Rechtssoziologie I Vorlesung vom 25. April 2012 Prof. Dr. Lukas Gschwend Frühjahrssemester 2012 Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts Vgl. Rehbinder, Kapitel 5, 6 A. Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts 3 1. Grundlagen a) Recht als soziales Herrschaftsinstrument – Sicherungsfunktion, Bestandeswahrung – Veränderungs- und Entwicklungsfunktion b) Umsetzung der Herrschaft durch Recht – Ausgleich widerstreitender Interessen – Gruppenintegration: Job of producing and maintaining the groupness of a group (Karl Llewelyn) – Organisation der Verbände (Eugen Ehrlich) A. Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts 4 Gruppenintegration als soziologische Hauptaufgabe Verhaltenssteuerung = regulative Funktion des Rechts = Normalfall Handlungsnormen = Organisationsnormen, Ordnungsrecht = Primäre Rechtsregeln Konfliktbereinigung = integrative Funktion des Rechts = „Krankheitsfall“ Entscheidungsnormen = Schutzrecht = Sekundäre Rechtsregeln A. Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts 5 c) Problem dieses Dualismus – Er wird dem modernen Sozialstaat nicht gerecht, denn die Gestaltung der Lebensbedingungen ist auch eine zentrale gesellschaftliche Funktion des Rechts. – Rehbinder unterscheidet daher gestützt auf Llewelyn folgende soziale Funktionen des Rechts (law-jobs): 1. Konfliktbereinigung (Reaktionsfunktion) 2. Verhaltenssteuerung (Ordnungsfunktion) 3. Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft (Verfassungsfunktion) 4. Gestaltung der Lebensbedingungen (Planungsfunktion) 5. Organisation und Verfahren der Rechtspflege (Überwachungsfunktion) A. Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts 6 2. Die Bereinigung von Konflikten – – – – – – – – ursprünglichste Rechtsfunktion genetische Ursache und zugleich Testfall des Rechts Bewältigung äusserer Konflikte (innere Solidarität, Verschärfung der Abgrenzung nach aussen) Bewältigung innerer Konflikte (Verständigung oder Erledigung gemäss vorgegebenen Regeln) Die erfolgreiche Bewältigung innerer Konflikte stärkt Gruppenbewusstsein und –kohärenz Unfähigkeit einer Gruppe zur Bewältigung innerer Konflikte fördert zentrifugale Kräfte und Resignation Voraussetzung für die erfolgreiche Konfliktbewältigung durch das Recht ist dessen Akzeptanz durch die Gruppe. Zuständigkeit: Rechtsstab und demokratischer Souverän A. Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts 7 – – – – – – – Rechtserzeugende Wirkung erfolgreicher Konfliktbewältigung Der soziale Konflikt ist unabdingbar für eine lebende Rechtsordnung. Juristische Kriminalitätsbekämpfung als soziologischer Anwendungsfall der Rechtsbewährung Die juristische Konfliktbereinigung (Schutzrecht) sichert den zivilisatorischen Fortschritt. Das Strafurteil dient der Rechtsbewährung, es stellt die Verbotsnorm unter Beweis und dient der Normverdeutlichung. Probleme dieser gruppenspezifischen Erklärung des Rechts als soziales Konfliktbereinigungsmittel? Theoretisches Rüstzeug für die Erforschung dieser Funktion des Rechts liefern in erster Linie die Konflikttheorien. A. Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts 8 3. Verhaltenssteuerung – – – – – – Hauptziel: Konfliktvermeidung Notwendigkeit in Bereichen, wo sozial relevante Interessenkonflikte zu erwarten sind positive Verhaltenssteuerung negative Verhaltenssteuerung Mittel der Verhaltenssteuerung: Information, Gewährung von Anreizen, Erteilung von Befehlen, Sanktionsandrohung Weitere Motive für Verhaltenssteuerung: • Anpassen des Gruppenverhaltens an geänderte Rahmenbedingungen • Erzeugen von Rechtssicherheit. Soziales Verhalten soll kulturell unabhängig berechenbar sein. • Interessenausgleich A. Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts 9 – – Wichtige Voraussetzungen für eine wirksame Verhaltenssteuerung durch das Recht: • Kein Widerspruch zu den übrigen Normsystemen (Moral, Sitte, Bräuche etc.) • Keine Verletzung anderer gesellschaftlicher Interessen • Klare Kommunikation und Überzeugungskraft des Rechts • Wirksame Umsetzung • vgl. dazu die Vorlesung über Effektivität des Rechts Theoretisches Rüstzeug für die Erforschung dieser Funktion des Rechts liefern neben den Verhaltenstheorien auch die Gruppen- und Rollentheorien. A. Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts 10 4. Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft – – – Recht als autoritatives Mittel zur Organisation des Staates und Regelung der Verfahrenswege Macht wird durch Verfahren in Recht transponiert: • Gesetzgebungsverfahren • Gerichtsprozess Perfektionierung des Legitimationsprozesses durch das Öffentlichkeitsprinzip A. Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts 11 5. Gestaltung der Lebensbedingungen – – – – Recht als soziales Planungsinstrument (ideologische Funktion) Im Gegensatz zur Verhaltenssteuerungsfunktion steht die künftige Wirkung im Vordergrund. Zielbereich: Lebensbedingungen insgesamt inkl. Umwelt Musterbeispiel: Raumplanungsrecht 6. Rechtspflege – – Umsetzung der übrigen law-jobs Rechtsstab muss wissenschaftlich und methodologisch auf der Höhe der Zeit sein, um die übrigen Funktionen realisieren zu können. B. Entwicklungstendenzen des Rechts 10 1. From Status to Contract zur sozialen Rolle – – – – – Mittelalter: „Altes Recht ist gutes Recht“, Statusgesellschaft Seit dem späten 18. Jh. grundlegender sozioökonomischer Wandel mit Auswirkungen auf die Rechtsentwicklung wie auch auf das ausserrechtliche normative Ordnungsgefüge. Henry Sumner Maine, From Status to Contract (vgl. 1. Vorlesung) sowie Rehbinder, Rz. 67ff. Können die heute nach wie vor und teilweise in neuer Ausprägung feststellbaren schicht- und gruppenbedingten Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft als Symptome für eine Rückkehr zum Statusrecht gedeutet werden? Aufbrechen des absoluten Kontraktualismus durch das Wirtschafts- und Sozialrecht im späten 19. Jh. B. Entwicklungstendenzen des Rechts – – – 11 Das Recht des Sozialstaates definiert Rollen. Die soziale Interaktion findet nicht nur über Verträge statt, sondern massgeblich über Rollenbilder. Welches sind die Stärken einer Definition des rechtsstrukturellen Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft mittels Rollenbildern? Rechtlicher Status und soziale Rolle darf nicht vermengt oder verwechselt werden. B. Entwicklungstendenzen des Rechts 12 2. Entwicklungstendenzen des Rechts in der heutigen Gesellschaft 2.1 Unifizierungstendenz seit 19. Jh. a) Die räumliche Dimension – Föderalismus als Errungenschaft des 19. Jh. – Synthese von Nationalismus und heterogenem Partikularismus – Mobilitäts- und Kommunikationsrevolution – Konzentration und Dezentralisierung – Rechtsvereinheitlichung als Notwendigkeit im Zeitalter der Internationalisierung der Wirtschaft und Gesellschaft – Wiener Kaufrecht, Modellkodizes der EU, WTO etc. – Kulturelle Triebkräfte im Unifizierungsprozess? B. Entwicklungstendenzen des Rechts 13 b) Die sachliche Dimension – Veränderung der ökonomischen Verhältnisse erfordern eine Anpassung des Rechts (neue Vertragstypen etc.) – Rechtsvereinheitlichung aus Sachzwang: Rechtsgebiete, die aus Gründen der Funktionalität zu vereinheitlichen sind (Strassenverkehrs- und Transportrecht). – Unifizierung und Rechtspluralismus? c) Die personale Dimension – 19. Jh.: Aufhebung des Standesrechts rechtliche Emanzipation der Männer – 20. Jh.: öff.- und privatrechtliche Emanzipation der Frauen – Gegentendenz: Sonderrechte für Minderheiten B. Entwicklungstendenzen des Rechts 14 2.2 Tendenz zur Sozialisierung des Rechts – Sozialrechtlicher Schutz seit dem späten 19. Jh. – Zusammenhang von materiellem Wohlstand und Rechtsentwicklung? • Recht schafft günstige Arbeits- und Konsumbedingungen • Soziale Bedürfnisse der Wohlstandsgesellschaft erzeugen rechtlichen Handlungbedarf (z. B. Versicherungsrecht, Haftpflichtrecht) – Recht als Instrument zur Steigerung der Lebensqualität – Kein Widerspruch zwischen sozialem Recht und wirtschaftsfreundlichem Recht B. Entwicklungstendenzen des Rechts 15 2.3 Anwachsen des Rechtsstoffs – Differenzierung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens fordert adäquate rechtliche Regelung – Rechtssicherheitsbedürfnis als soziales Wohlfahrtskriterium fordert Berechenbarkeit des Rechts – Legalitätsprinzip – Was ist von der Forderung nach Deregulierung zu halten? 2.4 Spezialisierung und Bürokratisierung des Rechts – Zunehmende Professionalisierung der Gerichte in der Schweiz seit dem 19. Jh. – Im 20. Jh. finden wir immer häufiger Juristen auch in der Verwaltung. – Ausbau der Verfahren und Rechtsmittel(instanzen) B. Entwicklungstendenzen des Rechts 16 2.5 Verwissenschaftlichung des Rechts – Die Wissenschaft tritt seit dem 18. Jh. immer öfters in die Stapfen der alten Legitimationsinstanzen (Priester, Herrscher von Gottes Gnaden, Theologen, kirchliche Autoritäten) – Der säkularisierte Staat rechtfertigt sein Verhalten durch die Vernunft. Die Wissenschaft liefert dazu nach zweckrationalen Kriterien die Argumente (Max Weber). – Modernes Recht muss rational (funktional geeignet und nützlich) sowie verfassungsmässig sein und einem ethischen Minimum entsprechen. Letzteres wird in der Demokratie massgeblich durch das Rechtsgefühl der Bevölkerung mitbestimmt. Die ethische Absicherung neuen Rechts erfolgt mitunter über Experten für Ethik. Es muss Juristinnen und Juristen zu denken geben, dass die Ethik durch Spezialisierung offenbar zunehmend aus der Rechtswissenschaft ausgegliedert wird. B. Entwicklungstendenzen des Rechts 16 – – – Die Säkularisierung der Staaten und Gesellschaften führte im 20. Jh. nicht nur zu einer zweckrational motivierten Rechtsetzungstätigkeit, sondern öffnete auch die Abgründe für totalitäre Régimes. Wissenschaft vermag Recht im Gesetzgebungsprozess wie auch in der Anwendung effektiv zu machen. Kontrolle von Juristenstaat und Bürokratie? 2.6 Sonderfall Schweiz? – Zementierung des Föderalismus durch Ständemehr – Stadt-Land-Unterschied verstärkt durch direkte Demokratie – «Röschtigraben», Sprache und Regionalismus – Polarisierungstendenz