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OCTOBER 19, 2015 (/REPORTAGEN/BIOLOGICUM2015)
DENKEN, NICHT
NUR GEDACHT
( / R E P O R TA G E N / B I O L O G I C U M 2
Mit der „Biopsychologie des Verstandes“ setzte sich das 2. Biologicum
Almtal auseinander. Eine Tour de Force durch die Evolution bis hin zum
Brain-Computer-Interface.
Am Anfang ist ein Affe. Sein Körper ist gefesselt. Sein Gehirn über ein
Interface mit einer Prothese verbunden. Und dann sind da
Bananenstücke. Die will der Affe haben. Und so bewegt er die Prothese
zu der Frucht, nimmt sie in die Prothesenhand. Führt sie zum Mund
und frisst sie. Reine Willenskraft, die über 32 Zellen eine Prothese
steuert.
„Die Sache ist nicht so kompliziert wie wir denken“, kommentiert
Neuropsychiater Niels Birbaumer (https://www.medizin.unituebingen.de/en/Research/Institutes/Medical+Psychology/Staff/Prof_+Dr_+Dr_+hc_+mult_+Niels+B
port-10443-p-68484.html) die Videosequenz zu Beginn seines Vortrags.
„Die Sache“, das ist das Gehirn. Unser Gehirn. Die Gehirne der Säuger.
Also die auch unserer nahen Verwandten. Im Grunde funktionieren sie
alle nach demselben Prinzip. Trotzdem ist das Gehirn dann doch
wieder ein Rätsel. So wie das Denken, die Logik und die Emotion.
Grünau im Almtal, Anfang Oktober. Das 2. Biologicum
(http://www.biologicum-almtal.at) findet statt und hat das Denken
zum Thema erkoren. Die Biopsychologie des Verstandes.
Diese Ergänzung ist essentiell. Es geht nicht um die Philosophie, nicht
um die Geisteswissenschaft, es geht um die Naturwissenschaft. Dass
philosophische Fragen dennoch immer wieder auftauchen, das
versteht sich von selbst. Dennoch verharren sie im Hintergrund. „Das
hier ist das Biologicum, nicht das Philosophicum“, hält Kurt Kotrschal
(http://www.wolfscience.at/de/ueberuns/team/kurtkotrschal/) fest.
Als Zoologe hat er gleichsam eine Rechnung offen mit der Philosophie.
Genauer gesagt mit René Descartes, dessen Diktum Cogito ergo sum
„Denken, Bewusstsein und Geist zu absoluten Maßstäben erhob. In
seiner Überschätzung der menschlichen Bewusstseinsfähigkeit machte
er sie zum Hauptkriterium der Unterscheidung vom ,Tier‘ und vertiefte
so den Graben zwischen ,uns und den anderen‘“, kritisiert Kotrschal in
seinem Eröffnungsvortrag.
Hier der Mensch. Des Denkens fähig. Und damit sich seiner bewusst.
Krone der Schöpfung.
Dort das Tier. Reflexgesteuert. Allenfalls dressurfähig. Die Kreatur, die
man sich untertan machen kann und darf.
Wobei Michel de Montaigne noch vor Descartes eine Gegenposition
formulierte. Indem er „Geist und Denken fest mit den Sinnen und dem
Körper verband. Er bereitete damit den Boden für das ,Darwinsche‘
(evolutionäre) Kontinuum zwischen uns und den anderen Tieren, auch
was die Denkfähigkeit betrifft“, tritt Kotrschal sogleich zur
Ehrenrettung der Philosophie an.
Was freilich bleibt, ist die Wirkmacht von Descartes. Die Kraft seines
Bildes vom denkenden und damit seienden menschlichen Wesen als
einzigartig.
Dem ist nicht so. Das ist im Grunde eine Kränkung des Menschen. Eine
von vielen, die er hinnehmen musste im Laufe der Geschichte. Dank
der Wissenschaften.
Eine der ganz großen ist, dass er, der Mensch, sich mit den Affen
Vorfahren teilt. Dass er eigentlich nichts anderes ist als eine, nun ja,
Primatenart. Dafür wurde Darwin gescholten. Dafür wird er gescholten.
Diese Kränkung sitzt tief. Doch nun stellen seine wissenschaftlichen
Nachfolger noch mehr fest: Auch andere Tiere (Kotrschal) sind zu
höchst staunenswerten kognitiven Leistungen fähig. Sogar zur
Empathie.
“
Tiere denken ähnlich wie wir. Sie treffen flexible Entscheidungen,
handeln nach Ursache-Wirkungszusammenhängen, stellen sich die
Zukunft vor und planen
— Kurt Kotrschal
Elefanten trauern. Wölfe lösen Aufgaben. Raben pflegen
Freundschaften. Papageien nutzen Werkzeuge, verstehen Sinn und
Einsatzmöglichkeit von Worten und Begriffen. Das Tier mit „Köpfchen“,
einst bestauntes Kuriosum auf Jahrmärkten, die Ausnahme, die die
Regel bestätigt, ist keine Ausnahme. Tiere, so Kotrschal „können
ähnlich wie wir denken. Sie treffen flexible Entscheidungen, handeln
nach Ursache-Wirkungszusammenhängen, stellen sich die Zukunft vor
und planen“.
Basis all dessen ist das Gehirn. In all seinen Ausformungen und
Gestalten.
Vor rund 550 Millionen Jahren beginnt das Gehirn sich zu entwickeln.
Erst einfach, als Konzentration der Sinnesorgane schon bei kieferlosen
Wirbeltieren. Sozusagen als ein schlichter Sammelpunkt an dem
Nervenstränge zusammenlaufen. So wie er immer noch beim
Neunauge vorhanden ist. Einfach gestrickt.
Dabei bleibt es nicht. Im Zuge der Evolution entwickelt sich ein immer
komplexeres System das zu großen, flexiblen, lern- und denkfähigen
Gehirnen führt. Parallel dazu entwickeln sich neuronale, hormonale,
emotional-kognitive und Verhaltensausstattungen, die in der
Partnerbindung zum Einsatz kommen. „Über den gesamten
Wirbeltierstammbaum, vom Fisch bis zum Mensch, teilen wir
strukturell und funktionell ein nahezu identisches, ,soziales Netzwerk‘
im Stamm- und Zwischenhirn“, so Kotrschal.
Mit dem Leben in immer komplexeren Öko- und Sozialsystemen
werden weitere, ausgefeilte „Schaltzentralen“ entwickelt. Zentren
vieler spezieller und allgemeiner Intelligenzleistungen. Wobei es dem
Gehirn nicht anzusehen ist, wie leistungsfähig es ist. „Raben haben ein
ganz glattes Gehirn, jenes der Säugtiere hingegen faltet sich. Das sagt
nichts aus. Ebenso wenig wie die Größe oder das Gewicht.
Entscheidend ist die Anzahl und Dichte der Neuronen“ erklärt der
Forscher.
Was den Menschen nun ausmacht, das ist seine Sprachfähigkeit. „Nur
Menschen sind zur komplexen Symbolsprache fähig“, fährt Kotrschal
fort. „Menschwerdung ist im Kern die Evolution des Wortes und das
Wort treibt die Evolution des Menschen. Erst das Wort erlaubt es, das
individuelle Denken sozial zu vernetzen, mentale Zeitreisen mit
anderen zu teilen, Meinungen zu bilden, zu streiten. Es begründet
solchermaßen auch das hohe soziale Prestige geistiger Leistungen.“
Im Anfang war das Wort. So gesehen hat die Bibel recht. Und die ist
wiederum ein Ausfluss dieser Fähigkeit. Sie ist eine Geschichte, die
Menschen miteinander verbindet. Über alle Ethnien, Kontinente und
Sprachen hinweg.
Der Mensch ist ein Worttier. Aber nicht nur. Das Wort braucht die
Geste. Es braucht den Gesichtsausdruck. Es braucht den Körper.
Montaigne also. Nicht Descartes.
Dessen stolzer Satz aber sitzt tief im Denken. Auch im jenen der
Wissenschaften. „Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der
Psychologie und der Linguistik“, moniert die Neurowissenschaftlerin
Manuela Macedonia (http://www.macedonia.at). „In der traditionellen
Sprachwissenschaft wird nach wie vor behauptet, dass Sprache ein
Phänomen des Geistes sei, das aus abstrakten Elementen wie Wörtern
und Grammatikregeln besteht.“
“
Wörter sind in ausgedehnten Netzwerken eingebunden. Sie
schließen jegliche körperliche Erfahrung ein, die der Mensch zum
Wort in seinem gesamten Leben gesammelt hat
— Manuela Macedonia
Sie legt Widerspruch ein. Vehement. Mit starken Argumenten,
empirisch gesichert und belegt. Versteht sich. Das hier ist das
Biologicum.
„In Kernspintomografen ,sieht‘ man, dass zum Beispiel Wörter nicht nur
in kanonischen Spracharealen, sondern in ausgedehnten Netzwerken
eingebunden sind. Solche Netzwerke schließen jegliche körperliche
Erfahrung ein, die der Mensch zum Wort in seinem gesamten Leben
gesammelt hat“, führt Macedonia aus. Unser Gehirn, ein
Erinnerungsnetzwerk.
Die Linzer Forscherin arbeitet beim Erwerb einer Fremdsprache mit
unterstützenden Gesten. Gesten bauen eine „motorische Spur“ in das
Wortgedächtnis ein. Neue Begriffe werden so besser, weil mehrfach
abgesichert, gespeichert.
„Um sprachliche Vorkenntnisse auszuschließen, die eine Studie
beeinflussen können, habe ich fiktive Vokabeln entwickelt. Bei meiner
Untersuchung 2003 durften die Testpersonen die Kunstwörter mit
oder ohne Gesten lernen“, beschreibt sie ihre Arbeit. Ergebnis: Die
Geste bringt es.
„Wie sich zeigte, erinnerten sie sich anschließend auch dann an die neu
geschaffenen Wörter besser, wenn sie sie mit Körperbewegungen
unterstützten. Besonders interessant war die Langzeitwirkung der
Gesten: Nach 14 Monaten konnten die Probanden immer noch etwa
zehn Prozent der Wörter wiedergeben. Bei per Bild und Text gelernten
Vokabeln lag die Quote nach dieser Zeit nur bei gut einem Prozent“,
berichtet sie.
Allerdings verlangt das Gehirn nach sinnvollen Gesten. Nicht nach
irgendwelchen Bewegungen. „Je besser die Geste den Wortinhalt
abbildet, desto wirkungsvoller ist sie“, so Macedonia.
Durch die Geste wird der Begriff mehrfach konnotiert und abgelegt. Es
wird sozusagen ein Assoziationsnetzwerk aufgebaut, das bei Bedarf
anspringt und abrufbar ist. Denn unser Denken erfolgt über weite
Strecken automatisiert.
Daniel Kahneman
(http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economicsciences/laureates/2002/kahneman-bio.html) beschreibt diese
Vorgänge höchst exakt und spannend in seinem Buch „Schnelles
Denken, langsames Denken
(http://www.randomhouse.de/Buch/Schnelles-Denken-langsamesDenken/Daniel-Kahneman/e250330.rhd)“. Das schnelle Denken sind
Entscheidungen die auf Erfahrung, auf Mustern beruhen.
Vieltausendfach gespeichert, in Sekundenbruchteilen abrufbar. Die
Intuition, effizient und sparsam im Energieverbrauch.
“
Die Sache ist nicht so kompliziert, wie wir denken
— Niels Birbaumer
Das ist ein wesentlicher Punkt. Unser Gehirn braucht Energie. Rund 25
Prozent der gesamten Körperenergie gehen in unseren Kopf. Zur
Informationsverarbeitung. Als Computer wird unser Gehirn bezeichnet,
mit einer Festplatte verglichen. Das greift zu kurz. Sicher ist, jedes
Gehirn ist einzigartig. Einzigartig in seiner ganz speziellen Art und
Weise der Assoziationen. Einzigartig in seiner Vernetzung. Es ist mehr
als nur eine auf Algorhitmen aufgebaute Software. Es ist eigentlich
ohne den Körper, der es umgibt, der ihm ununterbrochen seine
Sinneswahrnehmungen übermittelt, nicht vorstellbar.
Auftritt Birbaumer, führend in der Forschung und Arbeit mit der
Neuroprothetik. Oder, einfacher gesagt, mit Brain-ComputerInterfaces. Mittels Gedanken Prothesen zu steuern, das ist längst keine
Zukunftsmusik mehr. Es ist machbar. Und es wird bald schon Alltag
sein. Birbaumer aber geht einen Schritt weiter. „Wir koppeln Leben an
Kommunikationsfähigkeit“, sagt er. Zustimmung ist ihm gewiss. Dann
seine Frage: „Was ist mit Lähmung? Endet dann das Leben?“ Seine
Antwort ist eindeutig: Nein.
Dass Gelähmte mittels ihrer Augenbewegungen schreiben, sich also
mitteilen und damit kommunizieren können, Birbaumer demonstriert
es. Auch hier noch im Bereich des allgemein Bekannten. „Aber was ist
mit den völlig Eingeschlossenen?“, bohrt Birbaumer weiter. Was ist mit
ALS-Patienten, die nicht mehr kommunizieren können, auch nicht mit
Hilfe ihrer Augenbewegungen? Verloren? Unerreichbar? Ein Fall für die
Patientenverfügung?
Auf die reagiert Birbaumer allergisch: „Die zerreiße ich sofort. Und ich
werden Ihnen auch gleich erklären warum“. Zuvor noch zum
Neurofeedback. „Wir können bei vollkommen Eingeschlossenen die
Hirnströme auswerten. Denn das Gehör, das funktioniert, wir können
ihnen also Fragen stellen. Ganz einfache klare Ja-Nein-Fragen und
messen gleichzeitig die Hirnaktivität.“ Das können Aussagen sein wie
„Ich koche meinen Kaffee mit Socken“ oder „Ich koche meinen Kaffee
mit Zucker“. Bei den „Socken“ gibt es im Hirn einen negativen
Ausschlag. „Weil verstanden wird, dass es ein semantischer Fehler
war“, erklärt Birbaumer. „So kann man feststellen, ob das Gehirn des
Patienten noch semantisch und syntaktisch versteht, was da abläuft.
Und ich kann daraus schließen, dass das Gehirn in der Lage ist,
komplizierte Informationen zu erfassen.“ Es öffnet sich ein Fenster zu
den Eingeschlossenen. Erkennbar und deutbar anhand der
Hirnaktivitäten.
Birbaumer und seine Kollegen nutzen diese Fenster auch um die
Zufriedenheit künstlich am Leben erhaltener vollständig Gelähmter zu
erfragen. „Die sind, wenn sie sich erst einmal an ihren Zustand
gewöhnt haben, genauso zufrieden wie ein gesunder
Durchschnittsmensch, die wollen gar nicht sterben. Ihre einzige Sorge
ist vielmehr, dass die künstliche Beatmung ausfällt.“ Daher rührt
Birbaumers Aversion gegen Patientenverfügungen. „Da wird aus Angst
ein unwiderruflicher Schritt festgeschrieben, weil man sich nicht
vorstellen kann, dass auch dieses Leben gut sein kann“, so Birbaumer.
Für Debatten ist also gesorgt. Je besser Neurologen und
Kognitionsforscher das Gehirn verstehen, desto mehr Fragen werden
sich auftun. Fragen, die unser Selbstverständnis betreffen. Dann wird
es wieder philosophisch. Auch am Biologicum. (fvk)
Source: www.point-of-science.com/reportagen/biologicum2015 (www.point-o…
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