BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG Nr. 08-1 vom 10. Februar 2000 Rede von Bundespräsident Johannes Rau bei der Eröffnung des ZDF-Hauptstadtstudios am 3. Februar 2000 in Berlin: I. Im Sommer 1999 hat Professor Stolte mich gefragt, ob ich zur Eröffnung des ZDFHauptstadtstudios kommen könne und ob ich etwas Nachdenkliches zur Globalisierung und zu ihren Risiken sagen wolle. Ich habe ihm zu beiden Punkten zugesagt. Nun bin ich nicht gerne unhöflich. Dennoch muss ich Sie, Herr Professor Stolte, heute enttäuschen. Zur Globalisierung habe ich mich vorgestern in Davos geäußert – und im Übrigen brennt uns allen in diesen Wochen und Tagen ein ganz anderes Thema noch mehr unter den Nägeln. Ich möchte heute und hier über einige andere Fragen sprechen, die mit der inneren Verfassung unseres Landes und mit der politischen Kultur zu tun haben. II. Ich habe heute Mittag im Schloss Bellevue die von mir berufene neue Kommission zur Parteienfinanzierung zu ihrer ersten Sitzung empfangen. Die Kommission wird sich mit Fragen der Parteienfinanzierung im engeren Sinne beschäftigen, so wie das bisher üblich war. Ich habe die Kommission aber darum gebeten, dass sie auch Empfehlungen zu strukturellen Veränderungen vorlegt. Das ist angesichts der bis vor kurzem unvorstellbaren und für mich bis heute unbegreiflichen vorsätzlichen Verstöße gegen Recht und Gesetz auch bitter nötig. Ich sehe vor allem drei Fragenkomplexe: Muss die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen besser kontrolliert werden und wie kann das geschehen? Bulletin Nr. 08-1 v. 10. Februar 2000 / Bpräs. – Rede zur Eröffnung des ZDF-Hauptstudios in Berlin -2- Sollte oder muss das Sanktionssystem für Parteien und gegenüber den für sie handelnden Personen für den Fall von rechtswidrigem Verhalten verschärft werden? Reichen die geltenden Gesetze aus oder sind gesetzliche Änderungen nötig? Ich erwarte Vorschläge dazu, wie das Transparenzgebot des Parteiengesetzes konkretisiert werden kann. Der Auftrag des Grundgesetzes, dass die Parteien über Herkunft und Verwendung ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft ablegen, ist ja eine erfahrungssatte und eminent politische Festlegung. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes wollten verhindern, dass finanzkräftige Kreise durch Anonymität geschützt Einfluss nehmen auf die demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung innerhalb der Parteien und in Parlamenten und Regierungen. Darum ist es so außerordentlich wichtig, dass die jetzt bekannt gewordenen Tarn- und Täuschaktionen restlos aufgeklärt werden. So selbstverständlich das ist, so mühevoll ist diese Arbeit. Sie verdient Respekt. III. Ich selber bin seit Wochen Gegenstand öffentlicher Kritik. Mir ist vor allem vorgeworfen worden, ich hätte Dienstliches und Privates rechtlich unzulässig miteinander vermengt. Ich habe mich dazu gewissenhaft geprüft und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser Vorwurf nicht berechtigt ist. Ich sage aber auch unumwunden: Was das Verhältnis zwischen der von mir geführten Landesregierung und der Westdeutschen Landesbank angeht, wäre – jedenfalls was das Nutzen von Flugmöglichkeiten angeht – mehr Distanz besser gewesen. Ich gehe nach wie vor davon aus, dass das rechtlich in Ordnung war, aber aus heutiger Sicht würde ich trotzdem nicht noch einmal so handeln. Der Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags muss jetzt aufklären, was aufzuklären ist. Ich habe meinen Beitrag dazu geleistet und bin dazu auch weiterhin nach bestem Wissen und Können bereit. Jetzt will ich weiter das tun, was meines Amtes ist. Bulletin Nr. 08-1 v. 10. Februar 2000 / Bpräs. – Rede zur Eröffnung des ZDF-Hauptstudios in Berlin -3- IV. Von meinen Erwartungen an die neu eingesetzte Parteienfinanzierungskommission habe ich schon gesprochen. Aber wir alle wissen: Wir müssen nicht nur prüfen, ob wir neue Regeln brauchen. Zuerst müssen die gültigen Regeln und Gesetze eingehalten werden. Wir müssen dafür sorgen, damit der Vertrauensverlust in die Politik gestoppt wird und damit neues Vertrauen entstehen kann. Es gibt – nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland – eine ständige, unausgesprochene Unzufriedenheit mit den Parteien und dem Parteiensystem. Diese Unzufriedenheit wird dann besonders deutlich, wenn es zu Skandalen und schlimmem Fehlverhalten politisch Verantwortlicher kommt. Die staatliche Einheit vor zehn Jahren wäre die Gelegenheit gewesen, nach vierzig Jahren Bilanz zu ziehen und zu entscheiden, was bleiben soll und was sich ändern soll. Das gilt auch für die Rolle der Parteien in Gesellschaft und Staat. Diese Diskussion hat es leider nicht gegeben. Ich habe damals zu denen gehört, die für eine umfassende und offene Verfassungsdebatte eingetreten sind. Ich war ganz und gar nicht der Auffassung, dass wir das Grundgesetz über Bord werfen sollten, aber ich wollte damals, dass wir uns im vereinten Deutschland auch dessen neu versichern und vergewissern, was wir beibehalten wollen. Diese Position hat damals keine Mehrheit gefunden. Nicht im Bundestag und – auch das muss man sagen – aus der Bevölkerung gab es dafür auch wenig Rückenwind. Andere Sorgen und andere Wünsche standen im Vordergrund. V. Die schwerste Erschütterung einer großen demokratischen Partei seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland sollte jetzt Anlass sein, die öffentliche Debatte zu führen, die wir vor zehn Jahren versäumt haben. Wir brauchen diese öffentliche Diskussion, weil wir die integrierende Kraft der großen Volksparteien brauchen. Wir haben keine Staatskrise, wohl aber eine Glaubwürdigkeitskrise der Politik. Die Menschen unterscheiden sehr wohl, wer was zu verantworten hat. Aber Wut und tiefe Verärgerung über eine Partei kommen beileibe nicht automatisch den anderen Parteien zugute. Die schlimmste Reaktion wäre, wenn sich die Menschen von der Politik abwendeten oder extremistische Kräfte Zulauf bekämen, die auf alles eine Bulletin Nr. 08-1 v. 10. Februar 2000 / Bpräs. – Rede zur Eröffnung des ZDF-Hauptstudios in Berlin -4- Antwort und für nichts eine Lösung haben. Darum rate ich allen Parteien und allen Bürgerinnen und Bürgern, die sich für unser Land mitverantwortlich fühlen: Wir sollten die öffentliche Diskussion über die Rolle und die Aufgaben der Parteien gründlich und ernsthaft führen. Wir sollten vor allem nicht dem Irrtum erliegen, alles werde gut, wenn wir auf möglichst vielen Feldern nur das genaue Gegenteil dessen machten, was bisher gilt. Lassen Sie mich das an einigen Beispielen deutlich machen: Ich höre und lese Vorschläge und Forderungen, dass die Parteien sich aus vielen Bereichen zurückziehen sollten. Diese Diskussion sollte man ganz konkret führen. In jedem konkreten Fall sollte man dann auch fragen: Wer tritt an die Stelle der Parteien? Hat der oder die eine größere demokratische Legitimation? Unterliegt er stärkerer öffentlicher Kontrolle? Unter uns sind viele Angehörige von Gremien des öffentlichrechtlichen Rundfunks. Darum frage ich gerade hier: Haben nur die Mitglieder ihrer Gremien politische Interessen, die von politischen Parteien und Fraktionen entsandt werden? Sind die anderen Gremienmitglieder von Interessen und politischen Absichten frei? Ich höre und lese von Vorschlägen und Forderungen, die Amtszeit von politisch Verantwortlichen gesetzlich zu begrenzen. In den demokratischen Ländern gibt es dazu ganz unterschiedliche Regelungen. Es lohnt sich, sie genau anzuschauen und die Erfahrungen auszuwerten, die mit unterschiedlichen Regelungen gemacht werden. Fragen von so grundlegender Bedeutung sollten nicht aus aktueller Betroffenheit so oder so beantwortet werden. Ich erinnere nur daran, wie über viele Jahre das Rotationsverfahren bei der Besetzung der Abgeordnetenmandate kommentiert worden ist. Es ist noch nicht lange her, dass diese besonderen Formen politischer Selbstbeschränkung auf fast einhelligen Widerspruch gestoßen sind – mit politischen und zum Teil auch mit verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Argumenten. Jeder von Ihnen kennt eine Fülle weiterer Themen, über die wir uns neu verständigen sollten. Ich will nur einige Stichworte nennen: Die Behandlung von Parteispenden gehört ebenso dazu wie die Dauer von Legislaturperioden und die Größe der Parlamente. Bulletin Nr. 08-1 v. 10. Februar 2000 / Bpräs. – Rede zur Eröffnung des ZDF-Hauptstudios in Berlin -5- Das Verhältnis Bürgerbeteiligung zwischen gehört repräsentativer Demokratie ebenso wie dazu und bessere unmittelbarer innerparteiliche Mitwirkungsmöglichkeiten. VI. Wir sollten und wir müssen diese Diskussion führen, damit bei den Bürgerinnen und Bürgern neues Vertrauen entstehen kann. Es muss deutlich werden: Die Parteien sind nicht um ihrer selbst willen da. Sie sind nicht für alles zuständig, aber für alle da. Menschen, die Zeit, Energie und Idealismus einsetzen, brauchen wir in den Parteien genauso wie in Vereinen und Verbänden, in Gewerkschaften und Bürgerinitiativen. Die Medien tragen eine besondere Verantwortung – nicht nur beim Aufdecken von Skandalen, sondern auch bei der Begleitung der Diskussion, was anders und besser gemacht werden und was bleiben soll. Die Medien sind heute wichtiger denn je. Damit ist ihre Verantwortung auch größer denn je. Darum lautet meine Bitte an das neue ZDF-Hauptstadtstudio: Machen Sie Qualitätsfernsehen. Machen Sie kritischen Journalismus im Dienste unserer Republik. * * * * *