2 Technologie und Produktion

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2 Technologie und Produktion
Zur permanenten Klangumgebung im Alltag gehört unvermeidlich populäre Musik. Während man sich ihr in privaten Bereichen möglicherweise noch entziehen
kann, ist dies in öffentlichen Räumen unmöglich geworden. In Restaurants, Supermärkten und Kaufhäusern läuft Hintergrundmusik. Die Omnipräsenz der Musik wird durch technische Mittler ermöglicht, welche sich seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts immer weiter verbreiteten. Wichtigste Stationen sind seit der Erfindung des Phonographen durch Thomas Edison im Jahr 1877 die Schallplatte, die
CD und heutzutage digitalisierter Sound. Auch wenn sie einige Krisenjahre durchleben musste, ist die dazugehörige Musikindustrie weiterhin einflussreich und in
ihren Strukturen sehr ausdifferenziert (vgl. Kapitel 8). Vorbehalte gegenüber der
Beschäftigung mit populärer Musik rühren also auch daher, dass außenstehende
Forscher dem Geflecht aus wirtschaftlichen Interessen, medialer Dominanz und
inszenierten Protagonisten ('Stars') misstrauen und sich kaum ein Bild davon machen, wie die Musik auf die Trägermedien gelangt und welche Rolle die dabei
eingesetzte Technologie spielt.
In diesem Kapitel sollen daher einige Grundprinzipien aufgezeigt werden.
Am Anfang der medialen Musikaufzeichnung und im Amateurbereich gilt, dass
es ganz einfach geht: Die ersten Aufnahmen mit dem am Beginn seines Weltruhms
stehenden Tenor Enrico Caruso wurden 1902 ohne Beteiligung elektrischer / elektronischer Technik in einem Mailänder Hotelzimmer durchgeführt1. Zahlreiche
Aufnahmen während musikethnologischer Feldforschungen um die Wende zum
20. Jahrhundert wurden mit einer transportablen Variante des Edison-Phonographen auf Wachswalzen realisiert und durch einen anschließenden chemischen Prozess gehärtet. Sie können noch heute im Phonogramm-Archiv des Ethnologischen
Museums in Berlin im Originalzustand wiedergegeben werden2. Für die wachsende Popularität des Swing sind die neu entstandenen Möglichkeiten der Vervielfältigung und Verbreitung auf Schelllackplatten nicht unerheblich3. Anders als bei
einem Sinfonieorchester eigneten sich die in Jazzformationen bevorzugt einge1
2
3
Martland (1994), Caruso's first recordings. Myth and reality
Wegner (2007), MusikWeltKarte. Der Edison Phonograph und die musikalische Kartographie
der Welt. CD-ROM
Lange (1996), Das "Goldene Jazz-Zeitalter" in Deutschland
J. Hemming, Methoden der Erforschung populärer Musik, Systematische Musikwissenschaft,
DOI 10.1007/978-3-658-11496-1_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
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2. Technologie und Produktion
setzten Blasinstrumente besonders gut für die anfangs noch übliche, rein mechanische Aufzeichnungsweise. Hier wird der Schall wie schon beim Edison-Phonographen über einen Trichter und eine Membran direkt auf eine Nadel geleitet, welche die akustische Information in eine Trägersubstanz einritzt. Erst ab Mitte der
1920er Jahre war es üblich, elektrische Mikrofone einzusetzen, um das akustische
Resultat – vor allem bei größeren Formationen – zu optimieren4. Zugleich wurde
populäre Musik, z. B. in Form des American Popular Song, des Musicals oder
auch der Operette vielfach noch auf Papier festgehalten. Erst nach dem 2. Weltkrieg wurden gedruckte Noten als primäres Trägermedium populärer Musik von
Tonträgern abgelöst.
2.1 Session-Aufnahme
Musterhaft hierfür sind die Aufnahmen, die Elvis Presley, Scotty Moore und Bill
Black im Studio von Sun Records ab 1954 durchführten. Zu Beginn wurde nur ein
einzelnes Magnettonbandgerät verwendet, welches eine einzige Mono-Spur aufzeichnen konnte. Ebenso spielten die drei Musiker gemeinsam im einzigen vorhandenen Aufnahmeraum (ca. 6x10m groß), so dass alle Signale simultan aufgenommen werden mussten5. Geleitet wurden die Aufnahmen vom Studioinhaber
und Produzenten Sam Phillips. In einem angrenzenden Kontrollraum war die
Technik untergebracht, und eine Fensterscheibe ermöglichte Sichtkontakt zu den
Musikern. Es wurden mehrere Mikrofone und ein Mischpult eingesetzt, so dass
das Lautstärkeverhältnis der einzelnen Klangquellen untereinander optimal abgestimmt werden konnte. Um eine – wenn auch nicht als Dokumentation misszuverstehende – Rekonstruktion dieser Arbeitsweise bemühen sich die Filme "Elvis"6
und "Walk the line"7. Bis heute gilt, dass mit der Technik der Session-Aufnahme
insbesondere der spezielle Charme des Zusammenspiels der einzelnen Musiker
bewahrt werden kann und eine solche Aufnahme besonders lebendig und impulsiv
klingt.
Eine Weiterentwicklung der Session-Aufnahme bestand darin, Kontrollraum
und Aufnahmeraum akustisch vollständig voneinander zu trennen. Im Kontrollraum wurden zusätzliche Verstärker und Lautsprecher (genauer: Monitorboxen)
4
5
6
7
Smudits (2003), A journey into sound. Zur Geschichte der Musikproduktion, der Produzenten
und der Sounds, S. 67
Schütze (2010), Spieltraditionen, Personalstile und Signature-Licks der Rock and Roll-Gitarre
(1954-1960), S. 76
Sadwith (2005), Elvis
Mangold (2005), Walk the line
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vorgesehen, die das Klanggeschehen im Aufnahmeraum so abbildeten, wie es anschließend auch auf dem Tonband fixiert werden sollte. Jetzt brauchte man nicht
immer erst eine Probeaufnahme, um das Resultat abschätzen zu können.
Auch die Nachteile der Session-Aufnahme liegen auf der Hand. Macht ein
Musiker auch nur einen minimalen Fehler, muss die Aufnahme wiederholt werden, da es keine Korrekturmöglichkeiten gibt. Dies ist zeitintensiv und stellt die
Geduld der Beteiligten nicht selten auf die Probe. Selbst wenn – wie es gut zehn
Jahre später üblich werden sollte – die einzelnen Klangquellen auf separate Tonbandspuren aufgezeichnet werden, bleibt der Nachteil geringer Korrekturmöglichkeiten bestehen. Solang gleichzeitig aufgenommen wurde, erfassten die den einzelnen Instrumenten zugeordneten Mikrofone immer auch einen Anteil des Gesamtschalls im Aufnahmeraum. Fehler kann man jetzt zwar nachträglich leiser regeln, aber weiterhin nicht vollständig ausblenden.
Einschub: Funktionsweise eines Magnettonbandgeräts
Vor der Einführung der Mehrspuraufzeichnung wurden zunächst andere Einsatzmöglichkeiten von Tonbandgeräten maßgeblich für die Weiterentwicklung der Studiotechnik. Eine etwas ausführlichere Darstellung der Funktionsweise eines Magnettonbandgeräts soll helfen zu verstehen, wie welche Effekte entstehen und in der Folge zu musikalischen Gestaltungsmitteln werden, die die Ästhetik populärer Musik beeinflussen. Erstes Beispiel hierfür
ist das Echo. Während des Betriebs wird das Tonband von einer Spule auf
eine andere Spule gewickelt und dabei gleichmäßig an mehreren Tonköpfen
vorbeigeführt. Bei der Aufnahme wird die Trägerschicht auf dem Bandmaterial elektrisch in Abhängigkeit vom Tonsignal magnetisiert. Bei der Wiedergabe erzeugt das magnetisierte Tonband ein elektrisches Signal, das verstärkt
werden muss, um die Aufnahme hörbar zu machen. Dabei werden Aufnahme- und Wiedergabekopf häufig getrennt ausgeführt und mechanisch nebeneinander angeordnet. Hinzu kommt noch ein Löschkopf, der das Band
direkt vor der Aufnahme in einen Grundzustand versetzt.
Auf diese Art und Weise entsteht die Möglichkeit, eine gerade gemachte
Aufnahme sofort wiederzugeben (Hinterbandkontrolle). Im Regieraum kann
also anstelle der mit Monitorboxen abgebildeten Klangquelle im Aufnahmeraum das Wiedergabesignal vom Tonbandgerät hörbar gemacht werden. Damit wird das tatsächliche Resultat auf dem Band kontrolliert. Allerdings
ergibt sich durch die Laufzeitdifferenz zwischen Aufnahme- und Wiedergabekopf eine leichte Zeitverzögerung. Werden Original- und Hinterbandsignal
gleichzeitig hörbar gemacht, entsteht ein vielfältig einsetzbarer Echo-Effekt,
der auch als Delay bezeichnet wird. Schon bald verfügten die Tonbandgeräte
54
2. Technologie und Produktion
deshalb über regelbare Möglichkeiten der Rückführung des Wiedergabesignals in das Aufnahmesignal. Die Verzögerungszeit konnte durch Veränderungen der Bandgeschwindigkeit oder des Abstands zwischen Aufnahmeund Wiedergabekopf variiert werden. Wenig später wurden eigens für diesen
Zweck optimierte Bandechogeräte hergestellt, die anstelle einzelner Wickelspulen eine Bandschleife hatten, die permanent rotierte. Sam Phillips allerdings realisierte den Bandecho-Effekt noch mit zwei separaten Tonbandgeräten. Das von ihm bevorzugte Echo mit nur einem 'Nachschlag' wird als
Slap-Echo oder Slapdelay bezeichnet, und wurde – für Gesang und Gitarre
verwendet – stilprägend für viele Aufnahmen mit Elvis Presley und das Genre
des Rockabilly. Geschickt eingesetzt ermöglichte es sogar die vermeintliche
Verdoppelung der Spielgeschwindigkeit, die Nachspielversuche durch andere Gitarristen zum Scheitern verurteilten8.
Abbildung 2-1: Funktionsweise eines Magnettonbandgeräts
Ein weiterer, typischer Tonband-Effekt ist das Dubbing bzw. Overdubbing.
Hierfür wird der Löschkopf abgeschaltet, so dass auf eine bestehende Spur
8
Schütze (2010), Spieltraditionen, Personalstile und Signature-Licks der Rock and Roll-Gitarre
(1954-1960), S. 87
2. Technologie und Produktion
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noch weitere Klangquellen aufgezeichnet werden können. Im einfachsten
Fall handelt es sich um eine Verdoppelung dessen, was sich bereits auf der
Spur befindet. Gerade Gesangs- oder Gitarrenaufnahmen gewinnen damit an
Volumen und Brillanz, ohne dass andere als die bis jetzt beschriebenen Effekte eingesetzt werden müssen. In der Praxis entsteht allerdings das Problem, dass die Qualität der bereits auf Band befindlichen Aufnahme reduziert
wird. Deshalb werden Hintergrundklänge zuerst aufgenommen und die führenden Stimmen am Schluss. Der Nachteil dieser Aufnahmevariante besteht
erstens darin, dass das Lautstärkeverhältnis der beiden nacheinander aufgenommenen Signale nicht mehr verändert werden kann. Zweitens wird durch
einen Fehler zu einem späteren Zeitpunkt das Ausgangsmaterial unbrauchbar
und muss komplett neu aufgenommen werden. Drittens ergibt sich erst bei
einem Mehrspur-Tonbandgerät die Möglichkeit, Ausgangs- und Dubbingsignal exakt miteinander zu synchronisieren. Um die beschriebenen Verzögerungen zwischen Aufnahme und Wiedergabe zu verhindern, ist es viertens
erforderlich, Aufnahme- und Wiedergabekopf als technische Einheit auszuführen. Viele der bis in die 1990er Jahre im Studio- und Homerecording-Bereich eingesetzten Mehrspurgeräte funktionierten nach diesem Prinzip. Darüber hinaus sind Aufnahme- und Wiedergabekopf auch bei den allermeisten
Kassettenrecordern aus dem HiFi-Bereich als Einheit ausgeführt. Durch Modifikation dieser Geräte konnte z. B. in der DDR eine lebendige Homerecording-Szene entstehen9.
Auch für viele weitere der klassischen Studioeffekte gilt, dass ihr Ursprung aus der Tonbandtechnik hervorgeht. Nimmt man eine Klangquelle mit
zwei separaten Tonbandgeräten parallel auf und gibt sie anschließend gleichzeitig wieder, kann durch minimale Zeitverzögerungen (die rein technisch
gesehen bereits von selbst auftreten) ein Nachhall-Effekt entstehen, der einem Raumklang ähnelt. Dieser wird jetzt als Hall oder Reverb bezeichnet und
unterscheidet sich vom Delay durch wesentlich kürzere Verzögerungszeiten,
sodass also kein 'Nachschlag' oder Echo hörbar ist. Mit Tonbandgeräten ist
dieser Effekt aber schlecht kontrollierbar, weshalb bevorzugt alternative
Techniken (Hallplatten, Hallspiralen oder R / C-Glieder) eingesetzt wurden,
die den Nachhall auf andere Art und Weise simulierten.
Werden die Signale zweier simultan laufender Tonbandgeräte mit identischem Ausgangsmaterial nicht additiv, sondern gegenphasig zusammengeführt, entsteht keine zusätzliche Klangfülle. Stattdessen löschen sich vollständig identische Signale gegenseitig aus, was technisch gesehen einem Kamm9
Hemming (2002), Begabung und Selbstkonzept. Eine qualitative Studie unter
semiprofessionellen Musikern in Rock und Pop, S. 201; Binas (1999), Kassetten als Kassiber
56
2. Technologie und Produktion
filter entspricht. Werden die Abweichungen der beiden Tonbandgeräte zueinander (mal das eine ein bisschen schneller, mal das andere) systematisch
moduliert, entstehen Effekte, die später als Chorus, Flanger und Phaser bekannt werden sollten. Im einfachsten Fall kann dies realisiert werden, indem
mal die eine, mal die andere Bandspule mit der Hand ganz kurz abgebremst
wird. In der praktischen Ausführung werden in Chorus-, Flanger- und Phaser-Effektgeräten wiederum alternative Techniken zur regelbaren und modulierten Zeitverzögerung (R / C-Glieder) eingesetzt. Sie bewirken eine 'schwebende' oder 'schlürfende' Bereicherung des Ausgangssignals, die für manche
Titel oder Zeitabschnitte populärer Musik zu bedeutenden Gestaltungsmitteln
avancierten.
Die erwähnte Hinterbandkontrolle dient insbesondere dazu, eine Übersteuerung der Magnetaufzeichnung zu verhindern, die durch maximale Sättigung des Trägermaterials entsteht und sich klanglich sehr negativ auswirkt.
Andererseits tritt durch eine zu geringe Aussteuerung das beim Tonband immer vorhandene Grundrauschen zu deutlich hervor. Der Studiotechniker
muss also darauf achten, die Aussteuerung bei leisen Signalen zu erhöhen
und bei lauten Signalen herabzusetzen: leise Stellen werden lauter, laute Stellen leiser. Auch dieser Vorgang lässt sich technisch automatisieren, und
selbst einfache Diktiergeräte verfügen oft über eine derartige automatische
Aussteuerung. Technisch gesehen handelt es sich um eine Verminderung des
gesamten Dynamikumfangs, die als Kompression bezeichnet und mit einem
Effektgerät namens Kompressor realisiert wird. Auch dieser hat seinen Ursprung damit in der Tonbandtechnik und wurde vielfach auch in der Rundfunktechnik verwendet. Der Kompressor hat einen maßgeblichen Anteil daran, dass in Mainstream-Popmusik in der Regel nur Dynamikschwankungen
im Bereich von 6dB anzutreffen sind. Anders als die automatische Aussteuerung kann ein im Studio eingesetzter Kompressor vor allem in seiner Reaktionsgeschwindigkeit und natürlich den Maximal / Minimalpegeln justiert
werden. Auf ein einzelnes Instrument wie z. B. eine Bass-Drum angewendet
kann solchermaßen eine Veränderung der Hüllkurve und damit z B. eine Verstärkung des 'Kicks' erzielt werden.
Das Gegenteil eines Kompressors ist der Expander, wobei beide Funktionen häufig in einem Gerät integriert werden. Ein Expander macht also leise
Stellen noch leiser und laute Stellen noch lauter, wodurch zum Beispiel eine
Gesangsstimme hervorgehoben werden kann. Damit verstärkt sich aber die
Gefahr der Unter- bzw. Übersteuerung, weshalb ein Expander von erfahrenen
Studiotechnikern nur behutsam eingesetzt wird. Auf einzelne Instrumente angewendet ergibt sich auch hier die Möglichkeit einer interessanten Veränderung der Hüllkurve.
2. Technologie und Produktion
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Zurück zur Session-Aufnahme:
Bis heute ist dieser Modus gebräuchlich und kommt mit allen Vor-und Nachteilen
zum Einsatz. Nicht selten läuft zur Dokumentation des kreativen Gruppenprozesses10 im Proberaum ein Aufzeichnungsgerät mit, das nur über ein Mikrofon(paar)
verfügt und noch nicht einmal an einer in klanglicher Hinsicht optimierten Stelle
platziert wird. Oder die jeweiligen Formationen produzieren in Eigenregie – ebenfalls oft im Proberaum oder in einfachen Studios – Demoaufnahmen, mit der das
Interesse von Konzertveranstaltern oder Tonträgerherstellern geweckt werden
soll. Selbst derartige Resultate gelangen gelegentlich in Umlauf und erfahren aufgrund der ihnen zugeschriebenen Authentizität von Fans eine große Wertschätzung11. Auch zur Produktion des Albums Graceland im Jahr 1986 griff Paul Simon zunächst zur Session-Aufnahme12 (die dazugehörigen Motive werden in Kapitel 9 noch einmal kritisch aufgenommen und diskutiert). Damit gilt bereits für
einen Gutteil populärer Musik, dass sie im Grunde auf recht einfache Art und
Weise auf die Tonträger gelangt und dazu noch nicht notwendigerweise ein technologisch-industrieller Komplex bemüht werden muss.
2.2 Arbeitsteilige Studioproduktion – das Studio als Musikinstrument
In technisch besonders fortgeschrittenen Studios war es schon in den 1950er Jahren möglich, mehrere Spuren parallel auf Band aufzuzeichnen (vgl. S. 473). Allerdings hat die Mehrspurtechnik bei Magnettonbandgeräten erst im Verlauf der
1960er Jahre stärkere Verbreitung erlangt. Jetzt wurde es möglich, den zentralen
Nachteil der Session-Aufnahme zu umgehen: man konnte individuelle Fehler im
Nachhinein korrigieren. Dies ermöglichte zugleich eine erhebliche Effizienzsteigerung, da nicht immer alle Musiker zugleich anwesend sein mussten. Allerdings
waren die hierfür erforderlichen Studios bis in die 2000er Jahre hinein räumlich,
technisch und personell so aufwändig, dass ihre Nutzung Musikern mit gesichertem Einkommen – meist durch vertragliche Bindung an eine Tonträgerfirma – vorbehalten war.
Ein derartiges Studio erfordert die räumliche Trennung zwischen Kontrollraum und (mindestens einem) Aufnahmeraum. Üblich sind aber mehrere, für die
jeweiligen Instrumente und ihre Akustik optimierte Aufnahmeräume. Damit steigt
der Aufwand für die Verkabelung und die Bedienung der technischen Geräte, welche nur durch speziell geschultes Personal geleistet werden kann. Mit der Zahl der
10 Rosenbrock (2006), Komposition in Pop- und Rockbands. Eine qualitative Studie zu kreativen
Gruppenprozessen
11 z. B. Metallica (o.J.), Garage days and more; The Beatles (1995), Anthology
12 Simon (1997), Classic Albums: Graceland
58
2. Technologie und Produktion
Spuren wächst außerdem die Breite der dazugehörigen Mischpulte, da immer
mehr Regler nebeneinander angeordnet werden müssen. Mit ihnen werden nicht
nur die Klangquellen auf der Aufnahmeseite zueinander in ein optimales Verhältnis gebracht (z. B. die einzelnen Mikrofone bei einer Schlagzeugaufnahme), auch
jede Wiedergabe einer Mehrspuraufnahme erfordert ein zumindest provisorisches
Abmischen der bereits aufgenommenen Spuren für die Monitoranlage.
Als Pionierleistungen in der Anwendung der Mehrspurtechnik können die
Aufnahmen der Beatles angesehen werden, die diese ab ca. 1965 in den Abbey
Road Studios ihrer Plattenfirma EMI anfertigten. Noch bis zur Einspielung des
legendären Albums Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band im Jahr 1967 standen
hier lediglich vier Spuren und keine separaten Mischpulte für Aufnahme und Wiedergabe zur Verfügung. Vor jedem Probehören musste deshalb die komplette Verkabelung wieder umgeändert werden13 – ein aus heutiger Sicht kaum vorstellbarer
Aufwand.
Schon bald wurde es bei einer Mehrspuraufnahme üblich, zunächst die
Rhythmusgruppe mit Schlagzeug und Bass aufzuzeichnen, danach die Begleitinstrumente, dann die Soloinstrumente und zuletzt den Gesang. Teure Effektgeräte,
die im Studio vielleicht nur in begrenzter Zahl vorhanden waren, konnten so bereits bei der Aufnahme jeder einzelnen Spur verwendet werden und standen danach wieder zur Verfügung (allerdings konnte man den Effektanteil an der jeweiligen Spur nachträglich auch nicht mehr verändern). Um eine gesicherte und regelmäßige Basis der Gesamtaufnahme zu gewährleisten, wurde den Schlagzeugern über Kopfhörer häufig ein Clicktrack vorgegeben, an dem sie sich zu orientieren hatten. Damit verloren diese ihre Hoheit über die Tempo(aus)gestaltung und
mussten ihre Spielweise entsprechend anpassen. Der musikalische Charakter solcher Aufnahmen unterscheidet sich deutlich von dem früher Session-Aufnahmen.
Allerdings wurde diese Praxis später teilweise auch für Session-Aufnahmen und
in den Live-Bereich übernommen.
Eine weitere Besonderheit der Mehrspuraufnahme besteht auch darin, dass
einzelne Musiker mehr als eine Aufgabe bei der Herstellung des Gesamtresultats
übernehmen können. Sie können auf einer Aufnahme mehrere und verschiedene
Instrumente spielen, sowie die Lead- und / oder die Backing-Vocals einsingen
oder einfach nur zusätzliche Effekte beisteuern. Im Extremfall kann eine
komplexe Mehrspuraufnahme sogar von einem einzelnen Musiker in Eigenregie
bewerkstelligt werden. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist das Album Tubular Bells
von Mike Oldfield aus dem Jahr 197314.
13 Benson (1992), The making of Sgt. Pepper
14 Cunningham (1996), Good vibrations. A history of record production, S. 194-198; Branson
([1998]2011), Losing my virginity: How I survived, had fun, and made a fortune doing business
my way, S. 116-129
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Session-Aufnahmen und die bisher beschriebene Praxis der Mehrspuraufnahme
setzen voraus, dass die Musiker weitgehend fertiggestellte Titel und Arrangements
mit ins Studio bringen. Ist dies nicht der Fall, oder steht aufgrund eines großzügigen finanziellen Rahmens noch Studiozeit zur Verfügung, kann sich der kreative
Prozess ganz oder teilweise ins Studio verlagern. Die Beatles etwa experimentierten mit rückwärts abgespielten Tonbändern und ausschließlich im Studio einsetzbaren Instrumenten wie dem Mellotron. Sie verdoppelten die Bandgeschwindigkeit zur Herstellung vermeintlich virtuoser Soli15 und kreierten ganze Klangcollagen, nicht unähnlich Kompositionen der musique concrète. Darüber hinaus engagierten sie zahlreiche Gastmusiker inklusive ganzer Orchester. Sie sprachen jetzt
davon, das Studio selbst als Musikinstrument einzusetzen16. Dabei wurde ihr Bekenntnis zum Studio zusätzlich dadurch unterstützt, dass sie sich aufgrund negativer Erfahrungen ab dem Jahr 1965 aus dem Live-Betrieb zurückgezogen hatten.
Für die Beatles stellte sich also gar nicht mehr das Problem, ob die im Studio produzierten Resultate auch live reproduzierbar waren. Ihre Vorstellung bestand stattdessen darin, ein Album zu produzieren und dieses virtuell auf Tournee zu schicken.
Allerdings wurde die rein studioproduzierte Musik von Kritikern nicht bedingungslos anerkannt. Wenige Jahre nach den Beatles produzierte auch Pink Floyd
zunehmend experimentelle Alben in den Abbey Road Studios, die unter den Anhängern umstritten blieben. So sah sich Pink Floyd 1969 in der Pflicht, durch das
Doppelalbum Ummagumma, welches zur Hälfte studioproduziert und zur Hälfte
live eingespielt war, unter Beweis zu stellen, dass ihre Musik grundsätzlich auch
live aufführbar war. In demselben Kontext steht auch der Film "Pink Floyd in
Pompeji"17, der aus einem Livekonzert ohne Publikum im dortigen, antiken Amphitheater besteht und durch Aufnahmeszenen aus den Abbey Road Studios ergänzt wird. Für den Musiksoziologen Kurt Blaukopf sind derartige Entwicklungen
Bestandteil des von ihm als Mediamorphose bezeichneten Wandlungsprozesses
(vgl. S. 378):
"Durch die Technik der 'Tonaufnahme' hat sich die Musik von der bisherigen Aufführungspraxis emanzipiert: was vom Lautsprecher […] an die Sinne des Rezipienten
gelangt, ist 'in Wirklichkeit' zumeist nie so exekutiert worden, wie der Rezipient es
wahrnimmt."18
15
16
17
18
MacDonald (2000), The Beatles. Das Song-Lexikon, S. 132
Benzinger (2000), Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band der Beatles, S. 28
Maben ([1973] 2003), Pink Floyd live at Pompeii. The Director's cut
Blaukopf (1996), Die Mediamorphose der Musik als globales Phänomen, S. 271
60
2. Technologie und Produktion
2.3 Homerecording-Studio / Audio-Workstation
Bereits seit einigen Jahrzehnten verlagert sich die Musikproduktion – auch auf
professionellem Niveau – sukzessive von den beschriebenen, großen Studios in
den Heimbereich und lässt sich inzwischen nicht selten an einer einzigen AudioWorkstation konzentrieren. Initialzündung hierfür dürfte die Einführung einer gemeinsamen Schnittstelle für elektronische Musikinstrumente (MIDI – Musical Instrument Digital Interface) im Jahr 1981 gewesen sein. Hierdurch wurde es sowohl
möglich, die Klänge einzelner Synthesizer von einer zentralen Tastatur aus abzurufen, als auch die Geräte mit einem Sequenzer oder Computer zentral anzusteuern. Dies erfolgte durch digitale Kodierung folgender, elementarer musikalischer
Parameter:
ƒ
Tonhöhe / Oktavlage (note on / off)
ƒ
Anschlagsdynamik (velocity)
ƒ
Klangcharakteristik nach dem Anschlag (aftertouch)
ƒ
Flexionen der Tonhöhe (pitch bend)
ƒ
Controller (z. B. Haltepedal)
An technischen Informationen wurden ferner vorgesehen:
ƒ
Instrumentenwechsel (program change)
ƒ
Puls (MIDI Clock MC, später MIDI-time-code)
ƒ
Systemdaten (SysEx)
Im MIDI-Signal ist damit eine vergleichsweise geringe Menge an musikalischen
Informationen enthalten, z. B. "Schalte auf Klang Nr. 14 und spiele mit hartem
Anschlag eine Note f''". Auch erfordert der Aufbau einer MIDI-Schnittstelle nur
wenig elektronischen Aufwand. Schon frühe Heimcomputer wie der im Jahr 1982
vorgestellte Commodore 64 konnten mit derartigen Schnittstellen nachgerüstet
und spezieller Musiksoftware ausgestattet werden. Ein Beispiel hierfür ist das Programm Steinberg Pro 16 aus dem Jahr 1985, Vorläufer des heute weltweit geläufigen Programms CuBase. Dieses erlangte seinen Durchbruch auf dem ab 1985
verfügbaren Atari ST, der zum Musikcomputer avancierte, weil er bereits serienmäßig eine MIDI-Schnittstelle eingebaut hatte. Neben ganzen Computersystemen
hatten auch viele Rhythmusgeräte oder Synthesizer eingebaute Sequenzer, mit denen auch andere Geräte angesteuert werden konnten. Der Vorteil einer MIDI-Einspielung besteht darin, dass man sich nicht vorab auf einen Klang festlegen muss,
dass sich einzelne Fehler leicht nachkorrigieren lassen sowie Ergänzungen und
Korrekturen bequem im Einzelschrittverfahren vorgenommen werden können.
Gleichzeitig lassen sich MIDI-Daten auch in elementarer Notenschrift darstellen,
und Transpositionen, Tonartwechsel usw. sind auch nachträglich jederzeit möglich.
http://www.springer.com/978-3-658-11495-4
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