1 Wolfgang Deppert Philosophisches Seminar der Christian

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Wolfgang Deppert
Philosophisches Seminar der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Sokrates-Universitäts-Verein e.V. in Hamburg
Die unitarische Gerechtigkeitsformel
zur Vermeidung und zur Heilung von
Autoimmunerkrankungen des Staates
1. Vorbemerkungen zur wirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Lage der
Bundesrepublik Deutschland
Trotz wechselnder Regierungen ist in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahren die Zahl der
Menschen, die sich nicht durch eigene Erwerbsanstrengungen ernähren, viel zu hoch. Zu dieser
Personengruppe gehören nicht nur diejenigen, die durch die offizielle Arbeitslosenstatitistik erfaßt
werden, sondern auch alle Schüler und Auszubildenden sowie alle Teilnehmer an sogenannten
Umschulungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen aber auch alle, die in einen sogenannten Ein-Euro-Job
beschäftigt werden, natürlich gehören auch alle Vorruheständler und Ruheständler dazu, und nicht zu
vergessen ist die zunehmende Zahl derjenigen, die durch richterliche Entscheidungen aus dem
Erwerbsleben entfernt wurden oder derart an einer erwerblichen Tätigkeit gehindert werden, daß sie
der Sozialhilfe anheimfallen. Es fehlt in zunehmendem Maße an unternehmerischen Kräften, die durch
ihre eigenverantwortliche Risikobereitschaft die soziale Marktwirtschaft funktionsfähig erhalten.
In den meisten europäischen Nachbarstaaten lassen sich entsprechende wirtschaftlichen
Niedergangserscheinungen kaum oder gar nicht beobachten, so daß längst der Verdacht aufgekommen
ist, daß in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzliche und konstante Schädigungsmechanismen
wirksam sind, die ihre Ursache nicht in den wechselnden legislativen Mehrheiten und den
entsprechend wechselnden Regierungen der Exekutive haben, sondern in einem allzulange für heilig
gehaltenen und dadurch erstarrten Rechtssystem mit einer durch das Grundgesetz bedingten
Rechtsunsicherheit und einer zum Teil sogar grundgesetzwidrigen Rechtswirklichkeit. Diese
Rechtswirklichkeit repräsentiert das Wesen der Bundesrepublik Deutschland, das trotz aller politischen
Veränderlichkeit nahezu konstant bleibt. Man kann demnach von einem genetischen Schaden der
Bundesrepublik Deutschland sprechen; denn offenbar handelt es sich um Selbstschädigungen des
Staates, die von der Konstitution und der Wirksamkeit der dritten Gewalt, der Judikative, ausgehen,
ein Schaden, der darum von den anderen beiden Gewalten kaum oder nur durch sehr grundsätzliche
Maßnahmen behoben werden kann.
Glücklicherweise sieht sogar das Grundgesetz selbst in seinem Art. 146 vor, das ursprünglich als
Provisorium eingeführte Grundgesetz durch eine vom Deutschen Volk durch Volksabstimmung
eingesetzte Verfassung abzulösen, in der aus den staats- und rechtpolitischen Fehlern des
Grundgesetzes gelernt werden kann. Zu diesen Fehlern gehört einerseits die fehlende Unabhängigkeit
der drei Gewalten und andererseits ihre mangfelhafte Kontrolle durch das Volk. So dürfte sich eine
Legislative niemals auflösen, solange sie ihrer Funktion, Gesetze zu beschließen, nachkommen kann
und schon erst recht nicht durch den Eingriff der Exekutive oder gar durch ein schamlos
kanzlerfreundliches Bundesverfassungsgerichtsurteil, wodurch 2005 ein außerordentlich unheilvoller
2
Zustand in der Regierungsbildung eingetrat.
Die Mechanismen der nachhaltig nachteiligen Selbstschädigungen unseres politischen und
wirtschaftlichen Gemeinwesens aber treten nicht so deutlich zu Tage wie die soeben beschriebenen
Grundgesetzfehler, sondern diese sind sehr viel subtiler und gehen darauf zurück, daß es keine eigene
Instanz der Judikative in der Bundesrepublik Deutschland gibt, die selbständig die
Widerspruchsfreiheit der rechtswirksamen Gesetze mit der verfassungsmäßigen Ordnung überprüft
und gegebenenfalls deren Korrektur zur Herstellung der Widerspruchsfreiheit anmahnt. Dadurch gibt
es eine Fülle von Gesetzen, die nicht nur im Verdacht stehen, grundgesetzwidrig zu sein, die aber
dennoch laufend zur Rechtsprechung herangezogen werden, was schmerzliche wirtschaftliche
Selbstschädigungen des Staates zur Folge hat, ganz zu schweigen von der damit verbundenen
Rechtsunsicherheit.
Weil aber die Neuformulierung einer durch das Volk beschlossenen demokratischen Verfassung für
die Bundesrepublik Deutschland sich noch über viele Jahre hinziehen wird – es sind erst wenige
liberale Kräfte, die daran arbeiten –, ist es eine staats- und rechtsphilosophische Pflichtaufgabe, aus
dieser prekären Lage einen Ausweg zu finden, durch den zumindest die fatalen wirtschaftlichen Folgen
für unser Gemeinwesen abgemildert werden können. Darum soll hier eine Gerechtigkeitsformel
entwickelt werden, die den Richtern der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit gibt, ihren
grundsätzlichen Entscheidungsspielraum so zu nutzen, daß sie durch ihre Urteilsfindung
Selbstschädigungen des Staates vermeiden.
2. Autoimmunerkrankungen des Staates
Unter Autoimmunerkrankungen versteht man in der Medizin eine Überreaktion des Immunsystems,
durch die körpereigenes Eiweiß nicht als körpereigen erkannt und darum vom Immunsystem wie
feindliches Fremdeiweiß bekämpft und abgestoßen wird. Eine Autoimmunerkrankung bewirkt eine
schwerwiegende Selbstschädigung des Organismus, die sehr schwierig zu behandeln ist. Es gelingt nur
durch Medikamente, die das Immunsystem selbst schwächen, wie etwa durch Cortison.
Die Übertragung dieses Begriffs auf den Staat wurde während der zweisemestrigen Ringvorlesung
„Sanierungsfall Deutschland“ an der Universität in Kiel diskutiert. 1 Dazu wurde der Begriff des
Lebewesens als ein System mit einem Überlebensproblem verallgemeinernd eingeführt, so daß jeder
Wirtschaftsbetrieb und jeder Verein aber auch jeder Staat ein Überlebenproblem hat und mithin ein
Lebewesen ist, das vor Krankheiten zu schützen und im Falle des Erkrankens zu heilen ist. Die
Minimalbedingungen zur Bewältigung des Überlebensproblems sind das Vorhandensein einer
Wahrnehmungsfunktion, einer Erkenntnisfunktion, einer Maßnahmenauswahlfunktion und einer
Maßnahmendurchführungsfunktion. Die Kopplungsstelle dieser Funktionen wird das Bewußtsein des
Lebewesens genannt.2 Diese Funktionen werden zum Schutz des Systeminneren bei natürlichen
Organismen im Falle des Eindringens von Mikroorganismen durch ein gesundes Immunsystem erfüllt.
Eigentümlicherweise bilden Staaten diese überlebenswichtigen Funktionen nur im Kriegsfall für das
Wahrnehmen, Erkennen und Bekämpfen von äußeren Bedrohungen deutlich aus. Im Friedensfall sind
es vor allem innere Gefahren, die einem Staat zum Verhängnis werden können; dennoch aber sind die
überlebenswichtigen Funktionen zum Wahrnehmen, Erkennen und Bekämpfen von inneren Gefahren
nur sehr mangelhaft ausgebildet, vor allem aber sind sie kaum miteinander koordiniert, so daß sich
lediglich ein kurzzeitiges gemeinsames Staatsbewußtsein ausbildet, etwa durch eine gemeinsame
1
2
Vgl. Deppert, Wolfgang und Jaudes, Robert (Hg), Sanierungsfall Deutschland, Band III der Reihe Wirtschaft mit
menschlichem Antlitz, Leipziger Universitätsverlag, in Vorbereitung Leipzig 2006.
Vgl. dazu die Einführung und Diskussion des Bewußtseinsbegriffs in: Wolfgang Deppert, Relativität und Sicherheit, in:
Michael Rahnfeld (Hg.), Gibt es sicheres Wissen? Band V der Reihe Grundlagenprobleme unserer Zeit, Leipziger
Universitätsverlag, Leipzig 2005.
3
Angst, wie etwa die Angst vor AIDS, vor CJKn oder vor der Vogelgrippe. Genetische Erkrankungen,
wie diejenigen aufgrund von staats- und rechtspolitischen Fehlern im Grundgesetz, können erst
bemerkt werden, wenn Gleichgewichtsstörungen des Systems auftreten.
Erkennbar werden die innerstaatlichen Krankheitsherde an bestimmten Maßnahmen, die, scheinbar
gesetzeskonform, von der rechtsprechenden Gewalt und dem exekutiven Polizeiapparat durchgesetzt
werden, obwohl diese Maßnahmen dem Staatsganzen extremen Schaden zufügen. Dies ist deshalb
möglich, weil durch den genetischen Schaden des Grundgesetzes die Judikative nicht selbständig
feststellen kann, ob die bestehenden und neu erlassenen Gesetze grundgesetzkonform sind und ob sie
nicht darüber hinaus etwa auch nur in bestimmten Fällen dem Staat einen Schaden zufügen. Es muß
darum davon ausgegangen werden, daß es inzwischen eine nicht zu übersehende Fülle von
rechtswirksamen Gesetzen gibt, die grundgesetzwidrig sind und in bestimmten Anwendungsfällen den
Staat schädigen. Weil nun diese staatsschädigenden Maßnahmen von den Staatsorganen selbst
ausgeführt werden, haben wir es mit staatlichen Selbstschädigungen zu tun, die aus guten Gründen
auch als Autoimmunerkrankungen des Staates bezeichnet werden. Denn die Gesamtheit der staatlichen
Maßnahmendurchsetzungsfunktionen sind analog zu den natürlichen Lebewesen mit deren
Immunsystemen zu vergleichen.
Die Autoimmunerkrankungen des Staates zeigen sich daran, daß durch staatlich durchgesetzte
Maßnahmen Menschen und deren Organisationen aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Wirtschaftsleben ausgeschieden werden, obwohl sie die Elemente und Zellen des Staates sind, von
denen der Staat selbst lebt. Eine erste Therapie sollte ebenso wie im medizinischen Bereich dem
Immunsystem etwas von seiner Angriffsschärfe nehmen, indem etwa – wie hier beabsichtigt – den
Richtern eine Gerechtigkeitsformel an die Hand gegeben wird, nach der sie weitere
Selbstschädigungen des Staates künftig vermeiden können.
3. Beispiele für Autoimmunerkrankungen in der Bundesrepublik Deutschland
1. In Zeiten wirtschaftlicher Rezession gibt es viele Gründe, warum Firmen illiquide werden, ohne
dabei überschuldet zu sein. Nicht selten sind es sogar Zahlungsverpflichtungen staatlicher Stellen,
die diese nicht einhalten, wodurch Zahlungsunfähigkeit entsteht, so daß Lohnsteuern und
Sozialabgaben nicht entrichtet werden können. Wirtschaftsunternehmen, die dem Finanzamt
Lohnsteuern oder den Sozialversicherungsträgern Sozialversicherungsbeiträge schulden, werden die
Firmenkonten aufgrund der Abgabenordnung durch Pfändung stillgelegt. Damit ist diesen Firmen
die Geschäftsgrundlage entzogen, sie gehen zugrunde, die Zahl der Arbeitslosen vergrößert sich
und es verringern sich die Steuereinnahmen des Staates. Diese Firmenvernichtung aufgrund von
durchaus gesetzmäßigem Verhalten der Finanzämter oder der Sozialversicherungsträger geschieht
tagtäglich, wodurch eine unübersehbarer Schaden für den Staat entsteht: Die Staatsbeamten, die
diese Maßnahmen durchführen, arbeiten zwar gesetzeskonform aber dennoch gegen das Wohl des
Staates. Diese Beamten befinden sich in einer klassisch tragischen Situation: Wenn sie die Gesetze
befolgen, die zum Untergang der Wirtschaftsbetriebe führen, schädigen sie den Staat und verletzten
durch diese Schädigung ihren Beamteneid, und wenn sie die Gesetze nicht befolgen, verletzen sie
ebenfalls ihren Beamteneid.
2. Die Geschäftsführer der in den meisten Fällen unverschuldet in die Zahlungsunfähigkeit geratenen
Firmen, haben nach § 64 Abs.1 GmbHG schon drei Wochen nach dem Eintreten der Illiquidität die
Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen, was in den allermeisten Fällen einer
Firmenaufgabe gleich kommt. Handelt es sich aber bei den Geschäftsführern um Menschen, die
sich Ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Gemeinwesen bewußt sind, dann werden sie versuchen,
die Firma zu retten, und wenn es sich bei ihnen um Beamte handelt, sind sie sogar nach ihrem
Beamteneid dazu verpflichtet, Schaden von ihrem Gemeinwesen abzuwenden, der jedoch
entstünde, wenn sie den Insolvenzantrag stellten, anstatt alles daran zu setzen, die Firma und damit
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die Arbeitsplätze zu retten. Damit ist der § 64 Abs. 1 GmbHG in Zeiten beängstigend hoher
Arbeitslosigkeit ein besonders eklatanter Fall einer Selbstschädigung des Staates. Es darf doch nicht
sein, daß Menschen von ihrem Staat dafür bestraft werden, daß sie sich für das Wohl des Staates
einsetzen, indem sie mit ihrer Kraft und ihrem Kapital versuchen, Arbeitsplätze zu erhalten.
Dennoch steht im § 84 GmbHG die eindeutig staatsschädigende Strafvorschrift:
„(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer es . . . als Geschäftsführer entgegen
§ 64 Abs. 1 . . . unterläßt, bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu
beantragen.“
Da nahezu alle Firmen während der Gründungsphase in die Zone der Überschuldung geraten, weil
sie sich auf dem Markt ersteinmal bekannt machen müssen, beschleunigt dieses Gesetz nicht nur
Firmenschließungen, sondern verhindert ebenso Firmenneugründungen. Und darüber hinaus werden
risikofreudige Unternehmer, die unser Wirtschaftsleben so dringend braucht, von Staats wegen
ohne erkennbaren Grund kriminalisiert und womöglich sogar aus dem Verkehr gezogen.
3. Wenn verantwortungsbewußte Bürger in Unkenntnis der staatsschädigenden Paragraphen im
GmbHG es wagen, zur Schaffung von Arbeitsplätzen Firmenneugründungen vorzunehmen, dann
können sie aufgrund der schlechten Zahlungsmoral ihrer Auftraggeber in die Situation der
Illiquidität kommen, so daß sie die fälligen Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge nicht
zahlen können. Aufgrund der Gesetzeslage können sie vom Finanzamt und von den
Sozialversicherungsträgern persönlich in Haftung genommen werden. Wenn sie aber bereits ihr
privates Vermögen geopofert haben, um die Firma noch zu retten, sind sie jedoch zahlungsunfähig.
Darum wird bei ihnen der Gerichtsvollzieher vorstellig werden, um ihnen nach § 900 ZPO die
eidesstattliche Versicherung abzunehmen, die zur Folge hat, daß er nach § 915 ZPO in das
öffentlich einsehbare Schuldnerverzeichnis eingetragen wird. Diese Bestimmung verstößt jedoch
eklatant gegen die grundgesetzliche Bestimmung Art. 1 Abs. 1 GG zum Schutz der Würde des
Menschen und ist damit null und nichtig.
Versteht man unter der Würde des Menschen mit Immanuel Kant ganz allgemein seine
Wertsetzungskompetenz; dann darf der Mensch nicht durch den Staat daran gehindert werden, die
von ihm selbst gesetzten moralischen Werte zu verfolgen, wie etwa den Wert, daß er Schulden
grundsätzlich zurückzahlen will. Durch die Eintragung in das Schuldnerverzeichnis wird es einem
Kaufmann aber faktisch unmöglich gemacht, jemals wieder in die Lage zu kommen, durch eigene
Aktivität Geld zu verdienen und seine Schulden abzutragen. Ganz abgesehen davon, daß das
Schuldnerverzeichnis lediglich die moderne Form des mittelalterlichen Prangers darstellt, und damit
eklatant die Würde des Menschen verletzt, ist es außerdem aufgrund von Art. 2 Abs.1 ersatzlos zu
streichen; denn durch die Aufnahme in das Schuldnerverzeichnis ist dem einzelnen Bürger „das
Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ im Bereich des Berufslebens genommen,
zumal wenn er sich keinerlei moralischer Verfehlung schuldig gemacht hat.
Schuldenmachen bedeutet nicht mehr, moralisch schuldig zu werden. Im Gegenteil! Das
Schuldenmachen hat in unserem Wirtschaftsleben sogar einen sehr hohen moralischen Wert
wirtschaftlicher Aktivität, wirtschaftlicher Verantwortung und wirtschaftlicher Vertrauensbildung.
Denn die Wirtschaft kann nur auf dem Wege der Kreditierung von zukunftsträchtigen, innovativen
Ideen wachsen. Wer Schuldner durch ein Schuldnerverzeichnis moralisch diskreditiert, schadet
unserem Gemeinwesen, indem er die moralische Grundlage des wirtschaftlichen Fortschritts
vernichtet.
Aber es kommt noch schlimmer! Wer sich aufgrund seines Gewissens und der Bewahrung seiner
Würde weigert, die eidesstattliche Versicherung abzugeben, kann nach § 901 ZPO bis zu 6 Monate
(§ 913 ZPO) in Erzwingungshaft genommen werden, wozu im Mittelalter der Schuldturm diente. Es
ist ein Skandal der Rechtsgeschichte, daß eine derartige Verletzung der Würde des Menschen noch
Bestandteil eines deutschen Rechtssystems sein kann, das einzig auf der Bewahrung und
5
Verteidigung der Würde des Menschen aufgebaut sein soll. Um ein solches Unrecht zu vermeiden,
ist nach Art. 20 Abs. 4 Widerstand zu leisten; denn die Würde des Menschen „zu achten und zu
schützen ist“ nach Art.1 Abs. 1 „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ und „gegen jeden, der es
unternimmt,“ – und sei es auch ein Verhaftungsbeamter – „diese Ordnung zu beseitigen, haben alle
Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
4. Wenn Bürger in Haft genommen werden, so ist dies für den Staat in jedem Falle sehr kostspielig.
Und wenn Bürger in Haft genommen werden, von denen wirtschaftliche Aktivitäten ausgegangen
sind, die aber aufgrund der Inhaftierung unterbleiben, dann bedeutet dies für den Staat eine weitere
wirtschaftliche Schädigung. Dies bedeutet, daß wir sehr genau hinsehen müssen, unter welchen
Umständen sich für Inhaftierungen überhaupt Begründungen finden lassen, die so schwer wiegen,
daß man die damit verbundenen Staatsschädigungen in Kauf zu nehmen hat.
Da gibt es z.B. inzwischen eine große Anzahl von Inhaftierungen aufgrund von Verkehrsdelikten,
wie etwa wiederholtes Fahren ohne Führerschein oder auch aktive oder passive Verkehrsteilnahme
unter Alkoholeinfluß. Selbst dann, wenn keinerlei Personenschäden zu beklagen waren, werden
nach der Gesetzeslage langfristige Inhaftierungen vorgenommen, die für alle Beteiligten und
insbesondere für den Staat extreme Schädigungen herbeiführen. Jeder Autofahrer weiß, wieviel
gänzlich übertriebene Geschwindigkeitsbegrenzungen etwa auch im Autobahnbereich aufgestellt
werden und daß insbesondere in den neuen Bundesländern eine große Anzahl von Radarfallen
aufgestellt sind, so daß wohl jeder aktiv am Wirtschaftsleben teilnehmende Autofahrer schon
einmal in Terminnot geraten ist, was ihm dann mit dem Verlust des Führerscheines für mindestens
einen Monat gedankt wurde. Welche staatlichen Selbstschädigungen allein im Verkehrrecht zu
beklagen sind, ist gewiß nicht statitisch erfaßt, es sind hier aber Größenordnungen zu vermuten, die
als Verluste in den Hauhaltsplänen empfindlich zu Buche schlagen und das Entsprechende gilt für
die anderen erwähnten Beispiele von Autoimmunerkrankungen des Staates.
Es mag nun mit der Aufzählung von Autoimmunerkrankungen des Staates genug sein, obwohl sich die
Beispielsammlung erheblich erweitern läßt. Etwa wenn man an die verheerenden Wirkungen von
Gesetzen aus der Kaiserzeit denkt, wie die grundgesetzwidrigen Teile des ZVG's
(Zwangsversteigerungsgesetz) oder auch das VVG (Versicherungsvertragsgesetz), das von den
Nationalsozialisten schlimme Änderungen erfahren hat, deren offensichtliche Grundgesetzwidrigkeit
(§§ 38-40 VVG) erst im Jahre 2008 weitgehend beseitigt worden ist.
4. Die Möglichkeit, mit Rechtsformeln positives Recht, durch das Unrecht erzeugt
wird, zu überwinden
Juristen werden traditionsgemäß als Rechtspositivisten herangebildet, d.h., sie werden auf das
bestehehnde, das gesetzte Recht eingeschworen. Dies bedeutet zugleich, daß ihnen in ihrer
Universitätsausbildung die Fähigkeit geraubt wird, über Alternativen nachzudenken und darüber zu
forschen, wie das Recht in sich stimmiger und vernünftiger gemacht werden kann. Die Tatsache, daß
der Deutsche Bundestag zu Hauf von Juristen bevölkert wird, hat zur Konsequenz, daß von diesem
Bundestag, einerlei, welche politische Richtung gerade die Mehrheit besitzt, keine gründlichen
Rechtsreformen zum Wohle des Staates zu erwarten sind. Als mit der Vereinigung Deutschlands die
historische Möglichkeit bestand, daß das vereinte Deutsche Volk über eine neue demokratische
Verfassung abstimmt, wie es nach Art. 146 GG vorgesehen ist, wurde diese Chance mit dem
Faulheitsargument erschlagen, daß das Grundgesetz doch die beste Verfassung sei, die Deutschland
jemals gehabt habe, obwohl die großen Mängel des Grundgesetzes längst bekannt waren.
Aus Anlaß historischer Unrechtssituationen geraten die positivistischen Rechtsgelehrten allerdings
immer wieder in große Bedrängnis, wenn nach einem positiven Recht Urteile gesprochrn werden, die
himmelschreienedes Unrecht sind. Auf eine derartige Situation hat der hervortragende und dennoch
6
weitgehend unbekannte Rechtsgelehrte Hans Reichel zu Beginn des 1. Weltkrieges mit einer Formel
folgenden Wortlauts reagiert:
„Der Richter ist kraft seines Amtes verpflichtet, von einer gesetzlichen Vorschrift bewußt abzuweichen dann, wenn jene
Vorschrift mit dem sittlichen Empfinden der Allgemeinheit dergestalt in Widerspruch steht, daß durch Einhaltung
derselben die Autorität von Recht und Gesetz erheblich ärger gefährdet sein würde als durch deren Außerachtsetzung.“ 3
Dies ist eine holistische Gerechtigkeitsformel, die durch die Sicherstellung des Staatsganzen
vermittelst eines gemeinsamen „sittlichen Empfindens“ motiviert ist. Dazu im scheinbaren Gegensatz
steht die individuelle Gerechtigkeitsformel „jedem das Seine“ ( suum cuique ), die bereits aus dem
Altertum stammt. Versucht man jedoch zu bestimmen, was unter „jedem das Seine“ zu verstehen ist ,
dann ist es dies: Was jedem aufgrund gemeinsamer sittlicher Vorstellungen zukommt oder nicht
zukommt. Im Idealfall sollten also gewiß die holistische und die individuelle Gerechtigkeitsformel
zusammenstimmen.
Eine noch sehr viel prekärere Lage als im ersten Weltkrieg war nach dem zweiten Weltkrieg für die
positivistischen Rechtsgelehrten gegeben, als es darum ging, nationalsozialistisches Unrecht, das nach
dem gesetzten Recht der Nationalsozialisten, also nach positivem Recht, begangen wurde,
abzuurteilen. Dazu schuf der positivistisch eingestellte Lübecker Rechtsgelehrte Gustav Radbruch
(1878 – 1949) eine formale Gerechtigkeitsformel, die nach ihm als Radbruchsche Formel bezeichnet
wird:
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch
Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es
sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz
als 'unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat.“4
Die Radbruchsche Formel hat im Nachkriegdeutschland eine ganze Reihe von gut begründeten
Anwendungen gefunden5, obwohl sie noch einer inhaltlichen Bestimmung von Gerechtigkeit bedarf,
auf die Gustav Radbruch nur durch folgende Feststellung hinwies:
„ wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung
positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es
überhaupt der Rechtsnatur.“6
Generell werden heute die Reichelsche wie die Radbruchsche Formel für richterliche Möglichkeiten
angesehen, Unrecht zu vermeiden, das durch die positivistische Anwendung von gesetztem Recht
entstünde.
5. Eine Gerechtigkeitsformel zur Vermeidung von Autoimmunerkrankungen des
Staates
Wie bereits erwähnt, hat der Gerechtigkeitsbegriff zwei Seiten, die individuelle und die globale. In
Platons Staat wird dieser Polarität des Gerechtigkeitsbegriffs dadurch Rechnung getragen, indem die
Konstruktion eines idealen Staates vorgeführt und diese Konstruktion in einer strikten Isomorphie auf
den Bürger übertragen wird. Hiernach ist der ideale Staat das Urbild und der Bürger ein Abbild dieses
3
4
5
6
Vgl. Hans Reichel, Gesetz und Richterspruch, zur Orientierung über Rechtsquellen- und Rechtsanwendungslehre der
Gegenwart, Zürich 1914, S. 242 oder in: Steffen Forschner, Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen
„Mauerschützenurteilen“, Inaugural – Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Juristischen Fakultät der
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Kirchheim/Teck 2003, S. 12.
Vgl., ebenda S. 8.
Dies gilt für Prozesse über nationalsozialistisches Unrecht ebenso wie für sozialistisches Unrecht in der DDR. Vgl.
ebenda oder Robert Alexy, Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, Hamburg 1993.
Vgl. Steffan Forschner a.a.O. S.12.
7
Ideals, d. h., das Ganze des Staates und die Gewährleistung der Dauerhaftigkeit des Staates liefert die
Eigenschaften und Handlungsvorschriften, den die Bürger zu genügen haben, um gerecht zu sein.
Aristoteles hat die grundsätzliche Konstruktion von etwas Seiendem gegenüber dem Vorgehen seines
Lehrers Platon umgedreht. Aristoteles geht vom Einzelnen aus, so daß die Eigenschaften des
Einzelnen die Eigenschaften der Ganzheiten bestimmen, die durch Einzelnes gebildet werden. Wenn
der vor 200 Jahren gestorbene Friedrich von Schiller in seinen Votivtafeln über das Ehrwürdige sagt:
„Ehret ihr immer das Ganze, ich kann nur Einzelne achten,
Immer im Einzelnen nur hab' ich das Ganze erblickt.“,
so nimmt Schiller die aristotelische Tradition auf, die über die Aufklärung dazu geführt hat, den
einzelnen Menschen in den Vordergrund der Betrachtung zu stellen und ihm unveräußerliche
Menschenrechte zuzubilligen. Wie bereits erwähnt, ist sogar das ganze Rechtssystem der
Bundesrepublik Deutschland – jedenfalls der Theorie nach – auf dem fundamentalen Menschenrecht
der Würde des Menschen und den daraus folgenden Menschenrechten aufgebaut. Hier folgt das Ganze
des Staates im Gegensatz zu Platon aus den Eigenschaften und Handlungsabsichten seiner Bürger.
Daß es dennoch zu den hier kurz erläuterten Autoimmunerkrankungen unseres Staates kommen
konnte, liegt sicher in der grundsätzlich unvermeidbaren Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis,
insbesondere aber auch an grundgesetzwidrigen Gesetzen, die immer noch rechtswirksam sind,
obwohl sie dem Geist des Mittelalters, der Kaiserzeit oder des Nationalsozialismus entstammen, aber
auch an neu gestalteten Gesetzen, die unseren Staat massiv schädigen, weil in ihnen der einzeln
Handelnde noch als potentieller Verbrecher angesehen wird und ihm nicht unterstellt wird, als Bürger
auch zum Wohle des Staatsganzen selbstverantwortlich tätig sein zu wollen. Diese Gesetze sind von
Menschen erstellt worden, die noch von der mittelalterlichen Vorstellung von Bürgern mit einer
autoritativen Lebenshaltung geleitet sind und die den Geist des Grundgesetzes, der sich in Bürgern mit
einer selbstverantwortlichen Lebenshaltung äußert, noch nicht erfaßt haben.
Zu diesen Gesetzen gehören die bereits zitierten Teile der Abgabenordnung, des GmbH-Gesetzes
(z.B.§ 64 und § 84 GmbHG) und der Zivilprozeßordnung. Damit den staatschädigenden Wirkungen
dieser Gesetze Einhalt geboten werden kann, bedarf es einer Gerechtigkeitsformel, in der die
gegenseitige Abhängigkeit von Staatswohl und dem Bürgerwohl berücksichtigt wird. Denn tatsächlich
sieht das Grundgesetz nicht vor, Gesetze als grundgesetzwidrig zu erkennen, die staatsschädigend sind,
indem sie z. B. auf scheinbar legalem Wege aktive, einsatzbereite und verantwortungsvolle Menschen,
die für das Florieren des Wirtschaftslebens unentbehrlich sind, ihrer Wirkungsmöglichkeiten berauben.
Dies geschieht jedoch, z. B. durch die §§ 64 und 84 des GmbH-Gesetzes. Denn natürlich darf der
Versuch, Arbeitsplätze zu erhalten, nicht unter Strafe gestellt werden. Und es versteht sich aufgrund
der bestehenden Gesetzeslage von selbst, daß ein Geschäftsführer keine Verpflichtungen mehr
eingehen darf, wenn seine Firma zahlungsunfähig geworden ist. Wenn aber durch derartige
Gesetzesunvernunft die Wirtschaft geschädigt wird, dann haben alle Bürger darunter zu leiden, ohne
daß sich ein Grundrecht finden ließe, daß es verböte, solche staatsschädigenden Gesetze zu erlassen.
Hier wäre lediglich der Hinweis möglich, daß der Bundespräsident solchen Gesetzen aufgrund seines
Eides nicht durch seine Unterschrift Rechtskraft verleihen dürfte.
In einer Gerechtigkeitsformel, die den Richtern an die Hand zu geben wird, um durch ihre
Richtersprüche staatsschädigende Wirkungen zu vermeiden, ist es zu versuchen, holistische und
individuelle Gerechtigkeit miteinander zu verbinden.7 Dabei ist davon auszugehen daß es eine
gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Wohl der einzelnen Bürger und dem Wohl des Staatsganzen
gibt. Die formale Bedingung der gegenseitigen Abhängigkeit wird auf Grund ihrer einheitstiftenden
Funktion als unitarisch bezeichnet. Und wenn unter der formalen Bedingung für jegliche Sittlichkeit
7
Man kann systematisch hier von einer staatsrechtlichen Vereinigung der platonischen und der aristotelischen
Auswirkungen auf die Theorie der Staatenbildung und der Bildung von Rechtssystemen sprechen.
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die Vermeidung von Schädigungen verstanden wird, dann läßt die folgende unitarische
Gerechtigkeitsformel auch eine Verbindung der Reichelschen mit der Radbruchschen Formel
erkennen:
Unitarische Gerechtigkeitsformel:
Wenn in der Anwendung eines Gesetzes auf einen Einzelfall der Schaden für den Einzelnen und
den Staat größer ist als ein möglicher Schaden, der bei Nichtanwendung des Gesetzes einträte,
dann ist das gesetzte Recht für diesen Fall Unrecht, und es hat die Anwendung dieses Gesetzes zu
unterbleiben.
Es wird nun behauptet, daß die richterliche Anwendung der unitarischen Gerechtigkeitsformel das
Auftreten von Autoimmunerkrankungen des Staates verhindert. Der Verfasser ist sich der Reichweite
dieser Behauptung bewußt und bittet deshalb darum, sie von anderen Gesichtpunkten her, als sie hier
eingenommen wurden, zu prüfen; denn es ist durchaus denkbar, daß noch weitere Aspekte oder auch
weiter spezifizierende Bedingungen in die unitarische Gerechtigkeitsformel aufzunehmen sind, damit
durch sie die hier angesprochene Problematik der Selbstschädigung des Staates durch eigene Gesetze
einer Lösung zugeführt werden kann.
9
Wolfgang Deppert, Kritik der wirtschaftlichen Vernunft, Band II der Reihe Wirtschaft mit
menschlichem Antlitz, Leipziger Universitätsverlag in Vorbereitung Leipzig 2005
Abschnitt 6.5
Die Würde des Menschen ist seine innere Existenz verbunden mit dem Willen zu sinnvollem
Handeln.
2577 220 /221 fax, Focus Herr Wendt
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ddp frau meier 250, 252 fax 0341 9610478 (Herr Hasberg, 253)
Wenn aber zu jeder Tugend auch die Bewußtheit der Gründe gehört, warum man sich ihr gemäß
verhalten will, dann fragt sich erneut, welche Funktion der Vorstellung der Gerechtigkeit im
Staatsganzen noch zukommen kann. Die Richtung zur Beantwortung dieser Frage gibt Platon selbst
an, indem er darstellt, daß Sokrates eine plötzliche Entdeckung zum Gerechtigkeitsbegriff gemacht
habe, die ihm bisher aus unerklärlichen Gründen verborgen war, obwohl sie schon immer offen zutage
gelegen habe. Platon läßt Sokrates dazu folgendes sagen (432d8-e3):
„Schon lange () liegt sie uns von Anfang an vor den Füßen, und wir haben sie nur nicht gesehen, sondern waren ganz
lächerlich, wie bisweilen Leute die etwas in der Hand haben dasselbe suchen was sie haben; so haben auch wir nicht auf
den Fleck gesehn, sondern irgend wohin ins weite, daher sie uns denn natürlich entgehen mußte.“
Was man, wie hier von Platon dargelegt, leicht übersieht, ist etwas, das all dem, womit man umgeht, in
gleicher Weise anhaftet, und genau so etwas meint Platon. Könnte es wohl so sein, das Gerechtigkeit
etwas ist, was allen Tugenden anhaftet, was mithin eine Tugend von Tugenden wäre? Wie äußert sich
nun Platon selbst? Er läßt Sokrates sagen (433a1-b4):
„Nämlich was wir von Anfang an festgesetzt haben, was jeder durchgängig tun müßte, als wir die Stadt gründeten, eben
dieses, oder doch eine Art davon, ist wie mich dünkt die Gerechtigkeit. Denn wir haben ja festgesetzt und oftmals gesagt,
wenn du dich des erinnerst, daß jeder sich nur auf eines befleißigen müsse von dem was zum Staate gehört , wozu nämlich
seine Natur sich am geschicktesten eignet. () Und gewiß, daß das seinige tun und sich nicht in vielerlei mischen
Gerechtigkeit ist, auch das haben wir von vielen Anderen gehört und gewiß auch öfters selbst gesagt. () – (). Dieses also ()
wenn es auf gewisse Weise geschieht, scheint die Gerechtigkeit zu sein, daß jeder das seinige verrichtet.“
Das scheint ein ganz und gar formaler und sogar relativistischer Ansatz zu sein. Denn wer könnte
bestimmen, worin das seinige eines Menschen besteht? Doch wohl nur der Mensch selbst. Nur dieser
kennt doch wohl seine eigenen Naturanlagen am besten. Aber das kann Platon nicht gemeint haben;
wenn er den ganzen Erwerbsstand für unfähig zur Selbstbestimmung hält, wie es in seinem Begriff von
Besonnenheit zum Ausdruck kommt. Andererseits hatte er aber schon bei der Beschreibung seines
einfachsten Staates diesen Gedanken, daß jeder das Seine zu tun habe, geäußert. Das Rätsel, was
Platon mit dem Seinigen meint, löst er so, daß es ja nicht für das Gemeinwesen problematisch ist,
wenn der Schuster die Arbeit eines Zimmermannes und der Zimmermann die eines Schusters täte
(434a), daß es aber verheerende Folgen hätte, wenn etwa ein Handwerker Wächter werden wollte oder
gar ein Wächter ein Politiker (434b). Und dazu führt Platon folgendes aus (434b10- c11):
„Also dieser drei Klassen Einmischerei in ihr Geschäft und gegenseitiger Tausch ist der größte Schaden für die Stadt und
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kann mit vollem Recht Frevel genannt werden. () Dies ist also die Ungerechtigkeit. Und so laß und so laß uns wiederum so
erklären, der erwerbenden, beschützenden und beratenden Klasse Geschäftstreue, daß nämlich jede von diesen das ihrige
verrichtet in der Stadt, würde das Gegenteil von jenem also Gerechtigkeit sein, und die Stadt gerecht machen.“
Genau dasselbe aber ist im Prinzip durch das beschriebene Begriffstripel der Besonnenheit bereits von
der dadurch bestimmten Bedeutung dessen, was Besonnenheit heißen soll, festgelegt: Diejenigen, die
sich in der aktiven Form der autoritativen Lebenshaltung befinden, herrschen, diejenigen, die sich je
nach Hinsicht in der aktiven oder passiven Form der autoritativen Lebenshaltung befinden, sind die
Wächter und diejenigen, die sich in der passiven Form der autoritativen Lebenshaltung vorfinden,
gehorchen den Regierenden und den Wächtern. Dies legte ja bereits der Begriff der Besonnenheit fest.
Damit ist immernoch offen, wozu denn nun noch die Gerechtigkeit gut sein soll.
Um diese Frage beantworten zu können, muß man sich daran erinnern, daß schon im zweiten Buch die
Entscheidung gefallen war, daß die Gerechtigkeit im Sinne einer Substanz begriffen werden soll, die
den Menschen und dem Staat oder deren Zuständen anhaften. Gerechtigkeit im Sinne eines Zustandes
zu verstehen, heißt aber, daß die Gerechtigkeit im Staat andauert und nicht, daß etwa zufälligerweise
die Bedingungen einmal dafür gegeben sind, daß das Begriffstripel der Besonnenheit zu einem
Zeitpunkt auf einen Staat anwendbar ist. Es muß die Bedingung der Dauerhaftigkeit erfüllt sein, sonst
handelt es sich nicht um einen Zustand und mithin auch nicht um Gerechtigkeit. Das bloße Vorliegen
der Besonnenheit aller Stände garantiert offenbar noch nicht deren Dauerhaftigkeit.
Hier zeigt sich auf sehr subtile Weise, daß Platon wohl doch intuitiv eine begriffliche Konstruktion mit
seinem Begriffstripel der Besonnenheit vorgenommen hat, so daß dadurch die Frage nach der
Anwendbarkeit des rein begrifflich Gedachten aufkommt. Die rein begrifflich vorgenommene
Bestimmung der drei Elemente des Begriffstripels ‚Besonnenheit‘ erzwingt nicht, daß sich dieses
Begriffstripel auch auf die Wirklichkeit anwenden läßt. Diese Funktion kommt der platonischen
Vorstellung von Gerechtigkeit zu. Erst durch das Bewußtsein der Menschen, die durch die Anwendung
des Begriffstripels der Besonnenheit eine bestimmte Funktion zugewiesen bekommen haben, läßt sich
sicherstellen, daß diese Anwendbarkeit auf die gewählten Klassen von ganz bestimmten Menschen
auch dauerhaft gelingt. Dies ist das Bewußtsein, die einmal erhaltene Funktion auch dauerhaft zu
erfüllen. Und wenn dieses Bewußtsein im Staat bei allen den in die drei Klassen eingeteilten Menschen
vorhanden ist, dann ist der Zustand des Staates gewährleistet, der für Platon Gerechtigkeit heißt.
Darum könnte man auch sagen, daß die Gerechtigkeit der Anteil an einer Tugend ist, durch den der
Wille bestimmt ist, diese Tugend auch durchzuhalten, die Erfordernisse dieser Tugend dauerhaft
erfüllen zu wollen. Dies aber ist im tiefsten Sinne das, was den Tugenden schon immer anhaftet und
was man übersieht, wenn man sie nur in ihren einzelnen Funktionen beschreibt.
Damit ist nun deutlich, daß Platons Gerechtigkeitsbegriff eine Tugend der Tugenden ist, daß mithin
keine Tugend ohne Gerechtigkeit von Dauer sein muß. Man könnte auch sagen, daß die Gerechtigkeit
allen anderen Tugenden zugrundeliegt. Gerechtigkeit ist der Wille zum Erhalt des Ganzen; denn nur
wenn die Tugenden dauerhaft ausgeübt werden, kann sich das Ganze des Staates erhalten. Kant hat
zur Kennzeichnung dieser Willensbestimmung vor allem den Begriff der Pflicht benutzt, der sich aus
dem Kategorischen Imperativ ableitet, der den Erhalt der staatstragenden allgemeinen Vernunft
sicherstellen soll. Die Gerechtigkeit ist die staatserhaltende Tugend.
Der Begriff 'Gerechtigkeit' läßt sich demnach von der Sicht des Staates aus bestimmen, indem seine
Teile so organisch zusammengefügt und tätig sind, so daß die Existenzproblematik des Staates
dauerhaft bewältigt werden kann. Es mag bei dieser Art der Begriffsbestimmung darum von
organischer Gerechtigkeit gesprochen werden. Die organische Gerechtigkeitsformel lautet dann:
Gerecht ist, was dem Staatserhalt dauerhaft dienlich ist, ungerecht ist, was den Staat schädigt.
Im scheinbaren Gegensatz zur organischen Gerechtigkeit gibt es auch eine individuelle Gerechtigkeit.
Platon entwickelt beide Gerechtigkeitsbegriffe in strenger Analogie zueinander, ja sogar, wie in
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Abschnitt 4.3.2.5 noch gezeigt wird in strenger Isomorphie zueinander, so daß zwischen beiden
Gerechtigkeitsbegriffen kein Widerspruch möglich ist. Nun ist die platonische organische
Gerechtigkeitsbestimmung, daß jeder das Seine zu tun habe, nur auf das Handeln der Menschen im
Staat hinsichtlich der Beständigkeit ihrer Besonnenheitsfunktionserfüllung ausgerichtet, und man
könnte sich fragen, ob nicht der Zustand der Gerechtigkeit eines Staates auch bewirken müsse, daß
auch die Eigentumsverhältnisse der Menschen im Staat stabil sind. Genau diese Frage hat sich auch
Platon vorgelegt, indem er überlegt, ob nicht den Herrschenden auch die Aufgabe zukomme, Recht zu
sprechen, und das heißt, danach zu entscheiden (433e), „daß einem jeden weder fremdes zugeteilt noch
ihm das seinige genommen werde.“ Diese Frage führt dazu, daß Platon seinen Gerechtigkeitsbegriff
nicht nur auf das Tun bezieht, sondern auch auf das Haben erweitert, indem er sagt:
„() demnach würde, daß jeder das seinige und gehörige hat und tut, als Gerechtigkeit anerkannt werden.“
Das Ziel Platons ist auch hier überdeutlich – wie schon mehrfach betont – : Platon möchte Stabilität in
einen Staat hineintragen, er möchte Sicherheit für die Existenz eines Staates durch den
Gerechtigkeitsbegriff gewährleistet wissen. Und damit bestätigt sich auch auf die
Eigentumsverhältnisse: Das, was einem Staat und damit den darin lebenden Menschen die
Existenzsicherung verschafft, das ist Gerechtigkeit und es ist die Pflicht der Bürger das Ihrige zu tun,
um diesen Zustand zu erhalten.
Dieser Auffassung können wir heute gewiß beipflichten. Wir müssen aber bedenken, daß zu Platons
Zeiten zu den erlaubten Mitteln der Staataerhaltung auch die Todesstrafe oder das Nemen von Sklaven
gehörten. Darum kommt für uns heute der individuellen Gerechtigkeit noch eine sehr viel tiefer
gehende Bedeutung; denn wir können heute nicht mehr begründen, einen Staat durch die Mißachtung
von elementaren Menschenrechten zu erhalten, in dem noch staatlich angeordneter Mord in Form der
sogenannten Todesstrafe öffentlich betrieben wird. Dies bedeutete eine Mißachtung der Würde eines
jeden Menschen.
Aber was heißt das, die Würde des Menschen, und warum sollten wir sie achten? Dies sind die Fragen,
die Kant mit einer Metaphysik der Sitten zu beantworten trachtet, und ebenso Platon steht vor dem
Problem: Wie kann der Mensch davon überzeugt werden, daß es für ihn vernünftig ist, das zu tun, was
der Gerechtigkeitsbegriff Platons von ihm verlangt, daß er als Untertan nur den Anordnungen der
Regenten oder deren verlängerten Arm der Wächter zu gehorchen hat, daß er als Wächter den
Regenten zu gehorchen und den Untertanen zu befehlen hat und daß er als Regent ausschließlich den
unteren Ständen zu befehlen hat?
Bei der Beantwortung dieses Fragenkomplexes wird es nun ganz deutlich, daß Platon und auch wir
heute bei der Beantwortung entsprechender Fragen Begründungsendpunkte oder - wie ich gern sage mythogene Ideen brauchen. Dies ist das, was Kant Metaphysik nennt. Diesem Sprachgebrauch Kants
schließe ich mich ausdrücklich an, so daß eine metaphysikfreie Ethik schlicht eine unbegründete Ethik
ist, in der Scheinbegründungen mit Hilfe von inhaltsleeren Worthülsen verwendet werden oder in der
sich der nachvollziehbare Gebrauch der Sprache in einem undurchdringlichen Bedeutungsnebel
verliert. Dieser Nebel wird immer wieder im Bundestag ausgebreitet, wenn eine Partei ihre eigenen
ethischen Vorstellungen durchsetzen und die Ethik einer anderen Partei als unmoralisch brandmarken
möchte. Dies geschieht z.B. bei der Diskussion über die Zulässigkeit der Forschung an Stammzellen
des Menschen oder bei der Frage der aktiven Sterbehilfe. Da wird dann immer wieder das Wort
‚Würde‘ des Menschen verwendet, ohne daß jemand sagt, was darunter zu verstehen ist, und vor allem
wird natürlich von Ethik und Moral gesprochen, ohne auch nur ansatzweise erkennen zu lassen,
welches die Grundpositionen von Ethik oder Moral sein könnten, um ihre Handlungsnormen
begründbar oder gar ableitbar zu machen. Dennoch wird gerade wegen dieses Bedeutungsnebels oft
von den Nachrichtensprechern der Ernst und die Gründlichkeit der Diskussion gelobt. Was haben wir
Philosophen da nur angerichtet, daß es in der öffentlichen Meinung schon ausreicht, als ernsthaft
angesehen zu werden, wenn man nur das Wort ‚ethisch‘ genügend oft im Munde führt, einerlei, was
man oder ob man überhaupt etwas klares damit verbindet?
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Platon hat für sich bereits deutlich erkannt: „Die Endpunkte der Begründung für die Einsicht, daß es
für mich selbst vernünftig ist, das Ganze zu erhalten und dies durch die Erfüllung meiner Funktion im
Ganzen zu tun, – diese Begründungsendpunkte – müssen von mythischer Struktur sein, in denen
Einzelnes und Allgemeines, Materielles und Ideelles, Existentielles und Begriffliches in einer
Vorstellungseinheit zusammenfallen.“ Dies ist der Grund dafür, daß Platon uns seinen Mythos von den
erdgeborenen Menschen erzählt hat und von den Beimischungen des Erzenen, Eisernen, Silbernen und
Goldenen, die ihnen von Natur aus eingeboren sind. Denn dadurch ist durch einen Mythos begründet,
warum sie alle miteinander verbunden sind, warum ihnen ein ganz bestimmter Platz im Ganzen
zukommt und warum sie sich alle für den Erhalt dieses Ganzen einzusetzen haben.
Solche staatstragenden Mythen sind heute noch vor allem in den Bereichen der sogenannten
Offenbarungsreligionen lebendig, wie etwa im Judentum und im Islam, und es scheint bis heute kaum
möglich zu sein, aus diesen divergenten mythischen Überzeugungen eine Staatsidee zu gewinnen, in
denen die Anhänger des Judentums und des Islams friedlich zusammenleben könnten. Dies scheint so
lange zu gelten, solange die religiösen Überzeugungen durch die Metaphysik der staatstragenden
Sitten kollektiv vertreten werden.
Platon hat dazu bereits eine Vorstellung ausgearbeitet, durch die die Bedeutung des einzelnen
Menschen selbst von vornherein der Bedeutung des Kollektiven nicht nachsteht; denn sein Anliegen
ist ja gerade, die Vorstellung von Gerechtigkeit am großen System eines Staates zu demonstrieren, um
dadurch die Bedeutung der Gerechtigkeit für den einzelnen Menschen erkennbar zu machen. Schon
nach diesem Ansatz, muß es denkbar sein, daß ein Mensch für sich selbst die Kriterien der
Gerechtigkeit erfüllt, ohne daß dies für seine Umgebung oder für das Kollektiv, dem er angehört,
gültig sein müßte. Gerade diese Situation hatte Platon durch Sokrates und seinem Staat Athen,
vertreten durch die demokratisch eingesetzten Richter, die Sokrates ungerechterweise zum Tode
verurteilten, so schmerzlich erleben müssen.
Dadurch, daß Platon diese Denkmöglichkeit auch in seinem Staatsmodell darstellen wollte, ist in
Platons Staatskonstruktion ungewollt die Möglichkeit zu einer Entwicklung zu Staatskonzeptionen
angelegt, die sich auf eine Gerechtigkeitsvorstellung gründen, die sich ersteinmal nur im einzelnen
Menschen verwirklichen. Dies aber ist die relativistische Konzeption seines Lehrers Sokrates, daß die
Möglichkeit eines demokratischen Staates durch den Gerechtigkeitssinn des einzelnen Menschen
selbst bedingt ist. Dies aber setzt eine selbstverantwortliche Lebenshaltung voraus, deren zahlreiches
Vorhandensein in der breiten Masse Platon für unmöglich hielt. Zu seiner Zeit hatte Platon mit dieser
Auffassung vermutlich auch Recht.
Es ist die große historische Aufgabe der heute existierenden demokratischen Staaten, zu zeigen, daß
sie von der Bevölkerungsmehrheit aus Selbstverantwortung mitgetragen werden und dadurch auf
Dauer lebensfähig sind. Bedenkt man jedoch, daß in der Bundesrepublik Deutschland sich höchstens
drei Promille der gesamten Bevölkerung an der politischen Willensbildung beteiligen, dann kann
einem himmelangstundbange um den dauerhaften Bestand unserer demokratischen Staatsform werden.
Und in den USA, ein Land, das sich gern als Musterland der demokratischen Staaten bezeichnet,
regiert ein Präsident, der nach den Gesamtstimmen seiner ersten Präsidentschaftswahl unterlegen war
und nur durch ein undemokratisches und rassistisches Wahlgesetz die Regierungsmacht erwerben
konnte, ein Umstand, den die anderen demokratischen Länder ohne Murren akzeptiert haben, und nun
regiert dieser Präsident mit einem nationalistischen Machtgehabe, durch das er, wie es in der Presse
heißt, 80 Prozent der Bevölkerung hinter sich gebracht hat, eine Bevölkerung, die sich immernoch in
einem vorzivilisierten Zustand befindet, indem sie mit Mehrheit die Todesstrafe gut heißt. Der
demokratische Gedanke kann aber nur dauerhaft staatstragend sein, wenn mit ihm die Anerkennung
der elementaren Menschenrechte, wie das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche
Unversehrtheit, verbunden sind. Diese Bedingung aber gilt weder für die USA noch für Japan, und das
heißt, die Sache der Demokratie ist für die Zukunft in höchstem Maße gefährdet.
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Damit sich die Sache der Demokratie argumentativ überzeugend darstellen läßt, muß man sich klar
machen, wie es dazu gekommen ist, daß wir dem einzelnen Menschen die grundsätzliche Fähigkeit zur
Selbstbestimmung zutrauen können. Dazu hat auch Platon, obwohl dies sein Lehrer Sokrates vor ihm
schon sehr viel überzeugender vorgelebt hat, trotz Platons grundsätzlich absolutistisch ausgerichteten
Vorhabens einen wichtigen Beitrag geleistet, indem er das erste Mal Seelenteile im Menschen
unterschied, durch deren Zusammenwirken der Mensch in sich selbst das Vermögen zur
Selbstbestimmung entwickeln kann.
Durch die Darstellung der hierarchisch geordneten Teile des Staates, denen ebenso hierarchisch
angeordnete Tugenden entsprechen und dem durch die Gerechtigkeit Beständigkeit garantiert werden
soll, hat die Konstruktion des idealen platonischen Staates einen gewissen Abschluß erreicht, der die
Möglichkeit bereitstellen soll, auch das zu bestimmen, was für den einzelnen Menschen Gerechtigkeit
bedeuteten kann. Dieser Frage wird im nächsten Unterabschnitt nachgegangen.
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