bulletin - Bundesregierung

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BULLETIN
DER
BUNDESREGIERUNG
Nr. 15-1 vom 9. März 2000
Rede von Bundespräsident Johannes Rau
auf der Jubiläumstagung der Hanns-Lilje-Stiftung
am 3. März 2000 in der Evangelischen Akademie Loccum:
I.
Wie gern würde ich von Hanns Lilje erzählen, von den Begegnungen, die ich mit ihm
gehabt
habe
seit
den
40er
Jahren.
Erzählen
von
diesem
weltläufigen,
hochgebildeten, sprachgewaltigen Mann, den ich auch hier in Loccum oft erlebt
habe, der die Breite und die Tiefe des gesellschaftlichen und des kulturellen Lebens
wie kaum ein anderer erfasste. Wie gern würde man Hanns Lilje in diesem Jahr über
Johann Sebastian Bach reden hören, über den er geschrieben hat, und wie gern
würde man würdigen, was er für diese Akademie bedeutet hat, für das Luthertum, für
den Protestantismus in Deutschland. Aber das alles ist nicht das, was Sie mir
aufgegeben haben zu sagen, sondern ich soll etwas sagen über das Gespräch
zwischen Politik und Kirche, zwischen Politik und Theologie, ich soll etwas sagen
über die Kirche im pluralen und globalen Dialog. Das ist das Thema dieser Tagung.
Es entspricht ganz, wenn ich es richtig sehe, dem Wirken Hanns Liljes.
II.
Ihm ging es darum, die Ökumene, das christliche Handeln, in weltweiter
Verantwortung zu sehen. Wir reden darüber heute, am Weltgebetstag der Frauen, an
einem Tag, an dem Christen in aller Welt durch gleiche Hoffnungen und Sorgen
verbunden sind. Die Worte mit denen heute in vielen Kirchen um Frieden gebetet
wird, stammen von Frauen aus Indonesien und aus Timor.
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Um welchen Frieden geht es? Wenn wir an Timor denken, dann ist es keine Frage,
es geht zuerst um die elementarste Form von Frieden, um Schutz und Sicherheit vor
der Gefährdung von Leib und Leben. Das gilt auch für jene Regionen in Indonesien,
in denen es in den letzten Wochen blutige Auseinandersetzungen gegeben hat. Wer
sich ein wenig auskennt, der weiß, es sind religiöse Unterschiede, verschiedene
Glaubensüberzeugungen, die genutzt werden, um zu Hass und Zerstörung
aufzustacheln. Freilich kann der Hinweis auf religiöse Verschiedenheit uns nicht
befriedigen, wenn man die Ursachen dieser Auseinandersetzungen wirklich
verstehen will, denn Generationen lang haben Christen und Muslime im
indonesischen Archipel friedlich miteinander gelebt. Woher kommt diese plötzliche
Eruption in Südostasien oder auch in Zentral- und Westafrika? Jeder Konflikt hat
vielfältige Ursachen! Friede wird auf unterschiedlichste Weise gefährdet.
Mancher Konflikt, und wir müssen nicht Irland übersehen, ist religiös oder ethnisch
motiviert, jedenfalls vordergründig. Sehen wir genauer hin, stellen wir fest, es gibt
auch soziale und es gibt wirtschaftliche Hintergründe. Die Welt lebt in einer
zunehmenden Verflechtung der wirtschaftlichen Abläufe – das kann Krisen
verschärfen, das kann sie beschleunigen. Und gerade in Südostasien haben die
Menschen erst vor wenigen Monaten erleben müssen, welch dramatische Wirkungen
das haben kann. Innerhalb von Wochen ist in mehreren Ländern Wohlstand
vernichtet worden, der über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut worden war. Unter
anderem auch deshalb, weil es keine gleichmäßige Verteilung dieses Wohlstands
gab, weil es eine kleine Gruppe gab, die die Mehrheit des Kapitals in ihren Händen
und unter ihrer Kontrolle hielt. So ist auf ganz neue Art die Existenz des Einzelnen in
die Abhängigkeit wirtschaftlicher Abläufe hineingeraten, die der Einzelne nicht
beeinflussen kann. Aber nicht nur die materiellen Lebensgrundlagen sind gefährdet,
sondern auch die geistigen. Den Gesetzen des schrankenlosen, des globalisierten
Marktes ist die elementare Erfahrung fremd, dass der Mensch auf Bindungen
angewiesen ist.
III.
Wir werden freilich die Herausforderungen der Globalisierung nicht meistern, wenn
wir uns einigeln, wenn wir den Kopf in den Sand stecken, wenn wir die
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unbestreitbaren Vorteile weltwirtschaftlicher Zusammenarbeit ignorieren würden. Es
gibt
entsprechende
Versuche.
Aber
alle
nationalen
–
oft
genug
auch
nationalistischen – Alleingänge führen in die Sackgasse.
In vielen Ländern sind es gerade Religionsgemeinschaften, die die vermeintliche
Überlegenheit isolierter Lösungen propagieren. Aus dieser Ausgrenzung und
Abgrenzung ergeben sich neue Gefahren. Ich glaube, dass hier die christlichen
Kirchen gefordert sind. Sie müssen im weltweiten interreligiösen Dialog dafür
werben,
dass
wir
nicht
mehr
das
Trennende
betonen,
sondern
nach
Gemeinsamkeiten suchen. Das ist ein schwieriger Prozess. Das ist ein Prozess, der
Umdenken fordert, der neues Nachdenken etwa über den Begriff der Mission oder
der missionarischen Kirche nötig macht. Aber mir scheint es im Augenblick dringend
nötig, dass wir die Globalisierung nicht zum Schreckgespenst oder zum Sündenbock
des neuen Jahrhunderts werden lassen. Wer die Globalisierung in Bausch und
Bogen verdammt, der begibt sich großer Chancen: der Chancen einer vorteilhaften
Arbeitsteilung, verbesserter Ressourcennutzung, vereinfachter Zugänge zur Bildung.
Und weil das so ist, darum ist mir der Dialog der Religionen besonders wichtig.
Ich
habe
vor
kurzem
bei
meinem
Besuch
in
Israel
Vertreter
der
drei
monotheistischen Religionen zum Gespräch eingeladen, Juden, Muslime und
Christen. Ich hatte das vorher schon im Dezember in Bosnien/ Herzegowina getan
und ich will es an vielen Orten und zu vielen Gelegenheiten tun, denn es ergibt sich
stets eine bemerkenswerte Diskussion: Es gibt einen Dialog darüber, unter welchen
Belastungen und mit welchen Hoffnungen Weltreligionen zusammenarbeiten können.
Wie Toleranz zustande kommt, und zwar eine Toleranz, die nicht Beliebigkeit mit
Toleranz verwechselt. Wir brauchen in den drei großen Weltreligionen zuerst einmal
Zeit, um uns abzugrenzen von denen, die die Weltreligionen nur in ihren
fundamentalistischen Ausprägungen kennen.
IV.
Der Dialog der Kulturen muss etwas anderes sein als internationale Reisediplomatie.
Wir begegnen ja nicht nur im internationalen Gespräch den anderen Religionen,
sondern längst und alltäglich in unseren Städten und Gemeinden. Wie oft aber sind
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dort die Begegnungen ohne wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung. Es ist offenbar
leichter vorbeizuschauen, wegzusehen, sich abzuwenden, bei sich selber zu bleiben,
als sich hinzuwenden und zu versuchen, zu verstehen. Die Menschen, die aus
anderen Ländern zu uns nach Deutschland gekommen sind, haben ihre örtliche
Bindung aufgegeben, nicht aber ihre geistige, nicht ihre religiöse. Darum haben sie
einen Anspruch darauf, dass sie ihre religiösen Überzeugungen praktizieren und
ihren Kindern weitergeben können. Freilich können und müssen wir erwarten, dass
sie die Grundsätze unseres politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens
achten, dass sie unsere Sprache lernen, dass sie den Boden des Grundgesetzes als
ihr Fundament annehmen, aber sie müssen unsere religiösen Überzeugungen nicht
übernehmen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat kürzlich in einer Entscheidung uns gerade das
wieder in Erinnerung gebracht. Und es hat mit dieser Entscheidung zugleich die
Frage aufgeworfen, wie und durch wen islamischer Religionsunterricht erteilt werden
könnte. Es gibt darauf keine leichte, keine einfache Antwort. Der Staat ist
angewiesen auf verlässliche, auf verfassungstreue Partner auch in den anderen
Religionen. Aber nach meiner Überzeugung gilt auf jeden Fall, dass das Anliegen
unserer islamischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gerechtfertigt ist. Und die Politik
muss, wo das noch nicht geschehen ist, Lösungen finden. Darum appelliere ich an
alle Verantwortlichen, sich aktiv und schnell um solche Lösungen zu bemühen. Nach
meiner Überzeugung spricht vieles für ein „Wahlpflichtfach Religion“, wo es das noch
nicht gibt. In vielen Ländern hat sich das Modell seit langem bewährt. Beiden Seiten,
dem Staat und den Religionsgemeinschaften, bietet es die Gewähr, ihre Ziele
verfolgen und ihre Anliegen wahren zu können. Der Staat kann und darf seinen
Bürgern ihren Glauben nicht vorschreiben. Nur insofern stimmt der Satz, dass
Religion Privatsache ist, nur insofern. Der Staat darf das genauso wenig, wie er von
Ihnen Religionslosigkeit verlangen darf. Darum muss er in seinen Schulen Raum
schaffen, damit Bekenntnisse vermittelt werden können: durch Lehrer, die
angemessen ausgebildet sind, die in deutscher Sprache unterrichten und die das
unter der allgemeinen Schulaufsicht tun. Nach meiner Überzeugung wird im Rahmen
eines Wahlpflichtfaches, das neben Religion auch Philosophie und Ethik anbieten
sollte, auch islamischer Religionsunterricht seinen Platz finden. Der aktuellen
Debatte liegt die tiefergehende Frage zugrunde, welchen Ort islamische religiöse
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Überzeugung und kulturelle Identitäten künftig in unserem Land haben sollten. Ich
bin überzeugt davon, für den Dialog der Kulturen im eigenen Land brauchen wir
Beharrlichkeit und Geduld. Die evangelischen Akademien gehen dabei schon lange
mit gutem Beispiel voran.
V.
Ich habe am Anfang von der Globalisierung gesprochen. Ich komme darauf noch
einmal zurück, denn die großen Kirchen haben mit ihrem gemeinsamen Wort „Für
eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ in die Diskussion über die Umbrüche in
unserer Zeit auf eine für mich wegweisende Art und Weise eingegriffen. Das
gemeinsame Wort verweist in seinem Kern darauf, dass die Marktwirtschaft einen
Rahmen braucht, weil der Markt selber wertblind ist. Im Sozialwort heißt es dazu:
„Das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherung
sind wie zwei Pfeiler einer Brücke.“ Man sollte das bei allen aktuellen Diskussionen
im Sinn behalten. Wir sollten uns nicht einreden lassen, die große Errungenschaft
des zurückliegenden Jahrhunderts, nämlich das Streben aller gesellschaftlichen
Kräfte nach sozialer Gerechtigkeit, sei nicht mehr zeitgemäß. Weder die modernen
Kommunikationsmethoden noch die Rationalisierungschancen oder die Vorteile des
„out-sourcing“ haben den Solidaritätsgedanken obsolet gemacht. Er ist dringender
nötig den je.
VI.
Und gerade der Solidaritätsgedanke macht deutlich, dass unser Staat auf
Voraussetzungen beruht, die er nicht selber schaffen kann. So hat es ErnstWolfgang Böckenförde einmal formuliert. Weil das so ist, darum dürfen und sollen
und müssen die Kirchen, so meine ich, mutiger auf ihre Botschaft als die zentrale
Quelle unserer Wertordnung verweisen. Und sie sollten dabei deutlich machen, dass
bestimmte Werte und Normen einander bedingen. Dann zeigt sich, dass manche
Weltanschauung, die aus angenehmen Versatzstücken zusammengebastelt ist, nur
bei schönem Wetter taugt. Das kann und darf natürlich nicht heißen, jede Weltsicht
auszugrenzen, die nicht religiös begründet ist. In einer Zeit der zunehmenden
Säkularisierung, die immer mehr auch den Westen unseres Landes erfasst,
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gewinnen solche Anschauungen offenbar zunehmend an Bedeutung. Die Kirchen
müssen
also
verstärkt
eintreten
in
den
Dialog
mit
anderen
Denk-
und
Deutungsmustern.
VII.
Es gibt ein Impulspapier „Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen
Jahrhundert“, in dem die evangelischen Kirchen diesen Dialog in einem wichtigen
Bereich aufgenommen haben. Viele evangelische Christen drängte es seit langem,
die Haltung des Protestantismus zur Gegenwartskultur neu zu bestimmen. Diesem
Konsultationsprozess liegt ein dialektischer Ansatz zugrunde:
-
Kultur ist auf die prägenden, auf die kritischen Kräfte des christlichen Glaubens
bleibend angewiesen und
-
der christliche Glaube seinerseits wird nur im lebendigen Austausch mit der
gegenwärtigen Kultur verständlich und zugänglich.
Selbstbewusstsein gepaart mit Aufgeschlossenheit – das sind nach meiner
Überzeugung die Pfeiler, über die die Kirche hier die Brücke zur Welt schlagen kann.
Und das scheint mir ein Handeln zu sein, ganz in der Tradition Hanns Liljes – in einer
Zeit, die nach meiner Überzeugung besonders danach verlangt, dass die Kirche ihre
Botschaft kraftvoll sagt.
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