1 SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde "Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ..." Licht und Finsternis (5) Mit Doris Blaich Sendung: 02. Juni 2017 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2011 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 SWR2 Musikstunde 12. August 2011; Doris Blaich "Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ..." (5) Licht und Finsternis Intro Seit Yoga bei uns im Westen in ist, beginnen viele Menschen hier den Tag mit einem Sonnengruß: man streckt sich nach oben zum Himmel, beugt sich runter zur Erde, und macht dann eine Art Liegestütze. Dabei schauen die Augen zuerst zum Boden, dann in einer Rückwärtsdehnung nach oben. Alles im Atemrhythmus und so entspannt wie möglich. Jedenfalls ohne überflüssigen Kraftaufwand. Traditionell macht man die Übung vor Sonnenaufgang. Sie belebt Körper und Geist und hat sicherlich noch vielerlei andere günstige Nebenwirkungen. Letztlich geht es darum, eine Verbindung zwischen Mensch, Erde und Himmel zu erleben. Georg Friedrich Händel war eher ein Bewegungsmuffel. Aber sein Duett über die aufgehende Sonne hat vielleicht eine ähnliche Auswirkung auf den Zuhörer wie der Sonnengruß auf den Yogi. Im Text geht es um die Klarheit der Sinne und um die Kraft der Vernunft, die die aufgehende Sonne mit ihrem Licht wachruft. 6’37 Musik 1 M0072375.018 Georg Friedrich Händel As steals the morn upon the night, Duett aus dem Oratorium L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato Lucy Crowe (Sopran), Mark Padmore (Tenor) The English Concert, Andrew Manze Das Duett “As steals the morn upon the night” von Georg Friedrich Händel – mit Lucy Crowe, Mark Padmore und The English Concert. Andrew Manze hatte die Leitung. Die Sonne gibt den Rhythmus von Tag und Nacht vor, nach dem sich das Leben auf der Erde richtet. Zumindest war das lange Zeit so. 1879 hat Thomas Edison die Glühbirne erfunden – mit der Folge, dass es zumindest in den Städten nie mehr richtig dunkel wurde. 3 Der Stand der Sonne am Himmel ist aber bis heute der Maßstab für die Gebetszeiten der christlichen Mönche: die Stundengebete. Der heilige Benedikt hat sie im 6. Jahrhundert verbindlich eingeführt. Das erste Stundengebet findet vor Sonnenaufgang statt, dann gibt es über den Tag verteilt weitere Gebete; ungefähr im dreistündigen Abstand. Man beschließt den Tag mit der Komplet, wenn die Sonne untergegangen ist. Gerade in den Texten der Komplet kommt das Spannungsverhältnis zwischen Tag und Nacht besonders stark zum Ausdruck. „Christe qui lux es et dies“ heißt einer der Hymnen daraus: „Christus, der du das Licht bist und der Tag. Du nimmst der Nacht die Finsternis und bringst Licht in den Tag – Vorahnung des Lichts der Glückseligkeit“. 3’49 Musik 2 M0076800.003 William Byrd Christe qui lux es et dies Stile antico William Byrd: Christus, der du bist Tag und Licht, gesungen vom Ensemble Stile antico. Die Sonne ist ein Stern. Sie leuchtet seit fünf Milliarden Jahren. In ihrem Inneren gibt es eine ständige Kernfusion: Sie wandelt dabei unentwegt Wasserstoff in Helium um, 400 Millionen Tonnen pro Sekunde. Irgendwann einmal – in ein paar Milliarden Jahren – werden die Vorräte erschöpft sein. Wenn die Sonne dann stirbt, leuchten Milliarden anderer Sterne weiter. Es gibt im Universum tatsächlich ewiges Licht. György Ligeti hat das ewige Licht in Töne gefasst – in seiner Komposition „Lux aeterna“ von 1966. Die Singstimmen bilden darin einen kunstvollen Kanon, bei dem sich einzelne Töne umranken und umkreisen; dadurch entstehen schillernd bewegte Klangbilder. Sie münden in glatte, statische Flächen; aus denen heraus entwickeln sich dann wieder neue Kanon-Abschnitte. Ligeti selbst hat das Stück mit einem Bühnenbild verglichen: Man kann es zunächst deutlich und in allen Einzelteilen sehen, dann steigen Nebel auf, lassen die Konturen verschwimmen und neue Bilder erscheinen. Manchmal wirkt der Klang, als seien Instrumente oder Glocken beteiligt – hier singen aber ausschließlich 16 Sänger, ohne Begleitung. 4 10’06 Musik 3 M0079276.008 György Ligeti „Lux aeterna“ für 16 Stimmen Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius Stanley Kubrick hat dieses Stück mit seinen flirrenden Klangflächen als Filmmusik für seine Weltraumodyssee verwendet: „Lux aeterna“ – ewiges Licht – von György Ligeti. Frieder Bernius leitete den Kammerchor Stuttgart. [Die Aufnahme ist übrigens auf einer CD mit Begräbnismusiken enthalten. Der Text stammt aus der lateinischen Totenmesse – und ist hier aber so in Klangsilben zerlegt, dass man ihn nicht im Zusammenhang wahrnehmen kann. Es ist ein musikalisches Licht, dass nicht nur für gläubige Christen leuchten soll.] Um Licht und Finsternis geht es heute in der Musikstunde. Wir machen einen Zeitsprung in die Barockzeit und landen bei Georg Muffat und seinem Instrumentalstück „Propitia Sydera“ – auf deutsch: „Günstiges Gestirn“. Dass die Sterne günstig stehen, ist eine sehr relative Beobachtung – es kommt drauf an, für wen; besonders wenn man sie vor Kriegen und Kämpfen befragt. Zu Muffats Zeit gab es vehemente Glaubenskriege, welcher Musikstil der bessere sei – der italienische oder der französische Stil. Als einer von ganz wenigen Komponisten hat Muffat beide Musikstile aus erster Hand kennengelernt – er hat in Frankreich bei Jean-Baptiste Lully studiert und in Rom bei Arcangelo Corelli. In seinen eigenen Stücken hat Muffat den italienischen und den franzöischen Stil beherzt miteinander vermischt. Und er schreibt, er hoffe, damit keinen Krieg anzustiften, sondern „dem lieben Frieden“ zu dienen. Im „Günstigen Gestirn“ hat er das sehr überzeugend umgesetzt: Das Stück ist eine Chaconne: ein Tanz mit einer Bassmelodie als Untergrund, die sich als Ostinato ständig wiederholt. Die Chaconne war der Lieblingstanz von Ludwig dem Vierzehnten, dem Sonnenkönig. Muffat baut in dieses sehr französische Stück Musik eine echt italienische Ciaccona ein: ebenfalls ein Ostinato, aber viel schneller und mit feurigen Synkopenrhythmen – in unserer Aufnahme beginnt die Ciaccona bei 4 Minuten 50. Und etwa eine halbe Minute später schichtet Muffat dann Italien und Frankreich virtuos übereinander: beide erklingen gleichzeitig, und der Reiz entsteht 5 gerade dadurch, dass es keinen Sieger und Verlierer gibt, sondern eine musikalische Win-Win-Situation. Musik 4 M0014702.021 8’50 Georg Muffat: Ciacona „Propitia Sydera oder Günstiges Gestirn” Armonico Tributo, Lorenz Duftschmid So klingt „ein bisschen Frieden“ auf barock: Lorenz Duftschmid und das Ensemble Armonico Tributo waren das, mit einer französisch-italienischen Chaconne von Georg Muffat namens „Propitia Sydera oder Günstiges Gestirn“. Die Sonne leuchtet, aber durch ihr Licht entsteht auch Schatten. Der englische Komponist John Dowland ist einer der ganz großen, wenn es darum geht, diesen Schatten in Klang zu verwandeln. Dowlands lateinisches Motto heißt „Semper Dowland, semper dolens“ – immer Dowland, immer klagend. In seinem Notendruck „A musicall Banquet“ von 1610 hat er eines seiner ergreifendsten Gemälde einer musikalischen Seelenfinsternis gezeichnet. „In darkness let me dwell“: „Laßt mich in der Finsternis hausen. Sorge soll der Baugrund sein, und das Dach der Verzweiflung soll alles heitere Licht von mir abhalten.“ Musik 5 M0110161.014 4’15 John Dowland: In darkness let me dwell Dorothee Mields, Sirius Viols Musik aus der Dunkelkammer des menschlichen Herzens: “In darkness let me dwell” von John Dowland; gesungen von Dorothee Mields, und etwas aufgehellt wurde dieses finstere Lied von den Sirius Viols – nicht nur durch den Namen des Ensembles: Sirius ist ja der hellste Stern an unserem Himmel; er besitzt die 23-fache Leuchtkraft der Sonne. Er leuchtet wie ein bläulich weißer Diamant; manchmal auch in allen Regenbogenfarben. [Licht ist fast unvorstellbar schnell: in einer einzigen Sekunde legt ein Lichtstrahl rund 300.000 Kilometer zurück, könnte also mehr als sieben Mal um den Äquator sausen. 6 Um die gigantischen Entfernungen im All mit einer einigermaßen handlichen Größe zu berechnen, hat man deshalb das Lichtjahr definiert – es ist keine Zeit- sondern eine Längenangabe: und zwar die Strecke, die ein Lichtstrahl innerhalb eines Jahres zurücklegt: das sind 9.500 Milliarden Kilometer. ] Das Licht, das wir heute von Sirius sehen können, war acht Jahre lang unterwegs – Sirius ist also acht Lichtjahre weit entfernt von uns. Deutlich weiter als die Sonne: Bis ihr Licht auf der Erde ankommt, vergehen gerade mal acht Minuten. Das Leuchten der Sonne und der Sterne, das wir von der Erde aus wahrnehmen, ist immer ein Leuchten der Vergangenheit. Mit einem Blick in den Himmel kann man also aus der Gegenwart heraus in vergangene Zeiten sehen. Musik 6 2’48 CD 19068228 Frédéric Chopin: Nocturne c-Moll op. posth. Maria Joao Pires (Klavier) Die Nocturne c-Moll op. posth. von Frédéric Chopin. Maria Joao Pires spielte in dieser Aufnahme aus dem Jahr 1996. Das Licht der Sonne hat schon immer religiöse Gefühle im Menschen ausgelöst – ihr Strahlen, ihr Auf- und Untergang und vor allem auch die Zwischentöne der Dämmerung. Dem Sonnenuntergang und der Abenddämmerung verdanken wir einen reichen Schatz an Wiegenliedern – sie stellen eigentlich immer auch die Frage, wie die Seele an der Schwelle zur Nacht Ruhe finden kann und wer sie dann in der Dunkelheit beschützen mag. So auch ein Abendlied des englischen Barock-Komponisten Henry Purcell. Die Bewegung der untergehenden Sonne zeichnet Purcell darin nach mit einer absteigenden Basslinie – die zieht sich als Ostinato (als ständige Wiederholung) durch das ganze Lied. Solche Ostinati sind normalerweise relativ quadratisch gestaltet: vier oder acht Takte lang. Bei Purcell sind es fünf Takte. Der Grund und Boden ist hier also asymmetrisch – in der Musik dieser Zeit absolut ungewöhnlich. Die Phrasen der Singstimme, die darüber liegt, bewegen sich (im Gegensatz zum Bass) meistens in Viererschritten, sodass es in diesem Lied immer wieder zu Überlappungen zwischen Oben und Unten kommt. Das ist ein ganz besonderer 7 Kunstgriff: Der Bass wiederholt sich zwar die ganze Zeit, doch man nimmt das oft gar nicht mehr wahr, weil alles verschoben ist – aber dann an den entscheidenden Stellen immer wieder zusammenkommt. Eine durch und durch musikalische Antwort auf die Frage nach der Seelenruhe. Musik 7 5’14 M0073836.015 Henry Purcell: Now that the sun has veiled his light (An evening Hymn) Nancy Argenta (Sopran), Paul Nicholson (Orgel) Nancy Argenta und Paul Nicholson mit einem Abendgebet von Henry Purcell. Unsere Musikstunden-Woche über die Sonne neigt sich dem Ende zu – noch einmal mit einem musikalischen Sonnenuntergang. Er stammt aus einem barocken Gesangbuch, das der Kantor Georg Christian Schemelli im Jahr 1736 zusammengestellt hat. Johann Sebastian Bach hat sich darin um die Musik gekümmert – einige Lieder hat er neu komponiert, bei anderen hat er alte Melodien mit einer neuen Begleitung versehen. So auch bei diesem hier, dessen Text eine wunderbare Gelassenheit ausstrahlt: „Der Tag ist hin, die Sonne gehet nieder. Der Tag ist hin und kommet nimmer wieder. Mit Lust und Last, er sei auch wie er sei. Bös oder gut: es heißt er ist vorbei.“ Wir hören eine Instrumentalversion mit dem Leipziger Streichquartett. Musik 8 M0124562.003 Johann Sebastian Bach: Der Tag ist hin, Choral BWV 447 Leipziger Streichquartett 1’38