1 Wolfgang Deppert Philosophisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Sokrates-Universitäts-Verein e.V. in Hamburg Die unitarische Gerechtigkeitsformel zur Vermeidung und zur Heilung von Autoimmunerkrankungen des Staates 1. Vorbemerkungen zur wirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Lage der Bundesrepublik Deutschland Trotz wechselnder Regierungen ist in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahren die Zahl der Menschen, die sich nicht durch eigene Erwerbsanstrengungen ernähren, viel zu hoch. Zu dieser Personengruppe gehören nicht nur diejenigen, die durch die offizielle Arbeitslosenstatitistik erfaßt werden, sondern auch alle Schüler und Auszubildenden sowie alle Teilnehmer an sogenannten Umschulungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen aber auch alle, die in einen sogenannten Ein-Euro-Job beschäftigt werden, natürlich gehören auch alle Vorruheständler und Ruheständler dazu, und nicht zu vergessen ist die zunehmende Zahl derjenigen, die durch richterliche Entscheidungen aus dem Erwerbsleben entfernt wurden oder derart an einer erwerblichen Tätigkeit gehindert werden, daß sie der Sozialhilfe anheimfallen. Es fehlt in zunehmendem Maße an unternehmerischen Kräften, die durch ihre eigenverantwortliche Risikobereitschaft die soziale Marktwirtschaft funktionsfähig erhalten. In den meisten europäischen Nachbarstaaten lassen sich entsprechende wirtschaftlichen Niedergangserscheinungen kaum oder gar nicht beobachten, so daß längst der Verdacht aufgekommen ist, daß in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzliche und konstante Schädigungsmechanismen wirksam sind, die ihre Ursache nicht in den wechselnden legislativen Mehrheiten und den entsprechend wechselnden Regierungen der Exekutive haben, sondern in einem allzulange für heilig gehaltenen und dadurch erstarrten Rechtssystem mit einer durch das Grundgesetz bedingten Rechtsunsicherheit und einer zum Teil sogar grundgesetzwidrigen Rechtswirklichkeit. Diese Rechtswirklichkeit repräsentiert das Wesen der Bundesrepublik Deutschland, das trotz aller politischen Veränderlichkeit nahezu konstant bleibt. Man kann demnach von einem genetischen Schaden der Bundesrepublik Deutschland sprechen; denn offenbar handelt es sich um Selbstschädigungen des Staates, die von der Konstitution und der Wirksamkeit der dritten Gewalt, der Judikative, ausgehen, ein Schaden, der darum von den anderen beiden Gewalten kaum oder nur durch sehr grundsätzliche Maßnahmen behoben werden kann. Glücklicherweise sieht sogar das Grundgesetz selbst in seinem Art. 146 vor, das ursprünglich als Provisorium eingeführte Grundgesetz durch eine vom Deutschen Volk durch Volksabstimmung eingesetzte Verfassung abzulösen, in der aus den staats- und rechtpolitischen Fehlern des Grundgesetzes gelernt werden kann. Zu diesen Fehlern gehört einerseits die fehlende Unabhängigkeit der drei Gewalten und andererseits ihre mangfelhafte Kontrolle durch das Volk. So dürfte sich eine Legislative niemals auflösen, solange sie ihrer Funktion, Gesetze zu beschließen, nachkommen kann und schon erst recht nicht durch den Eingriff der Exekutive oder gar durch ein schamlos kanzlerfreundliches Bundesverfassungsgerichtsurteil, wodurch 2005 ein außerordentlich unheilvoller 2 Zustand in der Regierungsbildung eingetrat. Die Mechanismen der nachhaltig nachteiligen Selbstschädigungen unseres politischen und wirtschaftlichen Gemeinwesens aber treten nicht so deutlich zu Tage wie die soeben beschriebenen Grundgesetzfehler, sondern diese sind sehr viel subtiler und gehen darauf zurück, daß es keine eigene Instanz der Judikative in der Bundesrepublik Deutschland gibt, die selbständig die Widerspruchsfreiheit der rechtswirksamen Gesetze mit der verfassungsmäßigen Ordnung überprüft und gegebenenfalls deren Korrektur zur Herstellung der Widerspruchsfreiheit anmahnt. Dadurch gibt es eine Fülle von Gesetzen, die nicht nur im Verdacht stehen, grundgesetzwidrig zu sein, die aber dennoch laufend zur Rechtsprechung herangezogen werden, was schmerzliche wirtschaftliche Selbstschädigungen des Staates zur Folge hat, ganz zu schweigen von der damit verbundenen Rechtsunsicherheit. Weil aber die Neuformulierung einer durch das Volk beschlossenen demokratischen Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland sich noch über viele Jahre hinziehen wird – es sind erst wenige liberale Kräfte, die daran arbeiten –, ist es eine staats- und rechtsphilosophische Pflichtaufgabe, aus dieser prekären Lage einen Ausweg zu finden, durch den zumindest die fatalen wirtschaftlichen Folgen für unser Gemeinwesen abgemildert werden können. Darum soll hier eine Gerechtigkeitsformel entwickelt werden, die den Richtern der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit gibt, ihren grundsätzlichen Entscheidungsspielraum so zu nutzen, daß sie durch ihre Urteilsfindung Selbstschädigungen des Staates vermeiden. 2. Autoimmunerkrankungen des Staates Unter Autoimmunerkrankungen versteht man in der Medizin eine Überreaktion des Immunsystems, durch die körpereigenes Eiweiß nicht als körpereigen erkannt und darum vom Immunsystem wie feindliches Fremdeiweiß bekämpft und abgestoßen wird. Eine Autoimmunerkrankung bewirkt eine schwerwiegende Selbstschädigung des Organismus, die sehr schwierig zu behandeln ist. Es gelingt nur durch Medikamente, die das Immunsystem selbst schwächen, wie etwa durch Cortison. Die Übertragung dieses Begriffs auf den Staat wurde während der zweisemestrigen Ringvorlesung „Sanierungsfall Deutschland“ an der Universität in Kiel diskutiert. 1 Dazu wurde der Begriff des Lebewesens als ein System mit einem Überlebensproblem verallgemeinernd eingeführt, so daß jeder Wirtschaftsbetrieb und jeder Verein aber auch jeder Staat ein Überlebenproblem hat und mithin ein Lebewesen ist, das vor Krankheiten zu schützen und im Falle des Erkrankens zu heilen ist. Die Minimalbedingungen zur Bewältigung des Überlebensproblems sind das Vorhandensein einer Wahrnehmungsfunktion, einer Erkenntnisfunktion, einer Maßnahmenauswahlfunktion und einer Maßnahmendurchführungsfunktion. Die Kopplungsstelle dieser Funktionen wird das Bewußtsein des Lebewesens genannt.2 Diese Funktionen werden zum Schutz des Systeminneren bei natürlichen Organismen im Falle des Eindringens von Mikroorganismen durch ein gesundes Immunsystem erfüllt. Eigentümlicherweise bilden Staaten diese überlebenswichtigen Funktionen nur im Kriegsfall für das Wahrnehmen, Erkennen und Bekämpfen von äußeren Bedrohungen deutlich aus. Im Friedensfall sind es vor allem innere Gefahren, die einem Staat zum Verhängnis werden können; dennoch aber sind die überlebenswichtigen Funktionen zum Wahrnehmen, Erkennen und Bekämpfen von inneren Gefahren nur sehr mangelhaft ausgebildet, vor allem aber sind sie kaum miteinander koordiniert, so daß sich lediglich ein kurzzeitiges gemeinsames Staatsbewußtsein ausbildet, etwa durch eine gemeinsame 1 2 Vgl. Deppert, Wolfgang und Jaudes, Robert (Hg), Sanierungsfall Deutschland, Band III der Reihe Wirtschaft mit menschlichem Antlitz, Leipziger Universitätsverlag, in Vorbereitung Leipzig 2006. Vgl. dazu die Einführung und Diskussion des Bewußtseinsbegriffs in: Wolfgang Deppert, Relativität und Sicherheit, in: Michael Rahnfeld (Hg.), Gibt es sicheres Wissen? Band V der Reihe Grundlagenprobleme unserer Zeit, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2005. 3 Angst, wie etwa die Angst vor AIDS, vor CJKn oder vor der Vogelgrippe. Genetische Erkrankungen, wie diejenigen aufgrund von staats- und rechtspolitischen Fehlern im Grundgesetz, können erst bemerkt werden, wenn Gleichgewichtsstörungen des Systems auftreten. Erkennbar werden die innerstaatlichen Krankheitsherde an bestimmten Maßnahmen, die, scheinbar gesetzeskonform, von der rechtsprechenden Gewalt und dem exekutiven Polizeiapparat durchgesetzt werden, obwohl diese Maßnahmen dem Staatsganzen extremen Schaden zufügen. Dies ist deshalb möglich, weil durch den genetischen Schaden des Grundgesetzes die Judikative nicht selbständig feststellen kann, ob die bestehenden und neu erlassenen Gesetze grundgesetzkonform sind und ob sie nicht darüber hinaus etwa auch nur in bestimmten Fällen dem Staat einen Schaden zufügen. Es muß darum davon ausgegangen werden, daß es inzwischen eine nicht zu übersehende Fülle von rechtswirksamen Gesetzen gibt, die grundgesetzwidrig sind und in bestimmten Anwendungsfällen den Staat schädigen. Weil nun diese staatsschädigenden Maßnahmen von den Staatsorganen selbst ausgeführt werden, haben wir es mit staatlichen Selbstschädigungen zu tun, die aus guten Gründen auch als Autoimmunerkrankungen des Staates bezeichnet werden. Denn die Gesamtheit der staatlichen Maßnahmendurchsetzungsfunktionen sind analog zu den natürlichen Lebewesen mit deren Immunsystemen zu vergleichen. Die Autoimmunerkrankungen des Staates zeigen sich daran, daß durch staatlich durchgesetzte Maßnahmen Menschen und deren Organisationen aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wirtschaftsleben ausgeschieden werden, obwohl sie die Elemente und Zellen des Staates sind, von denen der Staat selbst lebt. Eine erste Therapie sollte ebenso wie im medizinischen Bereich dem Immunsystem etwas von seiner Angriffsschärfe nehmen, indem etwa – wie hier beabsichtigt – den Richtern eine Gerechtigkeitsformel an die Hand gegeben wird, nach der sie weitere Selbstschädigungen des Staates künftig vermeiden können. 3. Beispiele für Autoimmunerkrankungen in der Bundesrepublik Deutschland 1. In Zeiten wirtschaftlicher Rezession gibt es viele Gründe, warum Firmen illiquide werden, ohne dabei überschuldet zu sein. Nicht selten sind es sogar Zahlungsverpflichtungen staatlicher Stellen, die diese nicht einhalten, wodurch Zahlungsunfähigkeit entsteht, so daß Lohnsteuern und Sozialabgaben nicht entrichtet werden können. Wirtschaftsunternehmen, die dem Finanzamt Lohnsteuern oder den Sozialversicherungsträgern Sozialversicherungsbeiträge schulden, werden die Firmenkonten aufgrund der Abgabenordnung durch Pfändung stillgelegt. Damit ist diesen Firmen die Geschäftsgrundlage entzogen, sie gehen zugrunde, die Zahl der Arbeitslosen vergrößert sich und es verringern sich die Steuereinnahmen des Staates. Diese Firmenvernichtung aufgrund von durchaus gesetzmäßigem Verhalten der Finanzämter oder der Sozialversicherungsträger geschieht tagtäglich, wodurch eine unübersehbarer Schaden für den Staat entsteht: Die Staatsbeamten, die diese Maßnahmen durchführen, arbeiten zwar gesetzeskonform aber dennoch gegen das Wohl des Staates. Diese Beamten befinden sich in einer klassisch tragischen Situation: Wenn sie die Gesetze befolgen, die zum Untergang der Wirtschaftsbetriebe führen, schädigen sie den Staat und verletzten durch diese Schädigung ihren Beamteneid, und wenn sie die Gesetze nicht befolgen, verletzen sie ebenfalls ihren Beamteneid. 2. Die Geschäftsführer der in den meisten Fällen unverschuldet in die Zahlungsunfähigkeit geratenen Firmen, haben nach § 64 Abs.1 GmbHG schon drei Wochen nach dem Eintreten der Illiquidität die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen, was in den allermeisten Fällen einer Firmenaufgabe gleich kommt. Handelt es sich aber bei den Geschäftsführern um Menschen, die sich Ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Gemeinwesen bewußt sind, dann werden sie versuchen, die Firma zu retten, und wenn es sich bei ihnen um Beamte handelt, sind sie sogar nach ihrem Beamteneid dazu verpflichtet, Schaden von ihrem Gemeinwesen abzuwenden, der jedoch entstünde, wenn sie den Insolvenzantrag stellten, anstatt alles daran zu setzen, die Firma und damit 4 die Arbeitsplätze zu retten. Damit ist der § 64 Abs. 1 GmbHG in Zeiten beängstigend hoher Arbeitslosigkeit ein besonders eklatanter Fall einer Selbstschädigung des Staates. Es darf doch nicht sein, daß Menschen von ihrem Staat dafür bestraft werden, daß sie sich für das Wohl des Staates einsetzen, indem sie mit ihrer Kraft und ihrem Kapital versuchen, Arbeitsplätze zu erhalten. Dennoch steht im § 84 GmbHG die eindeutig staatsschädigende Strafvorschrift: „(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer es . . . als Geschäftsführer entgegen § 64 Abs. 1 . . . unterläßt, bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen.“ Da nahezu alle Firmen während der Gründungsphase in die Zone der Überschuldung geraten, weil sie sich auf dem Markt ersteinmal bekannt machen müssen, beschleunigt dieses Gesetz nicht nur Firmenschließungen, sondern verhindert ebenso Firmenneugründungen. Und darüber hinaus werden risikofreudige Unternehmer, die unser Wirtschaftsleben so dringend braucht, von Staats wegen ohne erkennbaren Grund kriminalisiert und womöglich sogar aus dem Verkehr gezogen. 3. Wenn verantwortungsbewußte Bürger in Unkenntnis der staatsschädigenden Paragraphen im GmbHG es wagen, zur Schaffung von Arbeitsplätzen Firmenneugründungen vorzunehmen, dann können sie aufgrund der schlechten Zahlungsmoral ihrer Auftraggeber in die Situation der Illiquidität kommen, so daß sie die fälligen Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge nicht zahlen können. Aufgrund der Gesetzeslage können sie vom Finanzamt und von den Sozialversicherungsträgern persönlich in Haftung genommen werden. Wenn sie aber bereits ihr privates Vermögen geopofert haben, um die Firma noch zu retten, sind sie jedoch zahlungsunfähig. Darum wird bei ihnen der Gerichtsvollzieher vorstellig werden, um ihnen nach § 900 ZPO die eidesstattliche Versicherung abzunehmen, die zur Folge hat, daß er nach § 915 ZPO in das öffentlich einsehbare Schuldnerverzeichnis eingetragen wird. Diese Bestimmung verstößt jedoch eklatant gegen die grundgesetzliche Bestimmung Art. 1 Abs. 1 GG zum Schutz der Würde des Menschen und ist damit null und nichtig. Versteht man unter der Würde des Menschen mit Immanuel Kant ganz allgemein seine Wertsetzungskompetenz; dann darf der Mensch nicht durch den Staat daran gehindert werden, die von ihm selbst gesetzten moralischen Werte zu verfolgen, wie etwa den Wert, daß er Schulden grundsätzlich zurückzahlen will. Durch die Eintragung in das Schuldnerverzeichnis wird es einem Kaufmann aber faktisch unmöglich gemacht, jemals wieder in die Lage zu kommen, durch eigene Aktivität Geld zu verdienen und seine Schulden abzutragen. Ganz abgesehen davon, daß das Schuldnerverzeichnis lediglich die moderne Form des mittelalterlichen Prangers darstellt, und damit eklatant die Würde des Menschen verletzt, ist es außerdem aufgrund von Art. 2 Abs.1 ersatzlos zu streichen; denn durch die Aufnahme in das Schuldnerverzeichnis ist dem einzelnen Bürger „das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ im Bereich des Berufslebens genommen, zumal wenn er sich keinerlei moralischer Verfehlung schuldig gemacht hat. Schuldenmachen bedeutet nicht mehr, moralisch schuldig zu werden. Im Gegenteil! Das Schuldenmachen hat in unserem Wirtschaftsleben sogar einen sehr hohen moralischen Wert wirtschaftlicher Aktivität, wirtschaftlicher Verantwortung und wirtschaftlicher Vertrauensbildung. Denn die Wirtschaft kann nur auf dem Wege der Kreditierung von zukunftsträchtigen, innovativen Ideen wachsen. Wer Schuldner durch ein Schuldnerverzeichnis moralisch diskreditiert, schadet unserem Gemeinwesen, indem er die moralische Grundlage des wirtschaftlichen Fortschritts vernichtet. Aber es kommt noch schlimmer! Wer sich aufgrund seines Gewissens und der Bewahrung seiner Würde weigert, die eidesstattliche Versicherung abzugeben, kann nach § 901 ZPO bis zu 6 Monate (§ 913 ZPO) in Erzwingungshaft genommen werden, wozu im Mittelalter der Schuldturm diente. Es ist ein Skandal der Rechtsgeschichte, daß eine derartige Verletzung der Würde des Menschen noch Bestandteil eines deutschen Rechtssystems sein kann, das einzig auf der Bewahrung und 5 Verteidigung der Würde des Menschen aufgebaut sein soll. Um ein solches Unrecht zu vermeiden, ist nach Art. 20 Abs. 4 Widerstand zu leisten; denn die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen ist“ nach Art.1 Abs. 1 „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ und „gegen jeden, der es unternimmt,“ – und sei es auch ein Verhaftungsbeamter – „diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ 4. Wenn Bürger in Haft genommen werden, so ist dies für den Staat in jedem Falle sehr kostspielig. Und wenn Bürger in Haft genommen werden, von denen wirtschaftliche Aktivitäten ausgegangen sind, die aber aufgrund der Inhaftierung unterbleiben, dann bedeutet dies für den Staat eine weitere wirtschaftliche Schädigung. Dies bedeutet, daß wir sehr genau hinsehen müssen, unter welchen Umständen sich für Inhaftierungen überhaupt Begründungen finden lassen, die so schwer wiegen, daß man die damit verbundenen Staatsschädigungen in Kauf zu nehmen hat. Da gibt es z.B. inzwischen eine große Anzahl von Inhaftierungen aufgrund von Verkehrsdelikten, wie etwa wiederholtes Fahren ohne Führerschein oder auch aktive oder passive Verkehrsteilnahme unter Alkoholeinfluß. Selbst dann, wenn keinerlei Personenschäden zu beklagen waren, werden nach der Gesetzeslage langfristige Inhaftierungen vorgenommen, die für alle Beteiligten und insbesondere für den Staat extreme Schädigungen herbeiführen. Jeder Autofahrer weiß, wieviel gänzlich übertriebene Geschwindigkeitsbegrenzungen etwa auch im Autobahnbereich aufgestellt werden und daß insbesondere in den neuen Bundesländern eine große Anzahl von Radarfallen aufgestellt sind, so daß wohl jeder aktiv am Wirtschaftsleben teilnehmende Autofahrer schon einmal in Terminnot geraten ist, was ihm dann mit dem Verlust des Führerscheines für mindestens einen Monat gedankt wurde. Welche staatlichen Selbstschädigungen allein im Verkehrrecht zu beklagen sind, ist gewiß nicht statitisch erfaßt, es sind hier aber Größenordnungen zu vermuten, die als Verluste in den Hauhaltsplänen empfindlich zu Buche schlagen und das Entsprechende gilt für die anderen erwähnten Beispiele von Autoimmunerkrankungen des Staates. Es mag nun mit der Aufzählung von Autoimmunerkrankungen des Staates genug sein, obwohl sich die Beispielsammlung erheblich erweitern läßt. Etwa wenn man an die verheerenden Wirkungen von Gesetzen aus der Kaiserzeit denkt, wie die grundgesetzwidrigen Teile des ZVG's (Zwangsversteigerungsgesetz) oder auch das VVG (Versicherungsvertragsgesetz), das von den Nationalsozialisten schlimme Änderungen erfahren hat, deren offensichtliche Grundgesetzwidrigkeit (§§ 38-40 VVG) erst im Jahre 2008 weitgehend beseitigt worden ist. 4. Die Möglichkeit, mit Rechtsformeln positives Recht, durch das Unrecht erzeugt wird, zu überwinden Juristen werden traditionsgemäß als Rechtspositivisten herangebildet, d.h., sie werden auf das bestehehnde, das gesetzte Recht eingeschworen. Dies bedeutet zugleich, daß ihnen in ihrer Universitätsausbildung die Fähigkeit geraubt wird, über Alternativen nachzudenken und darüber zu forschen, wie das Recht in sich stimmiger und vernünftiger gemacht werden kann. Die Tatsache, daß der Deutsche Bundestag zu Hauf von Juristen bevölkert wird, hat zur Konsequenz, daß von diesem Bundestag, einerlei, welche politische Richtung gerade die Mehrheit besitzt, keine gründlichen Rechtsreformen zum Wohle des Staates zu erwarten sind. Als mit der Vereinigung Deutschlands die historische Möglichkeit bestand, daß das vereinte Deutsche Volk über eine neue demokratische Verfassung abstimmt, wie es nach Art. 146 GG vorgesehen ist, wurde diese Chance mit dem Faulheitsargument erschlagen, daß das Grundgesetz doch die beste Verfassung sei, die Deutschland jemals gehabt habe, obwohl die großen Mängel des Grundgesetzes längst bekannt waren. Aus Anlaß historischer Unrechtssituationen geraten die positivistischen Rechtsgelehrten allerdings immer wieder in große Bedrängnis, wenn nach einem positiven Recht Urteile gesprochrn werden, die himmelschreienedes Unrecht sind. Auf eine derartige Situation hat der hervortragende und dennoch 6 weitgehend unbekannte Rechtsgelehrte Hans Reichel zu Beginn des 1. Weltkrieges mit einer Formel folgenden Wortlauts reagiert: „Der Richter ist kraft seines Amtes verpflichtet, von einer gesetzlichen Vorschrift bewußt abzuweichen dann, wenn jene Vorschrift mit dem sittlichen Empfinden der Allgemeinheit dergestalt in Widerspruch steht, daß durch Einhaltung derselben die Autorität von Recht und Gesetz erheblich ärger gefährdet sein würde als durch deren Außerachtsetzung.“ 3 Dies ist eine holistische Gerechtigkeitsformel, die durch die Sicherstellung des Staatsganzen vermittelst eines gemeinsamen „sittlichen Empfindens“ motiviert ist. Dazu im scheinbaren Gegensatz steht die individuelle Gerechtigkeitsformel „jedem das Seine“ ( suum cuique ), die bereits aus dem Altertum stammt. Versucht man jedoch zu bestimmen, was unter „jedem das Seine“ zu verstehen ist , dann ist es dies: Was jedem aufgrund gemeinsamer sittlicher Vorstellungen zukommt oder nicht zukommt. Im Idealfall sollten also gewiß die holistische und die individuelle Gerechtigkeitsformel zusammenstimmen. Eine noch sehr viel prekärere Lage als im ersten Weltkrieg war nach dem zweiten Weltkrieg für die positivistischen Rechtsgelehrten gegeben, als es darum ging, nationalsozialistisches Unrecht, das nach dem gesetzten Recht der Nationalsozialisten, also nach positivem Recht, begangen wurde, abzuurteilen. Dazu schuf der positivistisch eingestellte Lübecker Rechtsgelehrte Gustav Radbruch (1878 – 1949) eine formale Gerechtigkeitsformel, die nach ihm als Radbruchsche Formel bezeichnet wird: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als 'unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat.“4 Die Radbruchsche Formel hat im Nachkriegdeutschland eine ganze Reihe von gut begründeten Anwendungen gefunden5, obwohl sie noch einer inhaltlichen Bestimmung von Gerechtigkeit bedarf, auf die Gustav Radbruch nur durch folgende Feststellung hinwies: „ wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“6 Generell werden heute die Reichelsche wie die Radbruchsche Formel für richterliche Möglichkeiten angesehen, Unrecht zu vermeiden, das durch die positivistische Anwendung von gesetztem Recht entstünde. 5. Eine Gerechtigkeitsformel zur Vermeidung von Autoimmunerkrankungen des Staates Wie bereits erwähnt, hat der Gerechtigkeitsbegriff zwei Seiten, die individuelle und die globale. In Platons Staat wird dieser Polarität des Gerechtigkeitsbegriffs dadurch Rechnung getragen, indem die Konstruktion eines idealen Staates vorgeführt und diese Konstruktion in einer strikten Isomorphie auf den Bürger übertragen wird. Hiernach ist der ideale Staat das Urbild und der Bürger ein Abbild dieses 3 4 5 6 Vgl. Hans Reichel, Gesetz und Richterspruch, zur Orientierung über Rechtsquellen- und Rechtsanwendungslehre der Gegenwart, Zürich 1914, S. 242 oder in: Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“, Inaugural – Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Kirchheim/Teck 2003, S. 12. Vgl., ebenda S. 8. Dies gilt für Prozesse über nationalsozialistisches Unrecht ebenso wie für sozialistisches Unrecht in der DDR. Vgl. ebenda oder Robert Alexy, Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, Hamburg 1993. Vgl. Steffan Forschner a.a.O. S.12. 7 Ideals, d. h., das Ganze des Staates und die Gewährleistung der Dauerhaftigkeit des Staates liefert die Eigenschaften und Handlungsvorschriften, den die Bürger zu genügen haben, um gerecht zu sein. Aristoteles hat die grundsätzliche Konstruktion von etwas Seiendem gegenüber dem Vorgehen seines Lehrers Platon umgedreht. Aristoteles geht vom Einzelnen aus, so daß die Eigenschaften des Einzelnen die Eigenschaften der Ganzheiten bestimmen, die durch Einzelnes gebildet werden. Wenn der vor 200 Jahren gestorbene Friedrich von Schiller in seinen Votivtafeln über das Ehrwürdige sagt: „Ehret ihr immer das Ganze, ich kann nur Einzelne achten, Immer im Einzelnen nur hab' ich das Ganze erblickt.“, so nimmt Schiller die aristotelische Tradition auf, die über die Aufklärung dazu geführt hat, den einzelnen Menschen in den Vordergrund der Betrachtung zu stellen und ihm unveräußerliche Menschenrechte zuzubilligen. Wie bereits erwähnt, ist sogar das ganze Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland – jedenfalls der Theorie nach – auf dem fundamentalen Menschenrecht der Würde des Menschen und den daraus folgenden Menschenrechten aufgebaut. Hier folgt das Ganze des Staates im Gegensatz zu Platon aus den Eigenschaften und Handlungsabsichten seiner Bürger. Daß es dennoch zu den hier kurz erläuterten Autoimmunerkrankungen unseres Staates kommen konnte, liegt sicher in der grundsätzlich unvermeidbaren Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, insbesondere aber auch an grundgesetzwidrigen Gesetzen, die immer noch rechtswirksam sind, obwohl sie dem Geist des Mittelalters, der Kaiserzeit oder des Nationalsozialismus entstammen, aber auch an neu gestalteten Gesetzen, die unseren Staat massiv schädigen, weil in ihnen der einzeln Handelnde noch als potentieller Verbrecher angesehen wird und ihm nicht unterstellt wird, als Bürger auch zum Wohle des Staatsganzen selbstverantwortlich tätig sein zu wollen. Diese Gesetze sind von Menschen erstellt worden, die noch von der mittelalterlichen Vorstellung von Bürgern mit einer autoritativen Lebenshaltung geleitet sind und die den Geist des Grundgesetzes, der sich in Bürgern mit einer selbstverantwortlichen Lebenshaltung äußert, noch nicht erfaßt haben. Zu diesen Gesetzen gehören die bereits zitierten Teile der Abgabenordnung, des GmbH-Gesetzes (z.B.§ 64 und § 84 GmbHG) und der Zivilprozeßordnung. Damit den staatschädigenden Wirkungen dieser Gesetze Einhalt geboten werden kann, bedarf es einer Gerechtigkeitsformel, in der die gegenseitige Abhängigkeit von Staatswohl und dem Bürgerwohl berücksichtigt wird. Denn tatsächlich sieht das Grundgesetz nicht vor, Gesetze als grundgesetzwidrig zu erkennen, die staatsschädigend sind, indem sie z. B. auf scheinbar legalem Wege aktive, einsatzbereite und verantwortungsvolle Menschen, die für das Florieren des Wirtschaftslebens unentbehrlich sind, ihrer Wirkungsmöglichkeiten berauben. Dies geschieht jedoch, z. B. durch die §§ 64 und 84 des GmbH-Gesetzes. Denn natürlich darf der Versuch, Arbeitsplätze zu erhalten, nicht unter Strafe gestellt werden. Und es versteht sich aufgrund der bestehenden Gesetzeslage von selbst, daß ein Geschäftsführer keine Verpflichtungen mehr eingehen darf, wenn seine Firma zahlungsunfähig geworden ist. Wenn aber durch derartige Gesetzesunvernunft die Wirtschaft geschädigt wird, dann haben alle Bürger darunter zu leiden, ohne daß sich ein Grundrecht finden ließe, daß es verböte, solche staatsschädigenden Gesetze zu erlassen. Hier wäre lediglich der Hinweis möglich, daß der Bundespräsident solchen Gesetzen aufgrund seines Eides nicht durch seine Unterschrift Rechtskraft verleihen dürfte. In einer Gerechtigkeitsformel, die den Richtern an die Hand zu geben wird, um durch ihre Richtersprüche staatsschädigende Wirkungen zu vermeiden, ist es zu versuchen, holistische und individuelle Gerechtigkeit miteinander zu verbinden.7 Dabei ist davon auszugehen daß es eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Wohl der einzelnen Bürger und dem Wohl des Staatsganzen gibt. Die formale Bedingung der gegenseitigen Abhängigkeit wird auf Grund ihrer einheitstiftenden Funktion als unitarisch bezeichnet. Und wenn unter der formalen Bedingung für jegliche Sittlichkeit 7 Man kann systematisch hier von einer staatsrechtlichen Vereinigung der platonischen und der aristotelischen Auswirkungen auf die Theorie der Staatenbildung und der Bildung von Rechtssystemen sprechen. 8 die Vermeidung von Schädigungen verstanden wird, dann läßt die folgende unitarische Gerechtigkeitsformel auch eine Verbindung der Reichelschen mit der Radbruchschen Formel erkennen: Unitarische Gerechtigkeitsformel: Wenn in der Anwendung eines Gesetzes auf einen Einzelfall der Schaden für den Einzelnen und den Staat größer ist als ein möglicher Schaden, der bei Nichtanwendung des Gesetzes einträte, dann ist das gesetzte Recht für diesen Fall Unrecht, und es hat die Anwendung dieses Gesetzes zu unterbleiben. Es wird nun behauptet, daß die richterliche Anwendung der unitarischen Gerechtigkeitsformel das Auftreten von Autoimmunerkrankungen des Staates verhindert. Der Verfasser ist sich der Reichweite dieser Behauptung bewußt und bittet deshalb darum, sie von anderen Gesichtpunkten her, als sie hier eingenommen wurden, zu prüfen; denn es ist durchaus denkbar, daß noch weitere Aspekte oder auch weiter spezifizierende Bedingungen in die unitarische Gerechtigkeitsformel aufzunehmen sind, damit durch sie die hier angesprochene Problematik der Selbstschädigung des Staates durch eigene Gesetze einer Lösung zugeführt werden kann. 9 Wolfgang Deppert, Kritik der wirtschaftlichen Vernunft, Band II der Reihe Wirtschaft mit menschlichem Antlitz, Leipziger Universitätsverlag in Vorbereitung Leipzig 2005 Abschnitt 6.5 Die Würde des Menschen ist seine innere Existenz verbunden mit dem Willen zu sinnvollem Handeln. 2577 220 /221 fax, Focus Herr Wendt morgenpost sachsen herr bischoff 2577 170 (69fax) ddp frau meier 250, 252 fax 0341 9610478 (Herr Hasberg, 253) Wenn aber zu jeder Tugend auch die Bewußtheit der Gründe gehört, warum man sich ihr gemäß verhalten will, dann fragt sich erneut, welche Funktion der Vorstellung der Gerechtigkeit im Staatsganzen noch zukommen kann. Die Richtung zur Beantwortung dieser Frage gibt Platon selbst an, indem er darstellt, daß Sokrates eine plötzliche Entdeckung zum Gerechtigkeitsbegriff gemacht habe, die ihm bisher aus unerklärlichen Gründen verborgen war, obwohl sie schon immer offen zutage gelegen habe. Platon läßt Sokrates dazu folgendes sagen (432d8-e3): „Schon lange () liegt sie uns von Anfang an vor den Füßen, und wir haben sie nur nicht gesehen, sondern waren ganz lächerlich, wie bisweilen Leute die etwas in der Hand haben dasselbe suchen was sie haben; so haben auch wir nicht auf den Fleck gesehn, sondern irgend wohin ins weite, daher sie uns denn natürlich entgehen mußte.“ Was man, wie hier von Platon dargelegt, leicht übersieht, ist etwas, das all dem, womit man umgeht, in gleicher Weise anhaftet, und genau so etwas meint Platon. Könnte es wohl so sein, das Gerechtigkeit etwas ist, was allen Tugenden anhaftet, was mithin eine Tugend von Tugenden wäre? Wie äußert sich nun Platon selbst? Er läßt Sokrates sagen (433a1-b4): „Nämlich was wir von Anfang an festgesetzt haben, was jeder durchgängig tun müßte, als wir die Stadt gründeten, eben dieses, oder doch eine Art davon, ist wie mich dünkt die Gerechtigkeit. Denn wir haben ja festgesetzt und oftmals gesagt, wenn du dich des erinnerst, daß jeder sich nur auf eines befleißigen müsse von dem was zum Staate gehört , wozu nämlich seine Natur sich am geschicktesten eignet. () Und gewiß, daß das seinige tun und sich nicht in vielerlei mischen Gerechtigkeit ist, auch das haben wir von vielen Anderen gehört und gewiß auch öfters selbst gesagt. () – (). Dieses also () wenn es auf gewisse Weise geschieht, scheint die Gerechtigkeit zu sein, daß jeder das seinige verrichtet.“ Das scheint ein ganz und gar formaler und sogar relativistischer Ansatz zu sein. Denn wer könnte bestimmen, worin das seinige eines Menschen besteht? Doch wohl nur der Mensch selbst. Nur dieser kennt doch wohl seine eigenen Naturanlagen am besten. Aber das kann Platon nicht gemeint haben; wenn er den ganzen Erwerbsstand für unfähig zur Selbstbestimmung hält, wie es in seinem Begriff von Besonnenheit zum Ausdruck kommt. Andererseits hatte er aber schon bei der Beschreibung seines einfachsten Staates diesen Gedanken, daß jeder das Seine zu tun habe, geäußert. Das Rätsel, was Platon mit dem Seinigen meint, löst er so, daß es ja nicht für das Gemeinwesen problematisch ist, wenn der Schuster die Arbeit eines Zimmermannes und der Zimmermann die eines Schusters täte (434a), daß es aber verheerende Folgen hätte, wenn etwa ein Handwerker Wächter werden wollte oder gar ein Wächter ein Politiker (434b). Und dazu führt Platon folgendes aus (434b10- c11): „Also dieser drei Klassen Einmischerei in ihr Geschäft und gegenseitiger Tausch ist der größte Schaden für die Stadt und 10 kann mit vollem Recht Frevel genannt werden. () Dies ist also die Ungerechtigkeit. Und so laß und so laß uns wiederum so erklären, der erwerbenden, beschützenden und beratenden Klasse Geschäftstreue, daß nämlich jede von diesen das ihrige verrichtet in der Stadt, würde das Gegenteil von jenem also Gerechtigkeit sein, und die Stadt gerecht machen.“ Genau dasselbe aber ist im Prinzip durch das beschriebene Begriffstripel der Besonnenheit bereits von der dadurch bestimmten Bedeutung dessen, was Besonnenheit heißen soll, festgelegt: Diejenigen, die sich in der aktiven Form der autoritativen Lebenshaltung befinden, herrschen, diejenigen, die sich je nach Hinsicht in der aktiven oder passiven Form der autoritativen Lebenshaltung befinden, sind die Wächter und diejenigen, die sich in der passiven Form der autoritativen Lebenshaltung vorfinden, gehorchen den Regierenden und den Wächtern. Dies legte ja bereits der Begriff der Besonnenheit fest. Damit ist immernoch offen, wozu denn nun noch die Gerechtigkeit gut sein soll. Um diese Frage beantworten zu können, muß man sich daran erinnern, daß schon im zweiten Buch die Entscheidung gefallen war, daß die Gerechtigkeit im Sinne einer Substanz begriffen werden soll, die den Menschen und dem Staat oder deren Zuständen anhaften. Gerechtigkeit im Sinne eines Zustandes zu verstehen, heißt aber, daß die Gerechtigkeit im Staat andauert und nicht, daß etwa zufälligerweise die Bedingungen einmal dafür gegeben sind, daß das Begriffstripel der Besonnenheit zu einem Zeitpunkt auf einen Staat anwendbar ist. Es muß die Bedingung der Dauerhaftigkeit erfüllt sein, sonst handelt es sich nicht um einen Zustand und mithin auch nicht um Gerechtigkeit. Das bloße Vorliegen der Besonnenheit aller Stände garantiert offenbar noch nicht deren Dauerhaftigkeit. Hier zeigt sich auf sehr subtile Weise, daß Platon wohl doch intuitiv eine begriffliche Konstruktion mit seinem Begriffstripel der Besonnenheit vorgenommen hat, so daß dadurch die Frage nach der Anwendbarkeit des rein begrifflich Gedachten aufkommt. Die rein begrifflich vorgenommene Bestimmung der drei Elemente des Begriffstripels ‚Besonnenheit‘ erzwingt nicht, daß sich dieses Begriffstripel auch auf die Wirklichkeit anwenden läßt. Diese Funktion kommt der platonischen Vorstellung von Gerechtigkeit zu. Erst durch das Bewußtsein der Menschen, die durch die Anwendung des Begriffstripels der Besonnenheit eine bestimmte Funktion zugewiesen bekommen haben, läßt sich sicherstellen, daß diese Anwendbarkeit auf die gewählten Klassen von ganz bestimmten Menschen auch dauerhaft gelingt. Dies ist das Bewußtsein, die einmal erhaltene Funktion auch dauerhaft zu erfüllen. Und wenn dieses Bewußtsein im Staat bei allen den in die drei Klassen eingeteilten Menschen vorhanden ist, dann ist der Zustand des Staates gewährleistet, der für Platon Gerechtigkeit heißt. Darum könnte man auch sagen, daß die Gerechtigkeit der Anteil an einer Tugend ist, durch den der Wille bestimmt ist, diese Tugend auch durchzuhalten, die Erfordernisse dieser Tugend dauerhaft erfüllen zu wollen. Dies aber ist im tiefsten Sinne das, was den Tugenden schon immer anhaftet und was man übersieht, wenn man sie nur in ihren einzelnen Funktionen beschreibt. Damit ist nun deutlich, daß Platons Gerechtigkeitsbegriff eine Tugend der Tugenden ist, daß mithin keine Tugend ohne Gerechtigkeit von Dauer sein muß. Man könnte auch sagen, daß die Gerechtigkeit allen anderen Tugenden zugrundeliegt. Gerechtigkeit ist der Wille zum Erhalt des Ganzen; denn nur wenn die Tugenden dauerhaft ausgeübt werden, kann sich das Ganze des Staates erhalten. Kant hat zur Kennzeichnung dieser Willensbestimmung vor allem den Begriff der Pflicht benutzt, der sich aus dem Kategorischen Imperativ ableitet, der den Erhalt der staatstragenden allgemeinen Vernunft sicherstellen soll. Die Gerechtigkeit ist die staatserhaltende Tugend. Der Begriff 'Gerechtigkeit' läßt sich demnach von der Sicht des Staates aus bestimmen, indem seine Teile so organisch zusammengefügt und tätig sind, so daß die Existenzproblematik des Staates dauerhaft bewältigt werden kann. Es mag bei dieser Art der Begriffsbestimmung darum von organischer Gerechtigkeit gesprochen werden. Die organische Gerechtigkeitsformel lautet dann: Gerecht ist, was dem Staatserhalt dauerhaft dienlich ist, ungerecht ist, was den Staat schädigt. Im scheinbaren Gegensatz zur organischen Gerechtigkeit gibt es auch eine individuelle Gerechtigkeit. Platon entwickelt beide Gerechtigkeitsbegriffe in strenger Analogie zueinander, ja sogar, wie in 11 Abschnitt 4.3.2.5 noch gezeigt wird in strenger Isomorphie zueinander, so daß zwischen beiden Gerechtigkeitsbegriffen kein Widerspruch möglich ist. Nun ist die platonische organische Gerechtigkeitsbestimmung, daß jeder das Seine zu tun habe, nur auf das Handeln der Menschen im Staat hinsichtlich der Beständigkeit ihrer Besonnenheitsfunktionserfüllung ausgerichtet, und man könnte sich fragen, ob nicht der Zustand der Gerechtigkeit eines Staates auch bewirken müsse, daß auch die Eigentumsverhältnisse der Menschen im Staat stabil sind. Genau diese Frage hat sich auch Platon vorgelegt, indem er überlegt, ob nicht den Herrschenden auch die Aufgabe zukomme, Recht zu sprechen, und das heißt, danach zu entscheiden (433e), „daß einem jeden weder fremdes zugeteilt noch ihm das seinige genommen werde.“ Diese Frage führt dazu, daß Platon seinen Gerechtigkeitsbegriff nicht nur auf das Tun bezieht, sondern auch auf das Haben erweitert, indem er sagt: „() demnach würde, daß jeder das seinige und gehörige hat und tut, als Gerechtigkeit anerkannt werden.“ Das Ziel Platons ist auch hier überdeutlich – wie schon mehrfach betont – : Platon möchte Stabilität in einen Staat hineintragen, er möchte Sicherheit für die Existenz eines Staates durch den Gerechtigkeitsbegriff gewährleistet wissen. Und damit bestätigt sich auch auf die Eigentumsverhältnisse: Das, was einem Staat und damit den darin lebenden Menschen die Existenzsicherung verschafft, das ist Gerechtigkeit und es ist die Pflicht der Bürger das Ihrige zu tun, um diesen Zustand zu erhalten. Dieser Auffassung können wir heute gewiß beipflichten. Wir müssen aber bedenken, daß zu Platons Zeiten zu den erlaubten Mitteln der Staataerhaltung auch die Todesstrafe oder das Nemen von Sklaven gehörten. Darum kommt für uns heute der individuellen Gerechtigkeit noch eine sehr viel tiefer gehende Bedeutung; denn wir können heute nicht mehr begründen, einen Staat durch die Mißachtung von elementaren Menschenrechten zu erhalten, in dem noch staatlich angeordneter Mord in Form der sogenannten Todesstrafe öffentlich betrieben wird. Dies bedeutete eine Mißachtung der Würde eines jeden Menschen. Aber was heißt das, die Würde des Menschen, und warum sollten wir sie achten? Dies sind die Fragen, die Kant mit einer Metaphysik der Sitten zu beantworten trachtet, und ebenso Platon steht vor dem Problem: Wie kann der Mensch davon überzeugt werden, daß es für ihn vernünftig ist, das zu tun, was der Gerechtigkeitsbegriff Platons von ihm verlangt, daß er als Untertan nur den Anordnungen der Regenten oder deren verlängerten Arm der Wächter zu gehorchen hat, daß er als Wächter den Regenten zu gehorchen und den Untertanen zu befehlen hat und daß er als Regent ausschließlich den unteren Ständen zu befehlen hat? Bei der Beantwortung dieses Fragenkomplexes wird es nun ganz deutlich, daß Platon und auch wir heute bei der Beantwortung entsprechender Fragen Begründungsendpunkte oder - wie ich gern sage mythogene Ideen brauchen. Dies ist das, was Kant Metaphysik nennt. Diesem Sprachgebrauch Kants schließe ich mich ausdrücklich an, so daß eine metaphysikfreie Ethik schlicht eine unbegründete Ethik ist, in der Scheinbegründungen mit Hilfe von inhaltsleeren Worthülsen verwendet werden oder in der sich der nachvollziehbare Gebrauch der Sprache in einem undurchdringlichen Bedeutungsnebel verliert. Dieser Nebel wird immer wieder im Bundestag ausgebreitet, wenn eine Partei ihre eigenen ethischen Vorstellungen durchsetzen und die Ethik einer anderen Partei als unmoralisch brandmarken möchte. Dies geschieht z.B. bei der Diskussion über die Zulässigkeit der Forschung an Stammzellen des Menschen oder bei der Frage der aktiven Sterbehilfe. Da wird dann immer wieder das Wort ‚Würde‘ des Menschen verwendet, ohne daß jemand sagt, was darunter zu verstehen ist, und vor allem wird natürlich von Ethik und Moral gesprochen, ohne auch nur ansatzweise erkennen zu lassen, welches die Grundpositionen von Ethik oder Moral sein könnten, um ihre Handlungsnormen begründbar oder gar ableitbar zu machen. Dennoch wird gerade wegen dieses Bedeutungsnebels oft von den Nachrichtensprechern der Ernst und die Gründlichkeit der Diskussion gelobt. Was haben wir Philosophen da nur angerichtet, daß es in der öffentlichen Meinung schon ausreicht, als ernsthaft angesehen zu werden, wenn man nur das Wort ‚ethisch‘ genügend oft im Munde führt, einerlei, was man oder ob man überhaupt etwas klares damit verbindet? 12 Platon hat für sich bereits deutlich erkannt: „Die Endpunkte der Begründung für die Einsicht, daß es für mich selbst vernünftig ist, das Ganze zu erhalten und dies durch die Erfüllung meiner Funktion im Ganzen zu tun, – diese Begründungsendpunkte – müssen von mythischer Struktur sein, in denen Einzelnes und Allgemeines, Materielles und Ideelles, Existentielles und Begriffliches in einer Vorstellungseinheit zusammenfallen.“ Dies ist der Grund dafür, daß Platon uns seinen Mythos von den erdgeborenen Menschen erzählt hat und von den Beimischungen des Erzenen, Eisernen, Silbernen und Goldenen, die ihnen von Natur aus eingeboren sind. Denn dadurch ist durch einen Mythos begründet, warum sie alle miteinander verbunden sind, warum ihnen ein ganz bestimmter Platz im Ganzen zukommt und warum sie sich alle für den Erhalt dieses Ganzen einzusetzen haben. Solche staatstragenden Mythen sind heute noch vor allem in den Bereichen der sogenannten Offenbarungsreligionen lebendig, wie etwa im Judentum und im Islam, und es scheint bis heute kaum möglich zu sein, aus diesen divergenten mythischen Überzeugungen eine Staatsidee zu gewinnen, in denen die Anhänger des Judentums und des Islams friedlich zusammenleben könnten. Dies scheint so lange zu gelten, solange die religiösen Überzeugungen durch die Metaphysik der staatstragenden Sitten kollektiv vertreten werden. Platon hat dazu bereits eine Vorstellung ausgearbeitet, durch die die Bedeutung des einzelnen Menschen selbst von vornherein der Bedeutung des Kollektiven nicht nachsteht; denn sein Anliegen ist ja gerade, die Vorstellung von Gerechtigkeit am großen System eines Staates zu demonstrieren, um dadurch die Bedeutung der Gerechtigkeit für den einzelnen Menschen erkennbar zu machen. Schon nach diesem Ansatz, muß es denkbar sein, daß ein Mensch für sich selbst die Kriterien der Gerechtigkeit erfüllt, ohne daß dies für seine Umgebung oder für das Kollektiv, dem er angehört, gültig sein müßte. Gerade diese Situation hatte Platon durch Sokrates und seinem Staat Athen, vertreten durch die demokratisch eingesetzten Richter, die Sokrates ungerechterweise zum Tode verurteilten, so schmerzlich erleben müssen. Dadurch, daß Platon diese Denkmöglichkeit auch in seinem Staatsmodell darstellen wollte, ist in Platons Staatskonstruktion ungewollt die Möglichkeit zu einer Entwicklung zu Staatskonzeptionen angelegt, die sich auf eine Gerechtigkeitsvorstellung gründen, die sich ersteinmal nur im einzelnen Menschen verwirklichen. Dies aber ist die relativistische Konzeption seines Lehrers Sokrates, daß die Möglichkeit eines demokratischen Staates durch den Gerechtigkeitssinn des einzelnen Menschen selbst bedingt ist. Dies aber setzt eine selbstverantwortliche Lebenshaltung voraus, deren zahlreiches Vorhandensein in der breiten Masse Platon für unmöglich hielt. Zu seiner Zeit hatte Platon mit dieser Auffassung vermutlich auch Recht. Es ist die große historische Aufgabe der heute existierenden demokratischen Staaten, zu zeigen, daß sie von der Bevölkerungsmehrheit aus Selbstverantwortung mitgetragen werden und dadurch auf Dauer lebensfähig sind. Bedenkt man jedoch, daß in der Bundesrepublik Deutschland sich höchstens drei Promille der gesamten Bevölkerung an der politischen Willensbildung beteiligen, dann kann einem himmelangstundbange um den dauerhaften Bestand unserer demokratischen Staatsform werden. Und in den USA, ein Land, das sich gern als Musterland der demokratischen Staaten bezeichnet, regiert ein Präsident, der nach den Gesamtstimmen seiner ersten Präsidentschaftswahl unterlegen war und nur durch ein undemokratisches und rassistisches Wahlgesetz die Regierungsmacht erwerben konnte, ein Umstand, den die anderen demokratischen Länder ohne Murren akzeptiert haben, und nun regiert dieser Präsident mit einem nationalistischen Machtgehabe, durch das er, wie es in der Presse heißt, 80 Prozent der Bevölkerung hinter sich gebracht hat, eine Bevölkerung, die sich immernoch in einem vorzivilisierten Zustand befindet, indem sie mit Mehrheit die Todesstrafe gut heißt. Der demokratische Gedanke kann aber nur dauerhaft staatstragend sein, wenn mit ihm die Anerkennung der elementaren Menschenrechte, wie das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche Unversehrtheit, verbunden sind. Diese Bedingung aber gilt weder für die USA noch für Japan, und das heißt, die Sache der Demokratie ist für die Zukunft in höchstem Maße gefährdet. 13 Damit sich die Sache der Demokratie argumentativ überzeugend darstellen läßt, muß man sich klar machen, wie es dazu gekommen ist, daß wir dem einzelnen Menschen die grundsätzliche Fähigkeit zur Selbstbestimmung zutrauen können. Dazu hat auch Platon, obwohl dies sein Lehrer Sokrates vor ihm schon sehr viel überzeugender vorgelebt hat, trotz Platons grundsätzlich absolutistisch ausgerichteten Vorhabens einen wichtigen Beitrag geleistet, indem er das erste Mal Seelenteile im Menschen unterschied, durch deren Zusammenwirken der Mensch in sich selbst das Vermögen zur Selbstbestimmung entwickeln kann. Durch die Darstellung der hierarchisch geordneten Teile des Staates, denen ebenso hierarchisch angeordnete Tugenden entsprechen und dem durch die Gerechtigkeit Beständigkeit garantiert werden soll, hat die Konstruktion des idealen platonischen Staates einen gewissen Abschluß erreicht, der die Möglichkeit bereitstellen soll, auch das zu bestimmen, was für den einzelnen Menschen Gerechtigkeit bedeuteten kann. Dieser Frage wird im nächsten Unterabschnitt nachgegangen.