbildung von Handlungsfähigkeit und Bedeutungsgebung in Kontexten
analysieren, in denen unterschiedliche Akteure (Patienten, Angehörige, Pflegende, Ärzte,
Krankenkassen, Gesundheitspolitiker, Patientenselbsthilfegruppen), Infrastrukturen,
Technologien und Regularien zusammenwirken, und zwar so, dass jenseits und neben der
Gemengelage von Intentionen, Interessen und Wünschen eine Interaktionsdynamik entsteht,
die selbst Handlungsfähigkeit bestimmt?
Der französische Wissenschaftsforscher Michel Callon [6] hat zur Analyse von Situationen, in
denen Akteure, Technologien und Infrastrukturen sich gegenseitig in Dienst nehmen und
verändern, den Begriff des agencement vorgeschlagen. Er verschmilzt darin den Begriff der
Ordnung oder des "Arrangements" mit dem des "Agenten/Akteurs", um bezeichnen zu
können, dass Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit sich aus der situativen Interaktion aller
beteiligten Elemente entwickelt und nicht exklusiv oder allein in einzelnen menschlichen
Akteuren verankert ist. Eine solche Konzeption würde tendenziell die harte Unterscheidung
zwischen "individuellen" und "relationalen" Autonomievorstellungen unterlaufen.
Verschiedene Autonomiebegriffe, so wäre die Argumentation, existieren, eher in Abstufungen
und Mischungsverhältnissen als in klar geschiedenen Formen. Alle müssen sozial verhandelt
und anerkannt werden, um sozial wirksam zu werden. Ihre Realisierung ist von komplexen
Interaktionen und Zusammenhängen abhängig, von menschlichen wie nichtmenschlichen
Akteuren und Infrastrukturen, und nicht allein von Intentionalität, Bewusstsein und Wissen.
Patientenverfügungen wären diesem Argument zu Folge ein wichtiges Medium, um den
Willen einer Person zu einem bestimmten Moment zu klären, und – in fixierter Form – zu
vertreten, auch dann, wenn die Person selbst nicht mehr kommunikationsfähig ist. Sie würden
aber in ihrem Potential zur Klärung komplexer und schwieriger Entscheidungsprozesse am
Lebensende nicht überschätzt. Sterben geriete als strukturell ambivalenter, von
widerstrebenden Impulsen, Kontinuitäten und Veränderungen strukturierter, sozialer wie
körperlicher Prozess in den Blick, in dem menschliche Akteuren, pharmazeutische Stoffe,
13
medizinische Technologien, eine Vielzahl ökonomischer, pragmatischer, kultureller und
sozialer Logiken, institutionelle Infrastrukturen und eine sich verschlechternde Körperlichkeit
zusammenwirken. Neben der Frage nach einer Patientenverfügung wäre vor allem auch über
die Ressourcen nachzusinnen, die in diesen Prozess eingehen, die er benötigt: Zeit, Menschen,
medizinische Möglichkeiten und Hilfen, Prozessverständnis, Berührungen, Töne, Gerüche,
Sprache und Aufmerksamkeit.
Literatur:
1
Aronowitz, RA, Asch, DA (1998) Cursing the darkness. Are there limits to end-of-life
research? Journal of General Internal Medicine 13: 495–496
2
Barth, F (2002) An anthropology of knowledge. Current Anthropology 43 (1):1–18
3
Bateson, MC (2000) Sechs Tage Sterben. Systhema 14: 293–301
4
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2005) Pressemitteilung: „Studie: Deutsche Bevölkerung
befürwortet Patientenverfügung. Online verfügbar unter http:/idwonline.de/pages/de/news?print=1&id=105804. Gütersloh
5
Bourdieu, P, Wacquant LJD (1996) Reflexive Anthropologie. Suhrkamp: Frankfurt am
Main
6
Callon, M (2005) Why virtualism paves the way to political impotence. A reply to
Daniel Miller`s critique of “The Laws of the Markets.” Economic Sociology, European
Electronic Newsletter 6 (2), <http://econsoc.mpifg.de/archive/esfeb05.pdf> (Accessed
12.12.2007)
7
DiGiacomo, SM (1999) Can there be a cultural epidemiology? Medical Anthropology
Quarterly 13: 436–457
8
Drought, TS, König, BA (2002) “Choice” in the end-of-life decision making:
Researching fact or fiction? The Gerontologist 24, Sonderausgabe III: 114–128
9
Eschenbruch, N (2007) Nursing Stories. Life and Death in a German Hospice.
Berghahn, New York, Oxford
10
Frank, G, Blackhall, LJ, Murphy, ST, Michel, V, Azen, SP, Preloran, HM, Browner,
CH (2002) Maintaining hope yet anticipating death: Disclosure preferences and narrative
practices among elderly Mexican Americans in Los Angeles. Cambridge Quarterly of Health
Care Ethics 11: 117–126
11
Frank, G, Blackhall, LJ, Michel, V, Murphy, ST, Azen, SP, Park, K (1998) A
discourse of relationships in bioethics: Patient autonomy and end-of-life decision making
among elderly Korean Americans. Medical Anthropology 12: 403–423
14
12
Herzfeld, M (2001) Anthropology. Theoretical Practice in Culture and Society.
Blackwell Publishers, Malden
13
Jones, K (2005): Diversities in approach to end-of-life: A view from Britain of the
qualitative literature. Journal of Research in Nursing 10: 431–454
14
Kleinman, A (1995) Writing at the Margin: Discourse between Anthropology and
Medicine. University of California Press, Berkeley
15
Koenig, B (1997) Cultural diversity in decision-making about care at the end of life.
In: Field, MJ, Cassel, CK (Hrsg) Approaching Death. Improving Care at the End of Life.
Institute of Medicine, National Academy Press, Washington, S 363–382
16
Koenig, B, Hern Jr, HR, Marshall, PA (1998) The difference that culture can make in
end of life decision-making. Cambridge Quarterly of Health Care Ethics 71: 27–40
17
Konrad, M (2005): Narrating the New Predictive Genetics Ethics, Ethnography and
Science. Cambridge University Press, Cambridge
18
Latour, B (1998) Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen
Anthropologie. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main
19
Latour, B, Jullien, F (2008) Das neue Gemeinsame. Andersheit, Ungedachtes und
Universalisierendes in den Kulturen. Lettre International 80: 63-66
20
Lepenies, W (Hrsg) Entangled Histories and Negotiated Universals. Center and
Peripherie in a Changing World. Campus, Frankfurt am Main
21
Lock, M (2001) Twice Dead: Organ Transplantation and the Reinvention of Death.
University of California Press, Berkeley
22
Long Orpett, S (2005) Final Days. Japanese Culture and Choice at the End of Life.
University of Hawai'i Press, Honulu
23
Long Orpett, S (2004) Cultural scripts for a good death in Japan and the United States:
Similarities and differences. Social Science and Medicine 58: 913–928
24
Marshall, PA, BA König, DB Barnes, AJ Davis (1998) Multiculturalism, bioethics,
and end-of-life care: Case narratives of Latino care patients. In: Thomasma, DC, Monagle, JF
(Hrsg) Health Care Ethics. Issues for the 21st Century. Aspen, Gaisthersburg, Maryland, S
421–431
25
Nelson, RM (2000) The ventilator/baby as cyborg. A case study in technology and
medical ethics. In: Brodwin, PE (Hrsg) Bioetechnology and Culture. Bodies, Anxieties,
Ethics. Indiana University Press, Bloomington, Indianapolis, S 209–223
26
Rabinow, P (2004) Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und
Lebensführung. Herausgegeben und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp,
Frankfurt am Main
15
27
Slomka, J (1992) Negotiation of death: Clinical decision making at the end of life.
Social Science and Medicine 35: 251–259
28
Strathern, M (1997) Partners and consumers: Making relations visible. In: Schrift, AD
(Hrsg) The Logic of the Gift. Toward an Ethic of Generosity. Routledge, New York, London,
S 292-–311
29
The, AM, Pasman, R, Onwuteaka-Philipsen, B, Ribbe, M, van der Wal, G (2002)
Withholding the artificial administration of fluids and food from elderly patients with
dementia: An ethnographic study. In: BMJ, Dec. 7; 325 (7376): 1326
16
Herunterladen