bulletin - Bundesregierung

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BULLETIN
DER
BUNDESREGIERUNG
Nr. 07-1 vom 3. Februar 2000
Rede von Bundespräsident Johannes Rau
auf dem Jahresempfang der Evangelischen Akademie Tutzing
am 19. Januar 2000:
I.
Ich freue mich darüber, hier zu sein. Die Akademie Tutzing hat zu dem guten Ruf viel
beigetragen, den die kirchlichen Akademien in unserem Land haben. Debatten in
den kirchlichen Akademien haben in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik
immer wieder starke geistige und politische Akzente gesetzt. Hier kann man neue
Gedanken ausprobieren oder auch an alte, vielfach vergessene Gedanken erinnern.
Man kann offen miteinander streiten – gerade weil hier ein Begriff noch mit Leben
gefüllt wird, der manchen etwas altmodisch vorkommen mag, der aber vielleicht
gerade heute an der Zeit ist: Ich meine den Begriff der „Bedächtigkeit“. Ich will nicht
lange über diesen Begriff philosophieren. Ich assoziiere damit Sorgfalt und Umsicht,
Ruhe und Unaufgeregtheit, Selbstbewusstsein und Reflexion, Distanz und Klarheit.
Bedächtigkeit sollte nicht verwechselt werden mit Leidenschaftslosigkeit, noch viel
weniger mit Desinteresse an praktischem Engagement oder an konkretem Handeln.
Sie ist vielmehr von starkem Interesse am Handeln geprägt – aber eben am
reflektierten Handeln, an einem Handeln, das seine Bedingungen kennt und seine
Folgen bedenkt. Bedächtigkeit in diesem Sinne ist vielleicht der auf den Begriff
gebrachte Satz des Apostels Paulus: „Prüfet alles, das Beste behaltet“. Sie ist ein
Alternativprogramm zu den Aufgeregtheiten, zu den schnellen Schlagzeilen, die uns
tagtäglich die Welt und die Ereignisse präsentieren und deuten wollen – und die
eben wegen dieser Schnelligkeit eine extrem kurze Haltbarkeit haben und den Blick
auf die Wirklichkeit, auf Ursachen und Hintergründe eher vernebelt.
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Denken Sie nur daran, wie uns fast ein Jahr lang der mediale Wirbel um den
sogenannten Jahrtausendwechsel in Atem halten sollte! Die Tür zum vergangenen
Jahr ist mit einem solchen Knall zugeschlagen worden, dass man fast fragen kann,
ob hier nicht ganz alte, archaische Muster von der Vertreibung der bösen Geister
wieder aufgetaucht sind. Ein bisschen schien es mir so, dass man doch nicht so
ganz ohne Ängste und Befürchtungen in das geht, was einem durch Einreden oder
eigenes Empfinden wie ein neues Zeitalter vorkommt. Vielleicht ist das ganz normal.
Jedes Überschreiten einer Grenze, und sei sie, wie der Kalender, von Menschen
gemacht, bringt neben Hoffnungen und freudigen Erwartungen auch Ängste mit sich.
Vielleicht kann man sich dem am besten mit einer gewissen Bedächtigkeit stellen.
Ich will das heute versuchen.
II.
Was bedeutet der von manchen als „Zeitenwende“ empfundene Datumswechsel für
unsere Gesellschaft? Wir schauen zurück auf das zwanzigste Jahrhundert – und wir
tasten uns vorsichtig in eine neue Zeit vor. Der Blick zurück hat seine spezifischen
Schwierigkeiten. Zwar hatte noch keine Generation die Möglichkeit, einen so
kundigen Blick auf die Vergangenheit zu werfen wie die unsere. Das ist vielleicht das
bedeutendste Erbe des vorletzten, des neunzehnten Jahrhunderts, das den Aufstieg
der historischen Wissenschaften brachte und uns eine Kenntnis von der Geschichte
beschert hat, die geschichtlich ohne Beispiel ist.
Dazu kommt, dass durch zwei Erfindungen des zwanzigsten Jahrhunderts, den Film
und das Fernsehen, auch die bewegten Bilder und Szenen unseres Jahrhunderts
bewahrt geblieben und jederzeit abrufbar sind. Die schon gar nicht mehr
überschaubaren Rückblicksendungen fast aller Fernsehsender haben uns das in den
letzten
Monaten
gezeigt.
Alle
großen
Ereignisse,
aber
auch
viele
Nebensächlichkeiten, haben sich in unser visuelles Gedächtnis eingeprägt. Wenn wir
ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Szene des letzten Jahrhunderts in
Erinnerung rufen, sehen wir automatisch die bewegten Bilder, die wir davon kennen.
Dabei gibt es ganz unterschiedliche Erinnerungen und Assoziationen, auch an die
gleichen Bilder. Das gilt übrigens nicht nur für die öffentlichen und kollektiven
Ereignisse, das gilt auch für unser ganz privates Leben: Durch Fotografie und Video
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sind die meisten zu liebevollen Bild-Dokumentaristen ihres eigenen Lebens
geworden. Wir sind auf eine noch nie da gewesene Weise Archivare unserer eigenen
Zeit. Das Quellenmaterial für einen Rückblick auf das Jahrhundert ist also
erdrückend. Aber das enthebt uns nicht der entscheidenden Frage: In welcher Weise
geht uns das jetzt und weiterhin noch an? Was bleibt?
III.
Wenn wir zurückschauen auf das zwanzigste Jahrhundert, dann tun wir das nicht wie
Briefmarkensammler auf ein abgeschlossenes Sammelgebiet, das man vollständig
haben will. Für die meisten Menschen sind Erinnerungen ein wichtiger Bestandteil
ihrer Persönlichkeit. Aber bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit muss es
immer auch um die Fragen gehen:

Was können wir für die Zukunft behalten,

ja: was müssen wir mitnehmen, was dürfen wir nicht vergessen?

Was muss Bestandteil nicht nur der privaten Erinnerung bleiben?

Was sollte im kollektiven Gedächtnis aufbewahrt werden?
Die einschneidendste Erfahrung für uns Deutsche, aber auch für ganz Europa und
weite Teile der ganzen Welt war der Zweite Weltkrieg, der durch den deutschen
Nationalsozialismus ausgelöst wurde, und der Mord an den europäischen Juden, die
organisierte Massenvernichtung von Sinti und Roma und die anderen Verbrechen
gegen die Menschlichkeit. Diese Zeit bleibt der dunkelste Schatten auf dem
vergangenen Jahrhundert und wir alle sind auf die eine oder andere Weise davon
geprägt. Noch verbindet uns mit diesen Ereignissen auch die mündliche
Überlieferung von Zeitzeugen, die Erzählung in der Familie oder im Freundeskreis.
Noch! Denn was für uns ältere oder mittelalte Zeitgenossen noch ganz
selbstverständlich ist, wird bald nicht mehr sein. Wer heute zehn Jahre alt ist, für den
werden das, wenn sein historisches oder politisches Bewusstsein erwacht, alles
Geschichten aus dem letzten Jahrhundert sein. Wir dürfen die psychologische
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Schwelle, die der Wechsel der Zahlen von der 19 zur 20 bedeutet, nicht
unterschätzen. Welche Gedanken haben sich Menschen im Jahre 1920 über
Ereignisse von 1830 oder 1845 gemacht? Die Erfahrungen des eigenen Lebens
überdecken schnell die Erinnerungen der vorherigen Generation. Dazu kommt, dass
historische Ereignisse neu eingeordnet und neu bewertet werden. Das gilt zum
Beispiel für den Ersten Weltkrieg, der bei unseren Nachbarn heute noch ganz anders
und viel lebendiger im Bewusstsein ist als bei uns. Das ist auch ein Zeichen für die
ganz unterschiedlichen Prägungen der – wenn man so sagen kann – kollektiven
Gedächtnisse innerhalb der europäischen Völkerfamilie.
IV.
Kann es sein, dass das, was uns heute noch als immer wieder aufgerufener
Bezugspunkt der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gilt, schon bald ein
Ereignis unter anderen sein wird? Ein Ereignis aus dem letzten Jahrhundert, dessen
Daten im Schulunterricht gelernt werden wie die der Krönung Karls des Großen oder
der Entdeckung Amerikas? Ich glaube, dass uns allen bei diesem Gedanken nicht
wohl ist. Aber das genügt nicht. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass
Erinnerungen an geschichtliche Ereignisse nur für eine kurze Zeit lebendige
Erinnerungen sind. Wenn wir uns dessen bewusst und darin einig sind, dass die
Erfahrung des Nationalsozialismus eine für unser Selbstverständnis entscheidende
Erfahrung ist und bleiben soll, wenn sie weitergegeben werden soll, dann müssen wir
sehr genau darauf sehen, wie wir das in Zukunft bewerkstelligen können. Auch wenn
in naher Zukunft kein Täter und kein Opfer mehr leben wird, darf der Blick nicht
verloren gehen für das historische Exempel, das der Nationalsozialismus war und
bleibt. Was zuerst daraus zu lernen ist, und was auch für die Zukunft von Bedeutung
bleibt: In einem zutiefst ungerechten, verlogenen, gewalttätigen, in einem totalitären
System ist es für den Einzelnen immer schwer, ja oft unmöglich, ohne Schuld zu
bleiben. Es gibt politische und wirtschaftliche Systeme, in die der Einzelne immer
schuldhaft verwickelt wird, wenn er nicht zu den wenigen Helden gehört.
Das heißt: Der Appell an die Anständigkeit des Einzelnen, an die individuelle
Wertorientierung verliert nie seinen Sinn. Immer kann der Einzelne auf die Stimme
seines Gewissens hören und bleibt frei, das Gute oder das Böse zu tun. Aber
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individuelle Moral reicht nicht aus, sonst besteht die Gefahr, dass die Anständigen
letztlich die Dummen oder sogar die Opfer sind. Darum brauchen wir ein intaktes und
gerechtes Gemeinwesen. Wir brauchen Institutionen, die dem Recht und der
Gerechtigkeit verpflichtet sind. Das Adorno-Wort: „Es gibt kein richtiges Leben im
falschen“ ist in dieser Zuspitzung nicht richtig. Aber es weist darauf hin, dass nur die
gemeinsame Arbeit an einem guten Gemeinwesen die individuelle Moral strukturell
so schützt und stützt, dass es nicht von Nachteil ist oder gar lebensgefährlich, nach
moralischen Grundsätzen zu handeln. „Glücklich das Land, das keine Helden
braucht“, sage ich mit Bert Brecht. Ein zweites, das daran anschließt: Im
Nationalsozialismus waren nahezu alle Lebensbereiche und alle Institutionen von
einem schleichenden Gift der moralischen Verwahrlosung durchdrungen. Wenn die
Dämme einmal gebrochen sind, entwickelt sich offenbar alles zu seinen
schlechtesten Möglichkeiten hin. Angefangen bei den absurden Versuchen einer
„deutschen Physik“ waren beispielsweise die akademischen Wissenschaften nicht
nur für jeden Widersinn offen. Sie waren auch so frei, sich durch die rassistische
Ideologie jede Erlaubnis zu menschenverachtendem Denken und Handeln zu holen.
Ob Medizin oder Rechtswissenschaft, ob Geschichte oder Biologie, ob Germanistik
oder Pädagogik, alle Disziplinen waren verseucht von dieser Ideologie. Ob die
Schulen, ob die Heil- und Pflegeanstalten für Behinderte, ob die Gerichte, ob die
Ministerien, das Militär oder die Polizei: Überall setzte sich nicht nur der Rassismus
und die ideologische Verblendung durch – es war eben auch möglich, wenn nicht
sogar geboten, dass sich niedrigste Instinkte durchsetzten.
V.
Dabei sollten wir uns viel stärker als bisher darüber klar werden, dass der
Nationalsozialismus keine im strengen Sinne reaktionäre Bewegung war. In
manchen, in entscheidenden Momenten sogar war er überaus jung und modern.
Keine deutsche Regierung war im Durchschnitt jünger als die Hitlers. Für
aufstrebende
Technokraten
boten
sich
schnelle
Karrierechancen.
Dem
wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt wurden alle Türen geöffnet. Die
modernen Medien, Film und Radio, wurden begriffen, intensiv weiterentwickelt und in
Dienst gestellt. Das deutsche Straßen- und Schienensystem war das modernste der
Welt, die Kriegsführung war es sowieso. Es war eine irregeleitete und missbrauchte
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Moderne: Eine rein technisch verstandene Moderne, eine Moderne minus
Aufklärung, minus Menschenrechte, minus Pluralismus. Auch die medizinischen
Experimente und die Idee der Selektion von „lebensunwertem Leben“ und von
Behinderten gehören zum Missbrauch der Möglichkeiten, die die Moderne in sich
trägt. Fortschritt und Barbarei schließen sich nicht aus. Auch das hat der
Nationalsozialismus gelehrt.
Wir müssen begreifen – und ich sage das, ohne falschen Alarm zu schlagen –, dass
manches,
was
den
Nationalsozialismus
ausgemacht
hat,
nicht
nur
ein
abgeschlossener historischer Abschnitt ist, sondern eine Möglichkeit des Menschen
bleibt. Was einmal wirklich war, kann wieder möglich werden – wenn auch sicher
nicht in dem Sinne, dass die Geschichte sich eins zu eins wiederholt. Ich begreife es
jedenfalls als Warnung, wenn sogar so besonnene und unaufgeregte Denker wie der
Tübinger Ethiker Dietmar Mieth zu dem Schluss kommen, manches, was durch die
moderne Medizin möglich wird, etwa die vorgeburtliche Selektion, sei der mögliche
Weg in den „individuellen Faschismus“. Die Herrschaft über das Leben, über die
Formen des Lebens und die Gestalt des Lebens, die Entscheidung über „lebenswert“
und „lebensunwert“ – all das ist nicht weit entfernt von Züchtungsphantasien. Sie
haben nicht nur in brutalen, jeder Beschreibung spottenden Experimenten Gestalt
angenommen, sondern sind auch in hochseriösen, akademischen Kommissionen
und Institutionen vorgedacht worden. Das gilt übrigens nicht nur für das
nationalsozialistische Deutschland. Auch die „scientific community“, so zeigen uns
die Erfahrungen aus dem Dritten Reich, ist alles andere als ein sicherer Schutz vor
solchen Herrschaftsphantasien und ihrer Gestaltwerdung.
VI.
Die vielleicht wichtigste Lehre aus den Erfahrungen zwischen 1933 und 1945 ist der
kleine/große Satz am Anfang unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist
unantastbar“. So sicher, wie dieser Satz für sich selber stehen kann, so sicher ist
auch, dass erst die Erfahrungen, auf Grund derer er formuliert worden ist, alle seine
Dimensionen zum Leuchten bringen. In diesem Satz kristallisiert sich der
antitotalitäre Grundkonsens der Bundesrepublik. Um ihn in seiner ganzen Tiefe zu
verstehen, dürfen wir die historischen Erfahrungen nicht vergessen, gegen die er
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gerichtet ist: Die Erfahrungen mit einer Ideologie und mit einer totalitären Praxis, vor
der Albert Schweitzer einmal mit den Worten gewarnt hat: „Man darf nie einen
Menschen einem Zweck opfern.“ Diese Erfahrungen und die Konsequenzen, die wir
daraus gezogen haben, sind es wahrlich wert, dass wir sie in die Zukunft mitnehmen.
Manche sprechen vom „kurzen zwanzigsten Jahrhundert“ – und meinen damit, dass
es eigentlich nur von 1914 bis 1989 gedauert habe. Das sei die Zeit des großen
europäischen Bürgerkrieges gewesen, der unter dem Zeichen der Ideologien des
Imperialismus, des Faschismus und des Kommunismus gestanden habe. Das ist
eine interessante These. Manche behaupten, mit dem Jahre 1989 sei das
Jahrhundert der Ideologien zu Ende gegangen. Das sehe ich nicht so. Das ist eher
selber ein Stück Ideologie.
VII.
Ohne groß intellektuell aufzutrumpfen, ohne Anspruch auf kulturelle Meinungshoheit,
aber mit dem Anspruch auf weltweite Geltung haben sich inzwischen vielerorts ein
Denken und eine Haltung etabliert, die man durchaus als neue Ideologie
kennzeichnen kann. Ich meine den Anspruch, alle Lebensbeziehungen, alle
Interessen der Gesellschaften und Staaten den Gesetzen des Marktes zu
unterwerfen. Für die wirtschaftliche Welt ist der Markt unverzichtbar. Aber nun
scheint der unbeschränkte, globalisierte Markt das letzte und einzig übriggebliebene
Heilsversprechen zu sein, das nach den politischen Desastern des letzten
Jahrhunderts übriggeblieben ist. Seine Herrschaft droht alles zu verschlingen, was
bisher Gewicht und Bedeutung hatte: Kulturelle und regionale Identität, nationale
Souveränität,
religiöse
und
weltanschauliche
Überzeugungen
und
Wertorientierungen.
Die Ökonomie, der Wettbewerb scheint das einzige Koordinatensystem zu sein, das
über Wert und Unwert von Ideen und Plänen, von Projekten und Orten bestimmt –
auch über den Wert und Unwert von Menschen. Es wird manchmal so getan, als
gebe es keine anderen tauglichen Maßstäbe mehr für das Zusammenleben der
Menschen als die ökonomische Rationalität. Dieses Denken und eine Praxis, die sich
daran orientiert, trägt Züge von totalitärer Ideologie, die lebensgefährlich ist für
Demokratie und soziale Stabilität. Eine Ökonomie, die sich verselbständigt und alle
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gesellschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen abstreift oder leugnet, wirkt
innerhalb der Gesellschaft zerstörerisch. Die Globalisierung führt dazu, dass das
Wirtschaften räumlich schrankenlos wird. Es darf aber nicht frei von Bindungen und
Verpflichtungen sein. Besonders gefährlich sind Ideologien, die sich als solche nicht
wahrhaben wollen. Sie propagieren einen Zustand oder eine Tendenz als normal
oder „ohne Alternative“, obwohl durchaus andere Formen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens denkbar sind. Mit Gustav Heinemann halte ich das Wort
„zwangsläufig“ für eine atheistische Kategorie. Aller Ideologie, auch der der
Herrschaft des bindungslosen Marktes, liegt – bewusst oder unbewusst – ein
Menschenbild zugrunde. Viele der im neunzehnten Jahrhundert wurzelnden und im
zwanzigsten zur Geltung gekommenen Ideologien versprachen den „Neuen
Menschen“ und versuchten ihn zu bilden oder heranzuziehen.
Auch die Ideologie einer Modernisierung um ihrer selbst willen und um fast jeden
Preis schafft das Bild eines neuen Menschen. Es ist der Mensch, der den Gesetzen
des Marktes perfekt angepasst ist. Die neuen Werte heißen „Flexibilität“, „Mobilität“
und „Durchsetzungsfähigkeit“. Individuelle „Wettbewerbsfähigkeit“ soll am besten
vom Grundschulalter an gelernt werden. Diese neuen Werte des neuen Menschen
konkurrieren auffällig mit den tradierten Werten und Tugenden, die unsere
Gesellschaft nach ganz überwiegender Auffassung zusammenhalten sollen:
Mitmenschlichkeit, Beständigkeit, Treue, Verlässlichkeit, freiwilliges bürgerliches
Engagement, die Balance zwischen freier Selbstentfaltung des Einzelnen und der
Bereitschaft zur Solidarität. Tatsächlich sind diese Werte nicht nur im Bereich von
Familie und Freundschaft unverzichtbar, nicht nur im Bereich der lokalen und
kommunalen Beziehungen, sondern auch im Wirtschaftsleben selbst. Auch dort
müssen zum Beispiel Vertragstreue und Verlässlichkeit regieren – wenn nicht der
eine des anderen Wolf werden soll. Arbeitsfreude und Motivation lassen sich durch
finanzielle Anreize allein nicht fordern und fördern. Es ist gewiss verständlich und oft
auch richtig, wenn angesichts zu großer bürokratischer Regelungswut der Ruf nach
„Deregulierung“ laut wurde. Wo es aber weniger feste Regeln gibt, da ist umso mehr
Selbstverantwortung und Disziplin nötig, und, um es etwas altmodisch zu sagen,
auch um so mehr „Pflichtgefühl“. All das sind Werte und Tugenden, die der Markt
nicht produzieren, ohne die er aber nicht funktionieren kann. Und wir brauchen und
wir wollen ja einen funktionierenden Markt als Gestaltungsprinzip der Wirtschaft.
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Dazu kommt, dass es in einer Gesellschaft, die nur noch das Marktprinzip anerkennt,
keinen Platz gibt – sagen wir es einmal in der entsprechenden Sprache – für die
„Unproduktiven“ und die „Konsumschwachen“. Eine Gesellschaft, die sich nur noch
nach den Gesetzen des Marktes formiert, würde nach den Prinzipien von Selektion
und dem Überleben des Stärkeren oder des Anpassungsfähigeren funktionieren. Es
gibt dann keinen Platz mehr für die Behinderten und unheilbar Kranken, für die
Armen und weniger Intelligenten, für die Schwachen und Hilflosen. Nicht nur das: Es
liegt sogar in der paradoxen Logik der Gegenwart, dass wir zwar angeblich auf
Zukunft und Wachstum ausgerichtet sind, dass sich aber gleichzeitig diejenigen, die
sich trauen und zutrauen, ein Kind oder gar mehrere Kinder zu erziehen, schon
heute oft wie gesellschaftliche Außenseiter und ökonomische Idioten vorkommen
müssen – trotz mancher Bemühungen des Staates, diesen Zustand zu verbessern.
VIII.
Wenn sich ein Gemeinwesen nicht völlig den Gesetzen des Marktes ausliefern will,
dann braucht es nicht nur Sinnressourcen, die sich aus anderen Quellen speisen. Es
muss sich vor allem Institutionen geben oder erhalten, die Gerechtigkeit fördern, die
Solidarität und Freiheit des Andersdenkenden und Anderslebenden schützen und die
sich um Hilfe für Schwächere kümmern. Institutionen, die nicht nur auf die
Gegenwart orientiert, sondern strukturell auch um die Zukunft der Kinder und der
nachfolgenden Generationen besorgt sind – also öffentliche und staatliche
Institutionen. Heute, so scheint es mir, hat der Staat die Aufgabe, die Freiheitsrechte
und die sozialen Rechte, die in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten erkämpft
worden sind, zu bewahren und zu verteidigen, damit nicht schrankenlose
wirtschaftliche Freiheit zu individueller Unfreiheit und zu sozialen Verwüstungen
führt. Diese Aufgabe des Staates ist in der globalisierten, die nationalen Grenzen
aufweichenden Welt sicher neu zu definieren. Eines aber gilt unverändert: Ein
Gemeinwesen, ein Staat, der sich nicht zum Ziel setzte, Gerechtigkeit zu schaffen,
wie immer sie im konkreten Fall aussieht, wäre nichts anderes als eine gemeine
Räuberbande, ein „latrocinium“, wie es schon Augustinus im vierten Jahrhundert
gesagt hat.
IX.
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„Gerechtigkeit erhöht ein Volk“: dieser Satz aus dem Alten Testament bleibt für mich
– und ich hoffe für uns alle – gültig. Was aber jeweils „gerecht“ ist, was für alle, für
eine Gemeinschaft, für ein Gemeinwesen, richtig ist, das wird immer umstritten sein
– und das muss nach dem öffentlich ausgetragenen Streit immer neu entschieden
werden. Dafür hat sich in der Geschichte – bis heute – kein besseres Modell ergeben
als eine Gesellschaft, in der nicht nur wenige die Chance haben, aus ihrem Leben
etwas zu machen. Dazu gehört ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat; ein
Staat mit Gewaltenteilung – und mit Verfahrensregeln, nach denen sich
unterschiedliche Interessen organisieren und miteinander in Wettstreit gehen
können. Ich kann bis heute keine bessere Institutionalisierung des gesellschaftlichen
Pluralismus erkennen als ein System konkurrierender Parteien. Die Parteien sind im
Staat wichtig, aber sie sind nicht der Staat. Daran werden wir durch die Ereignisse
der vergangenen Tage und Wochen nachdrücklich erinnert. Die bis heute bekannt
gewordenen Verstöße gegen die gesetzlichen Regeln zur Parteienfinanzierung sind
atemberaubend. Alle, die für vollständige Aufklärung sorgen und für die sich daraus
ergebenden Konsequenzen eintreten, tun ihre Pflicht. Ich sage das hier auch als
jemand, der in den vergangenen Wochen selber Gegenstand öffentlicher Vorwürfe,
wenn auch anderer Art und Qualität, geworden ist. Ich habe mich zur Aufklärung
verpflichtet. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen wird die von mir zugesagte
detaillierte Stellungnahme in den nächsten Tagen bekommen.
Mein Vorvorgänger im Amt, Richard von Weizsäcker, hat den Parteien einmal
„Machtvergessenheit“ und „Machtversessenheit“ vorgeworfen. Ich habe ihm damals
widersprochen. Ich war und bin davon überzeugt, dass es ohne funktionierende
demokratische Parteien keine lebendige Demokratie gibt. Die jüngsten Ereignisse
zeigen allerdings, wie wichtig es ist, dass gerade die Parteien mit ihrer politischen
Macht sich an Recht und Gesetz halten. Wer politische Macht durch Wahl und auf
Zeit innehat, der muss die Grenzen achten, die Recht und Gesetz der
Machtausübung setzen. Die Tatsache, dass dagegen massiv verstoßen worden ist,
darf aber nicht dazu führen, dass die Politik und die Parteien insgesamt unter
Pauschalverdacht gestellt werden. Wir sollten nicht vergessen, dass es in der
Bundesrepublik Deutschland fast zwei Millionen Männer und Frauen gibt, die sich in
politischen Parteien engagieren. Viele von ihnen setzen viel Zeit, großes
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Engagement und eine gehörige Portion Idealismus ein, weil sie unser Land nach
ihren Vorstellungen mitgestalten wollen. Zehntausende von Frauen und Männern tun
als gewählte Vertreterinnen und Vertreter in Bezirksvertretungen, in Gemeinderäten
und Stadträten ehrenamtliche Arbeit.
X.
Im Zusammenhang mit der Gestaltung der Parteienfinanzierung denken manche jetzt
auch über Rechtsänderungen nach. Diese Diskussion ist nötig. Ich warne aber vor
der Illusion, die Lösung aller Probleme liege in der Änderung von Gesetzen. Durch
den Ruf nach neuen Gesetzen kann manchmal fast der Eindruck entstehen, es liege
an den Gesetzen, dass sie nicht eingehalten werden. Tatsächlich helfen aber auch
neue Gesetze wenig, wenn die Loyalität gegenüber Recht und Gesetz nicht über
allem steht. Hier helfen nur unbedingter Rechtsgehorsam, Staatsklugheit und
bessere Einsicht, wie Professor Hans-Peter Schneider das vor wenigen Tagen
geschrieben hat. Für alle, die besondere Verantwortung für unser Gemeinwesen und
für die Institutionen unseres Staates tragen, und für alle, die die politisch
Verantwortlichen kritisch begleiten, wünsche ich mir das, was man in England
„common sense“ nennt: Wir dürfen die Institutionen nicht zerstören – weder dadurch,
dass die Parteien sie usurpieren, noch dadurch, dass ihnen pauschal jegliche
Glaubwürdigkeit abgesprochen wird. Professor Michael Stürmer hat vor wenigen
Tagen davor gewarnt, moralische Aufgeregtheit allein schon für eine demokratische
Tugend zu halten. Es genügt tatsächlich nicht, das Gute und Richtige zu wollen. Wir
brauchen auch geeignete Organisationsgrundsätze und Organisationsformen dafür.
Gerade wenn reinigende Kräfte und wenn Erneuerung notwendig sind, sollten wir
nicht vergessen, dass kein politisches System darauf besser vorbereitet ist als die
parlamentarische Demokratie. Die Parteien selber wissen ganz genau, dass sie –
auch wenn die Parteifinanzen in Ordnung gebracht sein werden – in Vielem nicht auf
der Höhe der Zeit sind. In allen Parteien stellen sich viele selber kritische Fragen:
Wie kann es gelingen, neue Attraktivität für Menschen zu gewinnen, die sich weniger
für Tagesordnungen und mehr für Projekte interessieren? Wie kann es gelingen,
überkommene Rituale zu überwinden? Wie können die Parteien den Anteil der
Selbstbeschäftigung verringern und sich stärker dem zuwenden, was die Menschen
wirklich umtreibt? Die Parteien müssen darauf Antworten geben. Sie müssen deutlich
machen, dass sie nicht um ihrer selbst willen und nicht für alles da sind, sondern für
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alle. Politisch engagierte und aktive Frauen und Männer müssen sie mit Leben
erfüllen. Antworten auf diese Fragen sind dringend. Wenn wir in die Geschichte
zurückschauen, dann erkennen oder erahnen wir, was uns drohen kann, wenn
demokratische Institutionen unglaubwürdig und damit nicht mehr akzeptiert werden.
Das Gemeinwesen so zu gestalten, dass es so gerecht, so freiheitlich und so
solidarisch wie möglich ist, das bleibt eine Aufgabe nicht nur für Politik und Staat.
Das bleibt eine Aufgabe, an der sich möglichst viele Bürgerinnen und Bürger
beteiligen sollten. Wer nicht selber handelt, wird behandelt. Darum sage ich allen:
Mischen Sie sich in die öffentlichen Angelegenheiten ein. Es sind Ihre
Angelegenheiten.
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