Aus der 28. Mai 2016 In der Annenstraße wurde kürzlich das alte Firmen-Sgraffito der Firma „Jost und Ahrens“ an der Fassade der Häuser Nr. 25-27 wieder freigelegt. Die zugehörige Essigfabrik existiert dort zwar schon seit 1964 nicht mehr, aber durch dieses wohl nur kurzfristig vorhandene Zeitfenster ist mit dem aktuell sichtbaren Firmensignet ein kleiner Blick auf 162 Jahre Hildesheimer Industriegeschichte möglich. Denn Essig Ahrens war seit 1802 in der Jakobistraße ein Begriff. Stolz auf die Firmentradition oder den erfolgreichen Wiederaufbau nach der Kriegszerstörung drückte man in den 50er Jahren in Hildesheim gern mit Sgraffiti an den neuerrichteten Fassaden aus. Veronika Gronau stellt im folgenden Beitrag dieses architekturgeschichtliche Phänomen näher vor. A m 22. März 1945 wurde das alte Stadtbild Hildesheims vernichtet, trotz vieler Neubauten der Gründerzeit und des frühen 20. Jahrhunderts immer noch ein Ensemble von Fachwerkhäusern aus dem späten Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, prächtigen Amtshäusern und Gasthöfen, behäbigen Wohnhäusern und bescheidenen Buden in engen Seitenstraßen. An eine Rekonstruktion im alten Stil und Material war nicht zu denken, aber der Verlust wurde auch Jahre nach dem Kriegsende noch empfunden, als der Wiederaufbau längst im Gange war und die Straßen der Innenstadt eine neue Gestalt annahmen: funktionale durch vorgegebene Fluchtlinien, Firsthöhen und Dachneigungen monoton wirkende Häuserzeilen. So rief der Wiederaufbaustil der 50er Jahre zwiespältige Gefühle hervor: Man musste schnell, rational und sparsam bauen und war stolz darauf, wie viel Jahr für Jahr erreicht wurde, aber man musste auf die ästhetische Vielfalt und Lebendigkeit des gewachsenen Stadtbildes verzichten. Für manchen Hausbesitzer, der es geschafft hatte, Wohnung und Betrieb wiederaufzubauen, bot es sich an, durch ein Sgraffito seinen Stolz zum Ausdruck zu bringen, einen Schriftzug oder ein Bild, die eine engere Verbindung mit dem Haus eingehen als ein Namensschild oder gar eine Leuchtreklame. Das Stadtbauamt hielt überhaupt nichts von aufwendigen Werbeelementen und genehmigte nur sehr restriktiv. Sgraffiti standen für einen dezenten Anspruch auf Individualität, waren mit einfachen Mitteln herzustellen, preiswert und haltbar. Eine Technik aus Italien In Italien wurden Kratzputzarbeiten schon im 14. Jahrhundert zur Dekoration von Fassaden verwendet; die Technik breitete sich in den Alpenraum und nach Süddeutschland aus, wo sie in den Städten entlang der großen Fernstraßen an Rathäusern und Schlössern, Bürger- und Handelshäusern häufig zu sehen ist. Auch wohlhabende Landwirte schmückten ihre Ansitze mit Sgraffiti, oft in Verbindung mit der sogenannten Lüftlmalerei. Im Norden mit seinen Fachwerkhäusern und unverputzten Ziegelbauten kamen sie kaum vor. Bei der Herstellung wird zuerst ein Unterputz aus Kalkmörtel aufgetragen, darüber als Kratz- oder Deckschicht eine Kalktünche, auf die eine Vorzeichnung aus Linien und Schraffuren übertragen wird. Bevor die Tünche durchgetrocknet ist, müssen Konturen und Flächen durch Ritzen und Schaben freigelegt werden, so dass der Untergrund, farbig oder als ein eingetieftes Relief wieder sichtbar wird. Schnelles Arbeiten, wie beim Fresko, war gefragt. Wer es besonders prächtig haben wollte, konnte Deck- und Unterputz unterschiedlich pigmentieren, sogar drei Farbschichten übereinander auftragen lassen und zusätzlich mit Mosaik und Malerei kombinieren. Dekoration an der Schwelle zur Kunst! meister“ in einer langen Kartusche immer noch Laden und Werkstatt, jetzt in der 4. Generation. Viele dieser einfachen Sgraffiti aus den 50er Jahren müssen unter neuem Putz oder Wärmedämmungen verschwunden sein und kommen bei Arbeiten an der Fassade plötzlich wieder zum Vorschein wie „Jost u. Ahrens Essig“ in der Annenstraße, andere wurden bei Renovierungen ihrer Farbigkeit beraubt. Sie hatten sich „an vielen Stellen der Stadt in beachtenswerter Weise durchgesetzt“ und seien geeignet „im Zusammenwirken mit den Architekten das zu erneuernde Städtebild Heimat von manchen ,Reklame-Verschandelungen‘ freizuhalten“, so die HAZ am 2. März 1951 mit zwei „Vorher-nachher-Fotos“ der Gaststätte „Zum Güterbahnhof“. Am Alten Markt, wo das Frankenbergsche Haus gestanden hatte, erinnerten die Gestaltung des Portals und ein Sgraffito aus Wappen, Schriftbändern und floralen Ornamenten (Otto Aue) an den Verlust des alten Hauses und zeigen zugleich „daß in unserer Bürgerschaft starke gestaltende Kräfte vorhanden sind“, (HAZ 9. Oktober 1951); es ist beim Abriss des Nachkriegshauses verloren gegangen; auch eine Sgraffito-Abbildung des Wedekind-Storre-Hauses am Eingang der Stadtsparkasse, Alfred Dorn, verschwand, als die Fassade des historischen Fachwerkhauses rekonstruiert wurde. Die GBG und ihr Architekt August Steinborn bauten an der KardinalBertram-Straße keineswegs traditionalistische Wohngebäude, aber die Sgraffiti des Dianabrunnens und des Roland-Hospitals (Alfred Dorn) verweisen auch heute noch auf das, was früher hier gestanden hatte. Steinborn hat sich nicht gescheut, am modernen Eingangsgebäude der Phoenixwerke mit einem „Sgraffito, das muss ganz schnell gehen“ Fassadenschmuck sollte die Monotonie des Wiederaufbaus in Hildesheim mildern VON VERONIKA GRONAU Sgraffiti in Hildesheim Die Hildesheimer Sgraffiti der frühen Nachkriegszeit sind von schlichterer Qualität. Ein Hausbesitzer in der Wollenweberstraße begnügte sich mit einem schlichten „Wiederaufgebaut 1949“; nebenan schmückte ein Handwerkerzeichen die Fassade, und in der Jan-Pallach-Straße ist immer noch das Wappen der Familie Brunotte zu sehen. Eckhäuser am Neustädter Markt und an der Annenstraße warben mit kalligraphischen Schriftzügen für Feinkost Schäferhenrich und Bäckerei Timphus. In der Burgstraße bestehen unter dem Namen Friedrich und dem Handwerk „Orthopädie-Schuhmacher- Stadtplan der Erinnerung an der Volkshochschule. Firmenschild Markt. „Fachwerk“-Fassade am Andreasplatz. St. Michael tötet den Drachen in Sichtweite der Michaeliskirche. Sgraffito an die alte Bergmühle zu erinnern, das in frei gruppierten Zeilen die Geschichte des alten Industriestandortes erzählt. Am Andreasplatz, wo die Randbebauung den alten Proportionen und Fluchtlinien folgt, spielt auf der hohen Giebelwand des Hauses Nr. 16 Sgraffito als dezentes Raster auf vergangenes Fachwerk an; es wird durch feine Blattornamente belebt. An der Südseite des Platzes entstand, noch bevor die große Bürgerkirche wieder aufgebaut wurde, das Gemeindehaus. Zwischen den Fenstern des obersten Stockwerks zeigen Sgraffiti die Symbole der vier Evangelisten, Adler Mensch, Löwe und Stier; seitlich, an der Ecke zur Kramerstraße ist der Kirchenpatron St. Andreas als strenge Gestalt mit Buch und Kreuz dargestellt. Gegenüber der Michaeliskirche schmückt ein schwungvoller Erzengel die Fassade des Hauses Langer Hagen 36 (Otto Aue). Und auch die St. Lamberti-Gemeinde verschönert ihr Haus am Neustädter Markt durch Inschrift, Linien und Ornamente im Fassadenputz; sogar die Hausnummer 37 ist Sgraffito! Vom Langelinienwall aus ist an der unzerstörten Totenkapelle des St. Bernwardkrankenhauses über dem Eingang ein monochromes Bild des segnenden Christus zu erkennen (Heinz Algermissen), eine überraschende Hommage der Nachkriegsgeneration an den Historismus! Am Ende des Spazierganges auf dem Wall entdeckt man an der Südwand der Grundschule Hohnsen einen fröhlichen Fassadenschmuck: Ein Harlekin tanzt auf der Sonnenuhr mit ihren römischen Ziffern und ihrem Zeitmesser, der Sonne (Heinz Metell). In den Baugebieten der 20er, 30er und 50er Jahre außerhalb der Innenstadt sind weitere Sgraffiti zu finden, anspruchslose Arbeiten, die auf Alltag, Jahreslauf, Familienleben, Freizeit und Berufe anspielen. An der Innersteaue hat ein Verehrer Wilhelm Raabes die Utlucht seines Hauses mit Fachwerk sowie Ornamenten und Versen rot im weißen Verputz, dem „InnersteAutor“ gewidmet. Das große Sgraffito am Gebäude der VHS am Pfaffenstieg „Der Stadtkern vor der Zerstörung von 1945“ muss jedem, der zu Fuß in der Stadt unterwegs ist, vertraut sein: eine aufwendige, kontrastreiche Darstellung der Stadtquartiere mit ihren zentralen Kirchen und Plätzen, die, gut erhalten, immer noch durch ihre schwungvolle Kontur und ihren Reichtum an Details erfreut. Entwurf und Ausführung stammen von Professor Alfred Dorn und seinen Meisterschülern Heinz Algermissen und Ignaz Gerlach. „Man muß den Künstlern von Herzen Dank sagen“ findet die HAZ am 9. August 1951 und berichtet von 300 fleißigen Stunden auf dem Gerüst. Das hält Meister Heinz Algermissen für unwahrscheinlich: „Sgraffito, das muss ganz schnell gehen“, betont er beim Rückblick auf die gemeinsame Arbeit an dem schönen Erinnerungsbild. Die Anregung, Fassaden mit Sgraffiti zu kennzeichnen und zu schmücken, ging wohl zum großen Teil von der damaligen Werkkunstschule am Dammtor und ihrem Dozenten Alfred Dorn aus, der in seinen Meisterklassen Technik und Design vermittelte und so Malermeister mit zeichnerischer Begabung und handwerklichem Ehrgeiz ermutigte, die Monotonie des „Wiederaufbaustils“ durch bescheidenes figürliches oder ornamentales Dekor zu belegen. Die Werkkunstschule selbst schmückte ihren Neubau am Dammtor mit zwei von den eher konventionellen Sgraffito abstechenden Arbeiten. Sie sind an der Rückseite des Gebäudes, oberhalb des Fußweges entlang der Innerste zu sehen: nach Norden monochrome Ritzungen und flaches Relief in einem Muster von sich überschneidenden Kreissegmenten, nach Süden eine farbige Komposition aus naiven 50er-Jahre-Mustern, außerdem mit schwarzen und weißen Fliesen durchsetzt. Wie das ganze Gebäude ein typisches Produkt der Nachkriegsmoderne, das beim Umbau hoffentlich erhalten bleiben wird. Fotos: Peter Gronau Quellen und Literatur: – Stadtarchiv Hildesheim, Bestand 103-60 Nr. 10060-10063. – Henriette Steube, Kunst in der Stadt 1945 bis 1995. Eine Dokumentation zur Kunst im öffentlichen Raum in Hildesheim (Quellen und Dokumentationen zur Stadtgeschichte Hildesheims, 8), Hildesheim 1996. – Freundliche Auskunft von Heinz Algermissen und Günther Friedrich. Verantwortlich: SVEN ABROMEIT Die „närrische“ Sonnenuhr an der Rückseite der Grundschule Hohnsen zum Kehrwiederwall. am Neustädter Schlichtes Sgraffito in der Wollenweberstraße. Darstellung des Dianabrunnens in der Kardinal-Bertram-Straße. Christus im Portal der Kapelle des Bernwardkrankenhauses.